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Mamsi und ich

C. Bernd Sucher
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Die Geschichte einer Befreiung

„Über das Psychologische hinaus ist dies ein Buch für eine Zeit, in der ein wachsender Prozentsatz es für bürgerlich hält, Rassisten zu wählen. Gedankenkunst als Reaktion auf das Unerträgliche.“ - Süddeutsche Zeitung

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Mamsi und ich — Inhalt

Vom Leben mit einer übermächtigen Mutter

Wie wurde die Nachkriegsgeneration durch die Erfahrungen ihrer Eltern geprägt? Diese Frage stellt sich C. Bernd Sucher in seinem neuen, sehr persönlichen Buch und erzählt von seiner Mutter, einer stolzen und starken Frau, die als Jüdin im Dritten Reich verfolgt wurde, das KZ überlebte und nach dem Krieg einen Protestanten aus konservativem Elternhaus heiratete. Sie hatte eingewilligt, den Sohn christlich zu erziehen, was sie ein Leben lang quälte, seinen jüdischen Glauben sah sie dennoch kritisch und trieb ihn unerbittlich an, im Leben das zu erreichen, was ihr durch die NS-Verfolgung verwehrt blieb. Suchers Spurensuche zeichnet die schwierige, prägende Beziehung von Mutter und Sohn nach, sehr offen, reflektiert und wunderbar erzählt.

€ 20,00 [D], € 20,60 [A]
Erschienen am 02.07.2019
256 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-05857-5
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€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 02.07.2019
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99468-2
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Leseprobe zu „Mamsi und ich“

Sie hat mich belogen. Oft habe ich sie gefragt, wie das damals war, als sie Paps heiratete, und immer antwortete sie ähnlich. Als ich ein wenig älter und noch neugieriger wurde, erklärte sie mir, dass eine kirchliche Hochzeit unmöglich gewesen sei.

Als ich sechs war, sagte sie: „Ganz schlicht, mein Kleiner. Erst waren wir im Standesamt, das war eigentlich das Rathaus. Dort haben Paps und ich uns das Jawort gegeben; danach gab es eine kleine Feier. Nichts Großes. Der Krieg war ja erst ein Jahr vorbei.“

»Du weißt doch Paps war Protestant, Großvater Oswald [...]

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Sie hat mich belogen. Oft habe ich sie gefragt, wie das damals war, als sie Paps heiratete, und immer antwortete sie ähnlich. Als ich ein wenig älter und noch neugieriger wurde, erklärte sie mir, dass eine kirchliche Hochzeit unmöglich gewesen sei.

Als ich sechs war, sagte sie: „Ganz schlicht, mein Kleiner. Erst waren wir im Standesamt, das war eigentlich das Rathaus. Dort haben Paps und ich uns das Jawort gegeben; danach gab es eine kleine Feier. Nichts Großes. Der Krieg war ja erst ein Jahr vorbei.“

„Du weißt doch Paps war Protestant, Großvater Oswald war Kirchenrat – und ich bin Jüdin. Wir konnten nicht in der Kirche heiraten.“

Ich halte ein Fotoalbum in der Hand, hocke auf einem alten Koffer im Keller unseres Hauses, und sehe meine Mutter. Sie trägt ein weißes langes Hochzeitskleid, über ihre langen, ein wenig krausen schwarzen Haare fällt ein Schleier bis auf die Schultern, gehalten von einem Myrtenkranz. Mit dem linken Arm hat sie sich bei meinem Vater eingehakt, in der rechten Hand hält sie einen kleinen Brautstrauß. Sie schaut ernst, aber nicht unfroh. Mein Vater lächelt. Ein zweireihiger dunkler Anzug, weißes Hemd, eine weiße Nelke im Revers und die Haare streng mit Pomade nach hinten gekämmt. Ein Paar. 1946, 8. Juni, ein Samstag. Ich möchte weiterblättern, doch ich kann nicht. Ich weine.

Hamburg, Montag, 13. Oktober 2005

Sonnenschein. Habe in einem braunen Lederkoffer voller Stockflecken Fotos entdeckt. Unsere Eltern haben sie ein Leben lang versteckt. Haben sie sie je angesehen? Heimlich? Im Keller? Sie haben in einer Kirche geheiratet! Protestantischer Pfarrer vor der Kirchentür, neogotisch. Mamsi ist eine Lügnerin gewesen. Aus Scham? Warum hat Paps die Lügen gedeckt? Minka hilft mir, die Wohnung auszuräumen. Sie ist patent, hat bereits einen Entrümpelungsdienst bestellt. Voreilig. Sie will nichts haben. Nicht einmal ein Foto. Seltsam! Razzien im Westjordanland.


Vor zehn Tagen ist meine Mutter gestorben, die seit dem Tod meines Vaters das Bett nicht mehr verlassen und seit mehr als vierzehn Monaten kaum noch gesprochen hatte, außer um mit leerem Blick immer nur eine einzige Frage zu stellen: „Und jetzt?“ 

Ich starre auf die Frau in weißem Tüll. Sie sitzt neben meinem Vater bei Tisch, links von ihnen mein Großvater, schon damals mit einem glatt rasierten Schädel, und rechts meine sehr schmächtige Großmutter. Bilder der Tischgesellschaft. Der Pfarrer, immer noch mit weißem Beffchen unter dem Anzug, der Bürgermeister mit einer lächerlichen Amtskette. Von wegen kleine Familienfeier. Eine große Hochzeit war das. Oswald Sucher, mein Großvater, und seine Frau Hulda Milda, in Bitterfeld sehr angesehene und durchaus wohlhabende Geschäftsleute, hatten nach der kirchlichen Trauung in der Stadtkirche ins Hotel Döring geladen – das Brautpaar steht unter dem Eingangsschild. Trauzeugen waren der Bruder meines Vaters, Helmut, und dessen Freundin. Ich entdecke auf keiner der Aufnahmen junge Frauen. Offensichtlich waren die wenigen Freundinnen, die meine Mutter nach ihrer Wiederkehr vielleicht gefunden hatte, nicht eingeladen. Wird sie in der Kirche das „Ja“ sehr laut gesagt haben? Schwieg sie beim Glaubensbekenntnis?

Ich finde einen vergilbten Zettel in einem hübschen Intarsienholzkästchen. Auf dem Briefkopf: Pfarrei Stadtkirche Bitterfeld. Der Pfarrer Christian Lorch bestätigt, dass sich Margot Sucher, geborene Artmann, bereit erklärt, die Kinder, die das Paar, so Gott will, zeugen wird, im protestantischen Glauben zu erziehen.

Ich sehe ein Foto, auf dem Oswald Sucher steht. Er hat sich erhoben, schaut auf seinen Sohn und hält einen Zettel in der Hand: Er spricht. Auch diesen Zettel haben meine Eltern aufbewahrt. Großvater hatte eine sehr klare Handschrift: Sütterlin.

Zwischen der Hühnersuppe, die sich meine Mutter, da bin ich sicher, gewünscht hatte – „jüdisches Penicillin“ mochte sie zeitlebens –, und dem Schweinebraten mit Kartoffelknödel – Großvaters Lieblingsspeise –, freute sich ihr Schwiegervater öffentlich, dass sein Sohn eine Leipzigerin zur Frau gewählt hat, noch dazu eine, die über die Geschäfte ihrer Eltern mit der Stadt Bitterfeld verbunden ist.

„Besonders schön ist, dass du, Margot, nach anfänglichem Zögern dieser kirchlichen Heirat zugestimmt hast. Und noch schöner, dass die gesunden Kinder, die du Heinz hoffentlich gebären wirst, im protestantischen Glauben erzogen werden.“

Vor dem Essen wurde gewiss gebetet, wie stets, wenn mein Großvater mit am Tisch saß: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ Oswald Sucher schmetterte die Verse, immer. Was tat meine Mutter? Stimmte sie ein, hat sie mitgebetet? Hat sie die Hände gefaltet, was Juden nie tun? Wird sie sich zum „Amen“ dazugesellt haben? Womöglich mit einem gedehnten „e“, wie es Juden gern machen?

Die Hochzeitstorte, auch sie wurde fotografiert, war ein riesiger Baumkuchen, den mein Vater, der zuvor eine Konditorlehre absolvierte, selbst gebacken hatte. Oft erzählte er von seinen misslungenen Versuchen, solche hohen Ungetüme aufzubauen, Schicht um Schicht. Für jeden missglückten Versuch musste sein Vater zahlen – und er wurde bestraft, mit Ohrfeigen. Als Kind besaß ich sein Buch der Konditoreikunst – ich nannte es das „Ditor“-Buch, Großmutter hatte es Anfang der Fünfzigerjahre nach Hamburg geschickt. Ich blätterte gern darin. Manchmal erfüllte mir mein Vater auch einen Kuchenwunsch. Ich mochte sie, die dicken, fetten Torten mit ihren vielen Cremeschichten – aus einem Spritzbeutel. Auf einem der Fotos: Margot Artmann beim Anschneiden.

 

Das erste Buch, das ich, im Alter von zwei Jahren, durchblätterte und dessen bunte Illustrationen mich faszinierten und aus dem mir Gretti, meine Amme und Kinderfrau, vorgelesen hatte, hieß Bernd allein auf der Welt. Glaubte ich bis 2015. In diesem Jahr machte ich mich auf die Suche nach dieser Bilderbuch-Erzählung. Nicht zuletzt, weil keiner meiner Freunde mir glauben mochte, dass sie existierte. Ich hatte mich um Kopf und Kragen geredet. Denn dieses Buch – so meine feste Überzeugung – hatte mich geprägt. Der fiktive Bernd sehnte sich nach Menschen – wie ich. Ein Junge, der alles kann – nur nicht allein sein!

Im Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher fand ich eines Tages ein Exemplar von Paul allein auf der Welt, erschienen in meinem Geburtsjahr, geschrieben von Jens Sigsgaard, illustriert von Arne Ungermann. Dieser Paul wacht eines Morgens auf und merkt, dass seine Eltern nicht zu Hause sind. Auch auf der Straße ist kein Mensch. In der Straßenbahn gibt es weder einen Schaffner noch einen Fahrer. Niemand ist im Milchladen, niemand im Schokoladen- und Obstgeschäft. In der Bank holt er sich einen Beutel voller Geld, aber er kann sich dafür nichts kaufen, weil es keine Verkäufer gibt. Er läuft über einen Rasen – das Schild „Bitte nicht betreten!“ schert ihn nicht.

Paul genießt seine Freiheit, aber auf dem Spielplatz fehlen ihm Käthi und Peter – er kann nicht wippen … Endlich wacht er auf und schreit. Die Mutter kommt an sein Bett und will wissen, warum er so heftig weint. Paul sagt, er habe geträumt, allein auf der Welt gewesen zu sein. Er habe alles tun können, was er wollte – „aber es war schrecklich langweilig so allein!“.

Le Grand Hotel, Paris, Mittwoch, 7. 12. 2005

Von Sonntag bis Dienstagmorgen Hamburg. Erst „Leidenschaften“: Schiller mit Siemen Rühaak im St. Pauli Theater. Am nächsten Tag mit Minka, Nico, Wolfgang die Weihnachtsessentradition wieder aufgenommen. Erst Champagner in der Wohnhalle, dann Essen im Doc Cheng. Minka erzählt zum ersten Mal, dass Mamsi sich immer die Schabbes-G’ttesdienste im NDR anhörte. Abschied vom Elternhaus. Mit Wolfgang nach Paris geflogen. Nikolausessen im Vaudeville. Heute Einkauf dieses ledernen Tagebuchs, Hemd und Krawatte + Pochette, kriegt Wolfgang zu Weihnachten.

Bevor Minka kam, lief ich nochmals um den Block der Reihenhäuser – beäugt von neugierigen Nachbarn. Nur in unserem Garten gibt es hochgewachsene Bäume, eine Tanne, einen Pflaumen- und einen Apfelbaum. Und eine Schaukel, sie stand noch da. Ich setzte mich drauf und erinnerte mich an meinen Vater! Hier war es gewesen! Was für eine Nacht!Minka und ich trafen den Hausverwalter, einen Herrn Hagemann, zur Übergabe der Wohnung. Das letzte Mal im Uckermarkweg 10 e. In meinem Zimmer, in dem der Daumen hochgebunden worden war, damit ich ihn nicht lutschte; in dem ich geschlagen wurde; in dem ich betete, nicht schwul zu sein; in dem ich meiner Mutter alles gestand – und verraten wurde; in dem ich masturbierte. Einmal überraschte mich dabei Minka. Sie kam ins Zimmer, ohne anzuklopfen. Ich wurde schamrot. Wir haben nie darüber geredet. Neben meinem Bett stand ein kleines Radio, das ich – für Pop auf NDR – gleich nach der zweiten Weckung andrehte.

Schon drei Wochen nach dem Tod von Mamsi wurde innen aus dem Haus alles rausgerissen, Rohbau. Im Wintergarten habe ich mich kurz auf den Holzboden gesetzt und daran gedacht, wie gern ich dort schlief, vor allem bei Regen. Wie Mamsi zu Schulzeiten hier die erste und die zweite „Weckung“ machte, mit einer Schlaffrist dazwischen von fünf Minuten. Nie waren es sechs. Und wenn ich nicht sofort aufstand, schimpfte sie sehr. Immer wieder der Spruch: „Du stiehlst dem lieben G’tt den Tag!“

Ich bin wehmütig, aber nicht wirklich traurig. Im Keller entdecke ich noch meinen Schlitten. Ich erinnere mich, dass Paps ihn mit einem Tau hinten an der Stoßstange an seinem Opel Kapitän befestigte und Minka und mich auf einer schneebedeckten Waldstraße nördlich von Bad Segeberg mit zwanzig Stundenkilometern durch den Schnee schleppte. Mamsi schaute aus dem Rückfenster, sie fürchtete wohl, dass uns etwas passieren könnte. An die Abgase dachte damals niemand.

Warum hat meine Mutter geschwiegen, schlimmer noch: mich belogen? Warum hat sie mir nur selten etwas anvertraut? Warum hat sie nie über die Frau, die polnische Bäuerin, gesprochen? Oft sagte sie, dass eine Frau sehr gut zu ihr gewesen sei, ihr verdanke sie ihr Leben.

„Aber, glaub mir, auch diese Zeit war furchtbar. Anders furchtbar.“

„Wieso?“

Meine Mutter schwieg.

Warum hat sie meinen Vorschlag abgelehnt, sie möge ihre Lebensgeschichte aufschreiben oder auf ein Tonband sprechen? Warum wollte sie so viel für sich behalten? Warum gab es im Alter für sie nur eine Frage: Und jetzt? Warum vertraute sie sich niemandem an – nicht meinem Vater, der es sehr früh aufgab, sie zu befragen? Auch er erzählte mir nicht viel vom Krieg und seinen Jahren in Frankreich. Er brüstete sich nur damit, eine sehr schöne französische Freundin gehabt zu haben. Natürlich verletzte dieses Bekenntnis meine Mutter. Sie fand auch seine anderen Prahlereien weit weniger amüsant als er: die Plünderung von Weinkellern französischer Juden; die Verfolgung von Deserteuren.

Ein verschwiegenes Paar. Ein ungleiches Paar. Ein nur sehr selten glückliches Paar.

 

Meine Mutter wurde am 9. Januar 1925 in Leipzig geboren. Sie war die Tochter von Kurt Artmann und seiner Frau Elise, geborene Jacoby. Mein Großvater war Protestant, meine Großmutter Jüdin. Sie wuchs in einem wohlhabenden Haushalt auf. Ihr Vater, Clemens Jacoby, hatte es als Rechtsanwalt in Leipzig früh schon zu Wohlstand gebracht; ihre Mutter Ruth kam aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie liebte, so erzählte meine Mutter, die Musik, war aber geizig. Je älter sie wurde, desto schlimmer sparte sie, gab alle Geselligkeiten auf, weil sie es nicht einsah, andere „durchzufüttern“.

Die Eltern meines Großvaters Kurt, Michael und Elisabeth Artmann, waren Lebensmittelhändler in Bitterfeld. Dieser Urgroßvater muss ein exzessiver Trinker gewesen sein, im Rausch gewalttätig zu seinen beiden Kindern, was dazu führte, dass Kurt Artmann lebenslang keinen Alkohol anrührte. Er arbeitete nach der Mittleren Reife und einer Kaufmannslehre ehrgeizig an seiner Karriere und besaß, als meine Mutter geboren wurde, ein großes Möbelgeschäft in Leipzig, in der Menckestraße 26, mit einer Filiale in Bitterfeld. Großvater Kurt war ein Snob. Er ließ sich, so erklärte meine Mutter stolz – und zugleich ein wenig enttäuscht, dass ihr Vater doch ein kleiner Angeber war –, in seinem schwarzen Horch 830 BL Convertible nach Budapest fahren, um sich Schuhe anfertigen zu lassen. Diese Geschichte bekam ich immer wieder und immer dann zu hören, wenn ich neue Schuhe haben wollte. Mutter meinte, ich hätte diesen „Schuhfimmel“, so nannte sie diese ihr seltsam erscheinende Lust, von „Opa Artmann“ geerbt.

Hamburg, Hotel Vier Jahreszeiten, 24. Oktober 2005

Es ist ein Montag. Noch mal für zwei Tage in der Wohnung der Eltern. Minka hatte angeboten, dass ich bei ihr übernachten könnte. Habe abgelehnt. Wir räumen das Schlaf- und das Wohnzimmer aus. Es tut weh, Dinge wegzuwerfen, die mir einmal wertvoll schienen. Ganz schlimm: die Geschenke, die ich Mamsi und Paps gemacht habe. Ich mag sie nicht zu mir nehmen. Im weißen Schlafzimmerschrank finden wir im obersten Fach, versteckt hinter Tischdecken, sechs Krokodilledertaschen in verschiedenen Größen. In einer entdecke ich den Brief. Alle komplett ausgestattet, mit Kamm im Krokoetui, Puderdöschen und Spiegel. Mamsi regte sich über meinen Schuhfimmel auf – sie hatte einen Taschenfimmel. Aber heimlich! Wie albern ist das denn? Ging sie mit ihnen schlafen?


Meine Großmutter Elise kam am 5. Juni 1894 in Nienburg an der Saale zur Welt. Meine Mutter nannte sie nur „meine Mutter“, während sie von ihrem Vater immer als „Opa Artmann“ sprach. Sie muss sowohl geschäftstüchtig als auch gebildet gewesen sein. Sie stammte aus einer erfolgreichen jüdischen Anwaltsfamilie, die wie die meisten Leipziger Juden assimiliert war, weshalb für ihre Familie die Heirat mit einem Nichtjuden, einem Goj, unproblematisch war. Ein Problem stellte eher Kurt Artmanns soziale Herkunft dar. Doch da Elise Jacoby, die Deutsch und Französisch studierte, als sie Kurt Artmann kennenlernte, sich nicht von ihrem Wunsch abbringen ließ, diesen gut aussehenden, erfolgreichen Aufsteiger zu heiraten, willigten die Eltern letztlich ein. Nicht zuletzt, weil Clemens Jacoby die Strebsamkeit seines zukünftigen Schwiegersohnes imponierte. Geheiratet wurde nur standesamtlich, weder in der Kirche noch in der Synagoge. 

Elise Artmann gab wegen der Heirat das Studium auf. Sie erwies sich bald schon als die Stärkere in dieser Ehe. Sie war es, die sich um die Angestellten im Geschäft kümmerte, um den Haushalt und, nach zweijähriger Ehe, um das einzige Kind, die Tochter Margot. Opa Artmann hingegen gefiel sich als Charmeur und hatte, so meine Mutter, ganz gewiss andere Frauen neben der eigenen. Seltsam, nie sprach sie über diesen Vater-Hallodri unziemlich, nie kritisierte sie sein Verhalten. Im Gegenteil: Es schien, als sei sie stolz gewesen auf diesen Herzensbrecher.

Ich blättere in dem Fotoalbum und finde mein Großelternpaar Artmann. Sie stattlich, aber nicht sehr groß gewachsen, er schlank und sie ein wenig überragend. Sie stehen vor einem großen Hotel in Marienbad. Überaus korrekt gekleidet. Sie haben sich hergerichtet – nicht für das Foto, sondern für den Ort. Sie haben sich nicht vor der Kulisse drapiert, eher möchten sie erscheinen, als seien sie von dem Fotografen entdeckt worden – als Vorzeigebesucher dieses Nobelortes. Das Geschäftsehepaar aus Leipzig demonstriert Wohlstand und möchte gesehen werden. Selbstbewusst schauen sie in die Kamera. Schaut meine Großmutter jüdisch aus? Meine Mutter? Kann man in mir einen Juden erkennen?

München, Montag, 7. November 2005

Ich muss mir unbedingt Alain Resnais’ Film L’année dernière à Marienbad aus der HFF-Mediathek ausleihen.

Fotos von meinen jüdischen Großeltern in einer Pappschachtel gefunden, die in einem sehr großen Karton lagen neben vielen Diakisten aus den Sechzigerjahren. Ich und Minka auf dem Schlitten, fotografiert aus dem Autoheckfenster, Minka und ich an der Ostsee, wir bereiten in einem Eimer einen Salat aus weißen Quallen. Habe alle Fotos und Dias mitgenommen. Ich war wirklich ein dicker Junge. Nie kam mir der Gedanke, dass ich eine jüdische Physiognomie habe. Ich sehe doch nicht aus wie die Juden, die Philipp Rupprecht unter dem Pseudonym Fips für den Stürmer zeichnete. Erinnerte mich an meine ersten Besuche in der Hamburger jüdischen Gemeinde. Nur zweimal in meinem Leben wurde mir bewusst, dass ich aussah wie andere Juden. Also doch womöglich jüdische Züge tragen könnte. Was mich verunsicherte und zugleich meinen Wunsch stärkte, der jüdischen Gemeinde offiziell anzugehören.


Herbst 1964. 

Ich besuchte ein Klavierkonzert im Gemeindesaal der Hamburger Israelitischen Kultusgemeinde. Es waren viele junge Menschen im Saal, einige mit ihren Müttern. Ich glaubte, besonders viele Frauen mit so großen Ohren, wie meine Mutter sie hatte, zu sehen. Ich verglich sie mit den Cocker-Hängern. Und Jungen, die mir ähnelten: schwarze Haare, Brille, ein wenig dicklich – und im Gespräch neunmalklug.

 

Herbst 2016

Seit ich Mitglied der liberalen Gemeinde in München bin, die den Namen „Beth Schalom“ trägt, Haus des Friedens, versuche ich an Rosh Hashana, dem Neujahrsabend, und an Jom Kippur in der Synagoge zu sein. Der Versöhnungstag ist mir der wichtigste Termin im jüdischen Jahr. Ich faste, ich kleide mich in Weiß, trage weder Schmuck noch Lederschuhe, verzichte also auf jeden Luxus – es ist so, als probiere man in einem Totenhemd den Tod, hoffend, dass nach diesem „Tag der Bedeckung“, wie die wörtliche Übersetzung heißt, nach diesem Tag, an dem man seine Sünden bekennt – G’tt den Gläubigen ins Buch des Lebens eintragen möge. Bin ich in München, dann bitte ich den Rabbiner darum, möglichst viele Texte vor der Gemeinde vortragen zu dürfen. Auch Kafka-Texte!

Ausgerechnet an Jom Kippur laufe ich mit meinem Mann und unserer japanischen Fremdenführerin Ayaka Mitsuda durch Kyoto. Ich hatte beiden erklärt, dass ich das 24-stündige Fasten einhalten wolle, also auch nichts trinken würde, trotz der sechsundzwanzig Grad im Schatten. Auf dem sogenannten Philosophenweg, von einem buddhistischen Tempel zu einem anderen, sprechen mich zwei junge Männer an: „You’re looking very jewish!“ – „Yes I’m a German jew, a liberal one.“ Sie erklären, dass ihnen noch ein Mann fehle. Der zehnte, um einen G’ttesdienst abhalten zu können. „You know: the minjan!“ – „Yes, but I don’t speak Hebrew!“

Kyoto, 12. Oktober 2016, Jom Kippur, 23.12 Uhr

Ich muss Hebräisch lernen!


Seit der Pubertät las ich bevorzugt jüdische Autoren, und, das gehörte für mich zusammen, ich suchte nach den Antisemiten unter den Intellektuellen. Was mich trieb, war Neugier zum einen. Zum anderen wollte ich wissen, welche Intellektuellen und Künstler offen judenfeindlich waren, um mich mit meinem Urteil zu positionieren. Gab es Antisemiten, die sich öffentlich anders äußerten als in ihren Briefen und Tagebüchern? Ich wollte mir meine selbst gestellte Frage beantworten, ob ich ein Werk schätzen konnte und zugleich den Autor oder Komponisten verachten. Ich wurde zum Erstaunen meiner Freunde und später meiner Zuhörer und Leser sehr oft fündig – es gab sie, die bekennenden und die verstohlenen, aus Rücksicht auf ihre Karriere verschwiegenen Judenverächter, die allein in privaten Mitteilungen ihrem Hass freien Lauf ließen. Nur eines gelang mir nicht: eine eindeutige Antwort. Vergibt man dem Genie Antijudaismus und im 20. Jahrhundert Antizionismus? 

 

Zu den schlimmsten Judenhassern zählte ich Martin Luther, Richard Wagner und Theodor Fontane, der sich sehr ausführlich mit den Juden und ihrem Aussehen beschäftigt – das interessierte die anderen beiden Antisemiten eher nicht.

Während seiner Ferien auf Norderney schreibt Fontane seiner Frau Emilie. Es ist übrigens ein Brief, der in der ersten Ausgabe seiner Korrespondenzen von der Familie nicht in die Sammlung aufgenommen wurde, Familienzensur: „Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer in Rawicz oder Meseritz ein Jahr lang Menschen betrogen oder, wenn nicht betrogen, eklige Geschäfte besorgt hat, hat keinen Anspruch darauf, sich in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren. Wer zur guten Gesellschaft gehört, Jude oder Christ, darf sich auch in der guten Gesellschaft bewegen, wer aber elf Monate lang Katun abmisst oder Kampfer in alte Pelze packt, hat kein Recht, im zwölften Monat sich an einen Grafentisch zu setzen.“

 

Im Jahr 1880 beschwört er, dass den Juden eine Lektion erteilt werden würde, weil sie eine Strafe verdienten: „Nichts von den großen Dingen, nicht einmal von der ›Judenfrage‹, sosehr mich diese bewegt und geradezu aufregt. Nur so viel: Ich bin von Kindesbeinen an ein Judenfreund gewesen und habe persönlich nur Gutes von den Juden erfahren, dennoch hab ich so sehr das Gefühl ihrer Schuld, ihres grenzenlosen Übermuts, dass ich ihnen eine ernste Niederlage nicht bloß gönne, sondern wünsche. Und das steht mir fest, wenn sie sie jetzt nicht erleiden und sich auch nicht ändern, so bricht in Zeiten, die wir beide freilich nicht mehr erleben werden, eine schwere Heimsuchung über sie herein.“

Fontane war ernsthaft davon überzeugt, dass die Juden „ein schreckliches Volk“ seien: „Ein Volk, dem vom Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann. Welch Unterschied zwischen der christlichen und der jüdischen Verbrecherwelt! Und das alles unausrottbar.“ Schließlich, Lessings Nathan bedenkend, verabschiedete sich Fontane auch von den Idealen der Aufklärung. Zu den Herrlichkeiten, die er während seines Lebens erfahren habe, schreibt er 1880, „gehört auch der immer mehr zutage tretende Bankrutt der Afterweisheit des vorigen Jahrhunderts. Das Unheil, das Lessing mit seiner Geschichte von den drei Ringen angerichtet hat, ist kolossal. Das ›seid umschlungen Millionen‹ ist ein Unsinn.“

Meine Großmutter gehörte zur Leipziger Gesellschaft – doch meine Mutter wurde bereits als Mädchen durch die Gesetzgebung 1938 ausgeschlossen; Lessings Nathan verschwand von den Bühnen, und der Stürmer präsentierte zum Vergnügen seiner Leser die „Gaunergesichter“, von denen Fontane geschrieben hatte. Und die Deutschen nahmen des Dichters Rat an, die Juden auszurotten.

C. Bernd Sucher

Über C. Bernd Sucher

Biografie

C. Bernd Sucher ist seit 1996 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München und leitet an der Theaterakademie August Everding den Ergänzungsstudiengang Theater-, Film- und Fernsehkritik. Der langjährige Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung ist PEN-Mitglied und hat zahlreiche...

Pressestimmen
SWR 2 "Lesenswert"

„Bernd Sucher erzählt mutig und selbstironisch seine persönliche Geschichte.“

Süddeutsche Zeitung

„Über das Psychologische hinaus ist dies ein Buch für eine Zeit, in der ein wachsender Prozentsatz es für bürgerlich hält, Rassisten zu wählen. Gedankenkunst als Reaktion auf das Unerträgliche.“

Jüdische Allgemeine

„Eine leichte Lektüre ist das Buch nicht, aber eine wichtige.“

Moments

„Sehr offen, reflektiert und wunderbar erzählt.“

Abendzeitung München

„C. Bernd Suchers anrührende Chronik ist ein wichtiges Zeugnis dafür, wie Traumata über Generationen weitervererbt werden – und wie auch Holocaust-Opfer manchmal zu Gewalttätern werden konnten.“

rbb "Das Gespräch"

„Suchers Spurensuche zeichnet die schwierige Beziehung von Mutter und Sohn nach. Es ist ein Versuch der Befreiung, und gleichzeitig eine berührendes Erinnerungsbuch.“

Süddeutsche Zeitung

„Ein sehr persönliches Buch, in dem Sucher die Geschichte seiner Mutter erzählt …. Es ist die ›Geschichte einer Befreiung.‹ Und die eines späten Erwachsenwerdens.“

NDR Neue Bücher

„›Mamsi und ich‹ ist die Geschichte einer Annäherung an eine oft unnahbare Frau. Fast schon eine Liebeserklärung. Mindestens aber (…) eine Geschichte des Verzeihens.“

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