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Im Schatten des Imperiums Im Schatten des Imperiums - eBook-Ausgabe

Jens Wittenberger
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Historischer Roman

— Packender Abenteuerroman am römischen Limes
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Im Schatten des Imperiums — Inhalt

Verrat, Intrigen und blutige Kämpfe am Limes

231 n. Chr.: Der junge Römer Marcus wird zur Ausbildung zu seinem Onkel nach Augusta Vindelicum geschickt, unweit des Limes. Dort verliebt er sich in eine mysteriöse germanische Sklavin, die eines Tages spurlos verschwindet. Marcus begibt sich auf die Suche nach ihr, doch er ahnt nicht, dass er geradewegs auf einen tückischen Hinterhalt zusteuert. Unterdessen spitzt sich die politische Lage Roms immer weiter zu. Der junge Kaiser Severus Alexander und seine Legionen konzentrieren sich ganz auf Persien, wo ein erbitterter Krieg entbrennt – und machen damit die Grenze zu Germanien verwundbar. Auf diese Gelegenheit haben die Germanen um ihren Anführer Adalmar lange gewartet. Schon bald schwebt nicht nur Marcus‘ Heimat, sondern ganz Rom in höchster Gefahr ...


Der Limes in Gefahr: Ein packender Abenteuerroman an der Grenze zwischen Rom und Germanien 

Für Fans von Simon Scarrow, Robert Fabbri und Ben Kane

Eine Fortsetzung von Im Schatten des Imperiums ist in Planung

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 31.05.2024
704 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31951-5
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€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 31.05.2024
704 Seiten
EAN 978-3-492-60836-7
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Leseprobe zu „Im Schatten des Imperiums“

Germanien, Oktober 213 n. Chr.

Titus Aurelius knackte jeden einzelnen seiner Fingerknöchel und wippte nervös mit den Knien. Unzählige Male hatte er seinen Plan in Gedanken durchgespielt. Er wusste, er würde nur einen Versuch haben, und es war ein Wagnis auf Leben und Tod. Er fühlte seine Halsschlagader pochen, so wie im Moment vor einer Schlacht, wenn Angst und Todesmut um die Oberhand rangen. Die Zeit drängte, sein Geheimnis konnte jederzeit gelüftet werden.

»Jetzt oder nie! Ich ziehe das jetzt durch. Wenn sie ihn entdecken, sind wir alle geliefert, das [...]

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Germanien, Oktober 213 n. Chr.

Titus Aurelius knackte jeden einzelnen seiner Fingerknöchel und wippte nervös mit den Knien. Unzählige Male hatte er seinen Plan in Gedanken durchgespielt. Er wusste, er würde nur einen Versuch haben, und es war ein Wagnis auf Leben und Tod. Er fühlte seine Halsschlagader pochen, so wie im Moment vor einer Schlacht, wenn Angst und Todesmut um die Oberhand rangen. Die Zeit drängte, sein Geheimnis konnte jederzeit gelüftet werden.

„Jetzt oder nie! Ich ziehe das jetzt durch. Wenn sie ihn entdecken, sind wir alle geliefert, das ist das Ende unserer Familie. Niemand schert sich um einen berittenen Soldaten der Hilfstruppen, der nach seinem Pferd sieht. Los, los, los“, trieb er sich an. Entschlossen nahm er allen Mut zusammen, den er für diese Sache brauchen würde.

Es dämmerte bereits. Herbstlicher Bodennebel umhüllte das Legionslager. All die Monate hatte Titus das Klima Germaniens verflucht. Unendliche Wälder, zerteilt von Sümpfen und Gebirgen, die von unwegsamen schlammigen Pfaden verbunden wurden, hatten seine Kräfte aufs Äußerste strapaziert, Mückenschwärme und Feuchtigkeit den Geist langsam, aber gründlich zermürbt. Heute schien ihm das germanische Wetter zum ersten Mal nützlich, und er hatte sich mit der Natur versöhnt. Bei der Errichtung der Nachtlager hatten mehrere Legionen Wiesen und Waldboden platt getrampelt. Dadurch war ein überwältigender Blätterduft entstanden, der ihm in die Nase stieg und ihn durchatmen ließ. Titus trat an den Zaun und streichelte seinen Hengst Wotan, der zutraulich schnaubte. Es tat ihm gut, ihn wie einen alten, zuverlässigen Freund in der Nähe zu wissen. Mit verstohlenem Blick prüfte er, ob ihm jemand gefolgt war, doch die Luft war rein. Dann betrat er mit pochendem Herzen das geräumige Zelt, in dem die Satteltaschen lagerten. Es roch nach Stall und Pferdemist. Auf Zehenspitzen schlich er voran, doch plötzlich fuhr ihm der Schreck in die Glieder. In seiner Satteltasche wühlte ein Fremder, der ihm den Rücken zudrehte. Als Titus seinen Dolch zog, ertönte ein metallischer Klang. Ertappt hielt der Mann inne und fuhr herum.

„Was hast du an meiner Tasche verloren? Verdammter Dieb!“, fauchte Titus den Kerl an.

Nun standen sie sich direkt gegenüber, und er erkannte den Mann. Ein Kamerad aus der eigenen Einheit, der eine Alkoholfahne verströmte, die sogar die Stallluft überlagerte.

„Reg dich ab. Du hast wohl reiche Beute gemacht? Wir sollten teilen. Halbe-halbe.“

„Mallus! Das hätte ich mir denken können. Du hast keine Ahnung, was du da in der Hand hältst.“ Sein Blick fiel auf den Beutel, den der dreiste Dieb in der Hand wog.

„Was ist da drin?“, fragte Mallus grinsend und entblößte eine Reihe von gelblich braunen Zähnen. „Münzen?“ Er schüttelte den Beutel, und der Klang von Metall, das aneinanderschlug, erfüllte den Stall. „Er ist schwer, dein Beutel.“

„Leg ihn hin, du Kameradenschwein.“

„Und was, wenn nicht?“, lallte Mallus angriffslustig.

„Deine abgrundtief schwarze Seele ist schuld daran, dass du leer ausgegangen bist. Mörder! Vergewaltiger!“ Titus spuckte die Worte aus.

Das Grinsen gefror Mallus zur hasserfüllten Fratze.

„Ich schlag dich tot, du Bastard!“, kreischte er und knallte ihm den Beutel mit voller Wucht vor die Brust. Titus taumelte, als Mallus auf ihn zustürzte und ihm den Dolch aus der Hand trat. Mit einem Faustschlag schickte Mallus ihn zu Boden und zielte mit den Füßen nach seinem Kopf. Betrunken, wie er war, stolperte er und trat daneben. Mit einer flinken Drehung rollte sich Titus zur Seite und bekam mit beiden Händen Mallus’ Sandale zu greifen, die knapp an seiner Wange vorbeigeschrammt war. Wütend riss er ihn in den Staub, und sie rangen in wilder Raserei um die Oberhand. Mallus fand den Dolch im Stroh wieder. Seine hasserfüllten Augen waren von Triumph erfüllt, als er ihm die Klinge entgegenstreckte. Doch Titus war um einen Wimpernschlag schneller. Das Holzscheit, das gegen Mallus’ Schläfe knallte, ließ die hochmütigen Gesichtszüge augenblicklich zur ausdruckslosen Maske gefrieren, bevor sein Gegner bewusstlos zusammensackte.

Titus schob den schweren Körper ächzend von sich, betastete sich im Gesicht und wischte die blutenden Stellen mit dem Ärmel ab. Hinter seinem in Germanien gewachsenen Bart würden die Wunden halbwegs verborgen bleiben, so hoffte er zumindest. Er pries seinen kompakten, leicht gedrungenen Körper, über den zwar schon unzählige Kameraden gespottet hatten, der ihn in brenzligen Situationen jedoch noch nie im Stich gelassen hatte. Auch wuchtige Schläge schüttelte er ab, er war hart im Nehmen. Dennoch schmerzte sein Schädel, und er rieb sich die immer größer werdenden Stellen, an denen sich die Haare weigerten zu wachsen. Fluchend verstaute er den Beutel unter seiner Tunika. Jetzt gab es kein Zurück.

Sein Körper war von Adrenalin geflutet, und er verspürte keinerlei Angst mehr.

Als er das Gepäckzelt verlassen wollte, trat ein Legionär ein und schob ihn zur Seite. Sein Blick fiel auf Mallus, der gekrümmt am Boden lag.

„Was ist hier los, Soldat?“

„Spielschulden“, log Titus und machte sich ohne ein weiteres Wort davon.

Er atmete tief durch und wischte sich die Spuren des Kampfes vom Körper. Sein Weg führte ihn einmal durch das gesamte riesige Feldlager. Um der Enge der kleinen Nebengassen zu entkommen, in denen sich um diese Tageszeit etliche Legionäre und Hilfssoldaten herumtrieben und einander auf die Füße stiegen, nahm er die äußere Lagerringstraße. Sie zog vor dem aufgeschütteten Wall einmal ihren Kreis ums Lager und bot mit sechzig Fuß Breite genügend Platz für alle möglichen Belange.

An einigen Abschnitten rammten schwitzende Legionäre noch immer beidseitig angeschnittene Palisaden in die aufgeschüttete Erde. Als er sich seinem Ziel näherte, verließ er die Ringstraße wieder und bog ein in die Enge der Zeltgassen. Ein beißender Geruch aus altem Blut und Exkrementen stach in seine Nase. Das Lazarett lag direkt neben den zu dieser Uhrzeit bis oben hin gefüllten Latrinen, und der Gestank nahm ihm für einen Moment den Atem. Angewidert vergrub er die Nase im Oberarm und stieß dabei mit einem Wundarzt zusammen, der ihn für seine Achtlosigkeit wütend beschimpfte. Er konnte es dem Mann nicht verdenken. Nach wie vor arbeiteten die Wundärzte Tag und Nacht ohne Unterlass. Er hörte, wie zahlreiche Verwundete stöhnten und schrien. Beim Geräusch der Knochensäge biss er sich wie immer auf die Zähne; allein die Vorstellung einer Amputation war für ihn unerträglich. Viele Wunden, die noch von der letzten Schlacht zeugten, hatten mittlerweile zu eitern begonnen und damit den Wundärzten eine weitere Menge Arbeit beschert.

Die Kriegserlebnisse der letzten Monate zehrten ganz unterschiedlich an den Männern, an denen er vorbeikam. Er passierte lachende, scherzende Legionäre, die tranken und spielten. Für sie ging das Leben seinen gewohnten Gang. Nur ein paar Schritte weiter saßen müde und erschöpft dreinblickende Soldaten, die ausdruckslos ins Leere starrten und nicht mehr in ihr altes Leben zurückfanden.

Der Caracalla-Feldzug, wie die Unternehmung nach Germanien genannt wurde, neigte sich seinem Ende zu. Die große Entscheidungsschlacht lag nur wenige Wochen zurück.

Sie hatten einen großartigen Sieg davongetragen, keine Frage. Ariovist, der germanische Anführer, war vernichtend geschlagen und hingerichtet worden. Die Kinder des Fürsten befanden sich in Gefangenschaft. Sie warteten darauf, nach Rom verschleppt zu werden, als Geiseln auf Lebenszeit. Die Kinder und damit der Stamm waren dadurch abhängig von Roms Gnaden.

Doch im Gegensatz zu früheren Schlachten, an denen Titus teilgenommen hatte, führten sie keine Sklaven mit. Der Grund dafür war unehrenhaft und widerlich. Hätte der Germanenanführer sich doch nur ergeben! Es war anders gekommen, und Männer wie sein Bruder, der mit ihm in einer Einheit diente, konnten mit den Konsequenzen nicht umgehen.

Der grauenvolle Blutrausch nach dem Sieg war unheilvoller gewesen als sein grässlichster Albtraum. Der Kaiser hatte in einem Anfall von gleichgültiger Grausamkeit den Mord an den unzähligen gefangenen Familienangehörigen der germanischen Kämpfer befohlen. Einmal losgelassen, vergingen sich die Truppen in Schande. Köpfe und Gliedmaßen säumten den Wald, der Boden war mit Blut getränkt, die Schreie der vergewaltigten Frauen und das Flehen der Unschuldigen hallten in Titus’ Kopf. Ihm wurde schlagartig bewusst, wie kümmerlich es um den verbliebenen Rest von Ehre in den Legionen und ihren Hilfsverbänden stand. Sein Bruder und er gehörten ausgerechnet der Einheit an, die am schlimmsten gewütet hatte. Mallus, das Kameradenschwein, war bei dem widerlichen Gemetzel besonders bestialisch gewesen. Zwar trafen Titus und seinen Bruder keine persönliche Schuld. Doch so, wie eine Einheit den Ruhm teilte, so teilte sie auch Schmach, Schande und Verfehlungen. Sein Bruder Quintus, ein Meldereiter, war in jeder Hinsicht das Gegenteil von ihm: sensibel, verschlossen, hochgewachsen und dünn. Titus war der Ältere, er passte schon sein ganzes Leben lang auf ihn auf. Die Mutter war früh gestorben, und das Verhältnis der Brüder war eher wie das eines Vaters zu seinem Sohn. Niemand, der sie nicht kannte, hätte vermutet, dass sie Geschwister waren. Titus hatte sich das alles nicht ausgesucht; immer Verantwortung zu tragen, lastete wie ein viel zu schwerer Rucksack auf seinen Schultern. Doch er liebte seinen Bruder. Auf das Massaker reagierte Quintus derart geschockt, dass er anschließend in einer lähmenden Antriebslosigkeit verharrte. Er hatte sich in seine eigene innere Welt zurückgezogen und wirkte immer häufiger ausdruckslos und apathisch.

Titus klopfte sich auf sein Ohr. Immer wieder wurde er heimgesucht, wurde den surrenden Klang einfach nicht mehr los. Eine Kinderstimme hallte in seinem Kopf.

„Ich, Adalmar, Sohn des Ariovist, schwöre beim Kriegsgott Tyr ewige Rache! Römisches Blut wird durch meine Hand in Strömen fließen!“ Ausgerechnet der zwölfjährige Sohn des Fürsten hatte die unheilvollen Worte bei der Hinrichtung seines Vaters ausgesprochen.

„Blut! Blut! Blut!“, dröhnte es in Titus’ Ohren. Wie einen Aussätzigen hatte er das Kind angestarrt.

Er sah den Jungen vor seinem geistigen Auge. Adalmar hatte bei diesen Worten einen von Goldfäden überzogenen Anhänger getragen. Ein übergroßes Amulett, das einen sich windenden Lindwurm einfasste. Der Drache hatte grüne Augen und rote Krallen. Es war eine ausgezeichnete Goldschmiedearbeit mit Edelsteinen, und Titus war verwundert gewesen, dass sie noch um den Hals des Knaben hing und nicht von Plünderern gestohlen worden war. Ihn hatte geschaudert, wie der junge Bursche mit seiner Schwester, noch ein Säugling, im Arm dastand und die Tränen mutig unterdrückte, während er von den umstehenden Legionären verhöhnt wurde. So wird Hass gesät, hatte er sich gedacht. Die Ernte dieser Saat würde irgendwann zwangsläufig aufgehen.

Titus hatte sich so sehr gewünscht, dass sein Bruder mit der Zeit lernen würde, mit all den grauenvollen Geschehnissen umzugehen. Doch dann war auch noch diese verdammte Botschaft eingetroffen. Drei kurze Zeilen und nur eine Hiobsbotschaft als Inhalt. Auf dem Wachstäfelchen stand, dass die Frau seines Bruders bei der Geburt ihres Sohnes im Kindbett verstorben war. Nichts weiter, kein Trost, keine Erklärung, nur ein weiteres Zeichen für die unaufhaltsame Macht des Todes. Er schüttelte den Kopf. In die düstere Stimmung seines Bruders schlug diese Nachricht ein wie die Sichel des Orcus. Er sah sich von den Göttern endgültig verlassen und mit der gerechten Strafe für die Untaten der Truppe konfrontiert. Seitdem dämmerte er vor sich hin, und die Realität interessierte ihn nicht mehr. An militärische Pflichterfüllung war nicht zu denken, und so lief Quintus mittlerweile sogar Gefahr, unehrenhaft entlassen zu werden. Wenn das passierte, dann konnte er den Rest seines Lebens mit Betteln verbringen – wenn er nicht gar vorhatte, den Styx aus freien Stücken zu überqueren. Zwei Ermahnungen wegen Pflichtmissachtungen hatte er schon erhalten, eine dritte würde sein Schicksal besiegeln. Was sollte aus dem Säugling und Titus’ Neffen Tatius werden, der erst drei Jahre alt war? Die Mutter tot, der Vater fernab und verloren in Schwermut?

Titus war bereit, alles auf eine Karte zu setzen, um seinen Bruder, dessen halbverwaiste Familie und sich selbst zu retten.

Der Tribun würde ihm – wenn überhaupt – nur einen kurzen Moment gewähren.

Er kannte den Mann als Offizier mit Begabung für Verwaltungsaufgaben, der anscheinend in die Politik strebte. Kein Krieger, sondern vielmehr ein Funktionär. Die beste Wahl für seinen Plan.

Vor dem Zelt des Tribuns hielt er inne, klopfte sich einige hängen gebliebene Strohhalme von der Uniform und sog die frische Herbstluft erneut tief ein. Er war bereit.

Er salutierte vor den Wachen und sprach mit fester Stimme: „Titus Aurelius, 1. Turma der Ala I Hispanorum Auriana! Ich habe eine wichtige Botschaft für den Tribun Aulus Fidelius.“

Eine der Wachen kündigte den Besucher durch einen Spalt im Zelteingang fast im gleichen Wortlaut an und zog nach einem kurzen Moment die Zeltplane zur Seite.

„Ave, Tribun“, erwies er dem adligen Offizier, der hinter einem kleinen Schreibtisch saß und über Papyri und Wachstäfelchen grübelte, den römischen Gruß.

„Steh bequem, Soldat“, antwortete dieser, ohne von seinen Papieren aufzusehen, und fügte mit gekünstelter Langeweile hinzu: „Was ist dein Begehr?“

„Tribun. Ich verlange, morgen zusammen mit meinem Bruder Quintus ehrenvoll aus der Armee entlassen zu werden.“

Der Tribun stoppte seine Lektüre und starrte ihn entgeistert an.

„Was hast du da eben gesagt?“

Titus hielt dem bohrenden Blick stand. Er kam einen Schritt näher, legte das Bündel mit den goldenen Schmuckstücken auf den Schreibtisch des Tribuns und öffnete es so, dass ein goldener Schimmer den Raum erfüllte. Mit gierigem Glanz in den Augen blickte Aulus Fidelius zwischen dem Bündel und ihm hin und her.

„Ich verlange, morgen mit meinem Bruder ehrenvoll entlassen zu werden, und hier liegt mein Preis dafür“, wiederholte er sein Anliegen.

„Du willst mich bestechen? Dafür könnte ich dich auf der Stelle töten lassen!“, zischte der Tribun ihn an.

„Das ist wahr. Aber das würde die Aufmerksamkeit auf das Gold lenken, und es wäre doch schade, wenn es am Ende in der Schatulle des Legaten landen würde.“

Beide Männer starrten sich einen Augenblick wortlos an. Titus gab dem Offizier Zeit, die Situation zu erfassen.

Bevor die Pause unangenehm wurde, fuhr er fort: „Ihr habt Ambitionen, Herr, und in der Politik aufzusteigen, ist teuer. Ihr seid talentiert und könnt mit dieser Hilfe Euren Weg beschleunigen“, schmeichelte er dem Tribun. „Mein Anliegen ist für die Truppe ohne Bedeutung. Wir haben tapfer gekämpft, ich bin seit fast zwanzig Jahren Soldat, Ihr könntet meinen Beitrag zur Schlacht ein wenig größer machen, als er war, und Ihr habt die Mittel, uns ehrenvoll und vorzeitig aus dem Dienst ausscheiden zu lassen. Mit einer schönen Parzelle Land, da, wo wir die meiste Zeit gedient haben. In Raetien, weit weg von Rom. Ihr werdet mich nie wiedersehen. Doch erwarte ich Eure Entscheidung sofort.“

Titus hielt, ohne es zu merken, den Atem an, beobachtete den Mann und wartete auf seine Reaktion.

Der Tribun öffnete das Bündel ein wenig weiter, ergriff einige Schmuckstücke und wog sie vorsichtig in seiner Hand. Sein Mund stand weit offen. Dann schnappte sein Kiefer zu, und er legte die Juwelen rasch zurück. Aulus Fidelius umrundete den Tisch. Er schob sein Gesicht so nahe an das von Titus, dass dieser den schlechten Atem seines Gegenübers zu spüren bekam. Übelkeit stieg in ihm hoch. Kleine, kalte Schweißperlen standen auf seiner Stirn, aber er rührte sich keinen Fingerbreit. Entweder rief der Tribun jetzt die Wachen – oder er hatte gewonnen.

„Du bist ein Feigling“, flüsterte der Tribun, „und ein Erpresser dazu.“

Titus’ Magen zog sich zusammen.

Der Tribun vergrößerte den Abstand und sprach nun ungerührt, aber leise weiter: „Komme morgen zur Mittagsstunde. Ich werde zwölf Mann vorzeitig in den Ruhestand schicken. Bring deinen Bruder mit. Ich will von euch die ganze Zeremonie über kein Sterbenswort hören. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Ja, Herr“, antwortete Titus demütig und bemerkte, wie ihm schwindlig wurde und er leicht wankte.

„Verschwinde jetzt. Wegtreten. Und sorge dafür, dass du morgen nicht aussiehst, als hättest du dich geprügelt“, knurrte Aulus Fidelius.

Titus verbeugte sich hastig. „Vielen Dank, Herr, Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Herr.“

„Eine Sache noch!“, rief ihm der Tribun nach.

Titus blieb wie angewurzelt stehen. „Ja, Herr?“

„Warum tust du das?“, fragte Aulus Fidelius.

Titus hätte wahrheitsgemäß antworten können, dass er das Töten satthatte, dass er, seitdem er sechzehn war, in der Armee gedient und nie etwas anderes in seinem Leben kennengelernt hatte. Dass er frei sein wollte, dass ihm der Germane, der Hüter des Schatzes, der vor ihnen lag, etwas bedeutet hatte und dass er sich um seinen schwermütigen Bruder kümmern musste.

Stattdessen murmelte er schmallippig: „Weil die Gelegenheit günstig war.“

Mit zitternden Knien kehrte er zu seiner Einheit zurück. Dort angekommen, überfiel ihn schlagartig eine so heftige Übelkeit, dass er zum Ärger seiner Kameraden direkt neben das Zelt kotzte. Danach fühlte er sich zum ersten Mal seit Wochen erleichtert und lehnte sich müde an seinen Schild. Jetzt bestand Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde.

Für einen kurzen Moment dachte er wehmütig an die prächtigen Schmuckstücke, die nun dem Tribun gehörten. Alle bis auf einen kleinen Ring, den er behalten hatte. Er holte ihn aus den Tiefen seiner Uniform hervor und wendete ihn in der Handfläche hin und her. Das schönste Stück überhaupt und ein Spiegelbild des Anhängers, den der Sohn des Ariovist getragen hatte. Er beschloss, dass er fortan sein Glücksbringer sein sollte. Als ein Soldat seiner Einheit mit einem Weinschlauch auf ihn zukam, ließ er den Ring flink verschwinden.

„Du siehst aus, als könntest du einen Schluck vertragen, Titus. Was hat dir denn auf den Magen geschlagen?“

„Nur dieses verdammte Land, Lucius. Du bist ein wahrer Kamerad.“ Sie tranken die saure Posca aus ihren verbeulten bronzenen Trinkflaschen, und Titus schwor sich, die Zukunft nur noch mit gutem Wein zu verbringen.


Achtzehn Jahre später


Raetien, Mai 231 n. Chr.

Der Kaiser war umstellt. Drei Barbaren bewegten sich auf ihn zu. Er packte sein Schwert fester, ließ es erwartungsvoll in seinen Händen kreisen, bereit, die Feinde zu durchbohren.

Marcus Aurelius hielt plötzlich inne. „Was ist denn?“, fragte seine achtjährige Stiefschwester Aurelia minor. Ein heftiges Blätterrauschen riss ihn aus seinem Kampf mit den kleinen Figuren, die er vor vielen Jahren selbst geschnitzt und detailgetreu angemalt hatte. Sein Bruder Manius und er konnten aus einem Fundus von vierzig Figuren wählen und ganze Schlachten nachspielen. Die kleine Aurelia war eine dankbare und begeisterte Zuhörerin, die ihn fortwährend motivierte, ihr Geschichten vorzuspielen. Wütend lenkte er seinen Blick auf die schweren schwarzen Wolkenberge und steckte alle Figuren zurück in die Tasche.

„Wir müssen uns beeilen, vielleicht haben wir zu Hause noch Zeit, die Geschichte zu Ende zu spielen“, antwortete er seiner enttäuschten Begleiterin, die den Kopf senkte und ihren Schritt beschleunigte, als er sie an der Hand hinter sich herzog.

Anstatt weiter Kaiser Marc Aurel zu spielen, stolperten sie mit hastigen Schritten den unebenen Pfad zur großen Straße hinunter. Der Korb, in dem er Eier auf Stroh verwahrte, wurde bedenklich durchgeschüttelt, während sie versuchten, dem nahenden Regen zu entkommen.

Er haderte mit dem Wettergott und befingerte das Schwert der kleinen kaiserlichen Spielfigur in seiner Tasche. Marc Aurel. Der beliebte Kaiser, vor rund fünfzig Jahren gestorben, war sein Namenspatron. Er hatte dies seinem Großvater zu verdanken, einem Germanen vom Stamm der Rätovarier, der in die römische Armee eingetreten war. Unmittelbar im Anschluss an eine bedeutende Schlacht gegen die Markomannen war ihm wegen besonderer Tapferkeit vom Kaiser das römische Bürgerrecht verliehen worden. Zu Ehren des Imperators hatte er noch zu dessen Lebzeiten den Namen Aurelius angenommen.

Der Grund für den Besuch auf dem Hof des Nachbarn war ein Tauschhandel. Weil ein Fuchs kürzlich die meisten Hühner seines Vaters gerissen hatte, brachte Marcus Ziegenkäse aus eigener Herstellung zum Hof des Veteranen Valerius Celerinus und erhielt dafür im Gegenzug Eier. Der Hof lag am Hang eines kleinen Berges, der sich zwischen zwei Hügelketten neben dem gemächlich dahintreibenden Fluss Alcmona emporhob. Der Waldrand reichte bis fast an das Hauptgebäude heran. Ein Frühjahrsgewitter am Tag zuvor hatte bei einem der alten Bäume einen schweren Ast abgebrochen, der aufs Dach gestürzt war. Marcus hatte bei den Reparaturarbeiten mitgeholfen, während Aurelia minor mit den gleichaltrigen Töchtern gespielt hatte, weshalb es jetzt später Nachmittag war.

Mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch lag noch vor ihnen, als es anfing, in dicken, schweren Tropfen zu regnen. Er gab den Kampf um trockene Füße auf und zog seinen braunen Umhang aus grobem Stoff über der Tunika zu. Eilig streifte er die Kapuze über seine wuscheligen blonden Haare. Seiner Stiefschwester band er ein Tuch um den Kopf. Marcus fröstelte. Bald würde er seinen achtzehnten Geburtstag feiern. Im letzten Jahr war er wider Erwarten noch einmal gewachsen, sodass seine Kleidung nun an manchen Stellen zu kurz geraten schien.

Der Wind vertrieb zornig die milde Frühlingswärme. Binnen weniger Momente peitschte ein Starkregen über die Straße. Kleine Sturzbäche ergossen sich über die Spalten und Platten der Hauptstraße, die von Biriciana über Augusta Vindelicum und von dort als Via Claudia Augusta letztlich bis nach Rom führte.

Marcus stapfte schicksalsergeben den Weg entlang, eingehüllt in den kratzigen Mantel, und nahm Aurelia minor bei der Hand, die Angst vor Gewittern hatte. Als er merkte, dass sie zwar tapfer voranschritt, aber mit den Tränen kämpfte, holte er trotz des Regens erneut zwei Figuren aus der Tasche: Kaiser Marc Aurel und einen Soldaten der Infanterie; er verkörperte auf dem Rückweg seinen älteren Bruder Tatius, der bei den Grenztruppen diente. Er eröffnete ein Selbstgespräch, die kaiserliche Miniatur zeigte mit ihrem Schwert auf ihn. Sofort hatte er die Aufmerksamkeit seiner kleinen Stiefschwester eingefangen, die Tränen schienen wie weggeblasen.

„Ihr da, wann tretet Ihr endlich in die Legion ein? Rom braucht Männer wie Euch!“

„Ehrenwerter Kaiser, ich bin nur ein einfacher Bauer. Ihr könnt auf meinen Bruder zählen. Dies hier ist Tatius“, er hielt die beiden Figuren einander zugewandt. „Mut und Tapferkeit zeichnen ihn aus. Er bewacht die Grenze und schützt Rom vor den Barbaren.“ Mit dem Schwert der Figur stieß er in den Regen. Aurelia minor gluckste und strahlte über das ganze Gesicht.

„Darf ich Euch etwas fragen, ehrenwerter Bauer?“

Marcus versuchte, sich vorzustellen, wie ihn der Kaiser um Rat fragte, fand die Vorstellung schließlich aber selbst höchst lächerlich, denn ein Kaiser würde ihn bestenfalls ignorieren.

Trotzdem antwortete er: „Natürlich, Caesar.“

„Seid Ihr gerne Bauer?“

„Bauer zu sein, garantiert ein anständiges Auskommen. Mein größter Wunsch wäre es jedoch, Rom zu dienen, doch das ist mir nicht möglich. Mein Vater braucht meine Hilfe auf dem Hof.“

Marcus stolperte, während er mit den Figuren Zwiesprache hielt, und konnte einen Sturz soeben noch vermeiden. Er fluchte lauthals. Die Straßen befanden sich in einem ruinösen Zustand. Biriciana hatte seit seiner Geburt angeblich fast fünfhundert Einwohner verloren. Der nur wenige Meilen entfernte Grenzwall bot mittlerweile keinen Handelsvorteil mehr, sondern war ein Zeichen für die latente Gefahr, die auf der anderen Seite lauerte.

„Glaubt mir, ehrenwerter Caesar, ich würde lieber heute als morgen in die Armee eintreten, um die Grenzen zu sichern. Doch mir fehlt der Mut meines Bruders. Tatius hat sich gegenüber Vater nach hartem Ringen durchgesetzt. Mir wird er diesen Wunsch ganz sicher verwehren, nur Eure Fürsprache könnte ihn überzeugen.“

„Wirst du auch Soldat werden, Marcus?“, fragte ihn Aurelia minor mit großen Augen.

Er blickte zu Boden und schwieg. Missmutig kickte er einen Stein zur Seite. Völlig abwegig war dieser Gedanke. Er überlegte, wie sein Bruder reagieren würde. Er bewunderte Tatius schon immer. Dessen Selbstbewusstsein hatte nichts von dem Trotz, den er manchmal an den Tag legte, wenn er um etwas kämpfte und es nicht gleich bekam. Man konnte Tatius nur schwer widersprechen. Er besaß Ziele und kämpfte darum mit Worten und Taten.

Hinter ihnen hörte er plötzlich trotz des niederprasselnden Regens die Hufe eines Pferdes aufstampfen. Rasch blickte er über die Schulter und schob instinktiv seine kleine Stiefschwester an die Seite. Es war ein Meldereiter der Armee. Zu seiner Überraschung brachte der Mann direkt neben ihnen sein Pferd zum Stehen. Die letzte Wechselstation musste schon weit zurückliegen, denn das Tier machte einen erschöpften Eindruck und schnaubte atemlos Speichelfäden zu Boden. Was für ein Mistwetter für einen Botenritt, dachte Marcus sich.

„Gehört ihr zur Familie Aurelius?“, fragte der Bote ohne Umschweife und zeigte auf ihren Hof, der schon in Sichtweite lag.

„Ja, ich bin Marcus Aurelius.“ Seine Stiefschwester hatte sich hinter ihm versteckt und blickte verstohlen auf den Meldereiter.

„Hier, für deinen Vater.“ Der Bote fischte eine Pergamentrolle aus seiner Tasche und übergab sie Marcus, nachdem dieser mit einem Bronzegriffel auf einer Wachstafel quittiert hatte.

Der Reiter wendete und machte sich ohne ein weiteres Wort davon.

Marcus schüttelte den Kopf. Das konnte nur von Onkel Titus sein. Es gab nur wenige Privatpersonen, die das Privileg genossen, Botschaften über das Meldereiterwesen der Armee zu verschicken. Mit Sicherheit hatte er ein Vermögen dafür ausgegeben.

In der Regel stand in der Botschaft nur, wann er eintreffen würde, damit man sich auf seinen Besuch vorbereiten konnte. Doch was mochte diesmal der Grund für die Visite sein?

Onkel Titus hatte immer einen Grund, wenn er einen Besuch abstattete. Für reine Vergnügungsausflüge war er viel zu beschäftigt. Er wusste als viel gereister und erfahrener Händler über die Welt und was in ihr geschah bestens Bescheid. Als älterer Bruder von Marcus’ Vater und Mann mit Kontakten war er so etwas wie ein inoffizielles Familienoberhaupt, sein Rat und sein Wort hatten enormes Gewicht. Marcus zuckte mit den Schultern und schüttelte den Regen ab, es fiel ihm keine Antwort auf seine Frage ein. In jedem Fall verhieß die Stippvisite Abwechslung und Neuigkeiten, deshalb verspürte er beim Gedanken an den Besucher schon das angenehme Kribbeln im Bauch, das in der Regel nur Festtagen vorauseilte.

Als sie an dem Pfad ankamen, der von der Straße zum Hof führte, beendete der Wettergott höhnisch sein Intermezzo, und die Sonne schob sich wieder durch die Wolkenberge. Marcus blinzelte und freute sich auf trockene Kleidung und das Abendessen.

 

Onkel Titus traf an den Iden des Mai aus Augusta Vindelicum ein. Sein holzvertäfelter, mit Planen gedeckter Reisewagen, der dank einem federnd aufgehängten Wagenkasten einen gewissen Reisekomfort bot, ließ ihn die Strecke von drei Tagen halbwegs ohne Gliederschmerzen durchhalten. Dennoch war er froh, als er endlich angekommen war. Der Lärm, den die eisenbeschlagenen Speichenräder erzeugten, nagte an seinen Nerven. Er lenkte den von zwei Ochsen gezogenen Wagen in den schmalen Weg, der direkt von der Straße aus Augusta Vindelicum abzweigte. Dabei ließ er seinen Blick zwischen den beiden Hügeln schweifen, die das kleine Seitental begrenzten. Hier hatte sein Bruder Quintus seine Villa gebaut. Weit hinten konnte er vor dem Wald am Ende des Tals die Einfassung der Quelle ausmachen, die von einigen Statuen und kleinen Säulen umrandet war. Dieses Familienheiligtum hatte ihm schon immer gefallen. Der Bach, den die Quelle speiste, plätscherte zu seiner Linken am Wegrand und diente in trockenen Zeiten als Bewässerungsmöglichkeit. Titus zählte sieben Gebäude. Neben dem Hauptgebäude entdeckte er das ihm schon bekannte kleine Badehaus sowie das Horreum – ein Lagerhaus – und vier weitere Wirtschaftsgebäude. Mittlerweile hatte Quintus zwei Terrassenebenen in die rechte Flanke des Hügels einarbeiten lassen. Es musste die Arbeit eines ganzen Sommers gewesen sein. Er freute sich schon auf seinen Lieblingsneffen Marcus und war gespannt, was aus dem aufgeweckten, wissbegierigen jungen Burschen geworden war, der ihn sehr an seine eigene Jugend erinnerte. Zwei Jahre war er nicht hier gewesen, und das letzte Mal hatte er seinen Bruder vor etwa einem Jahr gesehen, als dieser ihn wegen Geldfragen in Augusta Vindelicum aufgesucht hatte.

Mit einem Pfiff schickte er seine Ochsen auf das letzte Stück Weg.

Titus hatte seinen Haussklaven Bacchus dabei: ein untersetzter, kräftiger Mann mit zotteligen schwarzen Haaren und groben Bartstoppeln, der nicht viel redete. Bacchus hieß nicht wirklich so; er war ein Angehöriger eines Volkes aus dem Osten und stand schon viele Jahre in Titus’ Diensten. Hauptsächlich war er auf Märkten in der Umgebung von Augusta Vindelicum unterwegs, um seinem Herrn genießbare Weine zu beschaffen. Hierbei hatte er so großes Geschick bewiesen, dass Titus ihn irgendwann mit diesem Spitznamen versehen hatte.

Onkel Titus ächzte ein wenig, als er vom Wagen stieg, aber trotz seiner nunmehr vierundfünfzig Jahre und eines ansehnlichen Bauchumfangs bewegte er sich behände und wirkte sehr agil. Sein mittlerweile weiß gewordenes Haar war ihm bis auf einen kreisrunden Kranz ausgegangen. Dies glich er mit einem fein gestutzten Vollbart aus, der an manchen Stellen verriet, dass ihn einmal eine schwarze Haarpracht geziert hatte. Er trug eine seidene, von einer prächtigen Delfinfibel fixierte violette Toga, die mit Goldfäden umrandet war. Darunter, aus Gründen der Bequemlichkeit, eine einfache wollene Tunika. An der rechten Seite hing sein Dolch, der ein Geschenk aus dem Orient war, wie er einmal erzählt hatte. An den Fingern beider Hände steckten verschiedene Ringe: ein Siegelring mit Wappen und mehrere filigranere, die mit Edelsteinen oder Gemmen besetzt waren. Titus Aurelius, ein erfahrener und wohlhabender Kaufmann mit vielerlei Kontakten, bewohnte in der Nähe von Augusta Vindelicum eine prächtige Villa. In der Stadt selbst hatte er zudem eine Wohnung mit zwei prunkvoll eingerichteten Zimmern, in denen weißer und bernsteinfarbener Marmor dominierte, gleich neben dem Markt gemietet. Von dort bahnte er seine Geschäfte an. Außerdem besaß er mehrere Verwaltungsgebäude und Kellerräume für die vielen Weinamphoren und Fässer.

„Onkel Titus!“, schallte es vom Eingang des Haupthauses herüber.

Noch vor allen anderen herzte Marcus seinen Onkel. „Da bist du ja endlich. Du musst heute unbedingt noch der kleinen Aurelia meine Lieblingsgeschichte erzählen. Ich habe ihr nicht weniger als die spannendste Geschichte aller Zeiten versprochen.“

Titus musste zweimal hinsehen: Marcus war ein hochgewachsener Jüngling geworden, eher hager als kräftig. Die kindlichen Züge im Gesicht waren verschwunden, und ein blonder Flaum wuchs ihm am Kinn und über der Lippe. Höchste Zeit für die erste Rasur, denn die Grenze, an der man nicht mehr juvenil, sondern ungepflegt aussah, war unmerklich überschritten worden. Marcus sah seinem Vater ähnlich und erinnerte ihn an die frohen Tage der eigenen Jugend.

„Langsam, immer langsam mit den alten Leuten. Ich hatte ja noch nicht einmal Zeit, piep zu sagen. Welche Geschichte meinst du denn?“

„Na, die mit der Feuersbrunst und dem Vogel, der verbrennt und wiedergeboren wird.“

„Ach so, die Phoenix-Geschichte. Die hab ich ja schon eine Ewigkeit niemandem mehr erzählt. Ist sie wirklich deine Lieblingsgeschichte?“

„Und ob. Wenn ich an dich denke, dann denke ich immer auch an den Vogel. Die kleine Aurelia wird begeistert sein!“

Titus schürzte die Lippen, hielt sich beide Hände vor den Mund und formte einen Trichter. Der Schrei, den er von sich gab, erinnerte an einen Adler, und wie immer behauptete er felsenfest, dass so der Phoenix vor dem Flammentod klang.

Aurelia minor strahlte über das ganze Gesicht und hielt fest die Hand ihrer Mutter. „Was ist das?“, fragte sie neugierig.

Marcus stellte sich vor sie, ging in die Knie und fasste sie an den Schultern. „Der Schrei des Phoenix, kleine Schwester. Das ist der Schrei des Feuervogels.“

Titus verkniff sich ein Grinsen, denn die jüngste Tochter seines Bruders wäre nicht die Erste, die nach der blutrünstig ausgestalteten Geschichte für einige Nächte ins Bett der Eltern flüchten würde. Marcus war es vor vielen Jahren genauso ergangen. Er fragte sich im gleichen Moment, ob sein Neffe mittlerweile endlich Interesse am weiblichen Geschlecht hegte. Marcus war in dieser Hinsicht ein Spätstarter. Titus nahm sich vor, seinen Neffen zu einem geeigneten Zeitpunkt ein wenig auszufragen.

Die drei älteren Geschwister von Marcus, Primus Aurelius, Manius Aurelius und Aurelia major, hatten sich mittlerweile ebenfalls vor dem Haupthaus eingefunden und begrüßten Titus herzlich. Tatius war Soldat an der Grenze und konnte nicht kommen, was Primus, der trotz einer kriegsbedingten Behinderung neben seinem Vater auf dem Hof mitbestimmte, sogleich mitteilte.

Die rund zwanzig weiteren Bewirtschafter des Hofes, Sklaven und Pächter, kümmerten sich derweil weiter um die anfallenden Arbeiten.

„Was gibt es Neues von den Zollplänen des Statthalters?“, wollte Quintus wissen, kaum dass er Titus umarmt hatte.

„Gemach, gemach, kleiner Bruder. Wir wollen uns doch hier nicht auf dem staubigen Hof die Beine in den Bauch stehen. Und ich habe noch nicht einmal die Hausherrin begrüßt.“ Er küsste Laurentia auf beide Wangen und drückte sie lachend an seine Brust. „Du bist wie ein guter Wein, liebste Laurentia, jedes Jahr tut dir gut, ich beneide dich – und natürlich meinen Bruder.“ Laurentia waren die charmanten Anfälle ihres Schwagers immer etwas peinlich, und sie nahm betreten eine beschwichtigende Haltung ein, was Titus aber nicht weiter störte. „Bacchus – bring das Fass ins Haus und bereite uns ein paar anständige Becher Wein. Ich bin kürzlich direkt am Licias-Hafen von Augusta Vindelicum fündig geworden. Ein süßer Wein aus Gallien.“

Marcus zeigte seinem Onkel vor dem Abendessen noch das kleine Heiligtum, das er mit seinem Bruder Manius neu gestaltet hatte. Sie plauderten über die Kriege Roms zu Zeiten Marc Aurels und über Wettkämpfe im Amphitheater von Augusta Vindelicum, bis Titus auf dem Rückweg ein Thema ansprach, das die Konversation abrupt beendete: „Hast du eine Freundin, mein Neffe?“

Marcus schluckte vernehmlich. Er wurde nicht gerne daran erinnert, dass er keine Freundin hatte. Er hatte sein Interesse für Mädchen länger geheim gehalten als die meisten seiner Altersgenossen, aber er fand, dass er einen guten Grund dafür hatte. Der hatte mit einem desaströsen Scheitern zu tun, das er vor der Welt verschlossen hielt. Scham, falscher Stolz und ein fehlendes Gespür für den Augenblick waren die Zutaten für die Suppe, die er sich eingebrockt hatte; dabei hatte er das Gefühl, dass er weder die Suppe zur Genüge ausgelöffelt hatte noch dass er bereit war für eine weitere Portion dieses zuweilen gallebitteren Gebräus, das sich Liebe schimpfte. Sein Bruder hatte versucht, ihn mit dem Hinweis auf mangelnde Erfahrung zu trösten, aber auch Mitleid und Trost halfen nicht weiter.

Hinzu kam, dass sich die weibliche Auswahl in Grenzen hielt. Auf dem eigenen Hof gab es nur zwei Töchter von Pächtern, die etwa in seinem Alter waren. Eine hatte in ihrer Jugend irgendeine Krankheit durchgemacht, nach der sich auf ihrem Körper breite dunkelrote Flecken ausgebreitet hatten; leider betraf es auch ihr Gesicht. Sie hieß Cara, war witzig und nett und mochte ihn, wie er wusste, aber er konnte nicht aus seiner Haut und hatte ihre Avancen zurückgewiesen. Die andere, Flora, war wirklich hübsch, hatte einen dunklen Teint und schwarze Haare, aber seine Konkurrenten waren zwei bis drei Jahre älter als er, und er war bei Festen und Feiern regelmäßig bei ihr abgeblitzt. Wieder hatten sich Reife und Erfahrung durchgesetzt. Mittlerweile war sie von einem seiner Nebenbuhler schwanger, und damit war die Sache so oder so entschieden – obwohl sie alles andere als glücklich wirkte. Die Gerüchte auf dem Hof über den möglichen Vater schwankten zwischen zwei Kerlen, die er ohnehin nicht mochte, deshalb hatte er beschlossen, sich rauszuhalten.

Sehr viel mehr Möglichkeiten boten sich nicht. Auf zwei der Nachbarshöfe lebten nur Söhne in seinem Alter und Töchter, die zu jung oder zu alt waren. Somit blieb nur noch der eine Hof, derjenige, den er innerlich verfluchte, obwohl es ihn immer wieder dort hingezogen hatte.

Dort wohnte Callista, und sie entsprach ziemlich genau seinem Typ. Sie war bildschön, hatte blondes Haar und sah ihn aus himmelblauen Augen an, wenn er den Hof wegen Tauschgeschäften besuchte. Das Schicksal war ihm gewogen, denn es hatte bestimmt, dass auch sie Interesse an ihm zeigte. Als sein Vater das Badegebäude fertiggestellt hatte, konnte er noch einmal Punkte bei ihr sammeln. Nach einem mit den Nachbarn begangenen Fest inklusive Übernachtung nutzten sie die Gelegenheit und genossen das noch immer warme Bad in der Nacht gemeinsam. Dabei knutschten sie im Dunkeln. Ihr Vater hatte allerdings etwas mitbekommen. Anscheinend war er gegen die Beziehung oder hatte andere Pläne mit seiner Tochter. Nur so war zu erklären, warum sie zunächst keine Gelegenheit mehr bekamen, sich zu treffen. Der nächste Schritt stand indessen bevor, sie hatten sich bei einem heimlichen Spaziergang für eine Liebesnacht verabredet. Dort wollten sie ihre Beziehung besiegeln. Aber dazu kam es nicht. Denn Callista erschien nicht am gemeinsamen Treffpunkt. Er wartete und wartete, konnte nicht glauben, dass sie gekniffen hatte. Dass sie es sich anders überlegt hatte. Gefühle können einen verdammt täuschen, denn während sich der Schmerz zunächst nach innen richtete und er sich selbst bemitleidete, suchte er sich nur kurze Zeit später ein Ventil nach außen. Der Schmerz richtete sich von einem Tag auf den anderen gegen Callista, und je mehr Zeit verging, desto mehr begann er, sie zu hassen und zu verachten. Dafür, dass sie seine Gefühle missbraucht hatte, dafür, dass sie feige war und nicht für ihre Liebe gekämpft hatte. Er wurde griesgrämig und unleidlich, auch seiner Familie gegenüber. Irgendwann vertraute er sich seinem Bruder Manius an, dem Einzigen, mit dem er überhaupt darüber reden konnte.

Dann fiel er aus allen Wolken, denn Manius wusste zu erzählen, dass Callista schwer erkrankt gewesen war und um ihr Leben hatte ringen müssen. Er war zu stolz gewesen, sie zu besuchen und nach dem Grund für ihr Fernbleiben zu fragen. Und so musste er erfahren, dass sie ebenfalls von ihm enttäuscht war, weil er sich nicht nach ihr erkundigt hatte. Sie fühlte sich von ihm im Stich gelassen. Quälende Schmerzen in zwei Herzen, die nichts voneinander ahnten. Erst kürzlich hatte sie dem Werben eines anderen nachgegeben, der sich in dieser schweren Zeit um sie gekümmert hatte. Nun war sie fortgezogen, um mit dem Kerl eine Familie zu gründen. Marcus hatte nicht um sie gekämpft und sie für immer verloren – und so trauerte er ein zweites Mal, jedoch richtete sich sein Zorn dieses Mal ausschließlich gegen sich selbst. Die Frauen in seinem Leben – das war ein Kapitel, das er erst einmal geschlossen hatte.

„Nein, dafür habe ich keine Zeit“, gab er schmallippig zurück, nachdem er und sein Onkel schon fast wieder zum Haupthaus zurückgekehrt waren.

Kurze Zeit später versammelte sich die Familie im Triclinium am Kaminfeuer. Im traditionellen Speiseraum fanden drei Speisesofas Platz, die sich hufeisenförmig um einige Beistelltische für die Speisen und Getränke formierten. Während die beiden Brüder auf je einem Speisesofa Platz nahmen, teilte sich Marcus eines mit seiner Stiefmutter. Er war noch ein Säugling gewesen, als seine Mutter starb; deshalb hatte er zu Laurentia ein inniges Verhältnis. Er nannte sie, im Gegensatz zu seinen Geschwistern, auch Mutter. Alle anderen Familienmitglieder mussten heute im Atrium Platz nehmen. Onkel Titus hatte es sich so gewünscht, und als gewissenhafter Gastgeber hatte Quintus dem Anliegen ohne Nachfrage stattgegeben.

Laurentia hatte für eine Auswahl an Speisen gesorgt, die normalerweise höchsten Feiertagen vorbehalten waren. Als Vorspeise servierte sie sauer eingelegte Früchte und Gemüse, Oliven, Zwiebeln und Lauch, außerdem gekochten Sauerampfer und Brennnesseln, die als Mus gereicht wurden. Dank Marcus’ Jagdkünsten gab es gebratene Enten und Hasen als Hauptgericht. In Biriciana hatte Laurentia eine Amphore mit Garum aus Makrelen erstanden, der scharfen römischen Fischsauce. Auch wenn sie meist selbst ihre Fischsauce mit Forellen zubereitete, so war eine gallische Herstellung doch etwas Besonderes. Als Zwischengang bot sie marinierte Schnecken an. Da sie um Titus’ Schwäche für Schalentiere wusste, servierte sie zu seiner großen Freude Flussmuscheln. Austern hatte sie leider nicht auftreiben können. Alle ihr bekannten Händler, die gelegentlich Austern anboten, waren entweder nicht vor Ort oder mussten passen. Es war nicht das erste Mal, dass ihr dies passierte.

Der Wein schmeckte allen vorzüglich, und Titus hatte endlich Gelegenheit, von seinem Lieblingsthema zu erzählen.

„Bacchus kennt von Cambodunum bis Biriciana und von Gontia bis Castra Regina jeden Händler, Aufkäufer und Weinbauern. Trotzdem müssen viele Tavernenbesitzer mittlerweile auf Weine ausweichen, die in Raetien hergestellt wurden. In Raetien!“ Titus sprach den Namen ihrer Heimat mit gespieltem Ekel aus. „Vor allem die Gegend um Castra Regina tut sich seit einiger Zeit im Weinbau hervor.“ Vinum operarium, Pöbelgesöff, nannte Titus diese Tropfen. Es erinnerte ihn an seine Tage in der Armee, als die beim Keltern angefallenen Traubenreste für die einfachen Soldaten am nächsten Tag noch einmal gepresst wurden und dabei ein saurer Weinersatz herauskam, der, wenn man Pech hatte, im Nu in Essig umschlug. Er verzog beim Gedanken daran sein Gesicht zu einer Grimasse. Alle lachten, und die Stimmung am Tisch war gelöst, doch nach dem Essen ergriff Quintus das Wort und klang bedrückt.

„Ich mache mir Sorgen, Titus.“ Er presste die Lippen hart aufeinander. „In den letzten Monaten haben zwei Veteranen, die ich noch vom Caracalla-Feldzug kenne, ihre Höfe aufgegeben. Sie sind samt ihrer Familien fortgezogen. Zu lange schon hatten sie auf nicht eingelöste Versprechen nach mehr Sicherheit und niedrigeren Steuern gewartet. Stattdessen wurden Einheiten aus den Kastellen abgezogen und weitere Zollstationen errichtet.“

Beim Stichwort „Caracalla-Feldzug“ wurde Marcus hellhörig und fiel seinem Vater ins Wort.

„Onkel Titus! Ihr habt doch unter Caracalla gekämpft.“

„Marcus! Nicht jetzt“, herrschte ihn sein Vater an.

Doch Marcus ließ nicht locker.

„Nie ist es der richtige Zeitpunkt, du erzählst mir nie etwas!“, widersprach er. „Wie viele Germanen habt ihr getötet?“, fragte er erwartungsfroh seinen Onkel.

Quintus beugte sich zu seinem Sohn und knallte ihm mit der flachen Hand auf die rechte Backe.

Marcus’ Gesicht lief feuerrot an. Wutentbrannt sprang er auf.

„Ich bin kein Kind mehr, Vater. Langsam glaube ich, du hast überhaupt nicht gekämpft.“ Er suchte Beistand bei seinem Onkel. „Warum will er mir nie etwas erzählen? Hat er nicht gekämpft, Onkel Titus?“

Titus hob beschwichtigend die Hand in Richtung seines Bruders und wandte sich Marcus zu. Dann knallte er ihm kräftig auf die linke Wange.

„Respekt ist der kleine Bruder der Ehre, Marcus. Setz dich, höre zu und halte den Mund.“

Sein Neffe verstummte und starrte reumütig zu Boden, bevor er sich wortlos wieder an seinen Platz begab. Die von den Ohrfeigen pochenden Wangen überstrahlten die Schamesröte, die sich über sein Gesicht ausbreitete.

Titus rieb seinen Bart mit der Handinnenfläche und heftete den Blick auf den Weinbecher, während er leise sprach: „Die schwierige Situation ist auch der Grund für meinen Besuch. Kaiser Severus Alexander lässt Truppen aus dem ganzen Reich zusammenziehen. Es heißt, er plant diesen Sommer oder spätestens im Frühjahr des kommenden Jahres einen groß angelegten Feldzug gegen die Perser, die Mesopotamien verwüstet haben. Der Legat in Augusta Vindelicum hat geäußert, dass die Truppen in den Grenzbefestigungen Männer zur Verfügung stellen müssen. Das kann auch zur Aufgabe von kleineren Befestigungen führen. Sablonetum war im Gespräch. Ich vermute, dass es der Kaiser vor allem auf die berittenen Kohorten abgesehen hat. Sie haben immer noch einen exzellenten Ruf im ganzen Reich. Bisher sind es nur Gerüchte, aber die Situation hier wird immer fragiler. Severus Alexander braucht einen Erfolg. Seine Generäle haben keinen Respekt vor ihm, solange seine Mutter die Strippen zieht. Ich habe das Gefühl, dass er ein guter Caesar sein könnte, aber die Zeit läuft ihm davon. Überall im Reich gärt es, und den Germanen wird dies nicht verborgen bleiben. Die Grenze wird vor ihren Augen entblößt! Und sie haben noch eine Rechnung mit uns offen. Caracalla hat damals keine Gnade walten lassen, wie du dich vielleicht noch erinnerst?“

Marcus sah zu seinem Vater, der kreidebleich geworden war.

Titus fuhr fort: „Es geschehen seltsame Dinge, Quintus. Der Statthalter hat die ganze Stadt auf den Kopf stellen lassen, als ein Offizier getötet wurde. Gerüchte machen die Runde. Meine Informanten berichten, dass die Sorge vor einer germanischen Invasion zunimmt. Ich kann es noch nicht einordnen, aber es braut sich etwas zusammen.“ Titus hielt inne und schielte zu Marcus, der wie zur Salzsäule erstarrt auf eine Kerze aus Bienenwachs stierte. Als wäre sein Neffe nicht da, raunte er seinem Bruder zu: „Lass ihn einen anderen Beruf erlernen. Weg von hier. Keiner weiß, ob all diese Höfe hier in ein paar Jahren noch stehen. Du sagst es ja selbst: Immer mehr Veteranen wenden sich ab. Hier liegt nicht die Zukunft!“

Marcus begriff die Tragweite der Diskussion und spürte, wie seine Ohren ebenfalls zu glühen begannen.

Sein Vater reagierte empört. „Wie stellst du dir das vor? Ich … Wir haben uns das hier aufgebaut. Ich habe meine Knochen, meine Ehre und Würde für Rom riskiert, für den Kaiser getötet. Dieses Land hier war die Entschädigung, und jetzt sollen wir …“

Er entdeckte im Blick seines Bruders Mitgefühl. Trotzdem war er nicht willens, ihm zuzustimmen, und wehrte sich heftig gegen die Erkenntnis, dass Titus recht behalten könnte.

„Wir geben unser Land nicht auf! Der Boden hier trieft von meinem Schweiß und Blut. Wir brauchen jede helfende Hand hier auf dem Hof. Primus Aurelius ist kriegsversehrt und benötigt Hilfe. Tatius ist bereits seit zwei Jahren in der Rekrutenausbildung. Auf keinen Fall schicke ich meinen Jüngsten auch zur Armee.“

Titus schüttelte den Kopf.

„Ich weiß, das ist nicht das, was du hören wolltest. Ich wünschte, ich hätte bessere Neuigkeiten. Aber du machst dir zu Recht Sorgen, und jetzt gilt es, die richtigen Entscheidungen für deine Familie zu treffen! Dein Sohn kann der Familie besser helfen, wenn du ihn ziehen lässt.“

„Was soll denn aus Marcus werden?“, unterbrach ihn sein Vater mit einem Aufschrei.

In der nachfolgenden Stille richteten sich alle Augen auf Titus.

Der lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sagte mit fester Stimme: „Marcus kommt mit mir. Nach Augusta Vindelicum. Er wird Händler. Und ich bilde ihn aus.“

Jens Wittenberger

Über Jens Wittenberger

Biografie

Jens Wittenberger, geboren 1972, studierte Kommunikationswissenschaften, Psycholinguistik und Theaterwissenschaften in München. Er ist seit fünfundzwanzig Jahren geschäftsführender Gesellschafter eines Personalvermittlungsunternehmens mit Standorten in München und Hamburg und lebt mit seiner Familie...

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