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Grand Hotel Europa

Ilja Leonard Pfeijffer
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Roman

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Grand Hotel Europa — Inhalt

„Mit ›Grand Hotel Europa‹ hat der Niederländer Ilja Leonard Pfeijffer einen europäischen Gesellschaftsroman geschrieben, voller Ironie und Witz.“ Welt am Sonntag

Ein junger Page, Abdul, empfängt den Schriftsteller auf den Marmorstufen des Eingangsportals, über dem in goldenen Lettern der Name "Grand Hotel Europa" zu lesen ist. Sie rauchen eine erste Zigarette und kommen miteinander ins Gespräch. Der Schriftsteller spricht von Venedig und von Clio, seiner großen Liebe, die ihn verlassen hat. Nun ist er hier, bezieht sein Zimmer in diesem geheimnisvollen Hotel, und während er die eleganten Gäste kennenlernt, fragt er sich, wie er Clio zurückgewinnen kann. - "Grand Hotel Europa" erzählt von einem alten Kontinent, auf dem vor lauter Geschichte kein Raum für die Zukunft ist und die einzige Perspektive der Tourismus. Es ist ein Roman über unsere europäische Identität und die Nostalgie am Ende einer Ära.

„Das Werk ist eine Liebeserklärung und zugleich ein Untergangsbuch, das die mentale Verfasstheit Europas in einer packenden Erzählung zum Leben erweckt. Nach der Lektüre ist man stolz auf diesen Kontinent, aber auch ein bisschen besorgt, wie es weitergehen wird mit diesem Europa.“ Süddeutsche Zeitung

„Man hat das Gefühl, an einem der Tische im Speisesaal des alten Grand Hotel Europa zu sitzen. Der Majordomus serviert soeben die Spezialität des Hauses, und man amüsiert sich gemeinsam mit diesem holländischen Schriftsteller im Maßanzug über die Eigenheiten der wenigen anderen Gäste, ist berührt von ihren Schicksalen und staunt über ihre Geschichten.“ Thomas Loibl

„Ein europäischer Gesellschaftsroman voller Ironie und Witz“ Welt am Sonntag

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 28.10.2021
Übersetzt von: Ira Wilhelm
560 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31858-7
Download Cover
€ 11,99 [D], € 11,99 [A]
Erschienen am 05.10.2020
Übersetzt von: Ira Wilhelm
556 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99732-4
Download Cover

Leseprobe zu „Grand Hotel Europa“

Kapitel Eins

Die Aufgabe

1

Der erste Mensch, den ich nach längerer Zeit sprach, war, abgesehen vom mürrischen Taxifahrer, mit dem ich am Anfang und Ende der Fahrt einige knappe Worte gewechselt hatte, ein magerer, dunkler junger Mann in der nostalgischen roten Livree eines Piccolo. Schon von Weitem sah ich ihn, während das Taxi zwischen den Platanen knirschend auf das Ende der langen Kiesauffahrt zufuhr, auf den von korinthischen Säulen eingerahmten Marmorstufen der Freitreppe zum Eingangsportal sitzen, über dem in Goldbuchstaben der Name Grand Hotel [...]

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Kapitel Eins

Die Aufgabe

1

Der erste Mensch, den ich nach längerer Zeit sprach, war, abgesehen vom mürrischen Taxifahrer, mit dem ich am Anfang und Ende der Fahrt einige knappe Worte gewechselt hatte, ein magerer, dunkler junger Mann in der nostalgischen roten Livree eines Piccolo. Schon von Weitem sah ich ihn, während das Taxi zwischen den Platanen knirschend auf das Ende der langen Kiesauffahrt zufuhr, auf den von korinthischen Säulen eingerahmten Marmorstufen der Freitreppe zum Eingangsportal sitzen, über dem in Goldbuchstaben der Name Grand Hotel Europa stand. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und erhob sich, um mir mit dem Gepäck zu helfen. Weil es mir leidtat, dass meine Ankunft seine Zigarettenpause gestört hatte, sagte ich zu ihm, dass mein Gepäck warten könne, ich habe eine lange Reise hinter mir und verspüre ebenfalls das Bedürfnis nach einer Zigarette, was nur den Tatsachen entsprach. Ich bot ihm aus dem hellblauen Päckchen eine von meinen Gauloises Brunes ohne Filter an und gab ihm mit meinem solid-brass-Zippo Feuer. Auf seinem Käppi stand aus Goldfaden gestickt Grand Hotel Europa.

Wir setzten uns. Nach ein paar Minuten, die wir schweigend und rauchend nebeneinander auf der Treppe zum Eingang des einst glanzvollen Hotels verbrachten, in dem ich mich in nächster Zeit einquartieren wollte, sprach er mich an.

„Verzeihen Sie, dass ich meine Neugier nicht zügeln kann“, sagte er, „aber dürfte ich mich danach erkundigen, wo Sie herkommen?“

Ich blies meinen Rauch Richtung Staubwolke, die das Taxi hinterlassen hatte, dort, wo die Auffahrt endete und der Wald begann.

„Auf diese Fragen gibt es mehrere Antworten“, sagte ich.

„Ich würde sie gern alle hören. Aber wenn es Ihre Zeit zu sehr beansprucht, bin ich auch mit der schönsten Antwort zufrieden.“

„In erster Linie hoffe ich, hier ausreichend Zeit für Antworten zu finden.“

„Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Sie bei diesem wichtigen Vorhaben störe. Ich muss lernen, dass ich die Gäste mit meiner Neugier belästige. Das sagt jedenfalls Herr Montebello immer.“

„Wer ist Herr Montebello?“, fragte ich.

„Mein Chef.“

„Der Concierge?“

„Er hasst das Wort, obwohl ihm die Etymologie gefällt. Er hat mir erklärt, dass es sich von ›Comte des cierges‹ ableitet, das heißt: Graf der Kerzen. So gut wie alles, was ich weiß, habe ich von Herrn Montebello gelernt. Er ist wie ein Vater für mich.“

„Wie will er denn genannt werden?“

„Maître d’hôtel. Aber noch lieber ist ihm der Titel Majordomus, weil er das lateinische Wort für ›Haus‹ beinhaltet. Er sagt, es ist unser wichtigstes Ziel, dafür zu sorgen, dass unsere Gäste vergessen, welchen Ort sie ihr Zuhause genannt haben, bevor sie zu uns kommen.“

„Venedig“, sagte ich.

Während ich den Namen der Stadt aussprach, fiel mir etwas Zigarettenasche auf die Hose. Der Piccolo sah es, und bevor ich Einspruch erheben konnte, hatte er bereits die weißen Handschuhe ausgezogen und klopfte mir mit größter Beflissenheit das Hosenbein ab.

„Danke schön.“

„Was ist Venedig?“

„Der Ort, den ich mein Zuhause genannt habe, bevor ich herkam, und die schönste Antwort auf deine eben gestellte Frage.“

„Wie ist es da, in Venedig?“

„Bist du noch nie in Venedig gewesen?“

„Ich bin noch nie irgendwo gewesen“, sagte er. „Nur hier. Deshalb habe ich es mir ja auch zum Ärger von Herrn Montebello zur Gewohnheit gemacht, die Gäste mit meiner Neugier zu belästigen. Ich will durch ihre Geschichten die Welt kennenlernen.“

„Welchen Ort hast du Zuhause genannt, bevor du hierherkamst?“

„Die Wüste. Aber Herr Montebello half mir, die Wüste zu vergessen. Dafür danke ich ihm sehr.“

Ich ließ meinen Blick über das Anwesen schweifen, das das Hotel umgab. Die Säulengalerie war mit Efeu überwuchert. Einer der großen Tonkübel, aus denen Bougainvilleen hervorquollen, hatte einen Sprung. Zwischen dem Kies wuchs Unkraut. Friedlich, nein, nicht ganz der passende Ausdruck. Ergeben. Nichts sprach dagegen, den Lauf der Zeit und den Verlust allen Hab und Guts zu akzeptieren.

„Venedig ist Vergangenheit“, sagte ich. „Wer weiß, vielleicht gelingt es Herrn Montebello ja auch, mich meine Vergangenheit vergessen zu lassen.“

Ich drückte die Zigarette im Blumenkübel aus. Er tat es mir gleich und sprang auf, um mein Gepäck zu tragen.

„Ich danke dir für deine Gesellschaft“, sagte ich. „Darf ich fragen, wie du heißt?“

„Abdul.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Abdul.“ Ich nannte ihm meinen Namen. „Lass uns hineingehen. Es kann beginnen.“

2

Selbst wenn ich nicht auf die Existenz des Majordomus vorbereitet gewesen wäre, so hätte ich ihn schwerlich übersehen können. Kaum hatte ich einen Fuß über die Schwelle seiner heiligen Stätte und Festung gesetzt, tänzelte er mir schon entgegen. Er begrüßte mich mit derart ausschweifenden Höflichkeitsbezeugungen, Schmeichelreden und Arabesken, dass ich nicht daran zweifelte, einen Vollprofi vor mir zu haben.

Er hatte sich meinen Namen gemerkt und ließ diskret durchblicken, dass ihm die Tatsache meiner Schriftstellerschaft bekannt sei. Während er sich ausführlich danach erkundigte, ob die lange Reise für mich nicht zu anstrengend gewesen sei, zog er unbemerkt eine Kleiderbürste hervor und säuberte die Schultern meines Jacketts, nicht ohne mir dabei ein Lob für den prächtigen Schnitt meines Anzugs auszusprechen. Er schien sich für die gesamte Schöpfung verantwortlich zu fühlen, denn er entschuldigte sich für das Misstrauen der modernen Welt, die ihn dazu verpflichte, bestimmte Formalitäten einzuhalten. Doch zuerst solle ich mich von meiner Fahrt erholen. Als ich ihm gestand, ich wisse noch nicht genau, wie lange ich bleiben würde, und der Hoffnung Ausdruck verlieh, meine Unsicherheit möge ihm keine Unannehmlichkeiten bereiten, wischte er meine Bedenken mit einer eleganten Handbewegung beiseite und betonte, es sei ihm und dem Haus eine Ehre und ein persönliches Vergnügen, mich als Gast beherbergen zu dürfen, und er wünsche inständig, dass dieses Vergnügen von längerer Dauer sei. Darauf neigte er sich mir vertraulich zu und flüsterte, er gedenke keineswegs, eine Gewohnheit daraus zu machen, sich in Dinge einzumischen, aber es sei ihm aufgefallen, dass mein linker Manschettenknopf nur unvollständig geschlossen sei, und er wäre untröstlich, wenn ich diesen verlöre.

Er bat mich um die Erlaubnis, mich zu meiner Suite führen zu dürfen, die er speziell für mich habe herrichten lassen. Er sei überzeugt, dass sie mir zusagen werde, doch würde ich dennoch zur Einsicht gelangen, dass das Haus in irgendeiner Weise meinen Ansprüchen nicht genüge, sehe er es als seine persönliche Pflicht, mir alle Wünsche unverzüglich zu erfüllen. Er sei so frei gewesen, Konfekt und einige Erfrischungen auf mein Zimmer bringen zu lassen. Ob ich ihm bitte folgen möge.

Herr Montebello, der Majordomus des Grand Hotel Europa, führte mich also durch die Eingangshalle, in der sich auch Rezeption und Portiersloge befanden, und durchschritt die hohen Eichentüren zur zentralen, auf Marmorsäulen ruhenden Großen Halle, von wo aus eine monumentale Treppe in die oberen Etagen führte. Wie ein Eiskunstläufer glitt er über den hochflorigen Teppich, drehte sich mühelos um die eigene Achse, ging rückwärts, ohne dabei den raschen Schritt zu verlangsamen, und teilte mir dabei Erklärungen und Wissenswertes mit. Hätte er sich nicht gelegentlich zu einer Pirouette entschlossen, die mir die Möglichkeit gab, ihn einzuholen, hätte ich schwerlich mit ihm mithalten können. Abdul folgte mit dem Gepäck.

„Hier links finden Sie die Bibliothek“, erklärte mein Cicerone, „und dahinter den Grünen Saal und das Chinesische Zimmer. Der andere Gebäudeflügel umfasst die Lounge, den Frühstückssaal und unser bescheidenes Restaurant, wo ich Ihnen am Fenster für die Dauer Ihres Aufenthalts einen Tisch reserviert habe. Von dort aus genießen Sie die Aussicht auf die Pergola und auf den Rosengarten, beziehungsweise auf das, was von ihm noch übrig ist. Dahinter können Sie den Teich schimmern sehen. Leider ist der Springbrunnen schon etliche Jahre außer Betrieb, doch ich verspreche Ihnen, dass unsere Köchin weder Mühe noch Anstrengung scheuen wird, um Sie von diesem Missstand abzulenken.“

In der Großen Halle hing ein prächtiger Kronleuchter, der von einem berückenden Alter zu sein schien.

„Eines unserer Glanzstücke“, sagte der Majordomus, dem selbst die Richtung meines Blicks nicht entging. „Sehr schwer zu reinigen. Haben Sie das Porträt über dem Kamin gesehen? Zweifellos erkennen Sie die markanten und edlen Züge von Niccolò Paganini. Ich würde keine Minute zögern, mich Ihrer Meinung anzuschließen, dass es sich bei dem Bild um nichts weniger als ein Meisterwerk handelt, obwohl es von einem Kleinmeister stammt. Wir alle im Hotel mögen das Bild, denn es wurde vor Ort gemalt, als sich der berühmte Geigenvirtuose während seiner Furore machenden Reisen an die europäischen Fürstenhöfe für kurze Zeit hier aufhielt. Es heißt, Paganini habe darauf bestanden, sich in ebendieser Halle mit einem Konzert für ein exzellentes steak aux girolles erkenntlich zu zeigen. Das Gericht – es steht bis heute auf unserer Speisekarte – nennt sich seitdem Steak Paganini. Es wird kaum möglich sein, Ihnen für den heutigen Abend einen besseren Menüvorschlag zu unterbreiten.“

Links vom Kamin hing ein Aquarell von bescheidenem Ausmaß und noch bescheidenerem künstlerischen Wert. Es zeigte die Piazza San Marco in Venedig. Bei diesem Anblick schnürte es mir die Kehle zu, was, wie ich sicher war, dem Majordomus nicht entging, doch er zog es vor zu schweigen. Das Geländer der Marmortreppe war mit den Skulpturen zweier Fabeltiere verziert, links eine Chimäre, rechts eine Sphinx.

„Unsere Gäste können beruhigt schlafen, denn sie dürfen gewiss sein, von uns nach Kräften bewacht zu werden“, sagte Montebello. „Jeder, der sich zu den oberen Etagen Zutritt verschaffen möchte, muss an dieser hybriden Ausgestaltung der Angst und der verräterisch schnurrenden, Rätsel stellenden Katze vorbei. Beides sind außerordentlich unrealistische Darstellungen des wahren Wesens von Mann und Frau, wenn ich mir erlauben darf, Sie mit meinen dilettantischen Versuchen auf dem Gebiet der Symbolik zu unterhalten. Einer unserer ehrenwerten Gäste sagte mir vor vielen Jahren einmal im Vertrauen, er glaube nicht, dass die Ungeheuer dazu dienten, Fremde abzuschrecken, sondern die Gäste am Verlassen des Hotels zu hindern. Dieser Gast ist immer noch da. Sein Name ist Patelski. Sie werden ihn kennenlernen. Ich vermute, Sie werden seine Gesellschaft schätzen. Er ist ein großer Gelehrter.“

Auf dem Treppenabsatz stand eine riesige Vase mit Kunstblumen.

„Ich hätte es wissen müssen“, sagte der Majordomus. „Eitle Hoffnung zu glauben, es würde Ihnen entgehen. Tun Sie mir den Gefallen, und akzeptieren Sie meine Entschuldigung. Dieses exzentrische Dekorationsstück ist der bedauerlichen Begeisterung unseres neuen Besitzers zuzuschreiben.“

„Hat das Hotel einen neuen Besitzer?“, erkundigte ich mich.

„Kürzlich ist das Grand Hotel Europa in chinesische Hände gegangen. Der neue Besitzer heißt Herr Wang. Bis jetzt konnten wir uns über diese neuen Entwicklungen noch kein Bild machen, doch Herr Wang hat die ausdrückliche Absicht, das Hotel in altem Glanz erstrahlen zu lassen, wobei ihm seine offensichtlich unbegrenzt zur Verfügung stehende Finanzkraft gute Dienste leisten dürfte. Es ist Ihnen gewiss aufgefallen, dass das Hotel an einigen Stellen Renovierungsbedarf aufweist. Leider haben wir nicht mehr so viele Gäste wie früher. Auch daran will Herr Wang etwas ändern. Sein Ziel ist die volle Auslastung des Hotels. Das alles trägt zwar zu einem günstigen Urteil über den neuen Eigentümer bei, doch muss ich angesichts dieser Kunstblumen seine Vertrautheit mit unseren Traditionen ernsthaft in Zweifel ziehen. Aber ich will Sie mit meinen Sorgen nicht belästigen. Wir sind da. Zimmer 17. Die Suite, die ich für Sie habe vorbereiten lassen. Das Einzige, worauf ich sie noch hinweisen möchte, ist, dass die Flügeltüren zur Terrasse nicht einwandfrei schließen. Ich bitte Sie, einen Stuhl davorzustellen, sollte sich einmal eine kräftige Brise erheben. Ich werde Sie jetzt allein lassen, damit Sie Gelegenheit haben, sich etwas zu erfrischen und von Ihrer Reise zu erholen. Sollten Sie etwas benötigen, ziehen Sie einfach am Glockenstrang neben der Tür. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt im Grand Hotel Europa.“


3

Perfekt. Das Zimmer war einfach perfekt, nicht etwa, weil es ein perfektes Hotelzimmer gewesen wäre, sondern gerade weil es das nicht war. An dieser Suite hatte sich kein Interior designer unter Zuhilfenahme eines anonymen und zweckmäßigen Entwurfs verkünstelt, sondern hier hatte ein Übermaß an Geschichte desperat seufzende Spuren hinterlassen.

Im Vorzimmer befand sich ein antikroter lederner Chesterfield-Fauteuil neben einem rosenbedruckten, mit mauvefarbenem Samt bezogenen Louis-XV-Sessel. An der Seite eines aus elegantem Schnitzwerk bestehenden Salontisches aus dem 18. Jahrhundert duckte sich eine Fußbank. Auf einem hohen Tisch in der Zimmerecke stand ein großes Bakelitradio, auf dessen versilberter Sendersuchscheibe die Vorkriegs-Radiostationen eingraviert waren. Vermutlich könnte man es mit dem richtigen Transformator wieder zum Laufen bringen. Das hintere Zimmer wurde fast vollständig von einem enormen Himmelbett eingenommen, vier vergoldete ägyptische Säulen stützten einen Baldachin aus dunkelrotem, mit aufgestickten Goldsternen überzogenem Samt. Wer könnte erahnen, wie viele Seufzer und geflüsterte Geheimnisse sich unter dem Sternenstoff angesammelt hatten? Im Badezimmer hing ein goldgerahmter Spiegel, neben der antiken, auf vier bronzenen Löwentatzen ruhenden Emaillebadewanne war mit offensichtlichem Widerwillen eine Duschkabine errichtet worden.

In der Suite fanden sich etliche Objekte, die wie von der Zeit angespült wirkten: alte Bücher, eine kleine kupferne Glocke, ein großer Aschenbecher in Form einer halben, von Atlas in die Luft gestemmten Weltkugel, ein Mäuseschädel, mehrere Schreibgeräte, ein Monokel im Etui, eine ausgestopfte Schleiereule, ein Zigarrenschneider, ein Kompass, eine Mundorgel, eine Wajang-Puppe, eine Messingvase mit Pfauenfedern, eine Siphonflasche und ein hölzerner Mönch, der sich später als Nussknacker herausstellte. Es war nicht ersichtlich, ob diese Gegenstände einem einzigen Dekorationskonzept folgten oder mehreren, einander widersprechenden, nur halbherzig umgesetzten Einrichtungsideen. Sie könnten aber auch von ehemaligen Gästen vergessen worden sein, deren Spuren zu entfernen die Zimmermädchen – offenbar überzeugt von der Philosophie, die Gegenwart bestehe aus vielschichtigen Ablagerungen zufälliger Sedimente – sich bis heute weigerten.

Ich strich mit dem Finger anerkennend über die vergoldete Vertäfelung, prüfte die Stoffdicke der schweren, ockerfarbenen Übergardinen, schob den Stuhl beiseite, um die Flügeltüren zur Terrasse zu öffnen, worauf sich mir der Blick auf den vernachlässigten Rosengarten bot und auf den Teich mit dem defekten Springbrunnen. Ich tröstete mich, dass ich noch genug Zeit haben würde, das Zimmer detailliert zu beschreiben. Es war perfekt, und ich sah keinen Grund, nicht so lange hier zu bleiben, bis ich mir darüber klar wäre, wohin mein Weg mich führen würde.

Schon als ich die Suite betreten hatte, war mir neben der Terrassentür der elegante Schreibtisch aus Ebenholz mit stilvollen, hellen Intarsien aufgefallen, dem ein nüchterner, aber solider Holzstuhl aus den Dreißigerjahren zur Seite gestellt war. Bevor ich also meine Hemden und Anzüge auspackte, um sie im hinteren Zimmer in den Kleiderschrank zu hängen, widmete ich mich dem Ritual, mit dem ich stets einen Schreibtisch zu meinem Territorium zu machen pflegte. Die leeren Hefte, die ich mitgebracht hatte, stapelte ich links auf der Tischfläche und legte meinen Füllfederhalter daneben. Das Tintenfass platzierte ich in Griffweite. Dann zog ich mein MacBook aus dem Futteral, stellte es mittig auf, schloss das Netzteil an die Stromversorgung an.

Ich war schließlich nicht ins Grand Hotel Europa gekommen, um inmitten von verblühendem Luxus und ächzender Pracht die Zeit verstreichen zu lassen und untätig abzuwarten, bis mich irgendeine Erkenntnis ereilte, indem sie auf mich herabsank wie ein Blütenblatt von einem verblichenen Blumenstrauß. Nein, ich wollte diese Erkenntnisse erzwingen, und das gelang mir nur durch Arbeit. Ich musste unbedingt Ordnung in meine Erinnerungen bringen, die mich wie ein Schwarm wütender Bienen in die Flucht geschlagen hatten und nun verhinderten, dass ich klar denken konnte. Wollte ich Venedig und die Ereignisse dort wirklich vergessen, dann musste ich mir alle Details so genau wie möglich in Erinnerung rufen. Wer sich nicht an alles erinnert, was er vergessen will, riskiert, dass er einiges von dem, was er vergessen will, zu vergessen vergisst. Ich musste alles präzise aufschreiben, obwohl mir klar war, dass der Drang, es zu erzählen, um es mit Aeneas’ Worten an Dido zu sagen, den Verdruss wieder auffrischen würde. Es gibt kein Ziel ohne Klarheit darüber, von wo aus man aufgebrochen ist, und keine Zukunft ohne eine deutbare Version der Vergangenheit. Ich kann besser nachdenken, wenn ich dabei ein Schreibwerkzeug in Händen halte. Tinte klärt. Nur durch das Schreiben bringe ich meine Gedanken unter Kontrolle. Das war meine Aufgabe. Deshalb war ich hier.

Aufschieben war zwecklos. Wenn eine Sache sich dadurch erledigt, dass sie erledigt wird, sollte sie so schnell wie möglich in Angriff genommen werden. Am nächsten Morgen wollte ich anfangen.

Ich ging ins hintere Zimmer und warf mich rücklings aufs frivole Himmelbett. Es federte so willig mit, wie nur Hotelbetten es können. Womit aber sollte ich am nächsten Morgen anfangen? Warum nicht mit dem Anfang? Ich starrte auf die Sterne am dunkelroten Himmel über mir. Vielleicht sollte ich den Anfang doch besser verschieben und mit dem Moment beginnen, wo meine Erwartungen am stärksten gespannt waren. Ähnlich wie mit der Ankunft im Grand Hotel Europa die Erledigung meiner Aufgabe bereits begonnen hat, könnte die Rekonstruktion aller Ereignisse mit meiner Ankunft in Venedig einsetzen. Ich sah die versinkende Stadt vor mir, spürte das Aufwogen und Absinken der Vergangenheit und fiel in einen tiefen Schlaf.


Kapitel Zwei

Platz des Versprechens

1

Jedes Mal, wenn man in Venedig ankommt, ist es, als wäre es das erste Mal. Obwohl ich schon oft in Venedig gewesen war und auf Abendempfängen bisweilen die klangvollen Namen von Tizian und Tintoretto fallen ließ, obwohl ich, während der feuerrote Hochgeschwindigkeitszug, der mich über die Landverbindung von Mestre in die alte Stadt trug, zu bremsen begann, routiniert die Zeitung las, und obwohl ich mir vorgenommen hatte, meine Ankunft in der Stadt unter pragmatischen Gesichtspunkten zu betrachten und mögliche Gemütsregungen aufzuschieben, bis ich mich ganz dort niedergelassen hatte, verschlug es mir, als ich aus dem Bahnhofsgebäude trat und sich das fragile Klischee der Stadt arglos und wie unschuldig vor mir entfaltete, für einen Moment den Atem.

Venedig lächelte mich an wie eine Geliebte, die auf mich gewartet hatte. In den Jahrhunderten, die sie geduldig aus dem Fenster gestarrt hatte, war sie schön und ruhig geworden. Ihre Juwelen klimperten, als sie ihre sanften, warmen Arme für die langersehnte Umarmung öffnete, die Schicksal und Endzweck zugleich war. Sie kicherte leise, da endlich alles so war, wie es die Logik verlangte. Falls sie etwas von einer Ewigkeit flüsterte, so wusste sie genau, wovon sie sprach. Sie hatte ausreichend Kleider für die vielen Feste, die es nun zu feiern gab.

Man kann in keiner schöneren Stadt ankommen als Venedig, wenn eine Geliebte auf einen wartet. Clio war vorausgereist. Wir hatten die Aufgaben verteilt. Ich lieferte unsere alten Wohnungen besenrein ab und erledigte die Formalitäten mit den Vermietern, sie fuhr nach Venedig, um unser neues Zuhause vorzubereiten und die Möbelpacker zu empfangen. Wir besaßen nicht viel. Einzig Clios Bücher stapelten sich in Vielzahl. Ich hatte bereits früher gewitzelt, dass sie einen schweren Beruf habe. Und auch der Witz, dass kunsthistorische Studien immer so ge-wichtig sind, war nicht neu. Dennoch, so verkündete sie mir am Telefon, sei der Umzug gut verlaufen. Sie habe bereits mit dem Auspacken der Kartons begonnen. Sie warte auf mich. Sie liebe mich.

Irgendwo hinter den verführerisch dreinblickenden Häusern im seufzerreichen Prunkgrab dieser Stadt musste es eine Straße namens Calle Nuova Sant’Agnese geben. Ich brauchte nur diese Straße zu finden, um Clio zu finden, in einem Umzugs-T-Shirt und einer Jogginghose, das lange, dunkle Haar zu einem praktischen Knoten geschlungen und auf der Nase vielleicht einen Farbklecks, ganz so wie in einer Immobilienreklame. Junge Pärchen inmitten von Umzugskartons in einem Haus, wo immer die Sonne scheint und das Leben erst noch beginnen muss. Und am Abend wird sie dann ihr Ballkleid anziehen, und wir rauschen Hand in Hand über Plätze, durch Gassen und an schwarzen Kanälen vorbei den neuen Abenteuern entgegen und bescheren der reichen Historie, die der Stadt wie eine Flut bis zum Halse reicht, noch eine glamouröse Geschichte.


2

Ich hatte kein Gepäck. Meine Sachen hatte ich mit der Spedition vorausgeschickt. Ich wollte zu Fuß gehen. Ich freute mich darauf. Während der Zugreise war genug Zeit geblieben, mir mithilfe des Handys die Route vom Bahnhof zur Calle Nuova Sant’Agnese einzuprägen. Es bestand kaum die Möglichkeit, sich zu verlaufen. Unter anderen Umständen hätte ich mich gern auf ein wenig Verirren eingelassen, doch im Moment hielt ich es lieber mit der Zielstrebigkeit. Ich wollte Clio sehen.

Ich stieg die hohen Stufen der Ponte degli Scalzi hinauf, als beträte ich einen Hochaltar. Jede Überquerung des Canal Grande, die, bevor man sich entschloss, die neue Brücke zu bauen, nur an drei Stellen möglich war, fühlte sich heilig an. Ich stützte die Hände auf das marmorne Brückengeländer und blickte hinab auf das Gewimmel im grünblauen Wasserlauf, der eher eine Lebensader bildete als eine Barriere. Der Stadtplaner hatte den Kanal wie ein spiegelverkehrtes S auf den Grundriss der Stadt geschludert und war in sadistisches Gelächter ausgebrochen, als er entdeckte, dass er durch seinen Eingriff die Stadt für die flanierenden Edelleute in ihren Satinslippern nahezu unbegehbar gemacht hatte. Am nächsten Tag jedoch, ausgenüchtert, hatte er erkennen müssen, dass ganz gegen seine Absicht ein herrlicher Wasserweg entstanden war, der sämtliche Stadtteile auf schöne und träge Weise miteinander verband.

Ja, Gondeln. Gondeln sah ich auch gleich. Sie waren größer, schwärzer und realer als auf Abbildungen. Im Grunde war es vollkommen lächerlich, dass diese Dinger im 21. Jahrhundert noch immer existierten, wie prähistorische Wasservögel, wundersam für Touristen wieder zum Leben erweckt. Aber in Venedig konnte man nicht von Anachronismus sprechen. In dieser Stadt, die nichts am Hut hatte mit Hetze, Produktivität oder Nützlichkeit, war die moderne Zeit ein Anachronismus. Hier schwebte die Zeit, war voller Melancholie und Sehnsucht nach den Schatten der Vergangenheit.

Die Verlockung, geradeaus durch die Calle Lunga zu gehen, weil sie in die Richtung führte, wo ich Clio wusste, war groß. Aber in einer Stadt, die nirgendwohin führt, sagt eine Richtung nicht viel aus. Auf der Karte hatte ich gesehen, dass ich mich in Innenhöfen und Gärten verfangen würde wie ein Stier im roten Tuch. In Venedig gab man besser alle Vorstellungen eines Stadtplans auf, denn hier war niemals vernunftmäßig gebaut worden. Die Oberschicht der früheren Jahrhunderte hatte die Insel mit prachtvollen Palästen vollgebaut, wobei die zufällig entstandenen Freiräume zwischen den Weltwundern fortan einfach als Straßen dienen mussten. Wer sich in Venedig von einem Ort zum anderen begeben will, ist dazu genötigt, ständig die extrovertierten, von ehemaligen Bewohnern errichteten Liebesbezeugungen an die Stadt zu umgehen.

Ich spazierte an Fassaden vorbei, die mit Klöppelwerk aus Marmor verziert waren, Holzpfähle spiegelten sich im Wasser. Alles hier stand seit Jahrhunderten, dennoch machte es auf mich einen flüchtigen Eindruck, wie eine auf dem Meer erbaute Fata Morgana, die bei der geringsten Woge des Wassers in Erinnerungseinzelteile von Millionen Fotos zerstiebt.

Beim Puppenhaustreppchen zur Brücke, die zum schmalen Kai am Rio de la Cazziola e de Ca’Rizzi führte, hing an einer Mauer ein großes gelbes Schild mit dem Hinweis, dass die Richtung, die ich eingeschlagen hatte, sowohl zur Piazza San Marco als auch zur Rialtobrücke führe. Was, wie das Schild ebenfalls besagte, auch für die Richtung galt, aus der ich gekommen war. Ich befand mich somit an einem magischen Ort, wo Herkunft und Ziel ineinanderfielen, was mich außerordentlich fröhlich stimmte.

Normalerweise verhält sich Licht wie Luft, über deren Unverzichtbarkeit man auch erst nachzudenken beginnt, wenn sie fehlt. Das Licht hier aber war wie von Menschenhand gemacht, als diente es zum krönenden Abschluss eines Gebäudes, wie eine Schicht Blattgold auf einer Skulptur oder ein sorgfältig angebrachter Firnis auf einer Darstellung. Allerdings sind diese Vergleiche zu statisch, denn zugleich war das Licht in konstanter Bewegung, als eilte es den Schatten hinterher.

Auf der anderen Seite des Kanals schlummerten die ummauerten Gärten von Papadopoli, wo maskierte Gäste im Fackelfeuer der geheimen Feste wie Geister erschienen, gehüllt in den schwarzen Mantel der Nacht. Die Papadopolis besaßen die wichtigste und erlesenste Kunstsammlung der Stadt. Auf ihren Soireen tanzten Schönheit und Neid Walzer miteinander. Alles, was war, war noch immer da und bis heute unentdeckt.

Nach einiger Zeit führte mein Weg mich schließlich auf einen erstaunlich weitläufigen Platz mit Namen Campo Santa Margherita. Ich ging über den Platz und über die Rio Terrà Canal entlang zur Ponte dei Pugni. Von der Brücke aus bot sich mir ein Postkartenanblick aus Palästen, Wasser, Gondeln und Glockentürmen. Auf der anderen Seite musste ich links über den Platz vor der Kirche San Barnaba und die Calle Lotto über den Rio del Malpaga zur Fondamenta Toletta, wonach ich nur noch einen einzigen Kanal, den Rio de San Trovaso, zu überwinden brauchte, um zur Accademia zu gelangen. Und unmittelbar hinter deren Gebäude befanden sich die Calle Nuova Sant’Agnese, meine neue Wohnung und Clio.


3

Ich will es mir nicht zur Gewohnheit machen, aber eine Offensichtlichkeit muss ich notieren, weil sie mich so sehr belustigte, dass ich sie nicht unterschlagen möchte: Ich hatte Clio wie immer unterschätzt. Als sie mir die Tür öffnete, trug sie, als hätte sie geahnt, dass dieser Moment auch ihr erster Auftritt in meinem Buch sein würde, weder Umzugs-T-Shirt noch Jogginghose, dafür aber mit der Sicherheit einer Frau, die einen Auftritt zu inszenieren wusste, ein spektakulär kurzes schwarzes Elsa-Schiaparelli-Kleid mit einem Strassblüten-Besatz und einem frivolen, weißen Raffia-Kragen, dazu schwarze, offene, hochhackige Schuhe von Fendi und lange Gucci-Ohrringe. Sie war, wie gewöhnlich, kaum oder gar nicht geschminkt, hatte zur Feier des Tages jedoch einen ferrariroten Lippenstift aufgetragen.

„Das Kleid war plötzlich aus einem der Umzugskartons gerutscht“, sagte sie, meinem Blick folgend. „Ich hatte ganz vergessen, dass ich es besitze. Gefällt es dir? Es ist schon so lange aus der Mode, dass es meiner Meinung nach schon wieder modern ist. Melancholie ist im Moment ziemlich angesagt. Die Vergangenheit kommt wieder in Mode. Willkommen in Venedig, Ilja. Du hast mir gefehlt.“

Sie fiel mir um den Hals wie eine Schauspielerin, die eine Kamera auf sich gerichtet fühlt, stellte sich auf die Zehenspitzen, knickte ein Bein fotogen nach hinten ab und küsste mich auf den Mund.

„Steht dir gut“, sagte sie.

„Was?“

„Lippenstift. Komm. Wir feiern, dass du da bist. Die Wohnung werde ich dir später zeigen. Lass uns erst was trinken.“

„Wo willst du hin?“

„Zur Piazza San Marco natürlich.“

Wir gingen zum Caffè Lavena und setzten uns an einen der Tische auf dem Platz. Wer sich im Namen der Nostalgie betrügen lassen möchte, kann auch ins Florian oder Quadri gehen, denn auch dort ist einem die stilgerechte touristische Ausbeutung eines klangvollen Namens und einer eleganten Vergangenheit gewiss. Das war es auch, was uns hierher geführt hatte, und natürlich auch die romantische Verblendung, wir könnten hier unseren neuen Wohnsitz Venedig durch die Augen der berühmten früheren Besucher betrachten. Stendhal, Lord Byron, Alexandre Dumas, Richard Wagner, Marcel Proust, Gustav Mahler, Thomas Mann, Ernest Hemingway, Rainer Maria Rilke hatten auf diesem Platz gesessen und sein Bild bekannt gemacht. Ohne zu zögern, bestellten wir zwei Spritz, wohl wissend, dass schon einer achtzehn Euro kostete und dass wir danach zwei weitere bestellen würden.

„Was hältst du von unserer neuen Stadt?“, erkundigte sich Clio. „Wenn ›neu‹ überhaupt das richtige Wort ist.“

Ich schaute mich um. Die strengen Fassaden mit den Arkaden lenkten den Blick mit majestätischer Kraft zur Basilika von San Marco hin, die mit ihren Kuppeln und Kurven einen kugligen und fast außerirdischen Kontrast zur weltlichen Machtprotzerei des Platzes formte. Der überproportionierte Glockenturm aus rotem Backstein mit der weißen Marmorumfassung und dem grünen Spitzdach bildete durch seine asymmetrische Lage einen lächerlichen, aber doch kraftvollen und eleganten Kontrapunkt zum nüchternen Platz. Hinter dem Turm lag verborgen der zweite Teil des Platzes mit dem märchenhaften Dogenpalast, dessen bulliger mittelalterlicher Oberbau auf den fragilen Arkadengängen der beiden unteren Stockwerke zu schweben schien. Vor ihm standen die beiden Säulen, hinter welchen das Pflaster ohne Abgrenzung, Zaun, Verkehrsschild oder Warnung in die Gewässer des Canal Grande, der Lagune und schließlich ins offene Meer überging. Der Kellner balancierte ein silbernes Tablett auf den Fingerspitzen seiner behandschuhten Hand. Tauben schlossen Freundschaft mit Touristen.

„Die Stadt ist eine perfekte Kulisse für dich“, sagte ich.

„Was meinst du damit? Sehe ich alt aus?“

„Ich meine damit, dass der goldene Rahmen dich noch schöner macht.“

„Ich finde, Venedig hat was Trauriges! Obwohl der Markusplatz, objektiv betrachtet, ziemlich voll ist, macht er einen einsamen und verlassenen Eindruck. Er ist wie geistesabwesend. Die Helden von früher sind weg, Geschichte wird woanders geschrieben, der Weltzirkus ist weitergewandert. Nur der Platz ist noch da und weiß nicht, warum. Er scheint auf etwas zu warten, findest du nicht auch?“

„Er hat auf uns gewartet“, sagte ich. „Jetzt kann die Geschichte beginnen.“

„Eine Geschichte mit Happy End?“

„Schöne Geschichten enden nie happy. Also können wir auch nichts falsch machen. Entweder wir erleben eine schöne Geschichte, oder wir leben glücklich und zufrieden bis ans Ende unserer Tage.“

„Passiert das Erste, will ich, dass du die Geschichte aufschreibst, und kein anderer.“

„Ich verspreche dir, dass ich erst über dich schreibe, wenn ich dich tragisch betrauern muss.“

Und an dieses Versprechen habe ich mich gehalten.

Ilja Leonard Pfeijffer

Über Ilja Leonard Pfeijffer

Biografie

ILJA LEONARD PFEIJFFER, 1968 in den Niederlanden geboren, schreibt Romane, Lyrik, Essays, Theaterstücke und Songtexte. 2014 erhielt er den renommierten Libris Literatuur Prijs für seinen Roman „Das schönste Mädchen von Genua“, der zurzeit verfilmt wird. „Grand Hotel Europa“ gelag auf Anhieb der...

Wer sind wir, wenn wir keine Europäer mehr sind?

„Man sollte die Geschichte Europas neu schreiben“, bemerkt der Erzähler in Ilja Leonard Pfeijffers Grand Hotel Europa, und zwar als Geschichte der Sehnsucht nach Geschichte. Abdul hingegen, der als Piccolo in eben jenem geschichtsversessenen Grandhotel arbeitet, findet die Zukunft wichtiger als die Vergangenheit, weil die sich erst einstellen müsse und dadurch noch beeinflussbar sei.

Das Europa, dem Ilja Leonard Pfeijffer in seinem Roman den Spiegel vorhält, ist so voll von Geschichte, dass es darin mitunter wenig Platz für die Zukunft zu geben scheint.

Genau daran könnte die Gegenwart gerade etwas ändern. Denn Zeit, so räsonniert Pfeijffers Ich-Erzähler, "existiert nur aufgrund von Entscheidungsmöglichkeiten. Entscheidungsmöglichkeiten gibt es nur, wenn es Alternativen gibt, und Alternativen nur, weil wir eine Zukunft kennen. Die Zukunft aber gibt es nur, weil eine Vergangenheit existiert, die vergessen werden muss. Wenn die Erinnerung an die Vergangenheit zum Traum der Gegenwart wird, dann ist Zukunft überflüssig und ein Anhängsel dessen, was einmal war. Die Zeit verwässert und verdünnt sich, bis sie unbrauchbar wird.“

Felicitas von Lovenberg

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