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Gebrauchsanweisung für Masuren

Andreas Kossert
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„Das Buch bietet viel erhellenden Stoff.“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Gebrauchsanweisung für Masuren — Inhalt

Im Land der kristallenen Seen

Dunkle Wälder und tiefblaue Wasser, malerische Dörfer, Störche und endlose Alleen: Masuren ist ein zutiefst deutscher Sehnsuchtsort. Nicht nur für Naturbegeisterte und Wassersportler, sondern auch für Millionen Menschen, die hier ihre Wurzeln haben.

Für viele Menschen zwischen Oder und Rhein bedeuten Reisen hierher deshalb eine ganz persönliche Spurensuche. So auch für den Osteuropakenner Andreas Kossert, der uns einlädt, mit offenen Augen dieses melancholisch-schöne Naturparadies zu entdecken, in dem Tradition und Moderne, spannende Historie und polnische Gegenwart eng miteinander verwoben sind.

Er reist von Ortelsburg bis Nikolaiken, vom Spirdingsee bis zur Johannisburger Heide. Erzählt dabei von Ritterspielen, Pferdehöfen und bewegende Geschichten vom Weggehen und Ankommen. Begibt sich in einsamen Wäldern auf historische Spurensuche. Und verrät, was ausgerechnet den FC Schalke mit Masuren verbindet.

Kossert erklärt, weshalb man Bärenfängern in masurischen Wäldern aus dem Weg gehen sollte. Berichtet von einem Flughafen, der einem Geheimdienstroman entsprungen sein könnte. Von Altgläubigen und preußischer Toleranz. Von herzlicher Spontaneität, Gastlichkeit und sanftem Tourismus. Und stellt uns Menschen vor, die auf ihre ganz eigene Weise Polen und Deutsche einander näherbringen.

Andreas Kossert gilt als Vertreter „einer vielversprechenden neuen Historikergeneration“ (Süddeutsche Zeitung).

Fundiert und mit ansteckender Neugier zieht der Autor uns in dieses Naturparadies hinein, das Aktivurlauber gleichermaßen wie Geschichtsinteressierte lockt.

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 30.06.2022
224 Seiten, Flexcover mit Klappen
EAN 978-3-492-27673-3
Download Cover
€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 30.06.2022
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60280-8
Download Cover

Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Masuren“

In die Masuren?
Bereits eine Reise nach Masuren beginnt häufig holprig. Daran sind jedoch keinesfalls die Straßen schuld. Es holpert vielmehr bei der deutschen Grammatik. Jahrzehntelang beschäftige ich mich nun schon mit Masuren und stoße weiterhin auf dieses leidige Ärgernis, dem aus unerfindlichen Gründen nicht beizukommen ist. „In die Masuren“ ist häufig zu lesen. Der falsche Artikel stammt aus dem Polnischen, wo diese Landschaft tatsächlich nur in der Mehrzahl existiert. Deshalb lautet ein bekanntes polnisches Lied über Masuren Hej, Mazury, jak wy [...]

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In die Masuren?
Bereits eine Reise nach Masuren beginnt häufig holprig. Daran sind jedoch keinesfalls die Straßen schuld. Es holpert vielmehr bei der deutschen Grammatik. Jahrzehntelang beschäftige ich mich nun schon mit Masuren und stoße weiterhin auf dieses leidige Ärgernis, dem aus unerfindlichen Gründen nicht beizukommen ist. „In die Masuren“ ist häufig zu lesen. Der falsche Artikel stammt aus dem Polnischen, wo diese Landschaft tatsächlich nur in der Mehrzahl existiert. Deshalb lautet ein bekanntes polnisches Lied über Masuren Hej, Mazury, jak wy cudne, was übersetzt bedeutet „Hej, Masuren, wie seid ihr wunderschön.“ Anders verhält es sich jedoch im Deutschen, wo Masuren im Singular steht. Ich möchte Sie in diesem Band deshalb herzlich einladen, mit mir „nach Masuren“ zu fahren. Dessen ungeachtet, sprechen selbst Feuilletons und Reiseseiten deutscher Zeitungen unbeirrt von „den“ Masuren; auch Reisebüros bewerben häufig Fahrten „in die Masuren“, als würde man frontal in mehrere masurische Menschen fahren.
Die Verwendung des falschen Artikels spricht Bände über den Umgang der Deutschen mit dieser Region. Man kann über die Gründe nur spekulieren. Ist es Gleichgültigkeit oder Ahnungslosigkeit? Vielleicht sogar kulturelle Überheblichkeit gegenüber Landschaften im östlichen Mitteleuropa, die für viele Deutsche anscheinend nur irgendwo „dahinten“ liegen? Stellen Sie sich vor, Sie würden in Ihrem Freundeskreis berichten, Sie seien „auf die Toskana“ oder „nach Provence“ gefahren. Garantiert träfe Sie ein empörter Aufschrei oder ein mitleidiges Lächeln, Sie würden sich womöglich den Vorwurf eines ungebildeten Tölpels einhandeln. Seien wir ehrlich, das ließe man Ihnen bei Landschaften wie der Côte d’Azur, der Toskana und der Provence nicht durchgehen. Bei Masuren scheint man großzügiger zu sein und ein sprachlicher Patzer gesellschaftlich verzeihlich, während viele Reisende an Orten mediterraner Sehnsüchte eine bildungsbürgerliche Beflissenheit an den Tag legen. Eifrig ahmen vor allem Deutsche als Reiseweltmeister das Savoir-vivre oder La Dolce Vita nach, umarmen dabei natürlich auch sprachlich korrekt diesen Lebensentwurf, denn sie wollen möglichst authentisch erscheinen.
Und Masuren? Hier wird es einmal mehr holprig, denn wir betreten vermintes Gelände. Anders als bei klassischen Reiselandschaften Italiens oder Südfrankreichs geht es in Masuren ans Eingemachte, weil Deutsche hier zu den Tiefen ihres Seelenhaushalts vordringen, jedenfalls für diejenigen, die überhaupt noch wissen, wo dieses Masuren liegt. Deshalb schwingen Heimat, Verlust und eine unbestimmte Sehnsucht mit, die zugleich eine Selbstvergewisserung von eigener Identität bedeuten kann. Millionen Menschen in Deutschland haben hier ihre Wurzeln: Und genau diese familiäre Verbindung unterscheidet Masuren von der Toskana, von Barcelona oder Nizza. Deshalb klingt bei Masuren diese merkwürdige Ambivalenz an, denn es reisen häufig sehr persönliche Gefühle mit. Viele deutsche Familienbiografien begannen einst hier, mit allen Verwerfungen und Annäherungen an die eigene Geschichte. Und so ist eine Reise nach Masuren häufig zugleich eine kritische Überprüfung überlieferter Wahrheiten, Geheimnisse, Mythen und Klischees.
Der leider viel zu früh verstorbene Journalist Klaus Bednarz, der als kleiner Junge auf dem Hof seiner Großeltern im masurischen Ukta das Laufen lernte, brachte es auf den Punkt, als er über Masuren vom „fernen nahen Land“ sprach. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lag Masuren als Teil Ostpreußens in einem Deutschland, das in den Trümmern des Dritten Reiches unterging. In ihrem Nachleben verklärte man jene verlorenen Landschaften zu Sehnsuchtsprojektionen. Keine ehemalige deutsche Provinz erfuhr eine derartige Aufmerksamkeit wie Ostpreußen. Lange Zeit erzielten Erinnerungen, Romane oder Reiseberichte hohe Auflagen.
Noch heute scheint Ostpreußen als emotionaler Resonanzraum zu funktionieren. Eines der erfolgreichsten belletristischen Debüts der letzten Jahre, Dörte Hansens 2015 erschienener Roman Altes Land, erzählt eine ostpreußische Familiengeschichte über drei Generationen, von ihrer Flucht bis in die Gegenwart im Hamburger Umland. Diese spezifische Verbundenheit mit Masuren hält viele Deutsche jedoch nicht davon ab, jenen falschen Artikel zu benutzen. Als Dörte Hansens erfolgreicher Roman 2020 verfilmt wurde, hörte man die Kinder der ostpreußischen Flüchtlinge, die längst in der Hamburger Gegenwart angekommen waren, „in die Masuren“ sagen. Mit keiner Silbe steht davon etwas in Dörte Hansens großartigem Roman, der Fehler schlich sich irgendwie in das Drehbuch ein und überlebte hartnäckig viele Redaktionsrunden bis zum fertigen Film.
Jene Nachlässigkeit scheint zu einem angestrengten Vergessen zu passen, das ich immer wieder beobachte im Verhältnis der Deutschen zu Masuren. Seit dem Wirtschaftswunder wollten viele Deutsche ihre eigene Geschichte hinter sich lassen. Historische Amnesie machte sich breit, wenn es um Masuren ging. Dass die Masurische Seenplatte mitten in Europa liegt, ist eine geografische Tatsache, die für viele kaum glaubhaft zu sein scheint. Im Zuge des langen Weges der Deutschen nach Westen, wie es der Historiker Heinrich August Winkler in seiner großartigen Geschichte Deutschlands genannt hat, verschob sich ihr historisches Koordinatensystem weit Richtung Westen. Nach 1945 lag Masuren hinter dem Eisernen Vorhang, irgendwo im Osten, und schien dem inneren Wahrnehmungshorizont der Deutschen endgültig verloren, getreu der Devise, besser nicht daran zu rühren oder danach zu fragen.
Ferne Nähe oder nahe Ferne: Unser Verhältnis zu Masuren und dem historischen Ostpreußen bewegt sich in dieser seltsamen Spannung. Nah lag es einst als Keimzelle Preußens. Königsberg und Ostpreußen waren bis 1945 bedeutende Bezugspunkte des preußischen Staates. Hier waren Litauer und Deutsche jahrhundertelang Nachbarn über eine Grenze hinweg, die niemals trennte, sondern kulturelle Brücken schlug, weshalb keine andere preußische und später deutsche Landschaft mit einer solchen Vielfalt aufwarten konnte.
In diesem Band beschreibe ich den heute polnischen Teil des alten Ostpreußen: Masuren, polnisch Mazury, eines der großen Naturparadiese in Mitteleuropa. Seine Seen und Wälder luden immer wieder ein, die einzigartige Landschaft über die Maßen zu verklären, ja sogar zu verkitschen. Ihren Bewohnern stand nie der Sinn nach einer solchen Verkitschung, weil ihr schweres Leben vom bäuerlichen Rhythmus der Jahreszeiten keinen Raum für mythenbildende Gefühligkeit ließ.
Große Geschichte schrieben andere in den fernen europäischen Kapitalen, während die Masuren im Grenzland häufig die Folgen der Entscheidungen dieser anderen, der Regierenden in Berlin, Warschau oder Paris zu spüren bekamen, wie der 2014 verstorbene Schriftsteller Siegfried Lenz in seinem herrlichen Erzählungsband So zärtlich war Suleyken über seine Kindheitslandschaft schrieb: „Meine Heimat lag sozusagen im Rücken der Geschichte; sie hatte keine berühmten Physiker hervorgebracht, keine Rollschuhmeister oder Präsidenten.“
Die Menschen dieser Landschaft schufen weder intellektuelle Hotspots noch eine industrielle Revolution oder politische Rebellion; ein Versailles, Schönbrunn oder Sanssouci sucht man ebenso vergeblich. Vielmehr lag ihr Potenzial woanders, wie Siegfried Lenz wusste: „Was hier vielleicht gefunden wurde, war das unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft, Holzarbeiter und Bauern, Fischer, Deputatarbeiter, kleine Handwerker und Besenbinder. Gleichgültig und geduldig lebten sie ihre Tage, und wenn sie bei uns miteinander sprachen, so erzählten sie von uralten Neuigkeiten, von der Schafschur und vom Torfstechen, vom Vollmond und seinem Einfluß auf die neuen Kartoffeln, vom Borkenkäfer oder von der Liebe.“
Nach 1945 dominierten vor allem Trauer und wehmütige Abgesänge das Bild Ostpreußens im verbliebenen Deutschland. Dem liegt eine elementare Erfahrung zugrunde, weil für viele Millionen Menschen in Deutschland mit dieser Landschaft ein persönlicher Verlust verbunden war. Als Folge der Potsdamer Beschlüsse fiel das südliche Ostpreußen an Polen. Seine Bewohner verloren nicht nur ihre Heimat, sondern ihre soziale und materielle Existenz. Als Habenichtse kamen sie in den vier Besatzungszonen an und wurden wenig freundlich aufgenommen; von einer Willkommenskultur konnte damals keine Rede sein.
In den Fünfzigerjahren schuf das Heimweh der Vertriebenen in der Bundesrepublik jedoch ein eigenartiges und häufig rückwärtsgewandtes Bild von den Regionen, die verloren waren. Vor allem jenes von Vertriebenenverbänden mit ihren lautstarken Forderungen setzte sich bei vielen fest. Immer mehr drohte die Erinnerung zu erstarren. Kaum jemand interessierte sich überhaupt für Masuren, geschweige denn für seine neuen, polnischen Bewohner, für ihre Geschichte und ihre Lebenswelten. Die polnische Gegenwart fand nicht statt, sie wurde einfach ausgeblendet.
Früher kursierte im Deutschen Reich der Spottvers über die masurischen Hinterwäldler: „Wo sich aufhört die Kultur, beginnt zu leben der Masur.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich an diesem schiefen Bild auch in Polen wenig geändert. Viele Polen teilen zwar die Erinnerung an Ferien an den masurischen Seen, aber lange galt die Region als rückständig. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit verließen viele Bewohner ihre Heimat. Wie zu deutscher Zeit seit der Gründung des Kaiserreichs ins Ruhrgebiet, ziehen heute noch junge Polen aus Masuren fort, dorthin, wo sie Arbeit finden, in die polnischen Großstädte, nach Deutschland, Großbritannien oder Irland.
Masuren stemmt einen tiefgreifenden Strukturwandel, dessen Herausforderung in einer vernünftigen Balance zwischen Modernisierung und Nachhaltigkeit liegt. Viel steht dabei auf dem Spiel, der größte Reichtum bleibt die einzigartige Naturlandschaft. Umweltschutz kommt deshalb einer Investition in die Zukunft gleich, um dauerhaft mit einem nachhaltigen Tourismus Landschaft, Menschen und Geschichte in Einklang zu bringen. Polnische Gegenwart, verflochten mit einer spannenden Kultur und Historie, möchte ich Ihnen näherbringen und dabei das eine oder andere Klischee hinterfragen.
Heute „zieren“ Masuren manche Wochenenddomizile neureicher Warschauer, die sich protzige Villen mit streitbarer Architektur erbauen ließen, eine spätkapitalistische Landnahme, bei der die ansässige Bevölkerung nicht gefragt wurde. Auf der örtlichen Beliebtheitsskala rangieren „die Warschauer“ – wenig überraschend – deshalb weit unten. Ihren schlechten Ruf haben sie sich redlich erworben. Manche politischen Entscheidungen aus der Hauptstadt gingen und gehen zulasten der Natur, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen vor Ort. Niemand verschloss sich hier Veränderungen, aber die waren zum Teil zu gewaltig, etwa beim Straßenausbau, der dazu führte, dass viele Baumalleen monströsen Schnellstraßen weichen mussten. Dagegen regte sich lautstark Widerstand, durch den so manche wunderbare Allee vor den Motorsägen gerettet werden konnte.
Dazu gehört der Kampf zahlreicher Gruppen wie Greenpeace Polska gegen den vierspurigen Ausbau der Droga ekspresowa S 16, einer Schnellstraße von Sensburg über die Großen Masurischen Seen nach Lyck, die auch den bekannten Biebrza-Nationalpark im äußersten Nordosten Polens nicht unbeeinträchtigt ließe. Unter dem Motto „Ratujmy Mazury.pl“ („Retten wir Masuren“) protestieren sie gegen eine Verkehrsverbindung, die kaum Vorteile für die masurische Bevölkerung verspricht, sondern vor allem dem schnelleren internationalen Güterverkehr zwischen den baltischen Staaten und Westeuropa dient. Mit einem geschätzten Verkehrsaufkommen von 4000 Lkw und 22 000 Pkw täglich würde eine brutale Schneise durch die schönsten Landschaften Masurens geschlagen.
Es steht viel auf dem Spiel für Masuren und seine einzigartige ökologische Vielfalt. Vor Ort existiert eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich dem kommerziellen Ausverkauf zunehmend entgegenstellt. Sie kämpft dafür, die einzigartige Natur als Lebensgrundlage für künftige Generationen zu bewahren. Das ist auch in einem weiteren Sinn ein Segen, denn diese Graswurzelbewegung für die Bewahrung der einzigartigen Kulturlandschaft Masuren wird von einer jüngeren Generation getragen, deren Großeltern und Eltern nach 1945 als Fremde hierherkamen.
In meinem Fall war es genau umgekehrt. Besuche in Masuren bedeuteten für mich zugleich eine Annäherung an die eigene Familiengeschichte. Meine Großeltern hatten Masuren 1945 für immer verlassen müssen und trauerten um ihre verlorene Heimat. Wenn sie von zu Hause erzählten, meinten sie bis zu ihrem Lebensende Masuren. In ihrem Wohnzimmer hing eine Schwarz-Weiß-Fotografie, auf der ein Dorfteich zu sehen ist, in dessen Wasser sich die hohen Bäume auf der anderen Seite spiegeln, hinter denen ihr heimatlicher Bauernhof schemenhaft zu erkennen ist. Wahrscheinlich hatten meine Großeltern dieses Bild in den Sechzigerjahren aus einem kleinen Foto vergrößern und mit einem Rahmen versehen lassen. Viele Familienfeiern mit Kaffeetafeln und Abendessen fanden in diesem Wohnzimmer statt, wo es in einer Ecke am Fenster hing. Auf Familienfotos kann man im Hintergrund das gerahmte Bild vom Dorfteich erkennen. Diese Fotografie baute eine Brücke in ihr altes Leben, das unwiederbringlich verloren war.
Aus diesem alten Leben überdauerte fast nichts in unserer Familie, das ich hätte berühren können. Nichts Dingliches. Keine Möbel, kein Porzellanservice, kein Silberbesteck, weder Erbstücke noch Dachbodenromantik. Manchmal beneidete ich als Kind deshalb die Freunde, mit denen ich auf Dachböden ihrer seit Generationen in Familienbesitz befindlichen Häuser in alten Sachen wühlen konnte. Trödel, Klamotten, Kisten und Schränke – ein Paradies. Für meine Freunde spielte es keine Rolle, ob unsere „Schätze“ auf dem Dachboden von Urgroßeltern, Onkeln oder Tanten stammten, alles verschwamm zu einem unausgesprochenen „Wir sind von hier“, wo Herkunft nie hinterfragt werden musste. Flüchtlingsfamilien besaßen lange überhaupt keine Dachböden, weil sie zunächst nur provisorisch irgendwo Obdach gefunden hatten. Wenn sie schließlich ein eigenes Häuschen bauten, standen ihre Dachböden für gähnende Leere, denn aus ihrem alten Leben konnten Flüchtlinge selten etwas retten, weshalb sie buchstäblich mit leeren Händen kamen.
Heute hängt der masurische Dorfteich in seinem vergilbten Rahmen über meinem Berliner Schreibtisch. Für mich schien lange Zeit die alte Welt meiner Großeltern nur aus Schwarz-Weiß zu bestehen. In einem alten Fotoalbum zeugten wenige verblassende Fotografien davon, dass sie ein Leben hatten, das ich nicht kannte. Ein Foto zeigte meinen Großvater mit seinen Pferden, wie sie gemeinsam nach einem kraftraubenden Erntetag ein erfrischendes Bad im See nehmen. Auf anderen war ein Fahrradausflug der Dorfjugend abgebildet, Hofhund Senta, die Familie feierlich im Sonntagsstaat im Vorgarten, voll beladene Erntewagen vor der Scheune, meine Urgroßmutter mit ihrer Enkelschar beim Hühnerfüttern, und viele Hochzeitsbilder, auf denen mir weitgehend unbekannte Familienmitglieder zu sehen sind.
Als ich erstmals nach Masuren fuhr, gemeinsam mit meinen Großeltern, erlebte ich einen Schock. Nichts deckte sich mit diesen alten Schwarz-Weiß-Bildern, denn alles, was ich nun als Jugendlicher vor Ort sah, schien zu meinem großen Erstaunen in buntesten Farben gemalt. Endlich konnte ich die Erzählungen meiner Großeltern mit der Wirklichkeit abgleichen.
Manchmal dachte ich, dass mir alles seltsam vertraut vorkam, obwohl ich nie zuvor in Masuren gewesen war. Es war Hochsommer, Ende Juli, die schwülwarme Luft stand förmlich. Eine sommerliche Trägheit lag über dem Land. So hatte ich mir einen Sommer in Masuren immer vorgestellt. Ich erinnere mich noch genau an das summende Orchester der Bienen und Hummeln – und an die allgegenwärtigen Mücken. Kühe, an langen Ketten angepflockt, lagen auf dem Dorfanger im Schatten der Bäume, gepiesackt von lästigen Bremsen. Überall roch es nach Landleben, nach unlängst gedroschenen Getreidefeldern, Johannisbeeren und Frühkartoffeln.
Gemeinsam mit meinen über siebzigjährigen Großeltern gingen wir durch ihr Heimatdorf. Was das für sie bedeutete, habe ich erst viel später verstanden. Unverändert lag der Dorfteich im Mittelpunkt, den ich aufgrund des alten Fotos im Wohnzimmer sofort ausmachen konnte. Leicht versandet, doch farbenfroh, ein grünes Meer von Bäumen spiegelte sich in der Wasseroberfläche. Auf ihm schnatterten wie eh und je Enten und Gänse, die zu den benachbarten Höfen gehörten. Störche hatten ihre Nester auf jenen Häusern und Scheunen bezogen, wo sie nach den Erzählungen meiner Großeltern bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert genistet hatten. Für sie war deshalb keines der erspähten Storchennester eine Überraschung.
Jener Sommer in Masuren – das klingt fast wie ein schlechter Roman – veränderte mein Leben. Je öfter ich wiederkehrte, verdichteten sich meine Eindrücke und ließen Masuren und Polen für mich zu einer faszinierenden Wirklichkeit werden. Ich fing an, Polnisch zu lernen, und fortan ließ mich dieses Land nicht mehr los.
Nach Masuren kamen die heutigen Bewohner fast ausnahmslos als Fremde, in eine Landschaft, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Teil Deutschlands und davor Preußens war. Im engeren Sinne existiert hier also keine nationale polnische Vergangenheit, denn zu keinem Zeitpunkt war Masuren Teil eines polnischen Staates. Für diese Gebrauchsanweisung bleibt jedoch ein Blick in seine Geschichte unverzichtbar. Deshalb möchte ich Ihnen auch von meinem Polen erzählen.


Mein Polen
Seit 1987 reise ich nach Polen, erstmals in den späten Jahren der Volksrepublik. Das Regime versuchte, mithilfe des Kriegsrechts den antikommunistischen Widerstand zu brechen. Die Bilder der friedlichen Proteste gingen um die Welt, als die verbotene Gewerkschaft Solidarność mit ihrem Anführer Lech Wałęsa an der Spitze gegen die Unterdrückung aufbegehrte. Einer der größten Unterstützer der Oppositionsbewegung war der katholische Priester Jerzy Popiełuszko, der im Herbst 1984 vom polnischen Geheimdienst entführt und ermordet wurde. Sein grausamer Tod brachte das Regime in immer größere Erklärungsnöte und ließ die Staatsmacht ernsthaft wanken.
Als ich 1987 Popiełuszkos Gemeindekirche im Warschauer Stadtteil Żoliborz besuchte, stand das Gotteshaus unter Beobachtung des Geheimdienstes. An der Beisetzung des populären Priesters hatten 800 000 Menschen teilgenommen. Spätestens seit dieser Zeit galt die Warschauer Stanisław-Kostka-Kirche als nationales Symbol gegen die kommunistische Diktatur. Mitten in der Woche kamen unentwegt Menschen, um Kirche und Grab des ermordeten Pfarrers zu besuchen; ein täglicher Protest gegen die Diktatur und für die Freiheit.
Wenige Jahre später konnte ich als Student ein freies Polen entdecken. Seit 1996 habe ich insgesamt mehr als zehn Jahre meines Lebens in Polen verbracht, zunächst für Archivrecherchen in Masuren, dann in Warschau. Für mich bleiben es prägende Jahre, da ich das Land mitten in einem schwierigen Transformationsprozess erlebte. Die Menschen hatten große Herausforderungen zu stemmen, wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich. Polen zu verstehen heißt immer auch, seine dramatische Geschichte zu kennen. Dann wird vor allem begreiflich, warum die Vergangenheit allgegenwärtig zu sein scheint.
Von seinen mächtigen Nachbarn im Osten wie im Westen mal als Beute aufgeteilt, mal annektiert, mal besetzt und verschoben, machten die fremden Mächte Polen zu einem Friedhof der europäischen Zivilisation. Als Teil der „Bloodlands“, wie der amerikanische Historiker Timothy Snyder jene europäischen Regionen nannte, lebte hier die sogenannte Moderne unter deutschen und sowjetischen Vorzeichen ihre schlimmsten Seiten aus, durch Krieg, Terror, Besatzung und Vernichtung. Seit dem 1. September 1939 gehörte diese Erfahrung zum polnischen Alltag. Das Land arrangierte sich nicht in faulen Kompromissen mit Hitler oder Stalin, sondern stellte sich den mächtigen Aggressoren mutig entgegen, während seine Verbündeten zuschauten. Ein aussichtsloser Kampf, denn Polen stand allein da.
Als in Deutschland noch nicht an Bombenkrieg zu denken war, starben in jenem September 1939 in Warschau 20 000 Menschen im deutschen Bombenhagel; zehn Prozent der Bausubstanz ging damals verloren. Schließlich errichteten die deutschen Besatzer mitten in der Stadt ein Getto, pferchten Hunderttausende Juden auf engstem Raum hinter Stacheldraht und Mauern. Im Sommer 1942 begannen die Deportationen aus dem Warschauer Getto direkt in das Vernichtungslager Treblinka. Am Ende waren es 310 000 Warschauer Juden, die dort unweit der Hauptstadt ermordet wurden.
Nachdem die Deutschen das Getto endgültig räumen wollten, blieben im Januar 1943 noch 60 000 Juden zurück, die im April zum offenen Kampf gegen ihre Mörder übergingen. Fast einen Monat leisteten sie der deutschen Übermacht mit dem Mut der Verzweifelten erbitterten Widerstand. Dem Aufstand ist das Denkmal der Helden des Gettos (Pomnik Bohaterów Getta) gewidmet, an der Zamenhofa-Straße im Stadtteil Muranów. Vor dem Denkmal kniete Bundeskanzler Willy Brandt bei seinem ersten Besuch in Warschau spontan nieder. Mit dieser Geste setzte er einen entscheidenden Akzent für die deutsch-polnische Annäherung und Versöhnung.
Im Sommer 1944 brach der große Aufstand gegen die deutschen Besatzer in der Hauptstadt los, während die sowjetischen Truppen am östlichen Weichselufer tatenlos zuschauten. An seinem Ende versank das alte Warschau endgültig in Schutt und Asche. Der Freiheitswille der Warschauer kostete 16 000 ihrer Soldaten das Leben, 150 000 bis 180 000 tote Zivilisten kamen hinzu, von denen 40 000 exekutiert wurden. Das ist die Bilanz. Doch damit begnügten sich die Deutschen nicht. Plündernd und brandschatzend zogen sie durch die Überreste der polnischen Hauptstadt, um Polens Metropole an der Weichsel dem Erdboden gleichzumachen.
Kaum ein Ort ließ mich die Gegenwart von Geschichte so deutlich spüren wie Warschau. An Hauswänden hingen Gedenktafeln, die an Massenexekutionen durch die deutschen Besatzer erinnerten. Unweit meiner Wohnung im Stadtteil Stary Mokotów ging ich täglich an einem Denkmal vorbei, das mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, auf dem an die öffentliche Exekution von 112 inhaftierten Polen im benachbarten Pawiak-Gefängnis erinnert wurde. Ein Faksimile der deutschen Bekanntmachung, die den Mord ankündigte, erinnerte an das Verbrechen mitten in der pulsierenden Großstadt. Darin befahl der SS- und Polizeiführer für den Bezirk Warschau, Franz Kutschera, in deutscher und polnischer Sprache ihre öffentliche Hinrichtung am 3. Dezember 1943 auf dem Innenhof des Gebäudes auf der Puławska-Straße 21/23. Selten hat mich ein Mahnmal mehr bewegt. In schwarzen Lettern auf rotem Hintergrund standen säuberlich aufgelistet die Namen der Hingerichteten mit ihren Geburtsdaten, manche waren nicht einmal zwanzig Jahre alt gewesen.
Warschaus und Polens dramatische Geschichte ist unverzichtbare Voraussetzung, um die polnisch-deutschen Beziehungen zu verstehen, und damit auch Masuren. In der weltweiten Erinnerung existiert kaum ein Ort, der ähnlich dem tschechischen Lidice oder dem französischen Oradour-sur-Glane an polnische Opfer erinnert. Das liegt vor allem daran, dass die Deutschen das besetzte Polen gleichzeitig zum Ort für die Vernichtung der europäischen Juden wählten. Für Polen überwiegen vor allem Orte, die mit genuin jüdischem Leiden verbunden sind. In der polnischen Hauptstadt Warschau kamen im Zweiten Weltkrieg mehr als zweimal so viele Menschen um wie in ganz Frankreich. In Polen existieren Hunderte Orte mit den Ausmaßen von Oradour und Lidice, aber bis heute blieben sie außerhalb Polens weitgehend unbekannt.
Die Ermordung unschuldiger Zivilisten gehörte in Polen zum Besatzungsalltag. Deshalb bleibt die Erinnerung an Krieg und Besatzung vor allem in der polnischen Hauptstadt lebendig. Am 19. April, jenem Tag, an dem 1943 der Gettoaufstand begann, schmücken Flaggen jedes Haus. Am 1. August, dem Tag, an dem 1944 der zweite Aufstand losbrach, heulen um 17 Uhr die Sirenen in ganz Warschau, Menschen gedenken überall der Stunde, an der sich ihre Hauptstadt gegen die Deutschen erhoben hat.
Das alles gehört zu den Eindrücken, die mich und mein Verhältnis zu Polen nachhaltig prägen sollten. Unvergesslich bleibt mir der Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 und – noch viel eindrücklicher – der Tod von Papst Johannes Paul II. im April 2005. Als die Totenmesse aus dem Vatikan im polnischen Fernsehen live übertragen wurde, erlebte ich die ansonsten fast immer verstopfte Warschauer Stadtautobahn – die Wisłostrada – völlig autofrei. Mit dem Fahrrad fuhr ich ganz allein auf der vierspurigen Autobahn durch eine Geisterstadt. Das Zusammenspiel von nationaler Identität und Katholizismus erschien in diesem Augenblick greifbar. Polen tickte anders als das weitgehend säkularisierte Westeuropa, das zeigte dieser Tag.
Literatur war für mich ein wichtiger Schlüssel, um unser Nachbarland besser zu verstehen. Während meines Polonistikstudiums an der Berliner Humboldt-Universität lernte ich die Werke des Schriftstellers Kazimierz Brandys kennen. Bis heute einer meiner Lieblingsautoren, wenn es darum geht, Polen historisch und vor allem mental zu verstehen. Kazimierz Brandys beschrieb in seinem beeindruckenden Warschauer Tagebuch die schweren Jahre von 1978 bis 1981, immer mit historischen Rückblenden und Reflexionen. Er, der als Jude den Antisemitismus in Polen am eigenen Leib erfahren hatte und schonungslos beim Namen nannte, der sich dann einer kommunistischen Utopie andiente, um sich schließlich angeekelt von ihr abzuwenden, schilderte die Stimmung im Land, als im Oktober 1978 der Pole Karol Wojtyła zum Papst gewählt wurde.
In der Tradition der polnischen Romantik wähnten viele Polen ihr geschundenes Land als „Christus der Völker“ und klammerten sich an den sogenannten Messianismus, der die Wiederauferstehung Polens verhieß. Im Herbst 1978, so schrieb der eher rationale, linke Intellektuelle Kazimierz Brandys, seien auf einmal alle Polen zu Messianisten geworden und glaubten an ein Wunder, „als hätten sie seit zweihundert Jahren auf den Tag der Ankunft gewartet. Eine so irrationale kollektive Reaktion konnte nur durch die Gene eines Volkes vermittelt sein, das im Laufe von zehn Generationen den Glauben an die irdische Gerechtigkeit der Geschichte verloren hatte“. Alle sprachen angesichts der polnischen Geschichte von einem Wunder. „Es hat so vieler blutiger Bürgerkriege, so vieler Teilungen und Verrätereien bedurft, damit das, was in anderen Ländern als politisches Denken, staatsbürgerliches Bewusstsein oder Rechtsempfinden auftritt, sich bei uns in ein sehnliches Verlangen nach einem überwirklichen Zeichen des Himmels verwandelte. Sowohl Betschwestern als auch Intellektuelle führten an diesem Tag das Wort ›Wunder‹ im Mund.“
Sein erster Besuch als Papst Johannes Paul II. führte den Nachfolger Petri in seine polnische Heimat, mitten im Kommunismus. Noch bei seiner neunten Pilgerfahrt hierher im August 2002 vermochte er bei einer einzigen Messe in Krakau 2,7 Millionen Gläubige anzulocken. Für Polen personifizierte er die alte Bedeutung des polnischen Katholizismus als Bindeglied zwischen Volk und Nation. Auch nach seinem Tod blieb Johannes Paul II. allgegenwärtig, durch Denkmäler und Erinnerungstafeln, die man zum Teil bereits zu seinen Lebzeiten errichtet hatte, wie durch große Straßen und Plätze, die seinen Namen tragen.
Sein Todestag, der 2. April 2005, war ein Samstag. An diesem ungewöhnlich warmen Abend strömten viele Menschen in die Warschauer Altstadt. Alle polnischen Fernsehkanäle übertrugen über Leinwände auf Straßen und Plätzen, machten das Sterben ihres Papstes öffentlich. Kneipen und Restaurants waren gut gefüllt, aber überall herrschte eine getragene und gedrückte Stimmung.
An diesem Abend war ich mit Freunden zum Abendessen in einem Restaurant verabredet. Alle starrten gebannt auf den Bildschirm am Eingang. Plötzlich erklang im Fernsehen ein erster Glockenschlag, es war die Sterbeminute des polnischen Papstes, unvergesslich, 21.37 Uhr. Der Fernsehkommentator wiederholte unablässlich die erschütternde Botschaft: „Ojciec święty nie żyje“ („Der Heilige Vater ist tot“), im Hintergrund ertönte der durchdringende Glockenschlag. Die jungen Kellnerinnen, die uns eben noch mit Getränken versorgt hatten, knieten vor dem Bildschirm und weinten. Keiner wollte mehr bleiben, wir internationalen Gäste halfen beim Abräumen, kassierten an den Tischen ab und legten das Geld auf den Tresen.
Draußen eilten an diesem lauen Aprilabend von überall Menschen herbei, niemand wollte allein sein in diesem historischen Moment. In allen Gesichtern waren Fassungslosigkeit und Trauer zu lesen. Kerzen standen in den Fenstern, die Glocken sämtlicher Kirchen läuteten, wildfremde Menschen fielen sich in die Arme. Vor der Annen-Kirche am Ende der Krakowskie-Przedmieście-Straße ergatterte ich ein Taxi, das mich nach Hause bringen sollte.
Auf der Fahrt weinte der Taxichauffeur, er habe wie alle Polen mit dem Heiligen Vater ein enges Familienmitglied verloren. Wir saßen lange im Auto vor meinem Haus, doch konnte er sich nicht beruhigen. Meine Nachbarn standen weinend im Treppenhaus. Ich lud die Nachbarn und den mir völlig unbekannten Taxifahrer zu mir nach Hause ein, schweigend, weinend und schließend redend verbrachten wir die Nacht in meinem Wohnzimmer, begleitet von einer Flasche schottischem Single-Malt-Whisky.
Als schließlich ein Deutscher zum Nachfolger Petri gewählt wurde, erreichten mich, den evangelischen Deutschen, von polnischen Freunden und Bekannten Glückwünsche. Ganz Polen freute sich über die Wahl von Benedikt XVI. Meine Zeitungsverkäuferin in Warschau, die ich über Jahre nur durch ihr kleines Kioskfenster kannte, kam eigens heraus und gratulierte mir überschwänglich zur Wahl von Joseph Ratzinger.
Begegnungen wie diese ermöglichen einen Einblick in die seelische Verfassung Polens, in der sämtliche dramatischen Ablagerungen der Geschichte in einem kollektiven Langzeitgedächtnis gespeichert zu sein scheinen. Denn obwohl Polen unser wichtigster Nachbar im Osten ist, bleibt das Land für viele Deutsche eine Terra incognita. Dabei liegt Polen direkt vor unserer Haustür. Allein eine gute Prise menschlicher Neugier sollte uns alle mindestens zu einem Tagesausflug dorthin locken. Stettin, Breslau und Posen sind um die Ecke; Danzig, Warschau und Krakau für ein langes Wochenende ebenfalls gut erreichbar, ob per Auto, Bahn oder Flugzeug. Oder eben Masuren! Mit dieser Gebrauchsanweisung möchte ich Ihnen auf ganz persönliche Art und Weise mein Masuren und mein Polen näherbringen und Sie einladen, es selbst zu entdecken. Fahren wir also gemeinsam nach Masuren!

Andreas Kossert

Über Andreas Kossert

Biografie

Andreas Kossert, geboren 1970, ist promovierter Historiker und Autor. Er war u. a. für das Deutsche Historische Institut in Warschau tätig und lebt und arbeitet seit 2010 in Berlin. Neben viel beachteten Bänden über Masuren und Ostpreußen erschienen von ihm der Bestseller »Kalte Heimat. Die...

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Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Das Buch bietet viel erhellenden Stoff.“

Schweriner Express

„Kosserts Buch ist eine Liebeserklärung an Masuren und voller Geschichten und Geschichtsbezüge.“

Berliner Zeitung

„Es ist eine in historische und persönliche Kontexte eingebettete Liebeserklärung an eines der großen Naturparadiese Mitteleuropas.“

reiseblog-kurzurlaub.de

„Ein lesenswertes Vergnügen für alle Masuren-Liebhaber!“

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