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Die Tempel von Shikoku

Die Tempel von Shikoku

Marie-Édith Laval
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Meine Pilgerreise auf Japans heiligem Weg

„Ein sympathisches und poetisches Buch über ein inspirierendes Pilgerabenteuer.“ - globetrotter (CH)

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Die Tempel von Shikoku — Inhalt

Während einer Wanderung auf dem Jakobsweg erfährt Marie-Édith Laval von einem Pilgerweg auf der japanischen Insel Shikoku. 1200 Kilometer führt dieser auf den Spuren Kūkais, des Gründers des Shingon-Buddhismus, um die Insel, zu 88 Tempeln. Fasziniert von diesem exotischen Ziel, beschließt Laval, sich als „henro“ – japanischer Pilger – auf das Abenteuer einzulassen. Der Weg repräsentiert die vier Stufen der Entwicklung: Erwachen, Askese, Erleuchtung und Nirwana. Und mit jedem Tag des Wanderns richtet sich auch Marie-Édith Lavals persönliche Wahrnehmung zunehmend von den äußeren Begebenheiten auf ihr Inneres, auf ihren Weg zu Frieden, Glück und Dankbarkeit. Geistreich und unterhaltsam beschreibt sie ihre Erfahrungen – ein inspirierender Pilgerbericht.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 01.08.2016
Übersetzt von: Bettina Müller Renzoni, Barbara Neeb
288 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97514-8
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Leseprobe zu „Die Tempel von Shikoku“

Auftakt

Los geht’s!


Hut auf, den Mantel vom Haken,

Fäuste in die Taschen – und los.

Arthur Rimbaud


„Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Begegnungen“, sagte Paul Éluard. Und das Leben hat mir wirklich eine ganz wunderbare Begegnung beschert.

Im August 2012 habe ich auf dem Jakobsweg in Spanien, wenige Kilometer vor der Stadt Melide, „zufällig“ einen japanischen Pilger kennengelernt. Diese Begegnung war ausschlaggebend dafür, dass ich im folgenden Sommer ganz allein, nur mit einem Rucksack bepackt, aufgebrochen bin, um auf dem 1200 Kilometer langen [...]

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Auftakt

Los geht’s!


Hut auf, den Mantel vom Haken,

Fäuste in die Taschen – und los.

Arthur Rimbaud


„Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Begegnungen“, sagte Paul Éluard. Und das Leben hat mir wirklich eine ganz wunderbare Begegnung beschert.

Im August 2012 habe ich auf dem Jakobsweg in Spanien, wenige Kilometer vor der Stadt Melide, „zufällig“ einen japanischen Pilger kennengelernt. Diese Begegnung war ausschlaggebend dafür, dass ich im folgenden Sommer ganz allein, nur mit einem Rucksack bepackt, aufgebrochen bin, um auf dem 1200 Kilometer langen Shikoku-Pilgerweg zu wandern, auf den Spuren eines gewissen Kūkai, von dessen Existenz ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Manchmal führt eine spontane Wendung in einer angeregten Unterhaltung mit einem Unbekannten von einem Pilgerweg zum nächsten, von einem Kontinent zum anderen. An jenem Tag habe ich von diesem buddhistischen Pilgerweg erfahren, der Shikoku, die kleinste der vier Hauptinseln des japanischen Archipels, umrundet. Was mein vorübergehender Wegbegleiter mir damals erzählte (ihm sei hiermit von Herzen gedankt!), weckte mein Interesse, und ich nahm mir vor, das Thema zu vertiefen, sobald ich wieder zu Hause in Paris wäre.

Nach den 1600 Kilometern zu Fuß auf dem Jakobsweg von Le Puy-en-Velay bis Kap Finisterre – das Kap in Galicien bildet traditionell die Verlängerung des Pilgerwegs bis ans „Ende der Welt“ an der Atlantikküste – und der Heimreise mit dem Schiff nach Frankreich musste ich feststellen, dass das Leben nach einer Pilgerschaft keineswegs ein Spaziergang ist. Die Rückkehr von einer Reise hat für mich seit jeher einen bitteren Beigeschmack: Kaum zu Hause, träume ich schon wieder mit einer Weltkarte vor den Augen von neuen Ländern und berausche mich an Erzählungen aus der Ferne und dem Zauber fremdländischer Namen.

Während ich nach meiner Wanderung auf dem Jakobsweg gegen die Trägheit steifer Glieder und die Routine des Alltags ankämpfte, der im krassen Gegensatz stand zu den erfüllten und genussvoll erlebten Augenblicken beim Pilgern, stieg der Ruf des fernen Shikoku mit vehementer Kraft in mir auf. Eine ebenso unwiderstehliche wie irrationale Faszination brach sich aus der Tiefe meiner Seele Bahn wie ein innerer Befehl. Ich saß vor meinem Computerbildschirm und wusste plötzlich: Nächsten Sommer werde ich nach Shikoku reisen!

Das Startzeichen zu einer neuen Pilgerreise war also gegeben, ein fantastisches Abenteuer im Land der aufgehenden Sonne erwartete mich. Und so kam es, dass ich am 30. Juni 2013 zu diesem Abenteuer aufbrach, mit einer „inneren Empfänglichkeit“, wie Pierre Rabhi die „Bereitschaft, Gaben und Schönheiten des Lebens mit Demut, Dankbarkeit und Freude anzunehmen“, so treffend bezeichnet hat – gleich einem auf die Fahne meines Herzens geschriebenen Motto, einem Mantra tief in meinem Innersten. Obwohl meine Pilgerfahrt nach Shikoku keine Sinnsuche war im Stil der Ritter der Tafelrunde auf der Suche nach dem Heiligen Gral, hat sich dennoch im Laufe meiner Wanderung ganz von selbst ein Sinn ergeben.


Seit vielen Jahren schon war ich fasziniert von den großen Abenteurern der Vergangenheit und Gegenwart, verschlang ihre Berichte mit Heißhunger und spürte in der lebhaften Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen eine eindringliche und anhaltende Versuchung, mein eigenes Leben in eine unaufhörliche Reise zu verwandeln.

Auf meinen Bücherregalen stehen die Werke der bedeutendsten Weltreisenden und Schriftsteller: Alexandra David-Néel, Nicolas Bouvier, Victor Segalen, Romain Gary, Bruce Chatwin, Bernard Ollivier, Sylvain Tesson und viele mehr. Ihre Schicksale sind der Stoff, aus dem meine Träume sind …

Diese großen Vorbilder flüstern mir zu, dass es möglich ist, den Alltag vor Sinnlosigkeit und einem Gefühl der Unvollständigkeit zu retten, einer Existenz zu entfliehen, die ins Stocken geraten ist, sich nach Erfüllung sehnt, dass man dem Überdruss entrinnen kann wie auch dem Gefühl der Entfremdung unter der herrschenden Routine. „Den Wanderstab und das symbolische Bündel zur Hand nehmen und losziehen! Wer den Wert und den köstlichen Geschmack der einsamen Freiheit kennt, für den ist der Aufbruch der schönste und mutigste Schritt. Ein egoistisches Glück vermutlich, aber das Glück desjenigen, der es zu genießen versteht. Allein sein, wenige Bedürfnisse haben und unerkannt bleiben, fremd und doch überall bei sich, und im Alleingang die Welt erobern!“[1]


Haben Sie nicht auch schon den unwiderstehlichen Drang verspürt, Türen und Fenster weit aufzureißen, die heimtückischen Kellerfenster, die hinterhältigen Dachfenster, weil Ihnen die Gewohnheit die Kehle zuzuschnüren scheint und Sie in Ihrem verriegelten und versiegelten Universum an Sauerstoffmangel leiden?

Kamen Sie sich auch schon vor wie die wunderschönen und anmutigen Schmetterlinge in den Schaukästen, deren Flügel man mit Nadeln festpinnt, um sie am Davonfliegen zu hindern, sie ihrer Himmelsreisen zu berauben …?

Haben Sie sich auch schon wie der Ast eines Baums gefühlt, der beschnitten, vom Lebenssaft abgetrennt ist?

Wer hat noch nie von einer illusorischen Zukunft geträumt, von einem utopischen Anderswo, einem schimärenhaften Anderswie, einer Existenz des Was-wäre-wenn, die so viel glücklicher, lebendiger, vollständiger, berauschender wäre, wenn doch nur tausendundeine Bedingung erfüllt wäre (wenn ich dies hätte und jenes besäße, wenn ich von dieser oder jener Pflicht befreit wäre usw.)? Das bewegt und empört Sie gleichermaßen, wenigstens von Zeit zu Zeit, nicht wahr?

In der trägen Abfolge der Tage, die nicht vom Fleck kommen, hallt schon seit Langem der eindringliche Ruf zur Reise, dieser „quälende Juckreiz des Unbekannten“[2], wie Gauguin es empfunden hat, der jede Zelle meines Körpers besetzt und als Ruder wirkt, Kurs auf das Anderswo nimmt. Um die nächste Ecke schauen, in eine fremde Welt eintauchen – vielleicht findet sich ja ein Anker für mein Dasein und Antworten auf den ungestillten Hunger, den ich dunkel in mir spüre.


Befeuert von den Bildern und Berichten der berühmten Reiseschriftsteller, die meine Seele zum Schwingen brachten, mich von fernen Ländern träumen ließen und meinen sehnlichen Wunsch, die Welt zu erkunden, zum Leitmotiv meines Lebens machten, bin ich aufgebrochen, ohne besonderes Vorwissen über das Land der aufgehenden Sonne, seine Sitten und Bräuche und seine faszinierende, einzigartige und komplexe Kultur. Lesend der Realität entfliehen und neue Gegenden entdecken ist schön und gut, aber ich möchte hingehen und sie mir ansehen!

Ich habe nicht viel Zeit mit sorgfältigen Vorbereitungen verloren, sondern zog es vor, mich überraschen zu lassen, mich von dem, was mich in Japan erwarten würde, formen zu lassen wie eine Tonfigur. In der Überzeugung, dass „die Wege uns erfinden“ und man „den Schritten freien Lauf lassen muss“[3], wie Philippe Delerm schreibt.

Ich wollte nichts planen, wollte die bevorstehende Erfahrung nicht intellektualisieren, hatte keine Lust, mich mit Wissen vollzupacken oder mich zu beruhigen, indem ich mich schon mal im Geist mit den Gegebenheiten vertraut machte, sondern zog es vor, mir nach Möglichkeit die naive und unschuldige Frische des kindlichen Blicks zu bewahren, ohne Vorurteile, frei von Glaubenssätzen und Gewissheiten, nach Entdeckungen dürstend, dem Fremden gegenüber ganz und gar empfänglich.

Ich liebe nichts so sehr wie das Neuartige. Offen für die mir unbekannten Eigenheiten der japanischen Gesellschaft und ihre unverständlichen Verhaltenscodes, die mich in meiner Art und mit meinen westlichen Gewohnheiten anfangs unweigerlich verstören würden, bin ich abgereist – ohne Erwartungen oder Prognosen.


Gleichwohl häuften sich in den Monaten vor meinem japanischen Abenteuer Erlebnisse, die ich gern als kleine Zeichen des Schicksals interpretierte, zahlreiche Sterne, die mir den künftigen Weg wiesen – Wegmarken wie die gelben Pfeile auf dem Jakobsweg in Spanien. Es war wie eine Verschwörung kleiner „Zufälle“, die alle auf den Bestimmungsort im Fernen Osten verwiesen, ein Füllhorn, in dem sich geschickt eins zum anderen fügte. Jeder meiner Schritte schien in Richtung des Pilgerwegs der 88 Tempel zu führen, der sich mit erstaunlicher Leichtigkeit vor mir auftat und mich mit offenen Armen willkommen hieß. Gewiss, der menschliche Geist giert nach Zeichen, die einen Sinn versprechen, das weiß ich wohl, aber trotzdem … Es war, als ob der japanische Pilgerweg es nicht erwarten könnte, beschritten zu werden. Türen öffneten sich mühelos, Kontakte ergaben sich ganz von selbst, die Organisation war unkompliziert, der ganze Ablauf erfolgte reibungslos. Als ob alles auf ganz natürliche Weise seinen Platz fände, ohne dass ich groß etwas dazu beitragen musste. Als ob alles sich dazu verschworen hätte, die optimalen Bedingungen zur Verwirklichung einer facettenreichen Erfahrung zu schaffen. Werden wir vielleicht in der sichtbaren Welt durch unsichtbare Pfeile geleitet, durch nicht wahrnehmbare Fäden bewegt, die uns dazu bringen, einen Weg einzuschlagen, dessen Richtung bereits vorgegeben ist?

Ich hatte zum Beispiel das große Vergnügen, Léo Gantelet kennenzulernen, einen ehemaligen Pilger auf dem Jakobsweg und Shikoku, der unter anderem Berichte über seine Pilgerreisen veröffentlicht hat und interessanterweise im gleichen Dorf der Haute-Savoie lebt wie eine meiner besten Freundinnen. Die Begegnung mit ihm und unsere Gespräche haben mich begeistert und es mir ermöglicht, Zugang zur japanischen Realität zu finden und mich geistig auf diese Pilgerschaft einzustimmen.

Ein weiteres glückliches Ereignis waren die Irrgänge meiner Mutter zwei Monate vor meinem Abflug: Auf dem Jakobsweg hatte sie eine Abkürzung gewählt und sich verlaufen, einen Tag lang irrte sie umher und stand plötzlich geheimnisvollerweise vor einem Aufkleber, der an einem Hinweisschild prangte. Die stilisierte rot-weiße Gestalt eines Shikoku-Pilgers erregte ihre Aufmerksamkeit, und daraus ergab sich meine erste Kontaktadresse in Japan. Dieser Aufkleber war nämlich in dem winzig kleinen Weiler im entlegensten Winkel Frankreichs von einer Vereinigung von Shikoku-Pilgern angebracht worden, die sich auch für den Jakobsweg begeistert hatten. Diese Vereinigung namens NPO (Network for Shikoku Henro Pilgrimage and Hospitality) hat mich später bei meiner Ankunft auf Shikoku empfangen und bei meinem einzigartigen Abenteuer entlang der japanischen Küste eine nicht unbedeutende Rolle gespielt.

Es kommt mir manchmal vor, als sei unser Leben von einem unergründbaren geheimnisvollen Plan gelenkt, gleich einer Partitur, die sich unter der Wirkung der richtigen und majestätischen Gesten eines großen Dirigenten belebt und Gestalt annimmt.


Leichtigkeit war auch das bestimmende Element bei der Zusammenstellung meines Gepäcks: weder Zelt noch Campingausrüstung und nur eine auf das Minimum reduzierte Auswahl an Kleidung. In der Überzeugung, dass das Loslassen zuerst im Kopf und erst danach im tatsächlichen Leben stattfindet, dass das Entrümpeln zuerst psychisch und dann erst konkret erfolgt, wollte ich mich von allen „Für den Fall, dass“-Dingen befreien, von allen unnötigen Lasten, die meinen Rucksack beschweren und mein Vorwärtskommen behindern könnten – im doppelten Wortsinn.

Das Sich-Entledigen als erster Schritt auf dem Pilgerweg. Ich denke dabei auch an den russischen Pilger und die Beschreibung seines Gepäcks: „Folgendes ist meine Habe: Auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles.“[4] Desgleichen machten sich die Jakobspilger ursprünglich nur mit einer Umhängetasche, einer Kalebasse und einem Pilgerstock auf den Weg. So weit bin ich noch nicht, muss ich gestehen. Aber ich arbeite daran!

Die hektische Beschleunigung und die innere Aufregung, die meiner Abreise vorausgingen, hatten etwas von einer Bestandsaufnahme. Hier ein Auszug aus meiner Liste der kunterbunt zusammengewürfelten Dinge, die ich vor der Abreise abhaken wollte: alle bürokratischen und praktischen Angelegenheiten erledigen, damit ich bei der Rückkehr keine Unannehmlichkeiten zu erwarten habe; eine französische Übersetzung des Herz-Sutras[5] ausdrucken; eine neue Mitarbeiterin für meine Praxis einstellen; die Dichtung am tropfenden Wasserhahn in der Küche auswechseln; alles auf den neuesten Stand bringen; das Badezimmer ausräumen, damit die anstehenden Arbeiten in meiner Abwesenheit durchgeführt werden können; meine beruflichen Unterlagen überprüfen und zu den Akten legen; meine Ausweispapiere einscannen und per E-Mail an mich selbst senden; Sonnencreme kaufen; Termine nach der Rückkehr vereinbaren; meiner Wohnungshüterin die Zimmerpflanzen anvertrauen und einen Zweitschlüssel zur Wohnung bei ihr hinterlegen; der Pilgervereinigung, die mich am Busbahnhof von Shikoku erwartet, die Ankunftszeit mitteilen; Daueraufträge für die Zahlungen veranlassen, die während meiner Abwesenheit fällig sind; die Batterien an meiner Stirnlampe auswechseln; mich mit den Einstellungen meines funkelnagelneuen Fotoapparats vertraut machen; mein Elle-Abo über die Sommermonate kündigen; eine automatische Abwesenheitsnotiz in meinem beruflichen E-Mail-Account einrichten; neue Kontaktlinsen besorgen; die automatische Ansage auf meinem Anrufbeantworter ändern; Geschenke für meine Neffen und Nichten organisieren, die im Sommer Geburtstag haben; den Kühlschrank leeren und das Gefrierfach abtauen; die Namen der Bushaltestellen auf Shikoku von Ōsaka bis Takamatsu übersetzen lassen; zum Friseur gehen; die Notfalltelefonnummern (Konsulat, Kreditkartensperrung) aufschreiben; Euro in Yen wechseln; ein neues, leichtes Kurzarm-T-Shirt kaufen; eine kleine Abschiedsparty organisieren; die Skype-App auf dem iPhone installieren; eine gute Flasche Wein als Mitbringsel für meinen japanischen Gastgeber kaufen; eine Reiselektüre aussuchen; einen Zahnarzttermin vereinbaren; auf der Bank eine Änderung der Obergrenze für Bargeldabhebungen im Ausland veranlassen; vor der Abreise in der Wohnung den Haupthahn für Wasser- und Stromzufuhr abdrehen; Informationen über die Handytarife in Japan einholen … Kurzum, ein gewaltiger, wirrer Strudel, bei dem einem schwindlig wurde, ein endloses Durcheinander, das kaum zu bewältigen war.

[1] Isabelle Eberhardt, Écrits sur le sable, Grasset 1989.

[2] Paul Gauguin, Lettres à sa femme et à ses amis, Grasset 2003.

[3] Philippe Delerm, Les chemins nous inventent, Stock 1997.

[4] Emmanuel Jungclaussen (Hrsg.), Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Herder 2000, S. 23.

[5] Eine deutsche Übersetzung des Gebetstexts findet sich im Anhang.



Erster Teil

Der Schlüssel zur Freiheit

Tempel 1 bis 23 – Der Weg des Erwachens, 発心


Awa (heutige Präfektur Tokushima)

Es gibt Reisen, die wie dafür gemacht zu sein scheinen, das Leben selbst zu illustrieren, und die als Symbol für das Dasein dienen können.

Joseph Conrad


1

Jenseits der Schwelle

Pas de deux am Scheideweg, ein Duett zwischen einem äußeren Pfad und einem, der zu den Tiefen des Seins führt. Wie schon Milan Kundera schrieb: „Es gibt nichts Schöneres als den Augenblick, der einer Reise vorangeht, den Moment, in dem der Horizont von morgen uns besucht und uns Versprechungen macht.“[1] Doch trotz einer leichten Vorahnung bin ich an diesem 30. Juni 2013 meilenweit davon entfernt, abschätzen zu können, wie einschneidend und fruchtbar diese Pilgerreise sich auf den weiteren Verlauf meines Lebens auswirken sollte. Ich ahne noch nicht, dass diese Erfahrung die Basis einer großen Grundströmung bilden wird, die immer noch jeden Moment meines täglichen Lebens entscheidend prägt.

Ein strahlend blauer Himmel prangt über Paris, das seit den frühen Morgenstunden von einer wunderbaren Sonne geflutet wird. Hier stehe ich nun am Beginn eines neuen Abenteuers, innerlich beherrscht von Aufregung, brennendem Eifer, freudiger Sorglosigkeit, Begeisterung, Neugier, Vertrauen und Ungeduld angesichts der neuen Erfahrung. Ich verlasse mein „Hier“, um mit riesigem Vergnügen in dieses „Dort“ einzutauchen, das mich anzieht, ich lasse mein „Heute“ hinter mir, um mich in dieses „Morgen“ zu stürzen, das mich fasziniert.

Und das Abenteuer beginnt bereits auf der Schwelle meiner Haustür, am Morgen nach einer spontanen Abschiedsfeier (unter dem Motto „Sake nun Auf Wiedersehen“), die als denkwürdig in die Annalen meines Freundeskreises eingehen wird. Meine Freunde Hervé und Renaud, die mir netterweise angeboten haben, mich zum Flughafen zu bringen, klingeln an meiner Tür. Die Nacht war kurz, die letzten Packvorbereitungen haben mich auf Trab gehalten bis spät in die Nacht oder früh am Morgen, je nachdem, wie man es sehen will. In der Aufregung und Aufbruchshektik ziehe ich ganz automatisch die Tür hinter mir zu und schaue erst nach meinem Schlüssel, als ich schon im Auto sitze. Und prompt kann ich ihn nicht finden. Er ist weg, futsch, verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst! Also Kommando zurück, weil ich überzeugt bin, dass er mir im Treppenhaus oder auf der Straße aus der Tasche gefallen sein muss. Aber nein, trotz einer gemeinsamen Suchaktion gibt es vom Schlüssel weit und breit keine Spur. Ich nehme es mit Humor, scherze über das unverhoffte Glück, dass nun mein Rucksack um dreißig Gramm leichter ist, und verschiebe die Schlüsselangelegenheit auf meine Rückkehr, denn im Grunde spielt es keine Rolle – meine Wohnungshüterin hat einen Zweitschlüssel. Aber ich hatte die Rechnung ohne das Leben gemacht … Denn das Leben spielt einem gern einen Streich! Im Vorjahr hatte ich in dieser Beziehung die Latte bereits sehr hoch gehängt: Ich war zum Jakobsweg aufgebrochen und hatte seltsamerweise vergessen, meine EC-Karte einzupacken. Was wohl Freud zu meinen Fehlleistungen sagen würde?

Auf jeden Fall habe ich in diesem Moment symbolhaft erlebt, wie man die Leinen im wahrsten Sinne des Wortes kappen kann, ein fast vitales Bedürfnis, mich von den Fesseln eines beschränkten, spießigen Alltags zu befreien, eine Sehnsucht, den Käfig meiner Gewohnheiten weit aufzustoßen, aus dem gemütlichen Dahinschlummern im gewohnten Ablauf meiner Tage aufzuwachen und jeglichen Ballast abzuwerfen. Kein Netz mehr, keine Bindungen, kein fester Wohnsitz. Eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit ohne Türschlösser.

[6] Milan Kundera, La vie est ailleurs (Das Leben ist anderswo), Gallimard 1976.

Marie-Édith Laval

Über Marie-Édith Laval

Biografie

Marie-Édith Laval studierte Literaturwissenschaften und arbeitet heute als Sprachtherapeutin. Außerdem unterrichtet sie Kinder und Teenager in Entspannungsmethoden und Achtsamkeitsmeditation. Sie lebt in Paris, doch wann immer sie kann, kommt sie ihren beiden Leidenschaften nach: dem Reisen und dem...

Pressestimmen
globetrotter (CH)

„Ein sympathisches und poetisches Buch über ein inspirierendes Pilgerabenteuer.“

moma Mostviertel Magazin (A)

„Anschaulich schreibt die Autorin über die Eindrücke und Begegnungen entlang des Weges, der die vier Stufen der Entwicklung - Erwachen, Disziplin, Erleuchtung und Nirwana - repräsentiert. Ein Buch, das inspiriert und Lust macht, selbst loszulegen.“

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