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Animal

Lisa Taddeo
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Roman

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Animal — Inhalt

„Nennt uns nicht verrückt, wenn wir wütend sind.“ Lisa Taddeo

Viel zu lange hat Joan die Grausamkeiten von Männern ertragen. Den einen liebt sie, aber er bleibt kalt. Und der, der sie liebt, gibt sich eines Tages vor ihren Augen die Kugel. Joan flieht aus New York und sucht nach der Frau, die ihr helfen kann, ihre Vergangenheit zu überwinden. Während Alice ihr zuhört, muss Joan einsehen, dass sie selbst sich vor den Männern ihres Lebens erniedrigt hat. Jetzt will sie mehr als nur Opfer sein. Selbst wenn sie dafür zur Täterin werden muss.

Lisa Taddeo, Autorin des #1-Spiegel-Bestsellers „Three Women Drei Frauen“, erzählt provokant und verletzlich von weiblichem Schmerz und weiblicher Wut, von Rache, Solidarität und Selbstermächtigung, mit der für Joan ein neues Leben beginnt.

„Taddeos Ton ist so schneidend und anziehend, dass man ihr überallhin folgen würde ... Ihre Prosa funkelt. Sie hat ein Talent fürs Metaphorische, für immer wieder verblüffende Beobachtungen.“ The New York Times Book Review

„Unerschrocken, sexy, brutal und einfach nur forensisch gut beobachtet.“ Jojo Moyes

American Psycho für die #MeToo-Generation.“ The Times

„Wie Joan Didion auf harten Drogen und mit einem Klappmesser.“ Harper’s Bazaar

„Lisa Taddeo legt die ungeschönte Realität weiblichen Begehrens und weiblicher Traumata frei.“ TIME Magazine

„Ein schonungsloses Debüt über weibliche Wut. Taddeos Antiheldin verstößt gegen alle Regeln, und ihr spöttischer Ton bereitet großes Vergnügen.“ Guardian

Animal knurrt und faucht eine ungezähmte Wahrheit heraus, und die verschwiegene Geschichte von Wut und Abrechnung.“ Lithub

„Ein dunkles, verstörendes Meisterwerk, voller berechtigter weiblicher Wut – jedes Wort fliegt einem förmlich entgegen.“ Red

Animal ist ein aufregender, aufrührerischer Roman, so einnehmend wie berauschend – und er steigert sich in ein Fiasko hinein, von dem man den Blick nicht mehr abwenden kann.“ Vogue

„Eine Lektüre wie ein Fiebertraum. Intensiv, aufrüttelnd, provokant, und doch ist dieses Buch erfüllt von Humanität und Sinnlichkeit, am Ende gar von Liebe und Hoffnung.“ Stylist

„Lisa Taddeo zeigt auf, wie die Brutalität von Männern die Wut von Frauen befeuert. Das Ergebnis ist so intim wie explosiv.“ People (Buch der Woche)

„Eine provokante Erkundung dessen, was passiert, wenn Frauen zum Äußersten getrieben werden.“ Esquire

Animal handelt vom allgegenwärtigen Es, eine fleischliche, freimütige Darstellung der unguten Verbindung von Erinnerung und Gewalt.“ Raven Leilani

„Unfassbar gut und wahr und vertrackt.“ Olivia Wilde

Highlight des Jahres für Guardian – Sunday Express – Independent – New Statesman – Evening Standard – Cosmopolitan – Red – Grazia – Daily Mail – Daily Express – The Week – Irish Times – i – The Sun

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 06.01.2023
Übersetzt von: Anne-Kristin Mittag
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31928-7
Download Cover
€ 18,99 [D], € 18,99 [A]
Erschienen am 30.09.2021
Übersetzt von: Anne-Kristin Mittag
432 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99929-8
Download Cover

Leseprobe zu „Animal“

1

Ich musste weg aus New York, wo sich ein Mann vor meinen Augen erschoss. Es war ein gefräßiger Mann, und das Blut, das herausströmte, sah aus wie das Blut eines Schweins. Grausam, so etwas zu denken, ich weiß. Er tat es in einem Restaurant, in dem ich gerade mit einem anderen Mann essen war, einem anderen verheirateten Mann. Siehst du, wie das läuft? Aber ich war nicht immer so.

Das Restaurant hieß Piadina. An den unverputzten Backsteinwänden hingen Fotos von alten Italienerinnen, die mit ihren gewaltigen mehligen Fingern Gnocchi rollten. Ich aß gerade [...]

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1

Ich musste weg aus New York, wo sich ein Mann vor meinen Augen erschoss. Es war ein gefräßiger Mann, und das Blut, das herausströmte, sah aus wie das Blut eines Schweins. Grausam, so etwas zu denken, ich weiß. Er tat es in einem Restaurant, in dem ich gerade mit einem anderen Mann essen war, einem anderen verheirateten Mann. Siehst du, wie das läuft? Aber ich war nicht immer so.

Das Restaurant hieß Piadina. An den unverputzten Backsteinwänden hingen Fotos von alten Italienerinnen, die mit ihren gewaltigen mehligen Fingern Gnocchi rollten. Ich aß gerade einen Teller Tagliatelle Bolognese. Die Sauce war sämig und rostfarben, und obendrauf lag ein frischer Halm Petersilie.

Als Vic hereinkam, saß ich mit dem Gesicht zur Tür. Er trug wie immer einen Anzug. Ich hatte ihn erst ein Mal in Freizeitklamotten gesehen, Jeans und T-Shirt – ein ziemlich verstörender Anblick. Was er mir mit Sicherheit angemerkt hatte. Ich musste einfach dauernd hingucken, seine Arme waren so blass und teigig.

Er war nie Victor. Er war immer Vic. Er war mein Chef, und ich blickte zu ihm auf, lange bevor etwas passierte. Er war sehr intelligent und reinlich und hatte ein warmes Gesicht. Er war ein unersättlicher Esser und Trinker, schwelgte jedoch nicht ohne Würde. Großzügig, wie er war, tat er allen anderen zuerst Rahmspinat auf, ehe er sich selbst bediente. Er besaß einen beachtlichen Wortschatz, einen säuberlichen Klappscheitel und eine umfangreiche Sammlung guter Hüte. Er hatte zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen; der Junge war geistig behindert, was Vic mir und den anderen, die unter ihm arbeiteten, im Prinzip vorenthielt. Auf seinem Schreibtisch stand nur ein Foto von seiner Tochter.

Vic führte mich in Hunderte Restaurants aus. Wir aßen Porterhouse in großen exklusiven Steakhäusern mit roten Polstersitzbänken, wo die Kellner mit mir flirteten. Sie gingen entweder davon aus, dass er mein Vater oder mein älterer Ehemann war, oder hielten mich für eine Geliebte. Irgendwie waren wir das alles in einem. Seine echte Frau saß zu Hause in Red Bank. Er meinte: „Ich weiß, dass du mir das jetzt nicht glaubst, weil ich so ein Prolet bin, aber meine Frau ist wirklich bildschön.“ Was nicht stimmte. Ihr Haar war zu kurz für ihr Gesicht und ihre Haut zu hell für die Farben, die sie gerne trug. Sie sah aus wie eine gute Mutter. Sie kaufte gern kleine Salzfässchen und Hamamtücher, und wenn ich am Anfang meiner Freundschaft mit Vic durch die Stadt lief und mir eine Salzschale aus Bambus ins Auge fiel, schickte ich ihm ein Foto und schrieb: Was für deine Frau?

Er meinte, ich hätte einen tollen Geschmack, aber was heißt das schon?

Wenn du mit einem älteren Mann befreundet bist, der dich bewundert, kann dir das ein Gefühl großer Sicherheit geben. Egal, wo du bist – wenn etwas schiefgeht, genügt ein Anruf, und er ist da. Der Mann, der da ist, sollte dein Vater sein, doch damals hatte ich keinen, und du wirst nie einen haben.

Irgendwann verließ ich mich dann in allem auf Vic. Wir arbeiteten bei einer Werbeagentur. Er war der Creative Director. Als ich anfing, hatte ich praktisch null Erfahrung, doch Talent hätte ich schon, meinte er. Er beförderte mich von einer gewöhnlichen Assistentin zur Texterin. Anfangs sonnte ich mich in der ganzen Lobhudelei, doch dann beschlich mich das Gefühl, dass mir alles, was ich bekam, auch zustünde, ohne dass er im Geringsten damit zu tun hätte. Bis dahin dauerte es ein paar Jahre. In der Zwischenzeit gingen wir miteinander ins Bett.

Von Sex mit Männern, die man nicht attraktiv findet, kann ich dir ein Lied singen. Es dreht sich dann alles nur um die eigene Performance, den eigenen Körper, wie er von außen wirkt und sich auf diesem – zum bloßen Zuschauer degradierten – Typen bewegt.

Solange das lief, war ich mir der Folgen gar nicht bewusst. Es fiel mir erst Jahre später auf, als dreimal täglich Duschen immer noch nicht reichte.

Das allererste Mal war in Schottland. Die Agentur hatte Newcastle Beer an Land gezogen, und Vic schlug vor, dass ich übernahm, zu allen Terminen ging und den Stein ins Rollen brachte. Es war ein großer Kunde, und die anderen waren neidisch. Ich war die Neue in der Firma und im Arbeitsleben allgemein. Sie flirteten nicht mehr mit mir und behandelten mich bald wie so eine exotische Tänzerin – ließen sich über mich aus und holten sich einen darauf runter.

Newcastle brachte mich in einem Luxushotel gleich außerhalb von Edinburgh unter. Alles kalter Stein und große Fenster, und der Haupteingang lag an einer kreisförmigen Kiesauffahrt. Ich sah aus dem Fenster auf die vorfahrenden Autos, Oldtimer und tintenschwarze G-Klassen und kleine silberne Porsche. Auf dem Bett lag eine Tagesdecke mit Schottenkaros, und das Telefon sah aus wie eine Stockente. Das Zimmer kostete vierzehnhundert Dollar die Nacht.

Nach ungefähr einer Woche fing Schottland an, mich zu deprimieren. Ans Alleinsein war ich gewöhnt, aber in einem fremden Land ist es noch mal etwas anderes. Die Sonne ließ sich nie blicken, aber auch kein Regen. Außerdem war ich in Geschäftsdingen ziemlich naiv, und das hatten auch die Newcastle-Vertreter bemerkt. Ich rief Vic im Büro an. Wider Willen brach ich in Tränen aus. Ich sagte, ich vermisste meinen Vater. Meine Mutter vermisste ich natürlich auch. Doch dazwischen lagen Welten – du wirst noch sehen, warum.

Am nächsten Abend landete Vic in Schottland. Sein Last-Minute-Flug hatte ein Vermögen gekostet, über zwölftausend Dollar, und er bezahlte ihn aus eigener Tasche, weil ich Angst hatte, unsere Kollegen würden sonst glauben, ich hätte das Projekt in den Sand gesetzt. Vic kam zu keinem Termin mit, sondern arbeitete bloß eine Handvoll Gesprächsthemen aus. Nahm sich ein eigenes Zimmer am Ende des Flurs. Am ersten Abend aßen und tranken wir etwas in der Hotellobby und gingen getrennt auf unsere Zimmer. Doch am zweiten Abend begleitete er mich auf meines.

Clevere ältere Männer haben es nun mal so an sich, dir das Bein hochzukrebsen. Anfangs kommt dir daran nichts faul vor. Es kann sogar so aussehen, als wäre es deine Idee gewesen.

Ich hatte ein cremefarbenes Wollkleid an, meine Beine darunter waren nackt. Ich trug nie Strumpfhosen oder Leggings oder dergleichen, auch nicht im Winter. An den Füßen hatte ich hochhackige schwarze Mary Janes.

Vic war im Anzug. Ständig lief er herum wie die Männer in Zigarettenreklamen. Ich stand nicht auf ihn, doch sein Eau de Cologne war tröstlich. Lachend spazierten wir den grün-goldenen Flur entlang. Ein Pärchen kam uns entgegen; ich weiß noch, wie die Frau mich anstarrte. Dieses Gefühl begleitete mich schon lange.

Auf meinem Zimmer machten wir zwei Flaschen Rotwein aus der Minibar auf, plus drei Mini-Scotchs, die er ganz allein wegkippte.

Wie es anfing, weiß ich – wahrscheinlich aus Selbsterhaltung – gar nicht mehr genau. Ganz bestimmt hatte ich einen großen Anteil daran, weil ich testen wollte, wie weit meine sexuelle Macht reichte. Wie hübsch ich war. Doch was mir überdeutlich im Gedächtnis blieb, war der Wandspiegel gegenüber den Fenstern, vor denen ich tagelang dem knirschenden Kies unter den schnittigen Wagen gelauscht hatte. Ich stand auf und warf einen Blick in diesen Spiegel, weil Vic behauptete, ich hätte Rotwein in den Mundwinkeln und würde wie eine Cracksüchtige aussehen. „Haha“, machte ich. Doch dieser Mann hätte mir nie das Gefühl geben können, hässlich zu sein.

Er trat hinter mich in den Spiegel. Neben meinem Kopf sah seiner unnatürlich groß aus. Meine langen dunklen Haare bildeten einen eleganten Kontrast zum Cremeweiß des Kleides. Er legte eine Hand auf meine Schulter, die andere auf mein Haar über dem Ohr und neigte meinen Kopf. Ich beobachtete den Ausdruck in seinen Augen, als er seine dünnen Lippen auf meinen Hals drückte. Was mir einen Schauder über den Rücken jagte – teils vor Abscheu, teils aber auch aus einem unwillkürlichen sexuellen Reflex. Er schob das Kleid über meinen Kopf. Ich stand in High Heels, einem weißen Spitzen-BH und weißem Höschen mit kleinen roten Schleifen an den Seiten da. Damals brezelte ich mich noch für jemanden auf und redete mir ein, dass dieser Jemand ich wäre. In einem kleinen Küchengeschäft in SoHo hatte ich mir mal eine Schürze gekauft, die mit Häschen, Chalets und Eis schleckenden kleinen Mädchen bedruckt war.

Es folgten die Reisen nach Sayulita, nach Scottsdale wegen des schönen Spas. Es gab blau geflieste Badezimmer und fantastisches Sushi. Am Tisch zubereitete Guacamole, Bauchtänzerinnen, Service für dies, Service für das.

Irgendwann wurde der Ekel doch zu groß, aber lange ging es. Im Großen und Ganzen war es gar nicht so körperlich. Du kommst mit sehr viel Nichts davon, wenn du es geschickt anstellst. Vor allem wenn der Mann verheiratet ist, kannst du von Moral anfangen und was wohl dein verstorbener Vater sagen würde. Das kann so weit gehen, dass dem Mann schon beklommen zumute wird, wenn er nur deine Hand hält, und dabei bist du die ganze Zeit an diesen warmen Orten mit Palmen und Golfwagen.

In all den Jahren hatte ich natürlich noch andere Beziehungen. Es gab ein paar kleinere Verknalltheiten, aber nichts wirklich Ernstes. Ich erzählte Vic ab und zu davon. Behauptete, es seien nur Freunde, um ihn dann in seinem Verdacht schmoren zu lassen. Meistens log ich aber. Sagte, ich würde mit Freundinnen feiern gehen, schlich mich aus dem Büro und rannte zur U-Bahn, wobei ich mich immer wieder ängstlich umblickte, ob er mir nicht folgte. Dann traf ich mich mit irgendeinem herzlosen Typen, und Vic fuhr heim und durchkämmte die sozialen Netzwerke auf der Suche nach Lebenszeichen von mir. Gegen elf schrieb er dann zuverlässig: Was treibst du Kid. Ohne Komma oder Fragezeichen, damit es nicht so neugierig klang. Du fängst an, noch die kleinste Zelle der menschlichen Natur zu verstehen, wenn ein älterer Mann verrückt nach dir ist.

Der Status quo war zu bewältigen. Beide bekamen wir, was wir brauchten, auch wenn ich ohne ihn gekonnt hätte. Wie sich herausstellte, konnte er nicht ohne mich. Er verglich seine Beziehung zu mir mit Ikarus. Er war Ikarus und ich die Sonne. Bei solchen Sätzen, die ich voll und ganz glaubte und immer noch glaube, wurde mir schlecht. Welches Mädchen will schon die Sonne über einem Land sein, in das es nicht mal einen Fuß setzen möchte.

Einige Jahre lang war alles in bester Ordnung. Bis zu dem Mann aus Montana. Ich nannte ihn Big Sky, wie Vic anfangs auch. Ich schickte Vic durch die Hölle dessen, was ein Mann ertragen kann. Ich würde dir davon abraten, es mir nachzutun, und du sollst erfahren, was das mit einem Menschen macht.

Wenn du es genau wissen willst: Ich glaube, dass Victor an jenem Abend kam, um mich zu erschießen.



2

Wenn mich jemand bitten würde, mich mit einem Wort zu beschreiben, wäre das verdorben. Verdorbenheit hat sich für mich bewährt. Inwiefern, kann ich dir nicht sagen. Aber das Schlimmste habe ich überlebt. Überlebenskünstlerin wäre das zweite Wort, das ich gebrauchen würde. Als ich klein war, ist mir etwas Dunkles, Tödliches passiert. Das erzähle ich dir alles noch, aber zuerst will ich darauf kommen, was auf den Abend folgte, der mein Leben in eine andere Bahn lenkte, damit du dir dein Mitgefühl noch aufsparen kannst. Oder vielleicht hast du dann auch keins mehr. Ist mir recht. Wichtiger ist es, mehrere Irrtümer – hauptsächlich über Frauen – auszuräumen. Ich will nicht, dass du den Kreislauf aus Hass fortführst.

Man hat mich eine Hure genannt. Man hat mich nicht nur für die Dinge verurteilt, die ich anderen angetan habe, sondern unbarmherzigerweise auch für das, was ich selbst zu erleiden hatte.

Ich beneidete die Leute, die mich verurteilten. Leute, die ein ordentliches, vorhersehbares Leben führten. Das richtige College, das richtige Haus, der richtige Zeitpunkt für den Umzug in ein größeres. Die vorgeschriebene Anzahl Kinder, die mal zwei und mal drei beträgt. Ich möchte wetten, dass die meisten von denen nicht ein Prozent von dem aushalten mussten, was ich durchgestanden habe.

Aber wirklich ausgeflippt bin ich, als die mich eine Soziopathin nannten. Manche stellten das sogar als etwas Positives hin. Ich gehöre zu den Menschen, die zu wissen glauben, wer leben und wer tot sein sollte. Ich bin vieles. Aber keine Soziopathin.

Als Vic sich ein Loch in den Kopf schoss, rann das Blut heraus wie Alkohol.

Seit ich zehn war, hatte ich nicht mehr so viel Blut gesehen. Es stieß eine Tür in mir auf. Ich sah meine Vergangenheit in diesem Blut gespiegelt. Zum ersten Mal sah ich die Vergangenheit klar. Die Bullen wirkten aufgegeilt, als sie eintrafen. Das Restaurant war geräumt worden. Der Mann, mit dem ich dort essen war, fragte mich, ob ich klarkäme. Er schlüpfte in seine Jacke. Er wollte damit sagen, ob ich heute Nacht und für den Rest meines Lebens allein klarkommen würde, weil ich ihn nämlich nie wiedersah. Er hatte mich mal gefragt, wer meine Leute seien; ich hatte nicht gewusst, was er meinte. Jetzt verstand ich. Der tote Mann auf dem Boden war einer von ihnen. Ich gehörte zu den Leuten, die von Dartmouth nicht anerkannt wurden. Als die Bullen wieder abzogen, ging ich zu Fuß nach Hause. Ich hatte geglaubt, keine Kohlenhydrate im Haus zu haben, fand aber noch ein Taco Kit. Das Schlimmste an solchen Fressorgien ist, dass man mehr Klonopin braucht als sonst. Ich schmiss gerade genug ein, um eine Entscheidung zu treffen. Ich entschied mich, sie zu finden.

Da war Vic wahrscheinlich schon kalt. Ich sah seine kalten Tentakel vor mir. Wenn dich jemand mit seiner Liebe – oder dem, was er dafür hält – erstickt, fühlst du dich in den Arm genommen, selbst wenn es dir die Luft abschnürt. Als Vic starb, war ich mutterseelenallein. Mir fehlte die Kraft, noch jemandem das Herz zu stehlen. Ich war wie gelähmt. Vuota. Ein Wort, das meine Mutter gebraucht hätte. Ihr fielen immer die besten Wörter ein.

Es blieb nur noch eine Person. Eine Frau, der ich noch nie begegnet war. Was mir Angst machte, weil Frauen mich nie geliebt hatten. Ich war keine Frau, die von anderen Frauen geliebt wurde. Sie wohnte in Los Angeles, einer Stadt, die mir ein Rätsel war. Malvenfarbener Stuck, Verbrecher und Glamour.

Ich glaubte nicht, dass Alice – so hieß sie – mich lieben würde, hoffte jedoch, sie würde mich wenigstens sehen wollen. Ihren Namen kannte ich seit Jahren. Ich war fast sicher, dass sie den meinen nicht kannte. Zum ersten Mal seit Langem fuhr ich aus einem bestimmten Grund irgendwohin. Ich hatte keine Ahnung, was mich in Kalifornien erwarten würde. Ich wusste nicht, ob ich jemanden flachlegen, lieben oder verletzen würde. Ich wusste, ich würde auf einen Anruf warten. Ich wusste, ich würde fanatisch sein. Ich hatte keinen müden Dollar, schloss die Aussicht auf einen Swimmingpool jedoch nicht aus. Meine Reise konnte viele Wege nehmen. Ich glaubte nicht, dass mich einer davon zu einem Mord führen würde.

 

Sie war seit Jahren unauffindbar – keine Social-Media-Konten, kein Immobilienkauf. Ich suchte immer mal wieder nach ihr. Aber ich hatte zu wenige Informationen, und außerdem wirklich Schiss.

Eines Nachmittags dann war ich wegen zwei ausgeschlagener Zähne beim Zahnarzt. Ein Mann hatte das verbrochen, wenn auch streng genommen nicht mit Gewalt. Es war ein teurer Zahnarzt, allerdings kam der für den Zahnverlust verantwortliche Mann dafür auf.

Ich saß über eine Stunde im Wartezimmer und blätterte durch eins dieser abgehobenen Magazine für Menschen, die über fünf Millionen Dollar im Jahr machen. Und da war sie, zusammen mit vier anderen hübschen Frauen auf dem Cover, den Besten von Los Angeles in Sachen Fitness, Ashtanga Yoga, Aikido und so weiter.

Ich war so gefesselt von ihrer Schönheit, dass ich den Artikel las und auf ihren Namen stieß, den ich seit über einem Jahrzehnt auf einem Zettel aufgehoben hatte. Ich sog geräuschvoll die Luft durch das Loch zwischen meinen Zähnen ein.

Sie war hübscher, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ihre Brüste waren absolut perfekt. Ein Ex-Freund – oder eigentlich kein Ex, sondern einer von den Typen, die einem so manchen unvorhersehbaren Morgen bescheren – hat das mal über eine Schauspielerin gesagt, die für eine Szene die Hüllen fallen ließ. „Ihre Brüste“, verkündete er mir, während er billiges Vanilleeis schleckte, „sind absolut perfekt.“ Ich bin immer noch beeindruckt, dass ich ihn damals nicht umgebracht habe.

 

Ich hatte seit Jahren von ihr geträumt. Oft träumte ich, ich würde ihr wehtun. Die übrigen Male geschah etwas anderes, nicht weniger Besorgniserregendes.

Nach Vics Tod war meine Wohnung binnen weniger Tage leer geräumt. Im Abhauen war ich ganz groß. Ich wusste nicht, wo ich wohnen würde. Ich rief wegen ein paar Mietshäusern nicht weit von ihrer Arbeit an. Aber ich war knapp bei Kasse, und bei meinem Budget blieben nicht allzu viele Optionen übrig. Es kam so weit, dass ich mich auf das Inserat einer Wohnungsseite meldete, dessen Hauptfoto ein Bad mit schimmeligen Fugen und einer einsamen Flasche Antischuppenshampoo in der Dusche zeigte.

Ich legte mir eine abenteuerlich mäandernde Route zurecht und fuhr mit meinem Dodge Stratus nach Kalifornien. Der Wagen war eine hässliche Blechkiste, aber es passte viel hinein. Der Schmuck meiner Mutter in einer taupefarbenen Dose. Meine besten Kleider, einzeln in Plastikhüllen über den Beifahrersitz gelegt. Da waren mein Derrida und Fotos und Speisekarten aus Restaurants, in denen ich unvergessliche Abende verbracht hatte. Ätherische Öle aus einem Wallfahrtsort in Florenz. Eine schalottengroße Portion Marihuana, eine Pfeife, sechsundneunzig Tabletten in unterschiedlichen Formen und Farben von Creme bis Blau. Superteure kupferfarbene Yogaleggings und senffarbene Bustiers. Mehrere Päckchen geräuchertes Meersalz und zwanzig flache Schachteln Minipasta, weil ich gehört hatte, dass es die bei Ralphs oder Vons nicht gab. Ich packte die Dinge ein, die niemand sonst anrühren durfte, deren Reise nicht in fremde Hände gelegt werden konnte. Meinen Lieblingsschal, meinen Panamahut. Meine Diane Arbus. Meine Eltern.

Sie steckten beide in kleinen Plastiktüten. Es war das sicherste Transportmittel, das mir für sie eingefallen war. Die Tüten lagen in einer alten Clementinenpappkiste auf dem Boden des Beifahrersitzes. Mein Vater hat mich früher Clementine genannt, oder zumindest gern das Lied gesungen. Vielleicht beides. Er hatte einen Kinnbart, und wenn er mich auf die Stirn küsste, kam ich mir wie ein Engel vor.

Auf dem Pacific Coast Highway waren achtzig Millionen Autos unterwegs. Die Sonne knallte auf die Motorhauben, wodurch es sich noch heißer anfühlte, als der Tag ohnehin schon war. Der Strand in der Ferne sah trocken aus, weniger kühle blaue Tiefen als flimmernde Oberfläche. Kurz vor der Abzweigung in den Canyon entdeckte ich einen Markt im Freien, auf dem Möbel und Deko zum Verkauf standen – aus ausgehöhlten Eichen gezimmerte Tische, Götterbüsten aus Kunstharz.

Ich hielt an, weil ich neue Vasen für die Asche brauchte. Die alten hatte ich weggeworfen. Natürlich war das schlimm für mich – der Gedanke, ihre sterblichen Überreste in Tüten mit mir herumzuschleppen, doch dass nicht alles aus den Vasen herausgekommen war, quälte mich unendlich mehr. Es wollte mir nicht aus dem Sinn gehen, dass Teile von ihnen für immer verloren waren. Vielleicht war ein Zehennagel in einer Vase zurückgeblieben. Ein Drittel von einer Stirnwulst.

Ich stieg aus und ging an Windlichtern vorbei. Zeichnete einen Strich in die flaumige Staubschicht auf einer Rosenkugel. Wanderte zwischen Seepferdchen mit Topassteinchen, mexikanischen Zuckerschädeln, aquamarinblauen Fischerkugeln im Netz umher.

Ein pausbäckiger Junge, trotz der Bruthitze in einem Hoodie, trat auf mich zu.

„Guten Tag“, sagte er, „wie kann ich behilflich sein?“ Mit seinem glücklichen Strahlen schien er keine blasse Ahnung von dem zu haben, was in der Welt vor sich ging.

„Gar nicht“, antwortete ich, freundlich zwar, doch an diesem Punkt in meinem Leben hatte ich eine sehr niedrige Toleranzschwelle für unergiebige Gespräche.

Der Markt teilte sich einen Parkplatz mit Malibu Feed Bin. Vogelfutter, bottichweise Getreide für Pferde. Im Canyon gab es jede Menge Pferde, auf denen Frauen mit langen Zöpfen über Stock und Stein ritten. Ich stelle mir dich im Sattel vor: größer als ich, elegant bis in die Fingerspitzen.

Im Schuppen, neben ein paar Hängepetunien und verstaubten Rosen, standen ein paar Vasen. Darunter eine schwarze mit gelben Blüten; ein Glasfrosch mit orangefarbenen Augen und Füßen hing über dem Rand und spähte hinein. Es war ein kitschiges Teil, wie man es vielleicht in einer Alte-Leute-Wohnung in Florida finden würde. Es reizte mich.

Der junge Kerl an der Kasse bemerkte und verfolgte mich dann mit seinem Blick. Ich hatte ein weißes, nachthemdartiges Kleid an, zart wie Rauch. Er fummelte an einem Pickel an seinem Kinn herum und starrte mich an. Solche Vergewaltigungen im Kleinen finden täglich hundertmal statt.

Ich nahm die Vase und spazierte damit herum, während ich so tat, als taxierte ich Outdoorkissen und Wächterlöwen aus Jade. Der pickelige Verkäufer nahm einen Anruf entgegen. Hinter mir hörte ich, wie der andere Junge die Seepferdchen umräumte. Die Leute rechnen gar nicht damit, dass man etwas klaut, das größer ist als der eigene Kopf.

 

Mit der Vase im Auto hatte ich das Gefühl, alle wichtigen Teile beisammenzuhaben. Die Möbelpacker würden mit dem Rest nachkommen. Einer Wagenladung Zeug, das ich gebunkert hatte. Jetzt begann der lange Anstieg in den Canyon. Welkes dunkles Grün spross aus den sandigen Ritzen zwischen den Felsen, Löwenohr, Frauenhaarfarn, Scheinindigo und Straußgras. Vereinzelte Farbsprenkel, doch größtenteils braun, oliv und wilder, als man es sich hätte vorstellen können. Die Häuser, die ich von der Straße aus sah, stammten wohl aus den Siebzigern, Fassaden aus Lagerfeuerholz und trübem Glas. Der Blick ging auf die Klapperschlangen und das gebräunte Gras hinaus. Die Aussicht in den Canyon war wichtig. Kathi, die Maklerin, hatte das Wort so oft wiederholt, dass es irgendwann ganz fremd klang. Aussicht.

Sie erwähnte auch die Kojoten und Klapperschlangen. „Aber keine Sorge“, meinte sie. Am Telefon hörte sie sich rothaarig und hübsch an. „Keine Sorge, Kevin fängt die Klapperschlangen gern ein und bringt sie an einen besseren Ort, alles halb so wild.“

Kevin war der ehemalige Rapstar, der auf dem Grundstück wohnte. Ob er dir wohl etwas sagt? Vergänglich ist der Ruhm der Welt. Außerdem lebte in einer Jurte auf der Wiese noch ein junger Mann namens River. „Der Vermieter wohnt gleich um die Ecke“, meinte die Maklerin. „Falls was ist. Sie werden es dort lieben. Ohne Scheiß, es ist echt der Himmel auf Erden.“

Ich folgte den Serpentinen hinauf, bis ich das Schild zum Comanche Drive entdeckte. Panische Angst befiel mich – schon die Straße wirkte wenig einladend, baumlos, wie sie war. Das Haus stand am Ende einer steilen Kiesauffahrt, am höchsten Punkt des Topanga Canyon, von wo es sich in die Wolken zu bohren schien. Es sah vor allem aus wie eine Meth-Küche.

Weil es keinen richtigen Parkplatz gab, hielt ich neben einem schwarzen Dodge Charger auf einem schmalen Streifen Land, das einen steilen Abhang überragte. Aus der Nähe glich die Immobilie den Fotos, die mir die Maklerin geschickt hatte, allerdings nicht in den entscheidenden Punkten. Die Maklerin hatte mir den Traum geschickt. Sie schickte den Blick durch die Fensterfront mitsamt Kaminofen. Sie schickte nicht die rostige Badewanne voller bräunlicher Sukkulenten vor der Haustür. Neben der zweckentfremdeten Wanne stand ein schmiedeeiserner Tisch mit zwei Stühlen. Der rötliche Sand war mit Kieselsteinen übersät, sodass die Möbelstücke alle kippelten. An den Fenstern klebten tote Motten. Das Haus war aus dunkelorangen Adobeziegeln und wie ein Ozeandampfer geformt. Die Architektur hatte nichts Ansprechendes, nichts Symmetrisches. Draußen wie drinnen herrschte diese für alte Menschen mörderische Hitze. Wenn ich an dich denke, in einer solchen Hitze, allein – wie es mir selbst noch ergehen sollte –, muss ich mich möglichst schnell auf andere Gedanken bringen.

Ich hatte Anweisung, bei Kevin zu klopfen. Er lebte in einer Art Anbau unter mir. Es war wohl einfach ein Haus mit zwei Wohnungen, obwohl es von außen nicht diesen Eindruck erweckte. Kevin würde mir die Schlüssel geben. Sein Künstlername war White Space. Kathi sprach von ihm so, wie ein bestimmter Typ weiße Frau von einem schwarzen Mann spricht, der es zu Berühmtheit gebracht hat.

Bevor ich klopfte, drehte ich eine Runde über das Grundstück. Kathi hatte recht. Die Aussicht war spektakulär. Bei jedem unserer Telefonate hatte ich mir vorgestellt, wie sie Räucherlachs naschend an einem Tisch draußen in der Sonne sitzt. Wenn ich sie persönlich kennengelernt hätte, hätte ich sie ganz bestimmt gehasst.

Am Fuß des Berges sah man das Meer, und auf der anderen Seite des Canyons ragten die schlanken Rechtecke der Stadt hinter den Bäumen auf. Die Skyline war eher so mittelprächtig. Ich spazierte zum höchsten Punkt des Anwesens, kilometerweit über dem lärmenden Verkehr. In der Luft hing ein zarter Dunstschleier, bei dem es sich um Wolken handeln musste. Als ich zehn war, hatte meine Tante Gosia mir erzählt, dass meine Eltern dort wären. In den Wolken. „Aber sind sie da zusammen?“, fragte ich, worauf sie sich erhob, um abzuwaschen oder ein Fenster zu schließen.

Ganz oben stieß ich auf eine Feuerstelle, die mit ihren Gesteinsbrocken und verkohlten Scheiten mittelalterlich wirkte. Eine schwarze Plane bedeckte einen ungeheuren Brennholzvorrat. Daneben eine Michelob-Bierflasche, in der sich das Regenwasser sammelte.

Ich entdeckte die Segeltuchjurte über hundert Meter unter mir im Tal. Am Ende eines grasüberwachsenen Pfades in der anderen Richtung stand ein kleines rotes Saltbox-Haus. Es machte kaum mehr her als einer dieser Geräteschuppen, wie man sie im Baumarkt kaufen kann, nur größer und ausgeklügelter. Wegen der Eichen war es der einzige Fleck mit Gras auf dem Anwesen. Überall sonst war der Boden von einem trockenen Nussbraun, rings um den großen Schuppen jedoch saftig grün. Zwei Kübel voller Ringelblumen flankierten eine Klöntür. Mir schwante, dass das Häuschen dem Vermieter gehörte. Ich wollte nicht so dicht bei ihm wohnen. Eine derartige Nähe hatte Kathi nicht erwähnt. Mit keinem Wort.

Ich zupfte an meinem Kleid, das mir gleich wieder schweißnass am Körper klebte. Dass eine Dusche im Canyon nichts brachte, würde ich noch früh genug merken. Im Nu hatte man das nächste T-Shirt durchgeschwitzt.

Ich klopfte bei Kevin, hörte Fetzen eines bluesigen Rap und klopfte nach ein paar Momenten noch mal, lauter. Er öffnete die Tür nicht mehr als einen Spaltbreit und versperrte mir den Blick hinein. Drinnen roch es nach Tinkturen.

„Miss Joan, peace und willkommen in der Nachbarschaft.“ Er war hochgewachsen und gut aussehend und hatte freundliche Augen. Er blickte mich nicht an – er blickte durch mich hindurch, als wäre ich kaum da.

Ich streckte ihm die Hand hin, und er trat vor die Tür und zog sie hinter sich zu. Ich hatte ihn auf der Bühne gesehen: wie er sich mit dem Mikro hingekauert hatte, Stroboskoplichter und Mädchen in Lycra-Hotpants um sich herum. Der Mann, der jetzt vor mir stand, sah aus, als hätte er noch nie im Leben die Stimme erhoben oder getanzt.

„Wie war die Fahrt?“

„Gut“, antwortete ich.

„Ich liebe diese Strecke, Mann. Ist schon zu lange her. Im Flugzeug krieg ich Zustände.“

Er spreizte seine langen Arme wie Flügel. Mittlerweile schwitzte ich schon an der Kopfhaut.

„Ich auch.“

„Sie wollen Ihre Schlüssel, nehm ich an? Brauchen Sie Hilfe beim Schleppen oder so?“

„Danke, es kommen Möbelpacker.“

„Schön, schön. Ich kann Ihnen keine Limo anbieten. Hab auch keine Baisertörtchen gebacken. Aber ich bringe Ihnen noch was vorbei. Das wird nett. Es wird Ihnen hier gefallen, Miss Joan. Uns gefällt es hier. Wir sind wie eine kleine Familie. Haben Sie schon den guten alten Leonard kennengelernt? Meinen Bruder River?“

„Noch nicht.“

„Swusch“, machte er. „Die Lady kommt im Schutz der Nacht“, seine Hand fuhr herab und an meiner Hüfte vorbei, „hereingefegt. Ich hol Ihnen schnell Ihre Schlüssel, Miss Joan. Lass Sie erst mal auspacken. Lass Sie Ihr Haus auf Vordermann bringen.“

Kurz darauf händigte er mir zwei Schlüssel aus, die von einem Plastikdraht zusammengehalten wurden.

„Briefkasten“, sagte er und zeigte auf den einen. „Haus“, sagte er und zeigte auf den anderen. „Nein, Moment, andersrum.“ Er lachte vergnügt. „Ich bin heute total neben der Rolle. Entschuldigen Sie, Miss Joan. Ich hab die ganze Nacht Aufnahmen gemacht. Danach verschlafe ich immer den halben Tag. Für mich ist es jetzt fünf Uhr morgens.“

Ich nahm meine Schlüssel, und als sich unsere Hände berührten, schauderte ich und dachte: Herrgott noch mal. Ich sah ihn an, und er betrachtete mich; nahm bei mir Maß. Dann lächelte er. Hatte sich wieder im Griff.

Unterwegs hatte ich mit einem echten Cowboy schlafen wollen, jemandem, der ohne soziale Medien lebte. Durch Sex fühlte ich mich hübsch. In Texas war ich fast am Ende meiner Reise angelangt. Der Mann, mit dem ich vögelte, hieß John Ford. Er trug ein Westernhemd und legte in der Lounge des Thunderbird Hotel meine Hand auf seinen Reißverschluss. Die Wände waren helltürkis, auf dem Boden lagen Kuhfelle. Er behauptete, er habe mal auf einer Ranch gearbeitet. Was sich jedoch als Pfadfinderausflug herausstellte, an den er sich so lebhaft erinnerte, als wäre es gestern gewesen. Er war von Chicago aus im Spirituosenvertrieb tätig. Vom gleichnamigen Regisseur hatte er noch nie gehört. Oder vom Monument Valley, wo dessen Filme gedreht worden waren, diese heroischen Western, die ich mir mit meiner Mutter angesehen hatte. Er rülpste zweimal, zu laut, als dass ich es hätte überhören können, und bestellte eine Flatbread-Pizza mit Balsamicozwiebeln. Aber er hieß John Ford.

Lisa Taddeo

Über Lisa Taddeo

Biografie

Lisa Taddeo sorgte mit ihrem ersten Buch Three Women weltweit für Furore. Es stieg mit Erscheinen auf Platz 1 der Bestsellerlisten der New York Times und Sunday Times ein, und auch in Deutschland führte es die SPIEGEL-Bestsellerliste an. Lisa Taddeo schreibt außerdem popkulturelle Features für The...

INTERVIEW mit Lisa Taddeo

Dein erstes Buch, Three Women – Drei Frauen, war ein großer Erfolg, in den USA, aber auch in Deutschland. Wie hat sich dein Schreibprozess dadurch verändert?

Ich habe weniger Zeit zum Schreiben! Ich bin in der glücklichen Lage, nun auch für’s Fernsehen schreiben zu dürfen (eine Serienadaption von Three Women für Showtime, unter anderem), aber dadurch fallen die frühen Morgenstunden für meine Romane und Short Storys weg.

Außerdem liebe ich es, nachts zu schreiben, wenn meine Familie schläft und mich nicht nach dem Autoschlüssel oder dem Kartoffelschäler fragen kann. In diesen Tagen aber bin ich so müde, dass mir oft die Energie fehlt, lange aufzubleiben und zu arbeiten. Das vermisse ich wirklich sehr. All diese dunklen Stunden.

 

Gibt es so etwas wie die ideale Leserin für deine Bücher?

Die ideale Leserin … hm. Eine Leserin, die die ganze Wahrheit wissen will.

 

Was möchtest du den LeserInnen deines Romans mitgeben? Oder, falls das schwer zu sagen ist: Was war eines der größten Komplimente, die man dir gemacht hat?

Eine junge Redakteurin hat für eine Literaturzeitschrift über „Animal“ geschrieben: „Ein Grund, warum Taddeos Art zu schreiben so lustig, so eindringlich und treffend ist, ist der Umstand, dass sie mich an mich selbst erinnert – nicht, weil ich genauso denke oder genauso handle wie ihre Protagonistin, sondern weil sie mich an ganz bestimmte Ereignisse aus meiner Vergangenheit erinnert, über die ich noch gar nicht richtig nachgedacht habe.“

Darüber habe ich mich gefreut. Es freut mich, wenn ich den  Leuten etwas geben kann, das sich vertraut anfühlt. Am meisten wünsche ich mir beim Schreiben wohl, dass sich andere dadurch gesehen fühlen, weniger allein.

 

In Animal sagt deine Erzählerin, sie wolle „mehrere Irrtümer – hauptsächlich über Frauen – auszuräumen“ und so den Kreislauf des Hasses durchbrechen. Woher stammt dieser Hass eigentlich, und warum ist er so schwer zu überwinden?

Ich denke, der Hass rührt daher, dass Frauen über Jahrhunderte nicht so sein durften, wie sie in Wahrheit sind. Im Grunde ist Hass auch nur Angst, maskiert als etwas weniger Verletzliches.

 

Letzte Frage: Was macht einen guten Mann aus?

Beiläufige Perfektion. Seit wir denken können, müssen Frauen perfekt sein, ohne dass man ihnen anmerkt, wie sehr sie sich dafür plagen. Männer dagegen adelt der Kampf um das, was sie begehren. Wie wäre es, wenn zur Abwechslung mal der Mann morgens bescheiden und gestriegelt und sexy aufwacht?

Die Fragen stellte Franziska Zintzsch aus dem Lektorat Literatur.

Medien zu „Animal“
Kommentare zum Buch
Der Medienblogger am 07.12.2021

Joan will nicht mehr nur Opfer sein – Lisa Taddeos «Animals„ ist eine bitterböse feministische Kampfansage     Eine von Männern gepeinigte und sexualisierte Protagonistin auf Rachezug – das liefert Lisa Taddeo mit ihrem zweiten Roman “Animal„. Mit diesem feministischen Roman möchte die US-amerikanische Schriftstellerin an den Erfolg ihres preisgekrönten Debüts “Three Woman„ anknüpfen. Herausgekommen ist dabei ein durchaus unterhaltsames, aber weniger emanzipatorisches Werk, das hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.   “Animal» erzählt die Geschichte von Joan: sie ist eine von ihrer schwarzen Vergangenheit gebeutelte Figur, die aus der Großstadt in die Natur flieht. In Rückblenden rollt Taddeo diese Umstände nach und nach aus, die Joans entnervten Pessimismus auf nahezu alles nachvollziehbar machen. So bereits am Anfang: Der Roman beginnt mit einer schlagkräftigen und ziemlich heftigen Szene, die sofort mitreißt – und einen ersten Vorgeschmack auf das gibt, was die Leser*innen auf den nächsten 400 Seiten erwartet.   Die Ich-Perspektive erlaubt die ungefilterte Teilhabe an Joans Gedankenstrom; teils spricht sie ihr ungeborenes Kind in zweiter Person Singular an und gibt ihm Ratschläge mit, die sie sich über Jahre hinweg selbst erst aneignen musste. »Ich wünsche mir, dass du nicht durch die Welt gehst im Glauben, du müsstest eine vermeintliche Leere in dir mit dem Fleisch eines anderen Menschen ausfüllen. Auch deshalb erzähle ich diese Geschichte„, heißt es da etwa an einer Stelle.   Schnell entpuppt sich Joan als eine von Misstrauen und Rachsucht getriebene Figur, die sich geschworen hat, sich nie wieder von patriarchalen Strukturen unterdrücken zu lassen – und wenn doch, nur mit ihrem Willen. Diese Verbitterung verbirgt einen Abschreckungsfaktor gegen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse mit Männern, denen sie sich (verständlicherweise) nicht mehr ausliefert. Diese Wut verdient es definitiv, gehört zu werden!   Jedoch verzettelt sich die Autorin in platten Täter-Opfer-Stigmata, ohne großen Raum für Selbstreflexion zu lassen. Die Hauptfigur entfremdet sich zunehmend von ihrer Außenwelt – und verliert fast vollkommen die Fähigkeit, Zuneigung (geschweige denn Liebe) zu ihren Mitmenschen zu empfinden und zu zeigen. Die Konversationen mit Alice – einer Frau, mit der Joans Leben ineinander verwoben zu sein scheint – wirken hier wie ein befreiender Ausgleich: eine Auszeit von dieser gedanklichen Welt voller Rachegedanken; Momente, in denen zumindest ein Anflug von moralischem Anspruch gilt.   Es scheint so, als wäre in “Animal„ trotz ausschweifender und detailgetreuer Beschreibungen keine Figur richtig greifbar. Dadurch mutiert der Roman zu einer erschreckend gesichtslosen Handlung, die dadurch große Schlagkraft einbüßt. Der Schockfaktor über Joans schreckliche Beziehungs- und Familienverhältnisse kann nicht über die Längen hinwegtäuschen, die sich der Plot durch einige erzähltechnische Schlenker erlaubt.   Nein, es reicht nicht, „nur“ wütend zu sein: Die geballte Wut in “Animal» verdient eine große Bühne, ist aber zu plump formuliert.

Laute wütende Frauen
Larissa Bugelnig am 25.10.2021

Lisa Taddeo schreibt, Frauen nicken und fühlen sich verstanden. Der ein oder andere Mann wird den Kopf schütteln, hastig weiterblättern und glauben, es wird hier übertrieben. Die laute Wut von Frauen, die Taddeo so herrlich sarkastisch und trocken aufs Papier bringt, könnte beklemmender und doch befreiender nicht sein. Viele sehen diesen Roman als provokant an, ich sehe ihn als wichtig und ehrlich an. Man merkt wieder: Wut und Schmerz liegen so eng beieinander.

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