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Der letzte Zeuge

Der letzte Zeuge

Rochus Misch
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Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter

Mit einem Vorwort von Ralph Giordano

Lesenswert, weil es eben eine typisch deutsche Geschichte erzählt. - Lübecker Nachrichten

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Der letzte Zeuge — Inhalt

„Misch – Sie werden natürlich noch gebraucht.“ Dieser gespenstische Befehl ergeht am 22. April 1945 im „Führerbunker“ an Rochus Misch, den Leibwächter und Telefonisten Adolf Hitlers. Kaum ein anderer hat die Kriegsjahre in ebenso ungeheuerlicher wie ungewöhnlicher Nähe Hitlers zugebracht. Nun erzählt der „letzte Zeuge“ seine Geschichte, mit der beklemmenden Aufrichtigkeit eines Mannes, der erkennen muss, dass er damals sein Tun für richtig hielt. – „Wenn ich Rochus Misch begegnen sollte – ich würde ihm ohne Zögern die Hand geben“ (Ralph Giordano im Vorwort).

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 01.12.2009
336 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-25735-0
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Leseprobe zu „Der letzte Zeuge“

I.


EINLEITUNG


Ich hatte niemals vor, meine Biografie zu veröffentlichen. Unzählige Interviews habe ich im Verlauf meines Lebens Autoren, Zeitungsreportern, Historikern und Fernsehteams aus aller Welt, eher wenigen aus Deutschland, gegeben. Es ist alles gesagt – dachte ich. Doch die Tatsache, dass die Anfragen, die mich per Post und Telefon erreichen, in den letzten Jahren zu- statt abnehmen, hat mich eines Besseren belehrt. Die Zuschriften sind zum allergrößten Teil freundlich und interessiert, und sie stammen von jungen, oftmals sehr jungen Menschen. [...]

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I.


EINLEITUNG


Ich hatte niemals vor, meine Biografie zu veröffentlichen. Unzählige Interviews habe ich im Verlauf meines Lebens Autoren, Zeitungsreportern, Historikern und Fernsehteams aus aller Welt, eher wenigen aus Deutschland, gegeben. Es ist alles gesagt – dachte ich. Doch die Tatsache, dass die Anfragen, die mich per Post und Telefon erreichen, in den letzten Jahren zu- statt abnehmen, hat mich eines Besseren belehrt. Die Zuschriften sind zum allergrößten Teil freundlich und interessiert, und sie stammen von jungen, oftmals sehr jungen Menschen. Mich plagt ein schlechtes Gewissen, viele unbeantwortet lassen zu müssen. Ich bin ein alter Mann und kann diesen Ansturm nicht mehr bewältigen. Es ist nicht lange her, da sah ich mich gezwungen, mir eine Geheimnummer zuteilen zu lassen, weil mich wegen der Zeitverschiebung viele internationale Anrufe nachts erreichen. Jahrzehntelang stand meine Telefonnummer in öffentlichen Telefonbüchern, erst jetzt ist das Interesse an meiner Person derart enorm geworden, dass ich mich in dieser Weise schützen muss.
Warum ist das so? Ich denke, die jungen Leute haben mit dem immer größer werdenden zeitlichen Abstand zu den Jahren 1933 bis 1945 einfach weniger Berührungsängste als die Generationen zuvor. Für sie ist völlig klar, dass aus der Geschichte nur der lernen kann, der sie kennt. Und das, was in den Lehrbüchern steht, beantwortet ihnen längst nicht alles. Dazu kommt – das muss ich ganz nüchtern und gefasst feststellen – der Wettlauf mit der Zeit. Es wird nicht mehr lange die Möglichkeit geben, Zeitzeugen wie mich zu befragen.
Dieses Buch ist daher für mich zunächst einmal eine Arbeitserleichterung: Ich kann Interessenten jetzt auf meine niedergeschriebenen Erlebnisse verweisen. Auch ist mir durch jüngste Verfilmungen über Ereignisse, deren letzter lebender Zeitzeuge ich heute bin, bewusst geworden, dass meine Eindrücke eine wichtige Erkenntnisquelle sein können. Ich stelle fest, dass Darstellungen in die Geschichte einzugehen drohen, von denen ich sicher weiß, dass sie falsch sind oder deren zugrundeliegende Geschehnisse und Umstände ich jedenfalls anders gesehen, wahrgenommen oder in Erinnerung habe. Darauf möchte ich nun doch noch hinweisen.
Dass sich zahlreiche Irrtümer in der Öffentlichkeit festgesetzt haben, wurde mir zuletzt anlässlich meines Zusammentreffens mit amerikanischen Filmemachern bei den Dreharbeiten zu dem Hollywoodspielfilm Valkyrie im Sommer 2007 bewusst. In diesem geht es um das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Man befragte mich zu allen möglichen Dingen, von routinemäßigen Sicherheitsmaßnahmen bis hin zu Gewohnheiten Hitlers. Das Team zeigte sich bereits gut informiert, und doch war ich überrascht über so manche falsche Vorstellung.
Ganz besonders aufgefallen ist mir dies schon zuvor im Zusammenhang mit dem weltweit aufsehenerregenden Spielfilm Der Untergang. Ein wichtiger Film, allerdings auch eine operettenhafte Tragödie. In ein paar wenigen Szenen bin „ich“ zu sehen; der Darsteller meiner Person hat keine Sprechrolle. Gezeigt wird, wie der Schauspieler die Generäle Wilhelm Burgdorf und Hans Krebs nach deren Selbstmorden auffindet. Warum hat man mich nicht gefragt, wie das wirklich war? Man hätte erfahren können, dass ich damals mitnichten ruhig, fast geschäftsmäßig agierte, wie es im Film zu sehen ist. Im Gegenteil, ich war im höchsten Maße erregt, als ich feststellte, dass Burgdorf, den ich sachte anstieß, weil ich ein Gespräch für ihn auf der Leitung hatte, keineswegs eingenickt war, sondern tot. Schleunigst machte ich kehrt, um vom Tod der beiden Männer umgehend Meldung zu machen. Ein Detail. Dennoch: Es entsteht ein völlig falscher Eindruck, denn ich war eben alles andere als gefasst in diesem Augenblick.
In den letzten Stunden im sogenannten „Führerbunker“ versetzte mich vor allem anderen ein Gedanke in Panik, der weder den Russen noch dem toten Hitler galt, sondern: „Gestapo-Müller!“ Ich hatte den Chef der Geheimen Staatspolizei im Reichssicherheitshauptamt in der Neuen Reichskanzlei gesehen. Seine Anwesenheit war absolut ungewöhnlich. Hannes, der ebenfalls bis zuletzt im Bunker verbliebene Techniker, und ich spekulierten, ob wir nun am Ende noch alle umgebracht werden sollten. Würden sie vielleicht den Bunker in die Luft jagen? Lieber alles vernichten, als dass es den Russen in die Hände fällt – wir mussten damit rechnen, dass das auch für uns galt. Sollte restlos nichts und niemand übrig bleiben aus dem „Führerbunker“?
In den Apriltagen des Jahres 1945 herrschte in Hitlers Bunkerwohnung tief unter dem Garten der Alten Reichskanzlei Stille, Totenstille. Dort gab es kein aufgeregtes Kommen und Gehen. Der eigentliche „Führerbunker“ bestand aus ein paar wenigen kleinen, zellenartigen Räumen. Außer Eva Braun hatten dort nur noch Hitlers Diener und sein Arzt Dr. Morell jeweils einen Aufenthaltsraum; in den des Arztes zog später Goebbels. Alle anderen Zimmer waren Funktionsräume. Allein in meiner kleinen Telefonzentrale gab es einen „öffentlichen“ Sitzplatz, den man jemandem hätte anbieten können. Die im Film Der Untergang gezeigten hektischen Szenen vor dem Ende – das meiste davon ereignete sich in den Kellern der Neuen Reichskanzlei, manches im Vorbunker. Der Film lässt fast alles in Hitlers Bunkerwohnung spielen, in die aber nur die wenigen kamen, die zum „Chef“ gerufen wurden. In den „Führerbunker“, noch tiefer unter der Erde gelegen als die Keller und der Vorbunker, war der Tod schon eingezogen, bevor Hitler die Waffe auf sich richtete. Den Krieg hörte man nur im Vorbunker und in den Kellern der Reichskanzlei. In Hitlers Bereich drangen allein Erschütterungen und allenfalls dumpfe Geräusche vor. Umgekehrt war es nicht möglich, Ereignisse im Tiefbunker wahrzunehmen, wenn man sich im Vorbunker oder gar in den weit entfernten Kellern der Neuen Reichskanzlei befand.
Einen Tag vor der Uraufführung von Der Untergang in Berlin erhielt ich spät abends einen Anruf. Es war jemand aus dem Produktionsteam, der mich wissen ließ, dass man mich bitte, zur Premiere nicht zu erscheinen. Eine Begründung sagte man mir nicht. Fünf Wochen nachdem der Film angelaufen war, besuchte mich der Produzent Bernd Eichinger in meinem Berliner Haus. Er recherchierte schon in einer neuen Sache. Auf den Untergang angesprochen, verwies Herr Eichinger auf das gleichnamige Buch von Joachim Fest, das Vorlage für den Film gewesen sei. Daran habe man sich gehalten und entsprechend meine Rolle angelegt. Nur – auch Herr Fest hat nie persönlich mit mir gesprochen.
Ich war knapp achtundzwanzig Jahre alt, als das Dritte Reich unterging. Ich stellte nach Hitlers Tod vom „Führerbunker“ aus noch die Leitung zu den Russen her, und nach meiner offiziellen Entlassung durch Reichskanzler Joseph Goebbels zog ich schließlich alle Stecker aus der Telefonanlage. Fünf Jahre lang – die letzten fünf Jahre im Leben Hitlers – wohnte ich dort, wo Hitler wohnte: in der „Führerwohnung“ in der Alten Reichskanzlei, in den „Führerhauptquartieren“, zuletzt im „Führerbunker“.

Ich bin ein unbedeutender Mann, aber ich habe Bedeutendes erlebt. Viele dachten, sie müssten sich – auf ihre Verbindung mit Hitler angesprochen – entweder größer oder kleiner machen, je nachdem, wie es gebraucht wurde. Ich sehe weder zum einen noch zum anderen Veranlassung. Ich war immer ein unpolitischer Mensch. Ganz im Gegensatz zu meiner Frau, die SPD-Politikerin war, zeitweise sogar Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich habe mein ganzes Leben lang SPD gewählt, ihr zuliebe. Ich selbst war nie Parteimitglied, nicht in der SPD, nicht in der NSDAP.
Zur Waffen-SS habe ich mich nicht gemeldet. Ich wurde für die Verfügungstruppe angeworben, man lockte mit der Möglichkeit, in den Staatsdienst übernommen zu werden. Zur Reichsbahn wäre ich gern gegangen. Erst später wurde aus der Verfügungstruppe die Waffen-SS.1
Genesen von einer schweren Verwundung im Polenfeldzug und zurück in meiner Einheit, wählte mich mein Kompaniechef eines Tages für einen Posten in der Reichskanzlei aus. Ich stellte mich dort wie befohlen vor, und einen Tag später, es war der 1. oder 2. Mai 1940, war Dienstbeginn. Mein neuer Chef hieß Adolf Hitler.
Wenn heute lange Diskussionen geführt werden, ob man Hitler überhaupt privat, eben „als Mensch“, zeigen darf, dann vermag ich das nur schwer nachzuvollziehen. Ich kenne ihn nur als Mensch. Als Mensch, der mein Chef und dem mein Wohlergehen wichtig war. Ein Chef, der mich von seinem eigenen Leibarzt untersuchen ließ, wenn es mir schlecht ging, der mir spontan freigab, als ich mit einem Mädchen ausgehen wollte, der mir zu meiner Hochzeit zwei Kisten erlesensten Wein nebst Sonderzahlung zukommen ließ, der mich für die enorme Summe von 100 000 Reichsmark lebensversicherte und der mich niemals anschrie. Wenn ich dennoch immer ein bisschen Angst hatte in Hitlers Nähe, dann, weil er eben der „Chef“ war.
Ich versuchte, wie es von mir erwartet wurde, alle an mich herangetragenen Aufgaben bestmöglich zu erfüllen, freute mich über die vielen Freiheiten, die mein Dienst oft mit sich brachte, und trieb auch mal Schabernack mit den Kameraden, mit denen ich mich gut verstand. Ein Fehltritt, wie sich ihn zwei von ihnen, die nach einer Vorführung von neuen Waffen Panzermodelle für ihre Kinder mitgehen ließen, leisteten, durfte mir nicht passieren – ich wollte keinesfalls wieder zurück zur kämpfenden Truppe. Statt mit den blitzblanken, extra leichten Maßstiefeln auf dicken Teppichen mit den schweren Soldatenstiefeln in Schlamm und Dreck einsinken – nein. Der Gedanke an die Front machte es mir zusätzlich leicht, mich als genau der zu präsentieren, den man ausdrücklich für die Aufgabe gesucht hatte: einen, der keinen Ärger macht.
Ich war nicht gern Soldat, machte mir nichts aus Dienstgraden. Zeit meines Soldatenlebens gehörte ich zu den unteren Diensträngen (zuletzt Oberscharführer2).
Im persönlichen Begleitkommando des „Führers“ war die Möglichkeit der Beförderung in einen höheren Dienstrang ohnehin begrenzt. Fünf enge Kameraden meldeten sich deshalb an die Front – und nur zwei kamen zurück, unter ihnen Otto Günsche, der daraufhin Hitlers Adjutant wurde.
Nun, für mich war die Front erst mal weit, die Braut nah, die Arbeit im Begleitkommando abwechslungsreich, und im Vergleich zum Soldatenleben ging es locker zu. Solange wir sicherstellten, dass immer jemand Dienst schob, konnten wir untereinander den Dienst tauschen, wie wir wollten. Die Zeiten auf dem Berghof (Obersalzberg) – dort gab es einen eigenen Telefonisten – waren ohnehin wie Urlaub.
Selbstverständlich ist mir bewusst, dass ich nicht von einem x-beliebigen Arbeitsplatz und irgendeinem Chef berichte. Mir war schon damals klar, dass ich mich an einem besonderen Ort unter lauter Menschen in herausgehobener Stellung befand. Ich weiß – heute –, was in Deutschland und anderswo in deutschem Namen geschah, während ich Leni Riefenstahl Tee servierte, mit Generalfeldmarschall Erwin Rommel auf dem Garderobentisch sitzend Fotos aus Afrika ansah oder aus Hitlers Arbeitszimmer die schöne Stimme des jüdischen Kammersängers Joseph Schmidt hörte, dessen Schallplatten der Chef so liebte. Damals wusste ich es nicht.
Ich war weder bei Lagebesprechungen dabei noch war ich, wie die Adjutanten, persönlicher Gesprächspartner von Hitler. Was also kann ich berichten? Nach meinen Erfahrungen der letzten Jahre geht es gerade den jungen Leuten, die mich befragen, gar nicht darum, nochmals längst bekannte Fakten bestätigt zu sehen oder etwas über Hitler „als Mensch“ zu erfahren. Wie gelangte man hinein in das engste Umfeld Hitlers? Wie wurde man sein Bunkertelefonist? Auf welche Weise spielte sich in der Machtzentrale Hitler-Deutschlands der Alltag für Leute wie mich ab? Mit welchen Gefühlen nahm man Kriegsverlauf und Untergang aus meiner Position wahr? Dies sind die Fragen vieler junger Menschen. Ich versuche sie in diesem Buch zu beantworten.
Sicher ist weiterhin von Interesse, was in Hitlers letzten Lebenstagen geschah, wie der Bunker aussah und was mir zu Daten und Fakten erinnerlich ist, die heute zur Weltgeschichte gehören. Aber was sich in meinem Gedächtnis besonders festgesetzt hat, mir damals wichtig oder wertvolle Erfahrung war, dies deckt sich natürlich nicht immer mit dem, was historisch von Belang ist. Es ist mir gar nicht leichtgefallen, mich selbst in das Zentrum des Erlebten zu rücken.
Für diese Biografie ist es unerlässlich, dass ich vieles von dem ausblende, was mich hindern würde, von den Dingen so zu berichten, wie ich sie damals wahrnahm. Die folgenden Schilderungen sollen weitgehend frei sein von rückschauenden Bewertungen, dem Wissen um das Ausmaß des Schreckens, das ich wie viele erst lange nach Ende des Krieges erfuhr. Nur dann kann ich wieder eins werden mit dem Rochus Misch von Mitte zwanzig, den es nun seit über sechzig Jahren nicht mehr gibt.


Dieses Buch ist keine Rechtfertigung. Ich bekam den Posten bei Hitler, weil mein Kompaniechef sich sicher war, dass ich eben keinen Ärger machen würde. Ich trat den Posten an, weil ich Soldat war, und ich behielt ihn, weil mein Kompaniechef recht hatte.
Ich werfe mir heute nicht vor, dass ich unter den damaligen Umständen funktionierte, dass ich meinen Dienst immer ordentlich und gewissenhaft versah, selbst dann noch, als mir 1943 klar wurde, dass der Krieg verloren gehen würde. Selbst dann noch, als er längst verloren war. Selbst dann noch, als Hitlers Leiche brannte. Nein, ich werfe dem Rochus Misch von damals nicht vor, dass er keinen Ärger machte.
Dennoch – dass mir das so selbstverständlich war, das macht mich nachdenklich. Ich lauschte damals Schwiegervaters Berichten über alte SPD-Zeiten, hörte mit ihm den Feindsender – und fuhr anschließend wieder zum Dienst in die Reichskanzlei. Ich holte Onkel Paul aus dem KZ – und danach ging ich wieder zurück zu Hitler. Im Juli 1944 glaubte ich nicht mehr die Bohne an den Endsieg, aber als uns nach dem Attentatsversuch die Telefonverbindung in die „Wolfsschanze“ zum überlebenden Hitler glückte, da war ich, in dem ganz konkreten Augenblick, schlicht erleichtert – und sei es nur deshalb, weil nun die nervenzehrende Anspannung wegen der unklaren Befehlslage beendet war.
Ich habe mich zur unbedingten Pflichterfüllung eigentlich nie überwinden müssen, nie mit mir gekämpft, nie gezögert. Nur ganz am Schluss, als ich umkam vor Sorge um meine Frau und meine Tochter, da habe ich überhaupt einmal den Gedanken gehabt, etwas Pflichtwidriges zu tun. Aber dann blieb ich doch im Bunker, bis mich der neue Reichskanzler Joseph Goebbels offiziell und als Letzten entließ. Ich war Soldat. Ich hatte meine Aufgaben, meine Anweisungen, meinen Platz. Und ich hatte einen guten Platz im Vergleich zu den Kameraden im Feld. Ich brachte Berge von Depeschen zu Hitler und vermittelte unzählige Gespräche, aber ich habe das große Ganze weder gesehen noch danach gesucht. Ich habe mich darum nicht bemüht. Ich habe keine Fragen gestellt, wenn man besser keine stellte, und man wusste immer, wann man besser keine stellte. Ich habe aber auch keine Fragen gestellt, wenn man dies hätte machen können. Ich sage es so wie es ist: Der junge Rochus hatte wenig Fragen.
Als Hitlers Leibwächter habe ich die meiste Zeit über herumgestanden, als sein Telefonist die Knöpfe der Telefonanlage gedrückt und als Kurier Papier durch die Gegend transportiert. Durch russische Behörden sollte das eines Tages als „Unterstützung des Naziregimes“ abgeurteilt werden. Aber wer bleibt dann übrig von meiner Generation, der sich in diesem Sinn nicht schuldig gemacht hat?
Wenn ich gefragt werde, was meine Aufgabe bei Hitler war, antworte ich häufig: „Einfach nur da sein.“ Genau darüber bin ich heute froh. Ich musste nicht mehr als „einfach da“ sein. Und was, wenn es anders gewesen wäre? Wie weit hätten mich Pflichtbewusstsein, Gehorsam und der Eid auf Hitler gehen lassen? Ich bin froh, dieser Prüfung entgangen zu sein. Viele Kameraden hatten dieses Glück nicht.
Ich erzähle meine Geschichte den jungen Leuten auch, damit sie es nicht versäumen, rechtzeitig die richtigen Fragen zu stellen. Und um dem auf die Spur zu kommen, warum das damals mir und so vielen anderen nicht gelang, berichte ich von den Dingen möglichst so, wie ich sie seinerzeit wahrnahm.


Meinen Weg von Schlesien über die Oberlausitz und den Schwarzwald nach Berlin in die Reichskanzlei, vom Obersalzberg in die damalige ostpreußische „Wolfsschanze“, dann direkt vom „Führerbunker“ in die Folterkeller des russischen Geheimdiensts GPU in der Moskauer Lubjanka, weiter in wechselnde Arbeitslager in Karaganda (Kasachstan), Borowitschi (Oblast Nowgorod), Swerdlowsk (Ukraine) und Stalingrad und endlich nach fast neun Jahren Kriegsgefangenschaft wieder zurück nach Berlin – ich möchte all dies so schildern, wie es mir begegnete. Meine Notizen, die ich kurz nach meiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft im Februar 1954 mithilfe meiner Frau niederschrieb, stützen meine Erinnerungen, die ich zusätzlich in ausführlichen Gesprächen mündlich weitergegeben habe und die in diesem Buch aufgezeichnet sind.


Rochus Misch
Mai 2008


RALPH GIORDANO


Vorwort: „Misch – Sie werden natürlich noch gebraucht“


Dieser Befehl – vielleicht einer der gespenstischsten der Geschichte, wenn man das historische Ambiente bedenkt, unter denen er gegeben wurde – ergeht am 22. April 1945 im Bunker der Reichskanzlei des brennenden Berlin.
Nachdem er mit der späten Erkenntnis „Der Krieg ist verloren“ soeben alle anderen aus seiner Umgebung von ihren Pflichten entbunden hatte, nimmt Adolf Hitler einen von ihnen aus, den Mann, der wie kein anderer die letzten fünf Jahre in ebenso ungeheuerlicher wie gewöhnlicher Nähe des „Führers“ zugebracht hat – seinen Leibwächter und Telefonisten Rochus Misch.
Der, Jahrgang 1917, heute also im einundneunzigsten Lebensjahr, hat nun eine späte Chronik vorgelegt, deren Lektüre mir als Aufgabe angetragen wird.
Erste Reaktion – Abwehr, mulmiges Gefühl. Läuft das etwa ab im Stil von „Napoleons Kammerdiener kennt den l’Empereur in Unterhosen“?
Mischs Vorwort enthebt mich solcher Befürchtung – ich stoße auf einen würdigen Einstieg, der mich nicht gleich in die Flucht schlägt. Dennoch – soll ich mir einen Text zumuten, aus dem ich erfahren werde, wie es war und wie es zuging im Dunstkreis einer Horrorfigur, die ich zwischen meinem zehnten und zweiundzwanzigsten Lebensjahr mehr als jede andere auf Erden gefürchtet habe, den Todfeind meiner jüdischen Mutter, des geliebtesten Menschen auf der Welt?
Als mir die Einfassung des Buchs mit einem Vorwort angetragen wurde, war mir Rochus Misch kein Unbekannter. Ich hatte ihn des Öfteren gesehen in den TV-Sendungen von Guido Knopp über die Geschichte des Dritten Reichs. Darin stellt er sich als das dar, was er damals war – als eines der vielen Millionen Rädchen im Getriebe eines Staatssystems, das von ihnen bis fünf Minuten nach zwölf in Gang gehalten wurde. Wenn auch in diesem Fall in schwindlig machender Höhenluft.
Was hat uns dieser Rochus Misch heute zu sagen? Das lag nun schriftlich vor mir. Ich habe mich hineinvertieft.
Und hier sind meine Gedanken dazu.


I.


Am Anfang zwei Fragen.
Die erste: Wie wird da umgegangen mit dem historischen, also dem geschichtsrelevanten Hitler, dem Schrecken Europas und der Welt? Und wie mit dem anderen, der tagsüber Süßigkeiten und Gebäck nascht, nett ist und höchst hundelieb, also dem geschichtsunrelevanten Hitler?
Um darauf gleich zu antworten: Das Buch ist ein Beleg dafür, dass er sich von diesem, von „seinem“ Hitler, dem „Chef“, wie er ihn nach wie vor nennt, nie wirklich hat trennen können.
Was hinlenkt auf die zweite Frage: Wo steht Rochus Misch gegenwärtig? Die zweite Antwort ergibt sich aus der ersten: Die Begegnung mit Hitler erweist sich als unaufhebbar verinnerlicht.
Trotzdem setze ich die Lektüre fort: Denn obschon wirklich erarbeitete Distanzierung nicht sichtbar wird und der Mann in völliger Übereinstimmung mit den herrschenden Ideen der NS-Zeit war, mag ich Rochus Misch nicht einen glühenden Nazi nennen. Da wird etwas Intellektfernes sichtbar, eine unverbergbare Unfähigkeit, zu analysieren und zu interpretieren, bei gleichzeitig scharfer Beobachtungsgabe, aber emotional begrenzter Eindrucksfähigkeit. Heraus kommt eine fast holzschnittartige Aufrichtigkeit, die seine Aufzeichnungen jedem Verdacht von Voyeurismus entzieht, daneben aber auch die Enge seiner Wahrnehmungsmuster entblößt. Einerseits Defizite, die andererseits jedoch zur Authentizität seiner Erinnerungen beitragen. Der natürliche Argwohn, posthum beschwindelt zu werden, kommt gar nicht erst auf. Vielmehr entdecke ich mich dabei, auf die jeweils folgenden Seiten neugierig zu sein.
Wobei ich mir nur zu genau bewusst bin, an welch unheimlichem Topos sich die Schilderungen und Erinnerungen abspielen.


II.


Die körperliche, sozusagen geografische Nähe zu dem großen Zerstörer bleibt für mich durchgehend befremdend, und das umso befremdender, je mehr die geschichtsunrelevanten Facetten dieses Daseins direkt oder indirekt zum Vorschein kommen. So, wenn man erfährt, dass Hitler eine Leidenschaft fürs Kegeln hatte, gern Apfel- und Kümmeltee trank, dem kleinen Hund der Köchin aufgeräumt zurief: „Wo kommst du denn her, kleiner Racker?“ oder aus seinen Räumen operettenhafte Schmachtfetzen wie „Dein ist mein ganzes Herz ...“ erklangen. Dazu Misch: „Als ich den schönen Gesang vernahm, schaute ich ungläubig zum Fenster in Hitlers Arbeitszimmer. Nachdenklich in sich zusammengesunken saß er wie der einsamste Mensch in seinem Sessel. Hier habe ich den traurigsten Hitler gesehen.“
Doch es wird noch enger.
Ich jedenfalls zucke zusammen bei Sätzen wie diesem: „Ich habe nie irgendwelche Intimitäten zwischen Hitler und Eva beobachtet.“ Dann die Szene, als Misch, auch Leibtelefonist, Depeschen in Hitlers Wohnung bringt und er durch die offene Tür des Schlafzimmers auf eine Eva Braun in einem dünnen Nachthemd blickt. „Das Blut schoss mir in den Kopf“, erinnert er sich so viel später, aber immer noch wie atemlos vor Entsetzen. „Eva hatte mich bereits bemerkt, daher traf mein Blick gleich ihre Augen. Sie sagte nichts, hob lediglich ihren rechten Zeigefinger an die geschlossenen Lippen. Ich machte sofort kehrt ...“
Wird hier nun doch lüstern durchs Schlüsselloch gegiert? Der Eindruck kommt nicht für eine Sekunde auf, Mischs Persönlichkeit schließt solche Assoziation einfach aus. Aber auch nach Verherrlichung Hitlers durch seinen Leibwächter, nach Inschutznahme des „Führers“ sucht man vergebens. Und das ganz im Gegensatz zu einem anderen „Hitler-Nahen“, seinem „Leibstenografen“ Henry Picker. Der, Jahrgang 1912 und seit 1930 Mitglied der NSDAP, hat die Tischgespräche im Führerhauptquartier von März bis Juli 1942 nicht nur Wort für Wort aufgenommen, sondern in der Jubiläumsausgabe von 1983 auch kommentiert, was sein Herr und Meister in der Ära des NS-Machtzenits an Unsäglichkeiten abgesondert hat. Unfähig, seine Verfallenheit an den „Chef“ – auch Picker nannte Hitler so – zu überwinden, offenbaren die eingeschobenen und als solche kenntlich gemachten Kommentare und Interpretationen den hochgebildeten Stenografen letztlich als geistigen Lakaien und unbelehrbaren Apologeten. Roter Faden auf hohem Bildungsniveau: fortwährende, schlecht getarnte Inschutznahme des geschichtsrelevanten Hitler. Dass Picker, typischer Vertreter eines nichthuman und nichtdemokratisch motivierten Antikommunismus, dabei jedes Verständnis für die extremen Leiden der Sowjetvölker im Kampf gegen die deutschen Aggressoren und Okkupanten abgeht, kann also niemanden verwundern.
Ich habe die so kommentierten Tischgespräche als einen handfesten Skandal für ihren Herausgeber Picker empfunden, als charakteristisches Beispiel dafür, wie die Bundesrepublik sich mit dem Nationalsozialismus und seinem Erbe auseinandergesetzt hat.
Ein ähnliches Empfinden der Abscheu hatte ich bei diesem Buch von Misch nicht.

Über Rochus Misch

Biografie

Rochus Misch, geboren 1917, der nie Mitglied der NSDAP war, wurde mit seinem Gardemaß von 1,85 m nach der Musterung für die Leibstandarte SS Adolf Hitler ausgewählt. Ab 1940 arbeitete er bis Kriegsende als Leibwächter, Kurier und Telefonist Hitlers. Nach Hitlers Tod geriet er für neun Jahre in...

Pressestimmen
Lübecker Nachrichten

Lesenswert, weil es eben eine typisch deutsche Geschichte erzählt.

Göttinger Tageblatt 

Rochus Misch verherrlicht nichts, kritisiert nichts und rechtfertigt nichts, auch nicht sich selber. Er hat einen scharfen Blick für Details, die er auch nach all den Jahren glaubhaft schildert ... Die Faszination des Buches liegt in Misch selbst. Er verkörpert den typischen Deutschen seiner Zeit wohl sehr genau: Kein Fanatiker war er, kein glühender Nazi. Unpolitisch und eher aufs eigene Durchkommen bedacht.

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