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Historische Romane aus dem Mittelalter

Der Glanz des Mittelalters, die Gewalt der Kreuzzüge, die Macht der Liebe

Eine Zeitreise ins Mittelalter

Möchten Sie eine Reise in das Mittelalter unternehmen und neue Welten entdecken? Dann bieten unsere historische Roman die perfekte Kulisse! Lassen Sie sich entführen in eine lange vergangene Zeit und erleben Sie Geschichten, die unter die Haut gehen.

„Unverbrauchte Themen, originelle Figuren, präzise Recherche: Juliane Stadlers Roman ›König der Turniere‹ überzeugt auf ganzer Linie!“ Daniel Wolf

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König der TurniereKönig der Turniere

Historischer Roman

König der Turniere| Opulentes Mittelalterepos

Juliane Stadlers großer historischer Roman über gefährliche Ritterturniere, perfide Intrigen und verbotene Liebe

„Ein historischer Roman, wie man ihn sich nur wünschen kann.“ SWR über Juliane Stadlers Debütroman „Krone des Himmels“

Die großen europäischen Königshöfe im 12. Jahrhundert: Der ehrgeizige Ritter Erec schafft es, ins königliche Turnier-Team Englands aufgenommen zu werden und verliebt sich in die geheimnisvolle Genovefa.

Frankreich, 1181: Der junge und außergewöhnlich talentierte Ritter Erec hat eine Truppe mittelloser Lanzenreiter um sich versammelt. Mit halsbrecherischem Wagemut gelingt es ihnen, in die erfolgreichste Turniermannschaft ihrer Zeit aufgenommen zu werden. Bei Hofe trifft Erec die faszinierende Genovefa, der er schon einmal unter mysteriösen Umständen begegnet ist. Eine schicksalhafte Liebe bahnt sich an, die unbedingt geheim bleiben muss, denn Genovefa ist verheiratet. Eigentlich sollte Erec am Ziel seiner Träume sein, aber mit seinen treuen Weggefährten gerät er mitten in eine lebensgefährliche Intrige und wird zum Spielball der Mächtigen …

Wer die Romane von Ken Follett und Rebecca Gablé mag, wird Juliane Stadlers großartige und exzellent recherchierte Romane lieben.

Die promovierte Historikerin Juliane Stadler lässt in ihren schwelgerischen Romanen Geschichte lebendig werden und katapultiert ihre Leser:innen mitten hinein ins Herz des Mittelalters.

Das perfekte Geschenk für alle Fans historischer Romane, packender Lesestoff, mitreißend erzählt und hervorragend recherchiert.

Juliane Stadler studierte in Heidelberg Frühgeschichte, Archäologie und Alte Geschichte und promovierte über keltische Bestattungssitten. Mit ihrem Debüt „Krone des Himmels“, das mit dem Silbernen Homer ausgezeichnet wurde, gelang ihr auf Anhieb ein SPIEGEL-Bestseller. Zusammen mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt sie in der Domstadt Speyer.

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Zu dem historischen Hintergründen des Romans

Der englische Historiker David Crouch beschreibt das Turnier des 12. Jahrhunderts als eine Art „American Football vom Pferderücken mit spitzen Stöcken und ohne Schiedsrichter". Das trifft den Kern dieses brutalen und gefährlichen Kampfsports ziemlich genau. Anders als Hollywood uns glauben machen will, steht zu dieser Zeit nicht der sogenannte Tjost, das Lanzenstechen zweier Ritter, im Mittelpunkt des Geschehens.

Eine Verlagerung dorthin findet erst später statt. Im Hochmittelalter ist der Tjost lediglich ein Teil der oft mehrtägigen Turnierveranstaltungen, die auch Geschicklichkeitswettbewerbe und Schaureiten umfassen. Er dient dem Kräftemessen meist jüngerer, wenig bekannter Ritter, die bei dieser zuschauerfreundlichen Art des Wettstreits etwas mehr Aufmerksamkeit für sich erhoffen.

Als einer der strahlenden Turnierhelden des ausgehenden 12. Jahrhunderts gilt Henri Plantagênet, Erbe des englischen Throns und älterer Bruder des späteren Richard Löwenherz. Er wird weithin als Idol verehrt." Juliane Stadler, Autorin und Historikerin

„(Ein) historischer Roman der Extraklasse“ Daniel Wolf

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Krone des HimmelsKrone des HimmelsKrone des Himmels
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Historischer Roman

Der Glanz des Mittelalters, die Gewalt der Kreuzzüge, die Macht der Liebe

Im Jahr 1189 wird die Welt vom großen Religionskrieg zwischen Abendland und Orient erschüttert. Das Schicksal führt die Handwerkertochter Aveline und den Wundarzt Étienne auf den Kreuzzug von Frankreich nach Jerusalem. Während der Belagerung der Hafenstadt Akkon wachsen beide über sich hinaus – doch ihre Liebe zueinander wird im großen Kampf um das Heilige Land auf die Probe gestellt ...

Für Fans von Rebecca Gablé 

Nach verheerenden Schlachten fällt Ende des 12. Jahrhunderts der größte Teil des Königreichs Jerusalem zurück an die Sarazenen. Barbarossa und Löwenherz führen ihre Heere daraufhin gen Akkon, das Tor zum Heiligen Land. In der Hoffnung, von einer schweren Sünde losgesprochen zu werden, begibt sich auch die junge Aveline auf den dritten Kreuzzug.

Die Umstände zwingen sie, sich als Bogenschütze Avery auszugeben und sich unerkannt dem Heer Barbarossas anzuschließen. Nachdem sie im Gefecht verletzt wird, vertraut sie sich dem Wundarzt Étienne an, der wie sie eine schwere Bürde trägt und um Gerechtigkeit und Anerkennung ringt. Zusammen finden sie Trost, aber schon bald müssen sie erkennen, dass ihr schlimmster Feind nicht unter den Sarazenen, sondern in den eigenen Reihen lauert ...

„Akribisch recherchiert und packend geschrieben – Juliane Stadlers Mittelalterepos ›Krone des Himmels‹ ist ein historischer Roman der Extraklasse!“ Daniel Wolf

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Die Geschichte von Hildegard von Bingen

Historischer Roman über ein der wichtigsten heilkundigen Frauen im Mittelalter

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Die Heilerin vom RheinDie Heilerin vom Rhein

Hildegard von Bingen – In der Naturheilkunde fand sie ihre Berufung, den Menschen zu helfen

Die Geschichte der ersten deutschen Heilerin: Hildegard von Bingen

Diözese Mainz, 12. Jahrhundert: Im Garten des Klosters Disibodenberg gedeihen unter Fürsorge der Nonne Hildegard allerlei Heilpflanzen. Sie forscht an diversen Mitteln, von Wundheilung bis Zahnhygiene – wer krank ist, klopft an ihre Pforte. Doch dem Abt sind ihre Experimente ein Dorn im Auge, er untersagt die weitere Herstellung von Heilmitteln aus Pflanzen. Hildegards Wissensdurst spornt sie an, trotzdem weiterzuforschen. Unermüdlich schreibt sie ihre Erkenntnisse über Glauben und Natur nieder und arbeitet auf ihr großes Ziel hin: ein eigenes Kloster, in dem jede Frau willkommen ist. Wird sie sich gegen die Konventionen ihrer Zeit durchsetzen können?

2023 wird der 925. Geburtstag Hildegard von Bingens gefeiert. Der Roman- und Drehbuchautor Jørn Precht lässt zu diesem Anlass die Geschichte der bis heute gefragten Heilerin aus dem Mittelalter noch einmal vor dem Auge der Leser:innen real werden und gewährt einen Blick auf die Wandlung der unterwürfigen Hildegard zu einer extrem emanzipierten Frau, die für ihre Überzeugungen einsteht.


Bedeutende Frauen, die die Welt verändern

Mit den historischen Romanen unserer Reihe »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern" entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten! Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autor:innen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen.

Weitere Bände der Reihe: 

  • Laura Baldini, Lehrerin einer neuen Zeit (Maria Montessori)
  • Romy Seidel, Die Tochter meines Vaters (Anna Freud)
  • Petra Hucke, Die Architektin von New York (Emily Warren Roebling)
  • Laura Baldini, Ein Traum von Schönheit (Estée Lauder)
  • Lea Kampe, Der Engel von Warschau (Irena Sendler)
  • Eva-Maria Bast, Die aufgehende Sonne von Paris (Mata Hari)
  • Eva-Maria Bast, Die vergessene Prinzessin (Alice von Battenberg)
  • Yvonne Winkler, Ärztin einer neuen Ära (Hermine Heusler-Edenhuizen)
  • Agnes Imhof, Die geniale Rebellin (Ada Lovelace)
  • Lea Kampe, Die Löwin von Kenia (Karen Blixen)
  • Eva Grübl, Botschafterin des Friedens (Bertha von Suttner)
  • Laura Baldini, Der strahlendste Stern von Hollywood (Katharine Hepburn)
  • Eva-Maria Bast, Die Queen (Queen Elizabeth II.)
  • Agnes Imhof, Die Pionierin im ewigen Eis (Josephine Peary)
  • Ulrike Fuchs, Reporterin für eine bessere Welt (Nellie Bly)
  • Anna-Luise Melle, Die Meisterin der Wachsfiguren (Marie Tussaud)
  • Petra Hucke, Die Entdeckerin des Lebens (Rosalind Franklin)
  • Eva-Maria Bast, Sisis Schwester (Sophie Charlotte in Bayern)
  • Elisa Jakob, Die Mutter der Berggorillas (Dian Fossey)
  • Eva-Maria Bast, Queen Mum (Elizabeth Bowes-Lyon)
  • Yvonne Winkler, Kämpferin gegen den Krebs (Mildred Scheel)
  • Lena Dietrich, Die Malerin der Frauen (Artemisia Gentileschi)
  • Laura Baldini, Die Pädagogin der glücklichen Kinder (Emmi Pikler)

TEIL I

Anno Domini 1136

1. Kapitel

Die betörende Melodie kam irgendwo aus dem üppigen Grün. Hier, wo der Fluss Glan in die Nahe mündete, war das Land äußerst fruchtbar. An diesem Hochsommertag hatte man Elisabeth, die alle nur Lieschen nannten, zum Beerensammeln geschickt. Die Zehnjährige hielt inne, als sie den himmlisch klingenden Gesang hörte. Neugierig folgte das Kind der unbekannten hohen Stimme. Vorsichtig linste es durch einen Busch – und erblickte eine Nonne. Die schlanke Frau mochte ungefähr zehn Jahre älter sein als Lieschens Mutter, also Mitte dreißig. Die Haarfarbe war nicht zu erkennen, da die Klosterschwester Ordenskleidung mit Schleier trug. Man nannte diese schlichten Gewänder „Habit“ – das wusste Lieschen von den Leuten auf dem Hof des Freibauern. Dort arbeitete ihre Mutter Griseldis als Magd, und auch das Kind musste schon auf dem Acker und in den Ställen mithelfen. Sein Vater war Stallknecht gewesen – doch der Tod hatte ihn so früh ereilt, dass Lieschen sich nicht an ihn erinnern konnte.

Die Nonne pflückte einige Pflanzen und sang dabei weiter, in dieser geheimnisvollen Zaubersprache der Kirche, die das Mädchen nicht verstand.

Plötzlich unterbrach die Christusbraut ihr Lied und blickte genau in Lieschens Richtung.

„Guten Morgen, junges Fräulein“, grüßte sie freundlich lächelnd. „Suchst du auch nach Heilpflanzen?“

Lieschen war so erstaunt über die Frage, dass sie ganz vergaß davonzulaufen, stattdessen trat sie aus dem Gebüsch.

„Nein, ich suche nach Beeren“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Sie konnte nun sehen, dass die Klosterfrau leuchtend blaue Augen hatte. „Meine Mutter sagt, Kamille hilft gegen Bauchweh. Können auch andere Pflanzen heilen?“

„O ja, man muss nur herausbekommen, welche von ihnen gegen welches Leiden helfen“, erklärte die Nonne. „Das alles verdanken wir der Viriditas.“

„Vi-ridi-tas?“, wiederholte Lieschen. „Ist das Lateinerisch?“

Die Nonne schmunzelte. „Ja, Lateinisch, genau. Viriditas bedeutet Grünkraft – diese Macht ist ein Gottesgeschenk.“ Sie ließ ihren Blick zufrieden über die üppige Landschaft der zwei Flusstäler und die gegenüberliegenden bewaldeten Höhen schweifen. Dann sah sie dem Mädchen wieder in die Augen. „Ich bin übrigens Hildegard von Bermersheim. Und du?“

„Ich bin Elisabeth … von Freibauer Burkhards Hof drüben. Aber alle sagen Lieschen zu mir“, antwortete sie.

„Dann nenne ich dich auch so“, schlug Schwester Hildegard vor. „Möchtest du mich zum Kloster begleiten? Vor unserer Frauenklause gibt es nämlich einige Beerensträucher.“

Lieschen konnte ihr Glück kaum fassen, denn bisher war die Suche eher erfolglos gewesen. „Aber braucht Ihr und Eure Schwestern die Beeren nicht selbst?“

„Ach, wir haben innen im Klausengarten genug Sträucher mit Holunder und Johannisbeeren“, entgegnete die Nonne abwinkend. „Die an der Außenmauer sind noch recht voll.“

Wahrscheinlich traute sich niemand, Beeren unmittelbar an einem Kloster zu pflücken, dachte Lieschen, aber sie selbst hatte nun ja die ausdrückliche Genehmigung dafür. „Dann begleite ich Euch gern, es ist ja gar nicht weit. Habt Ihr denn genug Heilpflanzen gefunden?“

„Ja, Wollkraut, Anis und Mutterkraut“, bestätigte Hildegard, während sie nebeneinander auf die Klosteranlage zugingen.

„Warum heißt der Disibodenberg eigentlich so seltsam?“, fragte Lieschen.

„Er ist nach dem heiligen Disibod benannt“, erzählte die Nonne. „Das war ein irischer Mönch, der vor knapp fünfhundert Jahren viel gewandert ist um Christi willen. Nachdem er dessen müde war, fand er hier eine letzte Bleibe. Als er seinen Wanderstab neben einer Quelle in den Boden steckte, trieb der Blüten.“ Sie machte die Bewegung des ausschlagenden Baumes mit den Armen nach. „Darin erkannte der alte Mönch ein göttliches Zeichen. Deshalb errichtete er unterhalb der Bergkapelle eine Einsiedelei. In dieser ärmlichen Hütte hat er dann seinen Lebensabend verbracht. Er hat sein ganzes Leben in vorbildlicher Weise Gott gewidmet. Seine Überreste liegen noch heute im Männerkloster.“

Der Berg war also ein Ort der Wunder? Lieschen fiel wieder ein, dass der Freibauer einmal gesagt hatte, es gebe keine Wunder. „Ein wahres Wunder wäre es, wenn mein Gesinde einmal fleißig arbeitet, ohne dass ich es dazu ermahnen muss.“

Lieschens Blick fiel auf Schwester Hildegards Kräutersäckchen. „Ich hab gar nicht gewusst, dass Nonnen sich mit Heilpflanzen auskennen.“

In der Tat war sie davon ausgegangen, dass die Menschen im Kloster den größten Teil der Zeit beteten und in kostbaren Kopien der Heiligen Schrift lasen, die zu erstellen laut Lieschens Mutter Jahre dauerte.

„Eigentlich hat uns der Abt die Heiltätigkeit tatsächlich verboten“, gestand Hildegard, „und unsere Vorsteherin in der Frauenklause ist auch nicht begeistert von ihr.“

„Aber wieso?“, wunderte sich das Mädchen. „Leute gesund zu machen ist doch etwas Gutes.“

„Ja, trotzdem hat man die klösterliche Heilkunst bei der Synode von Clermont vor sechs Jahren verboten“, berichtete Hildegard.

„Was ist eine Synode?“, hakte das Kind nach.

„Ein Treffen von ganz wichtigen Männern der Kirche. Unter anderem werden dort neue Regeln und Verbote festgelegt.“

Lieschen verstand das Verhalten der Geistlichen noch immer nicht. „Aber wieso wollen die Männer keine Medizin? Die werden doch auch mal krank.“

„Sie schätzen wohl allein die Heilkräfte eines demütigen Gebets. Viele Kirchenfürsten meinen, Gott allein sei für die Heilung zuständig. Und unsere Vorsteherin Jutta findet das ebenfalls“, sagte Hildegard und beugte sich verschwörerisch zu ihrer kleinen Begleiterin hinunter.

„Aber das meint Ihr nicht?“

Die Nonne schüttelte den Kopf. „Ich denke, Gott hat uns die Pflanzen geschenkt, damit wir uns selbst emsig damit helfen. Deshalb habe ich mir vom alten Bruder Antonius heimlich zeigen lassen, wie man aus den Kräutern im Garten und am Fluss Heilmittel braut. Er war früher der Infirmar.“

Immer diese Kirchensprache, dachte Lieschen und fragte: „Was ist ein Irfir…“

„Er war vor dem Verbot für die Kranken und den Klostergarten zuständig. Ich habe im Stillen dann auch lange selbst in Gottes Schöpfung geforscht – und mittlerweile kann ich Pflaster fertigen, Salben und Tinkturen rühren. Gestern hat mir einer der Mönche anvertraut, dass er unter peinlichen Blähungen leidet.“ Sie deutete auf ihr Beutelchen mit den eben gepflückten Pflanzen. „Und ein Sitzbad mit diesen drei Kräutern hilft dagegen. In dem Fall kommt die Heilkunde also auch Abt Folkard und seinen Brüdern zugute. Sie sorgt schließlich für … frischere Luft im Kloster.“

Lieschen musste kichern. Da ließ ein Knacken aus dem Waldrand sie herumfahren. Ein riesiger Bär brach aus dem Gestrüpp hervor! Das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus und stolperte zurück, Hildegard stand ganz starr da.

„Beweg dich auf keinen Fall!“, wisperte die Nonne und umschloss die Hand des Kindes fest mit der ihren. „Bleib ganz ruhig stehen, zeig ihm keine Angst!“

Der Bär kam knurrend und schnaufend nähergetrottet. Lieschen fühlte sich mit einem Mal wie in einem Albtraum. Warum nur war keiner der starken Knechte in der Nähe? Sie hätten das große Tier mit ihren Mistforken in die Flucht geschlagen. Ja, zu Hause, zu Hause. Nur nicht an den Bären denken! Zitternd sah Lieschen geradeaus, fühlte, wie das große Tier an ihren Füßen schnüffelte, spürte den heißen, feuchten Atem. Würde es nun gleich seine Tatzen und Zähne in sie schlagen? Sie war einer Ohnmacht nahe. Plötzlich kam der Bär wieder in ihr Gesichtsfeld: Er richtete sich vor Hildegard auf! Dann legte er der Betschwester eine Pranke auf ihre Schulter. Was sollte Lieschen tun? Wie konnte sie der armen Nonne bloß helfen? Das ungeheure Gewicht des Tiers musste die zerbrechliche Frau jeden Augenblick umwerfen, und dann wäre es gewiss um sie geschehen! Hildegard tat derweil etwas völlig Unglaubliches: Sie grub ihre rechte Hand in das Fell hinter den Ohren des Bären. Er wandte ihr die Schnauze zu, und sie sah ihm in die Augen: Das Tier gab ein schauerlich kehliges Brummen von sich, welches Lieschen durch Mark und Bein ging. Es klang fast klagend und seltsam weinerlich.

Bitte, lieber Gott, hilf uns! Ich werde auch nie mehr ungehorsam gegen meine Mutter sein!, dachte Lieschen.

Da ließ der Bär von der Nonne ab, trottete zurück in den Wald. Hildegard, nass im Gesicht, folgte dem Tier mit ihrem Blick. Dann wandte sie sich dem zitternden Kind zu. „Geht es? Kannst du laufen?“

Obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie dazu wirklich in der Lage war, nickte Lieschen. Doch an der Hand der Nonne gelangen ihr dann tatsächlich kleine, wackelige Schritte. Die Angst verließ das Kind dennoch nicht. Selbst, als sie mit Schwester Hildegard an dem kargen Steingebäude auf dem Disibodenberg angekommen war, zitterte Lieschen noch. Die Frauenklause war an die Klosterkirche der Mönche gebaut worden. Anders als die meisten Gebäude des Männerklosters war das der Nonnen nicht von Baugerüsten umgeben. Und Hildegard hatte nicht zu viel versprochen: Die Sträucher an der Mauer der Klause waren voll von kleinen roten und dunklen Beeren. „Den schwarzen Johannisbeerstrauch nenne ich auch den Gichtbaum“, erläuterte sie, „seine Früchte schützen nämlich vor Knochenschmerzen und Altersvergesslichkeit.“

„Euer Haus hat ja nur zwei Fenster“, stellte Lieschen fest.

„Ja, das vergitterte oben im Schlafsaal ist für frische Luft. Ganz am Anfang gab es hier keine Vordertür. Aber wir konnten nicht alles in unserem ummauerten Gärtchen anbauen und hatten kein eigenes Vieh. Deshalb wurde uns, was wir sonst brauchten, durch das zweite Fenster hier unten gereicht.“

„Meine Mutter hat erzählt, dass hier viele Menschen herkommen und Eure Meisterin Jutta um Rat fragen“, erinnerte sich das Mädchen.

Hildegards Miene wurde ernst. „Früher zumindest, und sie fand stets strenge Worte. In der Klause selbst spricht sie aber nur das Nötigste.“

Während sie nun zusammen Beeren pflückten, sah Lieschen immer wieder beunruhigt zum Waldrand hinüber. „Warum hat uns der Bär wohl nicht gebissen?“

„Ich weiß es nicht“, gab die Nonne zu. „In seinem Blick war etwas … Trauriges. Gott offenbart sich durch seine Schöpfung. Aber was er uns durch diesen Bären mitteilen wollte … Zum Glück hat niemand mitbekommen, dass ich dort draußen in Gefahr geraten bin. Eigentlich darf ich die Klause nämlich gar nicht verlassen. Ich bin hier vor über zwanzig Jahren eingemauert worden.“

Lieschen sah erschrocken auf, und die Nonne ergänzte: „Aber in unserem vierten Jahr bekamen wir diese Tür – zum Glück, denn in unserem kleinen Garten wachsen ja, wie gesagt, nicht alle Heilpflanzen. Anfangs nutzte ich jeden freien Augenblick zwischen den Gebeten, um die neue Klausentür von außen zu betrachten. Ich habe oft liebevoll über ihr frisches Holz gestrichen, es roch nach Harz, nach der Freiheit endloser Märchenwälder. Und natürlich habe ich mir heimlich das Kloster von außen angeschaut.“

Lieschen blickte eingeschüchtert an der Mauer der Klause hinauf. „Warum hat man Euch hier eingesperrt? War das eine Bestrafung?“

Hildegard schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, dass Bauer Burkhard jedes Jahr den zehnten Teil seiner Ernte an den Landbesitzer abgeben muss?“

Das Mädchen nickte eifrig. „Ja, da ärgert er sich immer sehr.“

Im Gegensatz zu Hörigen oder Leibeigenen durfte Burkhard als Freibauer seinen Wohnort, sein Eheweib und sein Gesinde selbst wählen. Da er den Großteil seines Landes aber von einem Grundherrn gepachtet hatte, musste auch er Abgaben an diesen abführen.

„Er sagt, der Lehnsherr ist ein gieriger Halsabschneider.“

Die Nonne schmunzelte. „Siehst du, und weil ich ihr zehntes Kind war, haben mich meine Eltern mitsamt meiner Aussteuer Ihrem Herrn gegeben. Sie sind von hohem Stand und besitzen selbst Land, deshalb ist Gott ihr Herr.“

Lieschen war so erstaunt, dass sie endlich den Bären vergaß. Ein kleines Mädchen als Ernteanteil für die Kirche? „Ach so, dann seid Ihr Nonne, weil Ihr die Zehnte seid?“

„Genau. Schon als ich etwa so alt war wie du sollte ich auf das spätere Nonnenleben vorbereitet werden. Und als ich vierzehn war …“

In diesem Augenblick öffnete sich eine in der Klausentür angebrachte Sprechluke, und eine sommersprossige Nonne, die etwas jünger als Hildegard aussah, linste heraus. „Hier bist du“, sagte sie, und es klang vorwurfsvoll. Sie öffnete die Tür, kam heraus und sah Lieschen misstrauisch an. „Was tust du mit dem Kind?“

„Ich schenke ihm die Beeren, die wir vergessen haben“, verkündete Hildegard.

„Vergiss bloß die Non nicht!“, mahnte die andere und wirkte etwas ängstlich.

„Was ist eine Non?“, erkundigte sich Lieschen neugierig.

„Das ist eines unserer Stundengebete. Siebenmal täglich rufen uns die Glocken dazu“, antwortete Hildegard, und ihre Mitschwester ergänzte mit leidgeprüfter Miene: „Die Morgenandacht heißt Laudes und endet schon mit der aufgehenden Sonne.“

„Sie meint, wir stehen zu früh auf“, erläuterte Hildegard lächelnd, und die andere erwiderte mürrisch: „So lange vor Sonnenaufgang! Und dann neun Stunden ohne Nahrung – völlig übertrieben!“

Hildegard seufzte. „So lauten nun einmal die Regeln unseres heiligen Benedikt. Und die haben sich seit über dreihundert Jahren bewährt.“

„Wie heißen denn die anderen Stundengebete?“, erkundigte sich Lieschen.

„Nach der Laudes am frühen Morgen folgen im Abstand von je drei Stunden Terz, Sext und Non“, zählte Hildegard auf. „Zu der wird demnächst geläutet. Bei Einbruch der Abenddämmerung wird dann die Vesper gefeiert, und abends gegen neun Uhr klingt der Tag mit der Komplet aus. Danach herrscht Sprechverbot, und eine Stunde nach Mitternacht läuten die Glocken die Vigilien ein.“

Nach dieser Erklärung stellte sie Lieschen ihre Mitschwester vor: „Das ist übrigens Hiltrud, wir nennen sie Trude. Sie ist die Base unserer Klostervorsteherin Jutta. Vor knapp einem Vierteljahrhundert kam sie als vierte Schwester hier zu uns in die Klause. Sie war damals erst so alt wie du jetzt und besaß die widerspenstigsten Locken, die man sich nur vorstellen kann. Sie haben die Farbe von Kastanien.“

„Inzwischen ist mein Kopf aber kurz geschoren“, sagte Trude wehmütig. „Wie bei allen Frauen hier.“

Das Kind sah mit großen Augen auf die Schleier der beiden Nonnen. „Warum sind Eure Haare abgeschnitten?“

Trude seufzte. „Weil wir der irdischen Schönheit entsagt haben.“

„Ich finde euch trotzdem schön“, sagte Lieschen.

Die beiden Nonnen sahen sich schmunzelnd an, und Hildegard strich dem Mädchen liebevoll über den Kopf.

Vom Männerkloster aus hörte man schon die ganze Zeit ein Hämmern. Nun fuhr in Richtung des Portals ein vierspänniger Ochsenkarren, der neue Steinmassen geladen hatte.

„Wird bei den Mönchen drüben gebaut?“

Hildegard bejahte. „Der Ausbau des Männerklosters hatte schon begonnen, als ich hier angekommen bin. Anfangs war noch nicht mal die Kirche ganz fertig.“

Und Trude erzählte: „Das Hämmern der Steinmetze, das Ächzen der Winden – all das ist für uns zur Begleitmusik unseres Klosteralltags geworden.“

„Das Bild des Bauens hat sich uns im Laufe der Jahre nachhaltig ins Gedächtnis eingeprägt“, bestätigte Hildegard, während sie weitere Rispen roter Johannisbeeren in Lieschens Korb warf. „Stein auf Stein, immer größer, höher und weiter!“

„… und niemals fertig werden“, ergänzte Trude spöttisch.

Lieschens Korb war fast voll, da kam auf einem einspännigen Pferdefuhrwerk ein großer Mann mit Lederschürze vorbei. Das Kind erkannte den massigen blonden Kerl, es war der Hufschmied, dessen Dienste auch der Bauer öfters in Anspruch nahm.

„Grüß Euch, Schwester Hildegard, befindet Ihr Euch wohl?“, erkundigte er sich.

„Ulrich!“, rief die Nonne erfreut. „Plagt dich dein Zahnfleisch noch?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Eure Tinktur hat geholfen, nichts ist mehr wund. Gott segne Euch dafür!“

In diesem Augenblick läuteten die Klosterglocken.

„Die Non“, erinnerte sich Lieschen stolz.

Hildegard nickte anerkennend und wandte sich wieder an den Schmied: „Kannst du mir einen Gefallen tun und Elisabeth hier zum Hof von Bauer Burkhard mitnehmen? Wir sind vorhin einem etwas erschreckenden Bären begegnet.“

„Das muss das Viech sein, das dem Schäfer gestern ein Lamm gerissen hat“, mutmaßte der Schmied.

Lieschen erschauderte bei der Vorstellung.

Glücklicherweise fügte Ulrich hinzu: „Ich werde die Kleine heil nach Hause bringen, keine Angst!“

Hildegard streichelte zum Abschied die Wange des Mädchens. „Mit Ulrich an deiner Seite wird dir nichts geschehen“, gab sie sich überzeugt. „Ich bin mir sicher, wir sehen uns wieder.“

Das hoffte Lieschen zwar, doch den schützenden Bauernhof würde sie in nächster Zeit bestimmt nicht so schnell verlassen.


2. Kapitel

Lieschen hatte Freude daran, die Zeit ein wenig festzuhalten. Neben ihrer Lagerstatt über dem Kuhstall verwahrte sie mehrere Stücke Leder, die ihr der gutmütige alte Knecht Ortwin geschenkt hatte. Mit verkohlten Hölzchen zeichnete sie auf die helle Rückseite Landschaften, Tiere und Menschen, um sich an besondere Ereignisse in ihrem Leben auf dem Bauernhof zu erinnern. Ihrem Alter entsprechend waren die Darstellungen recht einfach, aber ihre Mutter Griseldis fand sie gut erkennbar. „Schade, dass wir hier nichts damit anfangen können. Wenn du ein Mann wärst und Abschriften des Gottesworts mit Bildern schmücken dürftest – dann wäre deine Begabung ein Geschenk des Herrn“, hatte sie einst gesagt. „Als ich so alt war wie du, hat mein Vater mich einmal mit nach Mainz genommen, in der Kirche dort gab es wunderschöne Bilder.“

Lieschen wusste, dass ihre Mutter selbst gern Nonne geworden wäre, doch das war für nicht adelige Frauen unmöglich.

„Es ist traurig, dass du deine Fähigkeiten nicht nutzen darfst, aber ich bin mir sicher, du bist ebenso begabt wie jene Künstler.“

Wahrscheinlich lobten alle Mütter ihre Töchter. Ob sie wirklich gut zeichnete, war Lieschen aber auch gar nicht so wichtig; sie freute sich einfach nur über die Gedächtnisstütze, die ihre Zeichnungen darstellten. An diesem vorletzten Spätnachmittag im Windumemanoth, dem zehnten Monat des Jahres, fröstelte Lieschen am offenen Fenster beim Zeichnen des Schnees, der draußen höher lag, als sie es jemals erlebt hatte. Und Griseldis hatte ihr bestätigt, dass auch sie nie zuvor solche Massen der weißen Pracht gesehen hatte, schon gar nicht im Weinlesemonat.

Da sah Lieschen ihre Mutter durch das Tor des Gehöfts kommen. Sie war vom Besuch bei Winzer Georg zurück, wo sie eine Bestellliste von Burkhard hatte abgeben sollen. Griseldis mochte den Weinbauern nicht sonderlich, er mache Frauen gegenüber unziemliche Bemerkungen, hatte sie gesagt. Lieschen verstand zwar nicht genau, was eine „unziemliche Bemerkung“ war, aber ihr war auch aufgefallen, dass der Weinbauer immer grimmig dreinblickte und seine Mitmenschen oft anbrüllte. Dennoch war sie neugierig auf Geschichten vom Weingut, weshalb sie beschloss, ihrer Mutter entgegenzugehen.

Kaum hatte sie jedoch den Stall verlassen, musste sie mitansehen, wie Griseldis ausrutschte und stürzte. Diese tückischen Eisflächen unter dem Neuschnee! Voller Sorge eilte sie zu ihrer Mutter und versuchte dabei, nicht auch noch selbst hinzufallen. Die Witwe mit den blonden Locken wimmerte vor Schmerz. „Ich kann mein Bein nicht bewegen“, brachte sie in einer hilflosen Mischung aus Lachen und Weinen hervor, als sich ihre kleine Tochter bei ihr niederkniete. „Ich glaube, es ist gebrochen, das tut so weh.“

„Ich hole jemanden!“, rief Lieschen aufgeregt und bemühte sich, die Tränen niederzukämpfen. Ihre Mutter, ihre arme Mutter! Das Leben des Mädchens, das seinen Vater nie gekannt hatte, bestand von einem Augenblick auf den nächsten nur noch aus blanker Angst! Zum ersten Mal überhaupt hörte sie sich selbst um Hilfe rufen.

Sie fand den alten Ortwin beim Ausmisten des Stalls und erzählte ihm aufgeregt, was geschehen war. Er folgte ihr sogleich. Der Knecht musste sehr vorsichtig sein, als er ihre verletzte Mutter zu deren Bett trug, denn bei der kleinsten Bewegung schmerzte ihr Bein derart, dass sie nur mit Mühe Schreie unterdrücken konnte.

„So, wie das aussieht, ist es wirklich gebrochen“, mutmaßte der Knecht, nachdem er die keuchende und schweißnasse Griseldis auf ihrer Bettstatt abgelegt hatte. „Man müsste es wahrscheinlich schienen, aber ich weiß nicht, wie das geht.“

Da kam Lieschen eine Idee. „Ich hole Schwester Hildegard.“

Sie hatte die heilkundige Nonne seit ihrer ersten Begegnung im Sommer nicht mehr gesehen, war sich jedoch sicher, dass diese bereit wäre, ihrer Mutter zu helfen. Unsicher war nur, ob es auch deren Vorsteherin und die Mönche erlauben würden.

Der hohe Schnee und der scharfe Wind machten das Vorankommen derart mühsam, dass Lieschen sich fragte, ob sie es überhaupt bis zur Frauenklause schaffen würde. Und sie konnte nur hoffen, dass der Bär sich inzwischen im Winterschlaf befand.

Trotz der Kälte schwitzte das Mädchen. Der Aufstieg zum Kloster Disibodenberg wirkte an diesem Abend unendlich steil und weit, die immer höheren weißen Massen schienen sich an ihren Füßen festzukrallen. Als sie endlich die Klause erreichte, begann sie verzweifelt zu weinen, denn die einzige Tür war bis zur Höhe ihres Kinns zugeschneit. Sie musste sich strecken, um ihre Fäustchen gegen das Holz zu schlagen, und rief um Hilfe, doch es erschien ihr angesichts des heulenden Windes viel zu leise. Erneut rief sie um Hilfe.

Wider Erwarten öffnete sich schließlich der Ausguck in der Tür. Das Mädchen erkannte das sommersprossige Gesicht von Schwester Trude, die erstaunt zu ihr hinabsah.

Obwohl Lieschens Stimme sich vor Aufregung überschlug, machte sie der Nonne klar, was mit Griseldis geschehen war – und dass sie Schwester Hildegard sprechen musste.

Im Nachhinein konnte sich das Mädchen gar nicht mehr genau an die Einzelheiten erinnern, aber es gelang ihr, die heilkundige Nonne zu überzeugen, sie auf den Bauernhof zu begleiten. Hildegard bat die unwillige Trude mitzukommen. Zum Glück hatten sich Wind und Schneefall endlich ein wenig gelegt.

 

Kaum waren sie bei Lieschens Mutter an deren Lagerstatt angekommen, bestätigte Hildegard den Verdacht, dass Griseldis’ Bein gebrochen war. Es müsse in der Tat geschient werden, damit der Knochen wieder richtig zusammenwachsen könne.

Als die Nonne damit fertig war, drückte die Verletzte ihr dankbar die Hand. Inzwischen war auch Bauer Burkhard, ein Berg von einem Mann mit rotblondem Haar und blasser Haut, in die Kammer über dem Stall gekommen, und Lieschen bemerkte, wie argwöhnisch er die beiden Nonnen musterte.

Hildegard mahnte Griseldis: „Du musst dich aber schonen.“

Dann wandte sie sich an Burkhard: „Sie wird einige Wochen bettlägerig sein.“

„Ich kann aber keine nutzlose Magd durchfüttern“, knurrte der Bauer verstimmt.

Lieschen war verzweifelt. Wenn er sie verstieß, würden ihre Mutter und sie verhungern.

„Bitte, Herr, ich werde auch für zwei arbeiten“, flehte sie.

Ehe Burkhard antworten konnte, verkündete Hildegard: „Wir nehmen Griseldis und Lieschen mit zu uns, bis das Bein verheilt ist.“

Schwester Trude sah sie erschrocken an. „Aber Hildegard, das wird Mutter Jutta doch nie erlauben.“

Die Ältere zuckte mit den Schultern. „Wir haben schon öfter Herrgottsgäste aufgenommen.“

„Ja, damals waren wir auch noch weniger Schwestern und besaßen deshalb eine Gästezelle. Außerdem waren jene Besucher zumeist adelig“, argumentierte Trude. „Und sie haben großzügige Geschenke für Abt Folkard mitgebracht. Auch er wird es verbieten.“

„Dazu ist er im Augenblick zu krank“, erwiderte Hildegard.

„Das Kind könnt ihr meinetwegen hierlassen“, bot nun Burkhard an, „es ist fleißig.“

„Wir trennen es nicht von seiner Mutter, wir nehmen beide mit“, entgegnete Hildegard zu Lieschens Erleichterung.

„Und wie wollt Ihr die Verletzte in Euer Kloster bekommen?“, fragte der Bauer mürrisch.

Lieschen wusste, dass ihr Herr natürlich ein Fuhrwerk zur Verfügung stellen konnte, ahnte aber, dass er dazu nicht die geringste Lust verspürte.

„Ich werde zu Ulrich hinübergehen“, verkündete Hildegard. „Er hilft uns gewiss.“

Das Mädchen mochte den Schmied. Auf dem Rückweg vom Kloster seinerzeit im Sommer hatte er sie beruhigt, dass der Bär sich nicht auf den Bauernhof trauen würde. Dazu sei er zu schüchtern. Lieschen hatte lachen müssen – ein schüchterner Bär!

Wie Schwester Hildegard vermutet hatte, war Ulrich sofort bereit zu helfen. Er trug Griseldis vorsichtig auf sein Fuhrwerk. Lieschen packte für sich und ihre Mutter rasch deren wenige Besitztümer in einen alten Mehlsack und folgte den Erwachsenen.

Auf dem Disibodenberg öffnete Hildegard ihnen die Tür zum Klausengebäude. Nun würde Lieschen es also betreten! Die Nonne führte sie und den Hufschmied, der ihre Mutter wieder behutsam auf dem Arm trug, in eine Speisekammer hinter der großen Feuerstelle der Küche im Erdgeschoss.

Eine sehr junge Nonne sah die Neuankömmlinge verwundert an.

„Adelgundis, wo ist Jutta?“, erkundigte sich Hildegard bei ihr.

„Ich glaube, sie ist noch in der Kapelle und …“

„Nein, ich bin hier“, kam es von der Küchentür.

Lieschen erschrak, als sie die ausgemergelte Frau in ihrer Nonnenkleidung dort stehen sah. Sie musste gut ein halbes Jahrzehnt älter als Hildegard sein. Mit ihren großen braunen Augen war sie bestimmt einmal sehr hübsch gewesen, doch jetzt war ihr Gesicht eingefallen, wirkte ein wenig wie ein mit Pergament überzogener Totenkopf.

Zitternd vor Aufregung hörte Lieschen zu, wie Hildegard ihrer Vorsteherin von Griseldis’ Unfall erzählte und darum bat, sie und deren Tochter hinter der Küche wohnen zu lassen, bis das Bein verheilt war.

Mit einer merkwürdigen Gleichgültigkeit in der Stimme sagte Jutta nur: „Ich werde Abt Folkard um Erlaubnis bitten – wenn es ihm wieder besser geht.“

Lieschen fiel auf, dass die Klausenleiterin auf die Arbeitstasche des Schmieds starrte, aus der sein großer Hammer ragte.

„Ich gehe zurück in die Kapelle“, murmelte Jutta schließlich geistesabwesend und verließ, einer Schlafwandlerin gleich, die Küche.

Kurz darauf half Lieschen Hildegard, Trude und Adelgundis, die wenigen Vorräte aus der Speisekammer, in der ihre Mutter auf einem der beiden Strohlager ruhte, in einer Küchentruhe zu verstauen. Sie wandte sich an Hildegard: „Was tut Eure Vorsteherin in der Kapelle? Betet sie?“

„Unter anderem“, antwortete Hildegard vage. „Sie leistet dort Nachtwachen.“

„Bei eisiger Kälte“, ergänzte Trude mit Bitterkeit in der Stimme.

„Aber was gibt es dort zu bewachen?“, wunderte sich Lieschen.

„Sie quält sich. Manchmal geißelt sie sich auch mit einer Peitsche“, wisperte die Sommersprossige und sah sich ängstlich um.

Das Kind erschauderte. „Warum tut sie das?“

„Sie hofft, durch die Qual Jesus nahezukommen“, erläuterte Hildegard.

„Weil der auch am Kreuz gelitten hat?“, erinnerte sich Lieschen an die traurige Karfreitagsgeschichte.

Trude nickte. „Ja, unsere Mutter Oberin hofft auf die Unio mystica.“

Wieder dieses Lateinerisch! Hildegard bemerkte den ratlosen Blick des Mädchens und übersetzte: „Geheimnisvolle Vereinigung bedeutet das. Jutta sehnt sich sehr nach göttlichen Zeichen.“ Mit düsterem Blick fügte sie hinzu: „Dabei können einen solche Visionen sehr beunruhigen, wenn man sie bekommt.“

„Was sind Visionen?“, erkundigte sich das Kind.

Trude warf Hildegard einen Hilfe suchenden Blick zu.

Die erklärte: „Das sind Bilder, die Gott einem zeigt. Aber nur die Person, die eine Vision bekommt, sieht all das, andere Menschen nicht. Man nennt sie auch Gesichte oder Schauungen.“

Lieschen spürte, dass dieses Gespräch die Nonne sehr traurig machte, und sie fragte sich, warum das so war.

 

Während sich die Nonnen zum Tageswechsel ihrem Matutin-Stundengebet widmeten, lag Lieschen neben ihrer Mutter auf der rasch mit Stroh eingerichteten Lagerstatt. Griseldis’ ruhiges, gleichmäßiges Atmen beruhigte die Tochter zwar, aber sie hatte trotzdem Schwierigkeiten einzuschlafen. Es mochte an diesem Ort liegen, den sie unfreiwillig gegen den vertrauten und sicheren Bauernhof eingetauscht hatten.

Diesen seltsamen Ort, an dem die Nonnen mehrmals am Tag miteinander beten mussten, dafür auch mitten in der Nacht aufstanden – mit einer Vorsteherin, die sich selbst quälte, um Jesus näher zu sein.

*

Einige Tage später wurde Lieschen vom Gesang der Christusbräute geweckt. Es klang himmlisch, wie seinerzeit Hildegards Melodie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen im Sommer, nur diesmal vielstimmig. Dabei wurden die Schwestern von einem Instrument begleitet, das dem Mädchen unbekannt war. Sie richtete sich auf und sah, dass ihre Mutter ebenfalls aufgewacht war und Tränen in den Augen hatte.

„Hast du Schmerzen?“, fragte Lieschen besorgt.

Griseldis schüttelte den Kopf. „Der Gesang ist so wundervoll. Das Schönste am Klosterleben. Ich habe früher oft vor der Klause gestanden, um ihn zu hören.“

Ihre Tochter lauschte weiter der Musik. „Was ist das wohl für ein Instrument?“

„Ich denke, es ist ein Psalterium, eine Art Holzbrett mit Saiten darauf.“

„Ich könnte mich in die Kapelle schleichen und nachschauen“, schlug Lieschen unternehmungslustig vor.

„Mach das“, stimmte ihre Mutter zu und deutete auf ihr Bein. „Ich kann es nicht – noch nicht.“

Als Lieschen kurz darauf in den Gebetsraum lugte, sah sie die Nonnen ganz in ihren Gesang vertieft. Schwester Trude spielte das Instrument, auf das in der Tat Griseldis’ Beschreibung zutraf.

Schließlich beendeten die Schwestern ihren Gesang und verließen die Kapelle. Lieschen ging auf Schwester Adelgundis zu. Die gutmütige Tochter eines Herzogs war sechzehn Jahre alt. Wie Schwester Trude hatte sie hellgrüne Augen und Sommersprossen. Ob ihre kurz geschorenen Haare unter dem Schleier wohl kastanienfarben oder rot waren?

„Na, bereit für deine neue Aufgabe?“, fragte Adelgundis gutmütig lächelnd.

Da Lieschen gebeten hatte, sich in der Klause nützlich machen zu dürfen, war sie von Mater Jutta der jungen Adelgundis als Hilfe in der Küche zugeteilt worden.

„Ja, das bin ich“, antwortete Lieschen.

Nicht alle der adeligen Mitschwestern waren so freundlich zu ihr wie Adelgundis. Die ältere Beata beispielsweise hatte sich beschwert, dass sie gleich zwei „Bauerntrampel“ beherbergten, wie sie es ausdrückte. Als Hildegard abgelehnt hatte, Lieschen und deren Mutter fortzuschicken, war Beata laut Trude sogleich zu Jutta gegangen, um ihr Ziel zu erreichen – zum Glück bisher vergeblich.

„Das Instrument, das Schwester Trude gespielt hat, ist das ein Psalterium?“, fragte Lieschen.

Adelgundis bejahte. „Mater Jutta musste angeblich monatelang beim Abt betteln, dass wir es bekommen. Am Ende konnte Klosterschreiber Volmar ihn dazu überreden.“

Plötzlich wurde den beiden Mädchen der Weg zur Küche durch einen hochgewachsenen, ziemlich jungen Mönch versperrt. Er hatte wache Augen, und seine hervorstechende Nase erinnerte Lieschen an einen Raubvogel. Davon abgesehen war er eigentlich recht hübsch. Doch im Blick des drahtigen Mannes zeigte sich ein derartiger Zorn, dass sie erschrocken zurückwich. Was hatte er hier in der Frauenklause zu suchen?

„Wo ist Schwester Jutta?“, knurrte der Mönch.

„In der Kapelle“, entgegnete Lieschen hastig. „Ich bringe Euch zu ihr.“

Sie wollte dem Ordensbruder vorausgehen, doch am Eingang des Kirchleins stieß er sie grob zur Seite. Sie beobachtete, wie er mit großen Schritten auf die betende Vorsteherin zuging.

„Mater Jutta, ihr dürft ab sofort nicht mehr singen!“, rief er aufgebracht.

Die erschöpft aussehende Nonne drehte sich zu ihm um. „Bruder Helenger“, erkannte sie und fragte mit bangem Blick: „Ist es so weit?“

„Ja, die Stunde seiner Abberufung ist nah.“

Jutta schien von dieser Nachricht zutiefst schockiert. Sie stützte sich schwer atmend an der Mauer ab. Bruder Helenger warf Lieschen einen bösen Blick zu und verscheuchte sie mit einer einzigen Bewegung seines Kinns.

Abt Folkard musste im Sterben liegen, Lieschen hatte bereits Gerüchte unter den Nonnen darüber gehört, dass er todkrank war. Rasch eilte sie in die Küche. Vielleicht konnte sie von Adelgundis mehr erfahren.

„Es ist ein schweres Erbe hier in der Küche, Schwester Walburga muss die beste Köchin der Welt gewesen sein“, erzählte die junge Nonne beim gemeinsamen Zubereiten einer Linsen- und Bohnensuppe. „Gott hat sie viel zu früh zu sich gerufen.“

„Und jetzt liegt wohl euer Abt im Sterben?“, versuchte Lieschen das Gespräch umzulenken. „Ich habe sein Husten gestern Nacht bis hierher gehört.“

Adelgundis nickte seufzend. „Ja, leider. Er hat das Kloster acht Jahre lang weise geführt und seine Pfründe ausgebaut.“

„Es ist wirklich gut, dass wir hier immer genug zu essen haben“, meinte Lieschen.

„Oh, glaub mir, drüben im Vaterkloster haben sie wesentlich mehr. Wir Nonnen sind ganz und gar von den Almosen der Mönche abhängig. Wegen Meisterin Juttas gutem Ruf schließen sich uns ja immer mehr adelige Schwestern an, aber all ihre üppigen Mitgiften gehen an das Männerkloster.“

In diesem Augenblick ertönte zu Lieschens Erstaunen von den Mönchsgebäuden her die Glocke. Die Klausnerinnen durften zwar nur durch ein kleines Fenster bei der Messe und den Gebeten der Mönche zusehen, doch Lieschen wusste, dass es zu dieser Stunde keinen Anlass gab, die Kirchenglocken zu läuten. Warum also erklangen sie nun so unerwartet? Adelgundis war beim ersten Schlag erstarrt, hatte das Reinigen der Bohnen unterbrochen und hauchte: „O Gott, das ist die Totenglocke.“

Lieschen erschauderte, und in diesem Augenblick betrat Trude aufgebracht die Küche. „Habt ihr das gehört?“, wisperte sie. „Abt Folkard muss gestorben sein. Jetzt ist das ganze Kloster in tödlicher Gefahr.“ Sie schluchzte auf, und dann war sie auch schon wieder hinausgeeilt.

„Was meint sie damit?“, fragte Lieschen.

„Bis zur Wahl eines fähigen Nachfolgers ist das Kloster schutzlos den weltlichen Vögten ausgeliefert“, erinnerte Adelgundis mit ernster Miene. „Es heißt, die warten nur darauf, es gierig auszusaugen wie ein Blutegel. Wir Schwestern haben ja keinerlei eigene Mittel – wenn es dem Mönchskloster also schlecht geht, ist unser Leben in Gefahr.“

Lieschen begann zu zittern. Ihre Mutter war immer noch nicht in der Lage zu laufen. Sie waren völlig von den Nonnen abhängig, und mit ihrer Sicherheit konnte es jetzt wohl jeden Augenblick zu Ende sein!

Der große historische Roman der italienischen Renaissance

Blick ins Buch
Porträt einer EhePorträt einer EhePorträt einer Ehe

Roman

„Er blickt dich an und sieht, was du um jeden Preis verbergen willst.“

Ein Mal hat Lucrezia den Mann gesehen, mit dem sie als Zwölfjährige verheiratet werden soll. Am Hof von Florenz wächst die Tochter aus dem Hause Medici auf wie in einem goldenen Käfig. Niemand versteht das künstlerisch begabte, feinsinnige Mädchen, das lieber mit Tieren redet als mit den Geschwistern – außer ihrem Zukünftigen, Alfonso, der ihr tief in die Seele zu schauen scheint. Bringt das Leben mit dem Herzog von Ferrara ihr die ersehnte Freiheit? Oder doch den Tod?

„Maggie O’Farrell ist eine der aufregendsten Autorinnen unserer Zeit.“ The Washington Post

„Es gibt Romane, die stoßen eine Tür auf und schubsen einen hinein in ein Jetzt, das so nah, so absolut scheint wie der eigene Herzschlag.“ Brigitte Woman über „Judith und Hamnet“, ausgezeichnet mit dem Women’s Prize for Fiction & British Book Award 2020

Ein schauriger, einsamer Ort

Fortezza bei Bondeno, 1561

Lucrezia nimmt Platz am langen Esstisch, der zu fahlem Glanz poliert und vollgestellt ist mit Geschirr, auf dem Kopf stehenden Kelchen und einem Kranz aus Tannenzweigen. Ihr Mann setzt sich neben sie, nicht an seinen gewohnten Platz am anderen Ende des Tisches, sondern so dicht neben sie, dass sie ihren Kopf auf seine Schulter legen könnte, wenn sie wollte. Er entfaltet seine Serviette, richtet das Messer aus und zieht die Kerze zu ihnen hin, als Lucrezia mit seltsamer Klarheit – als blickte sie durch gefärbtes Glas oder vielmehr als täte sie dies mit einem Mal nicht mehr – begreift, dass er beabsichtigt, sie zu töten.

Sie ist sechzehn Jahre alt, seit einem knappen Jahr verheiratet. Ihr Mann und sie sind den größten Teil des Tages unterwegs gewesen, sind, um das bisschen Tageslicht in dieser Jahreszeit zu nutzen, im Morgengrauen aus Ferrara losgeritten zu einer Jagdhütte, wie er sagte, draußen im Nordwesten des Herzogtums.

Das sei doch keine Jagdhütte, hatte Lucrezia sagen wollen, als sie ihr Ziel erreichten: ein Gebäude mit hohen Mauern aus dunklem Stein, auf der einen Seite flankiert von dichtem Wald und auf der anderen von einer Flusswindung des Po. Am liebsten hätte sie sich im Sattel umgewandt und gefragt: „Wozu hast du mich hierhergebracht?“

Doch sie sagte nichts, ließ ihre Stute folgen auf dem Weg durch triefende Bäume, über die gebogene Brücke hinein in den Hof des seltsamen, befestigten, sternförmigen Gebäudes, das ihr schon da merkwürdig menschenleer vorkam.

Die Pferde sind mittlerweile weggeführt worden, sie hat den durchnässten Umhang und Hut abgelegt, während Alfonso sie beobachtete, mit dem Rücken zum Kamin stehend, wo ein Feuer lodert; nun bedeutet er den bäuerlichen Bediensteten im Schatten des Saals vorzutreten, die Teller mit Essen zu füllen, Brot zu schneiden, Wein in die Kelche zu gießen, und Lucrezia erinnert sich plötzlich an die heiser geflüsterten Worte ihrer Schwägerin: „Dir wird die Schuld zugeschoben werden.“

Lucrezias Finger umklammern den Rand ihres Tellers. Dass ihr Mann ihren Tod will, steht ihr so klar vor Augen, als hätte sich ein dunkel gefiederter Raubvogel auf der Armlehne ihres Sessels niedergelassen.

Das ist der Grund für ihre hastige Reise an einen so schaurigen, einsamen Ort. Er hat sie hierhergebracht, in diese steinerne Festung, um sie zu ermorden.

Verblüffung reißt sie aus ihrem Körper, und beinahe lacht sie: Sie schwebt unter der gewölbten Decke und blickt hinab auf sich und ihn, wie sie am Tisch sitzen, Brühe schlürfen und sich gesalzenes Brot in den Mund schieben. Sie sieht, wie er sich zu ihr herüberlehnt, wie seine Finger leicht auf der nackten Haut ihres Handgelenks ruhen, während er ihr etwas sagt; sie sieht sich ihm zunicken, das Essen herunterschlucken, Worte sagen über die Reise und die interessante Landschaft, die sie durchquert haben, als stünde alles zum Besten, als wäre dies ein normales Abendessen, nach dem sie zu Bett gehen würden.

In Wirklichkeit, denkt sie, noch immer oben unter dem schwitzenden Mauerwerk der Saaldecke, war die Reise von der Stadt hierher langweilig, durch öde und gefrorene Felder, der Himmel so schwer, dass er schlaff auf die Wipfel der kahlen Bäume herabzuhängen schien. Ihr Mann hatte die Pferde im Trab gehen lassen, Meile um Meile war sie im Sattel auf und ab geruckelt, mit schmerzendem Rücken, die Beine wund gerieben von den nassen Strümpfen. Trotz der mit Eichhörnchenfell gefütterten Handschuhe waren ihre Finger starr vor Kälte gewesen, während sie die Zügel umklammerten, und die Mähne ihrer Stute war schon bald von Eis überzogen. Ihr Mann war vorangeritten, mit zwei Wächtern hinter sich. Als die Stadt dem Land gewichen war, hatte Lucrezia ihr Pferd anspornen, ihm die Fersen in die Flanken drücken, seine Hufe über Stock und Stein fliegen lassen, durch das flache Tal galoppieren wollen – doch sie wusste, dass sich dies nicht ziemte, dass ihr Platz hinter ihrem Mann war oder, falls sie dazu aufgefordert wurde, neben ihm, nie aber vor ihm, und so trabten sie weiter und weiter.

Nun, da sie am Tisch den Mann anblickt, von dem sie vermutet, dass er sie ermorden will, wünscht sie, sie hätte es getan und ihre Stute zum Galopp angespornt. Sie wünscht, sie wäre an ihm vorbeigejagt, kichernd vor Lust am Verbotenen, mit flatterndem Umhang und flatterndem Haar, während der eisige Schlamm von den Hufen aufspritzte. Sie wünscht, sie wäre den fernen Hügeln entgegengeprescht, um sich in den felsigen Klüften und Höhen zu verlieren, wo er sie nie gefunden hätte.

Die Ellbogen zu beiden Seiten seines Tellers aufstützend, erzählt Alfonso, wie er als Kind schon in diese Hütte – er beharrt auf dem Wort – gekommen sei, wo sein Vater ihm das Jagen beigebracht habe. Sie hört, er habe Pfeil um Pfeil auf eine Zielscheibe an einem Baum schießen müssen, bis seine Finger bluteten. Sie nickt und gibt in den richtigen Momenten mitleidiges Gemurmel von sich, doch viel lieber würde sie ihm in die Augen blicken und sagen: „Ich weiß, was du im Schilde führst.“

Würde er sich davon überrumpelt, ertappt fühlen? Hält er seine Frau für naiv, weltfremd, kaum dem Kinderzimmer entwachsen? Sie sieht es alles. Sie sieht, wie sorgfältig und umsichtig er sein Vorhaben geplant hat, wie er sie von den anderen getrennt und sichergestellt hat, dass ihr Gefolge in Ferrara zurückbleibt, dass sie allein ist, dass niemand aus dem castello hier ist, nur sie und er, zwei Wachen draußen und drinnen eine Handvoll Leute vom Land, die sie bedienen.

Wie will er es anstellen? Ein Teil von ihr würde ihn gern fragen. Mit einem Messer in einem dunklen Gang? Mit seinen Händen um ihren Hals? Mit einem Sturz vom Pferd, der wie ein Unfall wirken soll? Zweifelsohne hat er all diese Möglichkeiten im Repertoire. Aber es müsste schon gut gemacht werden, wäre ihr Rat, denn ihr Vater ist keiner, der die Ermordung seiner Tochter einfach so hinnehmen würde.

Sie setzt den Kelch ab, hebt das Kinn, wendet den Blick ihrem Mann, Alfonso II., Herzog von Ferrara, zu und fragt sich, was als Nächstes geschehen wird.


Die unglücklichen Umstände
von Lucrezias Zeugung

Palazzo, Florenz, 1544

In den folgenden Jahren sollte Eleonora die Art, wie ihr fünftes Kind gezeugt wurde, bitter bereuen.

Stellen Sie sich Eleonora im Herbst 1544 vor: Sie befindet sich im Kartenraum des Florentiner Palazzos und hält sich eine Landkarte dicht vors Gesicht (sie ist ein wenig kurzsichtig, würde das aber niemals zugeben). Ihre Hofdamen stehen etwas abseits, so nah beim Fenster wie möglich: Es ist zwar schon September, doch in der Stadt ist es drückend heiß. Als würde unten im Hof die Luft gebacken; Schwall um Schwall schwappt aus dem steinernen Rechteck zu ihnen hoch. Der Himmel hängt tief und reglos; kein Hauch bewegt die Seidentücher vor den Fenstern, und die Flaggen auf dem Schutzwall des Palazzos hängen schlaff herab. Die Hofdamen fächeln sich Luft zu und tupfen sich die Stirn lautlos seufzend mit einem Taschentuch ab. Sie alle fragen sich, wie lange sie noch hier in diesem getäfelten Raum ausharren müssen, wie viel Zeit Eleonora noch mit dem Betrachten dieser Karte verbringen will und was sie daran bloß so interessant finden mag.

Eleonoras Augen durchstreifen die Silberstiftdarstellung der Toskana: die Gipfel von Hügeln, das aalartige Geschlängel von Flüssen und die nordwärts aufsteigende, zerklüftete Küstenlinie. Ihr Blick schweift über die Landstraßen, die sich verknoten für die Städte Siena, Livorno und Pisa. Eleonora ist sich ihrer eigenen Seltenheit und ihres Wertes wohl bewusst: Sie hat nicht nur einen Körper, der eine ganze Reihe von Erben hervorzubringen vermag, sondern auch ein schönes Gesicht mit einer Stirn wie geschnitztes Elfenbein, weit auseinanderliegenden tiefbraunen Augen und einem Mund, der schön ist, ob sie nun lächelt oder schmollt. Darüber hinaus verfügt sie über einen raschen, unsteten Verstand. Sie kann im Gegensatz zu den meisten Frauen aus dem Gekritzel auf dieser Karte Kornfelder, Weinberge, Ernten, Bauernhöfe, Klöster und Zehnten zahlende Bauern herauslesen.

Sie legt die Karte hin, und gerade als ihre Hofdamen die Röcke raffen, um in besser belüftete Räumlichkeiten aufzubrechen, nimmt Eleonora eine andere Karte. Sie studiert das Gebiet nahe der Küste; dort scheint nichts verzeichnet zu sein außer ein paar vagen, unregelmäßigen Wasserflächen.

Wenn Eleonora eines nicht ertragen kann, dann ist das Nutzlosigkeit. Unter ihrer Ägide ist jeder Raum, jeder Gang, jedes Vorzimmer dieses Palazzos renoviert und mit einem Zweck versehen worden. Jede nackte Wand ist geschmückt und verschönert worden. Keinem ihrer Kinder, keiner ihrer Bediensteten oder Hofdamen ist auch nur eine Minute der Untätigkeit gestattet. Von morgens bis abends werden sie auf Trab gehalten durch einen Stundenplan, den Eleonora aufgesetzt hat. Wenn sie nicht schläft, erfüllt sie eine Aufgabe: schreibt Briefe, lernt Sprachen, erstellt Pläne und Listen oder überwacht die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder.

In Eleonoras Kopf regen sich Ideen, was mit dem Marschland zu tun wäre. Man muss es trockenlegen. Nein, man muss es bewässern. Man könnte Feldfrüchte anpflanzen. Man könnte eine Stadt bauen. Man könnte Seen anlegen, um Fische zu züchten. Oder ein Aquädukt oder ein –

Ihre Gedanken werden unterbrochen durch das Geräusch einer aufspringenden Tür, gefolgt von Stiefeln auf dem Boden: ein selbstbewusster, zielstrebiger Schritt. Sie dreht sich nicht um, sondern lächelt vor sich hin, während sie die Karte gegen das Licht hält und sieht, wie die Sonne Berge, Städte und Felder aufleuchten lässt.

Eine Hand legt sich auf ihre Hüfte, eine andere auf ihre Schulter. Sie spürt das gesprenkelte Stechen eines Bartes an ihrem Hals, den feuchten Druck von Lippen.

„Was treibst du, mein fleißiges Bienchen?“, flüstert ihr Mann ihr zu.

„Ich mache mir Gedanken über dieses Gebiet hier“, sagt sie und hält weiter die Karte hoch, „hier an der Küste, siehst du?“

„Mmm“, sagt er, lässt einen Arm um sie gleiten, vergräbt sein Gesicht in ihrem hochgesteckten Haar und drückt ihren Leib mit seinem gegen die harte Tischkante.

„Wenn wir es trockenlegten, könnte man es nutzen, für Landwirtschaft oder Häuser und …“ Sie bricht ab, denn er macht sich an ihren Röcken zu schaffen, hebt sie hoch, damit seine Hand ungehindert von ihrem Knie über ihren Oberschenkel hoch und immer höher wandern kann. „Cosimo“, tadelt sie ihn flüsternd, doch es ist gar nicht nötig, denn ihre Hofdamen sind dabei, sich mit raschelnden Röcken aus dem Zimmer zurückzuziehen, auch Cosimos Berater gehen, drängeln an der Tür, begierig wegzukommen.

Die Tür fällt hinter ihnen ins Schloss.

„Die Luft dort ist schlecht“, fährt Eleonora fort, mit den blassen, schmalen Fingern auf die Karte weisend, als wäre nichts, als stünde kein Mann hinter ihr und versuchte, sich durch die verschiedenen Schichten ihrer Unterkleider einen Weg zu bahnen, „übel riechend und ungesund, und wenn wir …“

Cosimo dreht sie herum und nimmt ihr die Karte aus der Hand. „Ja, mein Schatz“, murmelt er, während er sie erneut gegen den Tisch drückt, „alles, was du sagst, alles, was du willst.“

„Aber Cosimo, du musst nur mal …“

„Später.“ Nachdem er die Karte auf den Tisch geworfen hat, hebt er Eleonora hoch und setzt sie, in der Masse ihrer Röcke wühlend, darauf. „Später.“

Eleonora seufzt resigniert, und ihre Katzenaugen verengen sich zu Schlitzen. Sie sieht ein, dass er von seiner Absicht nicht abzubringen ist. Dennoch packt sie seine Hand.

„Versprichst du es mir?“, fragt sie. „Versprichst du mir, dass ich dieses Land nutzen darf?“

Seine Hand kämpft mit ihrer. Sie tun nur so, das ist ein Spiel, wie beide wissen. Cosimos Arm ist doppelt so dick wie ihrer. Er könnte ihr das Kleid binnen Sekunden vom Leib reißen, mit oder ohne ihre Zustimmung, wäre er eine andere Sorte Mann.

„Ich verspreche es“, sagt er, küsst sie, und sie lässt seine Hand los.

Noch nie, überlegt sie, während er in Gang kommt, hat sie sich ihm verweigert. Und wird es auch nie tun. Es gibt in ihrer Ehe viele Bereiche, in denen sie das Sagen hat, mehr als andere Frauen in ähnlichen Positionen. Ihm ungehinderten Zugang zu ihrem Körper zu gewähren, findet sie, ist ein kleiner Preis für all die Freiheiten und Möglichkeiten, die ihr gewährt werden.

Sie hat bereits vier Kinder und beabsichtigt, mehr zu bekommen, so viele, wie ihr Mann in sie hineinzupflanzen gewillt ist. Eine Herrscherfamilie muss groß sein, um dem Herzogtum Stabilität und Langlebigkeit zu verleihen. Vor ihrer Heirat mit Cosimo drohte diese Dynastie abzusterben, Geschichte zu werden. Und jetzt? Sind Cosimos Herrschaft und die Macht der Region gefestigt. Dank Eleonora gibt es im Kinderzimmer oben bereits zwei männliche Erben, die man dazu ausbilden wird, in Cosimos Fußstapfen zu treten, und zwei Mädchen, durch deren Verheiratung man sich mit anderen Fürstenhäusern verbinden kann.

Sie versucht, sich auf diesen Gedanken zu konzentrieren, denn sie möchte wieder schwanger werden, möchte nicht mehr an die ungetaufte Seele denken müssen, die sie letztes Jahr verloren hat. Sie spricht nie darüber, sagt niemandem, nicht einmal ihrem Beichtvater, dass das perlgraue Gesicht und die gekrümmten Finger dieses Kindes sie noch immer in ihre Träume verfolgen, dass sie sich nach ihm sehnt und sein Verlust in ihr ein großes Loch hinterlassen hat. Das beste Heilmittel gegen diese verschwiegene Schwermut ist, sagt sie sich, so rasch wie möglich wieder ein Kind zu bekommen. Sobald sie wieder schwanger ist, wird alles gut sein. Ihr Körper ist stark und fruchtbar. Das toskanische Volk nennt sie „la fecundissima“, die Fruchtbarste, und das trifft die Sache. Beim Gebären hat sie auch nie so höllische Qualen gelitten, wie man ihr hatte weismachen wollen. Als sie das Haus ihres Vaters verließ, nahm sie Sofia, ihr eigenes Kindermädchen, mit, und diese kümmert sich jetzt um die Sprösslinge. Eleonora ist jung, schön, ihr Mann liebt sie, ist ihr treu und ihr zuliebe zu allem bereit. Sie wird das Kinderzimmer oben unter dem Dach füllen; sie wird es mit Erben vollstopfen, Kind um Kind um Kind gebären. Warum nicht? Nie mehr wird ihr ein Kind vorzeitig entgleiten; das wird sie nicht zulassen.

Während sich Cosimo in der Hitze der Sala delle Carte Geografiche abrackert, seine Berater und Eleonoras Hofdamen im Zimmer draußen lustlos warten, gähnen und einander resignierte Blicke zuwerfen, wendet sich Eleonoras Geist von dem verlorenen Kleinen ab und wieder dem Marschland zu, gleitet dahin über das Schilf, die gelben Schwertlilien, die Büschel struppigen Grases. Er windet sich durch Nebel und Dünste. Er stellt sich Ingenieure vor, die mit Röhren und anderem Gerät anrücken und alles, was klamm, nass und unerwünscht ist, austrocknen. Er schafft üppige Ernten, fette Nutztiere und Dörfer, bevölkert von willigen, dankbaren Untertanen.

Sie legt ihre Arme auf die Schultern ihres Mannes und richtet, während er den Höhepunkt der Lust erreicht, ihren Blick auf die Karten an der gegenüberliegenden Wand: das alte Griechenland, Byzanz, das Römische Reich in seiner ganzen Größe, Sternbilder, unerforschte Ozeane, wirkliche und erfundene Inseln, Berge, deren Gipfel in Gewittern verschwinden.

Unmöglich hätte sie voraussehen können, dass sich dies als Fehler erweisen würde, dass sie ihre Augen schließen und ihren Geist zurück in diesen Raum hätte bringen müssen, zu ihren ehelichen Pflichten, ihrem starken, gut aussehenden Mann, der sie nach all diesen Jahren immer noch begehrt. Wie hätte sie wissen sollen, dass das Kind, das aus diesem Akt hervorgehen würde, so anders als alle anderen sein würde, deren Wesen so freundlich und deren Temperament so ausgeglichen ist? So leicht vergisst man das Prinzip der mütterlichen Prägung. Sie wird sich später Vorwürfe machen dafür, dass sie so abgeschweift, so unaufmerksam gewesen war. Ärzte wie Priester hatten ihr eingeschärft, dass der Charakter eines Kinds durch die Gedanken der Mutter im Augenblick der Empfängnis bestimmt wird.

Doch es ist zu spät. Hier im Kartenraum ist Eleonoras Geist unruhig, ungezähmt, er schweift, wohin er will. Sie schaut sich Karten an, Landschaften, Wildnisse.

Cosimo, Großherzog der Toskana, stößt zum Schluss sein gewohntes knurrendes Keuchen aus und zieht seine Frau sanft an sich; sie wiederum, gerührt, aber auch etwas erleichtert – es ist wirklich heiß –, lässt sich vom Tisch herabhelfen. Sie ruft nach den Frauen, auf dass sie sie in ihre Gemächer geleiten. Ihr sei nach einer Pfefferminz-tisana, sagt sie, einem Nickerchen und einem frischen Unterhemd.

Als ihr neun Monate später ein Kind gezeigt wird, das brüllt und sich windet und sein Wickelzeug von sich wirft, ein Säugling, der weder ruht noch schläft und sich nur durch ständige Bewegung trösten lässt, ein Kind, das die Brust der von Sofia sorgfältig ausgewählten Amme wohl ein paar Minuten lang akzeptiert, sich aber sonst nicht weiter stillen lässt, ein Kind, dessen Augen immer offen sind, als hielten sie nach fernen Horizonten Ausschau, da überkommt Eleonora beinahe so etwas wie Schuld. Ist sie verantwortlich für die Wildheit dieses Kindes? Liegt es an ihr? Sie sagt es niemandem, schon gar nicht Cosimo. Die Existenz dieses Kindes macht ihr Angst, nagt an ihrer Überzeugung, eine gute Mutter zu sein und Nachkommen gebären zu können, die an Körper und Geist gesund sind. Dass eines ihrer Kinder so schwierig ist, so widerspenstig, bringt ihr Bild von sich und ihrer Rolle hier in Florenz bedrohlich ins Wanken.

Bei einem Besuch im Kinderzimmer, wo sie einen ganzen Morgen lang die kreischende Lucrezia im Arm zu halten versucht, bemerkt sie, wie der Lärm sich auf die vier älteren Geschwister auswirkt, die sich die Ohren zuhalten und in ein anderes Zimmer laufen. Furcht ergreift Eleonora, das Verhalten des Säuglings könnte die anderen beeinflussen. Werden auch sie plötzlich nicht mehr fügsam sein und sich nicht mehr trösten lassen? So beschließt sie, ohne langes Federlesen, Lucrezia aus dem Kinderzimmer zu nehmen und in einem anderen Teil des Palazzos unterzubringen. Nur eine Zeit lang, sagt sie sich, bis das Kind sich beruhigt hat. Sie zieht Erkundigungen ein und stellt danach eine andere Amme an, eine der Köchinnen. Eine breithüftige, fröhliche Frau, die mit Freuden bereit ist, sich um Lucrezia zu kümmern, denn ihre eigene, knapp zwei Jahre alte Tochter tapst schon über die Fliesen und kann abgestillt werden. Jeden Tag schickt Eleonora eine ihrer Hofdamen hinunter in die Küchen, um sich nach dem Befinden des Säuglings zu erkundigen; sie ist sich sicher, ihre Pflicht dem Kind gegenüber zu erfüllen. Unglücklich dabei ist nur, dass Sofia, Eleonoras ehemaliges Kindermädchen, Lucrezias „Verbannung“ lauthals missbilligt und auch nicht einsieht, was an der von ihr ausgewählten Amme nicht gut gewesen sein soll. Doch Eleonora ist ungewöhnlich hartnäckig: Das Kind wird fern von der übrigen Familie in der Kellerküche untergebracht, bei den Dienern und Dienstmädchen, im Lärm von Kochtöpfen und in der Hitze der riesigen Feuer. Ihre ersten Monate verbringt Lucrezia in einem Waschkessel, überwacht von der kleinen Tochter der Amme: Die tätschelt die winzige geballte Faust des Säuglings und ruft die Mutter, wenn dessen Gesicht sich zu einem Heulen verzerrt.

Als Lucrezia laufen lernt, entgeht sie knapp einer Katastrophe mit einem umgekippten Topf siedenden Wassers, weshalb sie wieder nach oben geschickt wird. Fern vom vertrauten Lärm und Dampf der Küchen und konfrontiert mit vier Kindern, an die sie sich nicht erinnern kann, schreit sie zwei Tage lang. Sie schreit nach ihrer Amme, nach den Holzlöffeln, an denen sie gegen die Schmerzen des Zahnens lutschen durfte, nach den Kräutersträußen, die an den Fenstern hingen, nach der Hand, die ihr ein warmes Stück Brot oder ein Stück Käse entgegenstreckte. Sie will nichts zu tun haben mit diesem Zimmer unter dem Dach, wo sich Bett an Bett reiht, wo lauter gleich aussehende Kinder sie mit schwarzen Augen ungerührt anstarren, einander etwas zuflüstern, dann unvermittelt aufstehen und davongehen. Die Erinnerung an einen riesigen schwarzen Topf, der neben ihr umkippt, und an einen Schwall zischend heißer Flüssigkeit beunruhigt sie. Sie verweigert sich den Armen und Schößen der Kinderzimmerfrauen, erlaubt ihnen nicht, sie anzukleiden oder ihr etwas zu essen zu geben. Sie will die Köchin von drunten, ihre Milchmutter; sie will beim Dösen, geborgen in ihrem breiten Schoß, eine Strähne ihres glatten Haars zwischen Daumen und Finger halten. Sie will das liebe Gesicht ihrer Milchschwester, die für sie singt und sie mit einem Stock in der Asche des Feuers zeichnen lässt. Sofia schüttelt den Kopf und murmelt, sie habe es Eleonora immer schon gesagt, dass es nicht gut ausgehen werde, wenn man das Kind in den Keller schicke. Lucrezia isst nur, wenn man Nahrung neben ihr auf den Boden legt. Wie bei einem wilden Tier, bemerkt Sofia.

Als Eleonora all dies von Sofia hört, die darauf beharrt hat, in die Gemächer ihres ehemaligen Schützlings zu gehen und, die Fäuste in die Hüften gestemmt, neben dessen Bett Aufstellung zu nehmen, seufzt die Herzogin und steckt sich eine frisch geknackte Mandel in den Mund. In wenigen Tagen wird sie erneut gebären, ihr Bauch ragt unter den Laken auf wie ein Berg; sie hofft auf einen Jungen. Diesmal hat sie nichts dem Zufall überlassen und ihr Schlafgemach mit Gemälden von gesunden jungen Männern ausstatten lassen, die männlichen Beschäftigungen nachgehen: Speere werfen oder Zweikämpfe austragen. Die ehelichen Pflichten durften nur hier vollzogen werden, zur großen Enttäuschung von Cosimo, der immer eine Vorliebe gehabt hat für hastige Akte in einem Korridor oder einem Zwischengeschoss. Doch Eleonora wollte auf keinen Fall den gleichen Fehler wie beim letzten Mal begehen.

Als Vierjährige will Lucrezia im Gegensatz zu ihren Schwestern keine Puppen bemuttern, sich zum Essen nicht an den Tisch setzen oder mit ihren Geschwistern spielen; sie bleibt lieber allein, rast wie eine Wilde von einem Ende des Laufgangs zum andern oder kniet sich vors Fenster, um stundenlang hinauszuschauen auf die Stadt und die fernen Hügel dahinter. Als sie sechs ist, zappelt sie so herum, statt einem Maler brav Modell zu sitzen, dass Eleonora die Geduld verliert und sagt, dann gebe es eben kein Porträt, Lucrezia könne zurück ins Kinderzimmer gehen. Mit acht oder neun weigert sie sich, Schuhe zu tragen, sogar als Sofia ihr für ihre Widerspenstigkeit eine Ohrfeige verpasst. Als sie mit fünfzehn schließlich verheiratet werden soll, macht sie ein Riesentheater wegen des Brautkleids, das Eleonora persönlich in Auftrag gegeben hat, eine traumhaft schöne Kombination von blauer Seide und Goldbrokat. Lucrezia platzt unangekündigt in die Gemächer ihrer Mutter und ruft, sie werde es nicht tragen, auf keinen Fall, es sei ihr zu groß. Eleonora, die an ihrem scrittoio sitzt und gerade einer ihrer liebsten Äbtissinnen schreibt, versucht, Ruhe zu bewahren, und sagt Lucrezia klar und deutlich, das Kleid werde, wie sie wisse, eigens für sie geändert. Doch natürlich geht Lucrezia zu weit. Warum, fragt sie wutentbrannt, müsse sie ein Kleid tragen, das für ihre verstorbene Schwester Maria entworfen worden sei? Sei es nicht schon schlimm genug, dass sie Marias Bräutigam heiraten müsse? Müsse sie wirklich auch noch Marias Kleid tragen? Als Eleonora ihren Stift beiseitelegt, löst sich ihr Geist vom Schreibtisch, geht auf ihre Tochter zu und weiter zurück zu deren Zeugung, erinnert sich daran, wie ihre, Eleonoras, Augen über die Karten früherer Länder geschweift waren, über fremde, wilde Meere voller Drachen und anderer Ungeheuer, gepeitscht von Winden, die Schiffe weit von ihrem Kurs abbringen konnten. Was für einen Fehler hatte sie damals gemacht! Wie oft ist sie davon heimgesucht und wie schwer bestraft worden!

Am anderen Ende des Zimmers sieht Eleonora das tränenüberströmte, kantige Gesicht ihrer Tochter, das sich voll Hoffnung und Erwartung öffnet wie eine Blume. Hier ist meine Mutter, denkt Lucrezia, wie Eleonora weiß, die kann mich vielleicht retten vor dem Kleid, vor der Hochzeit. Vielleicht wird alles gut.

Die historischen Romane von Maggie O'Farrell sind vielfach ausgezeichnet worden und handeln von real existierenden Persönlichkeiten. In ihrem aktuellen Geschichtsepos widmet sie sich dem Haus der Medici und entführt uns ins Florenz der Renaissance. Durch ihre Geschichten lernen wir nicht nur mehr über das Leben im mittelalterlichen Italien, sonder auch über die Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben. Solche Bücher sind eine hervorragende Quelle für historische Informationen und machen neugierig auf mehr!

Blick ins Buch
Im MittelalterIm Mittelalter

Handbuch für Zeitreisende

Nicht berühmte Herrscher, grausame Kriege oder denkwürdige Ereignisse sind das Thema des Historikers Ian Mortimer, sondern der Alltag der Menschen im Mittelalter: Wie feierten sie? Worüber lachten sie? Wie liebten sie? Mortimer beschreibt, wie es in den engen Gassen roch, welche Mahlzeiten sich die Bewohner zubereiteten und wie man sich auch ohne Handy und SMS in Windeseile verständigte. Endlich ein Buch, das zeigt, dass Geschichte nicht nur studiert, sondern auf einer Zeitreise erlebt werden kann!

Vorwort zur deutschen Ausgabe


Wo beginnt sie, diese Reise zurück in die Vergangenheit? In meiner Jugend, so viel ist klar. Schon sehr früh hat man mir den Eindruck vermittelt, dass die Welt sehr viel mehr ist als das „Hier und Jetzt“. Vielleicht lag es an den Antiquitäten, die mich in den Häusern meiner Großeltern umgaben, jenen dunklen Mahagoni- und Eichentönen, die von einem vornehmeren Lebensstil kündeten, als ich ihn von meinem vorstädtischen Südlondoner Heim her kannte. Eher noch lag es wohl an den Geschichten, die mein Vater, seine Schwestern und ihre Eltern erzählten, wenn wir hin und wieder sonntags zusammen am Mittagstisch saßen. Wenn wir von „uns“ sprachen, meinten wir eine jahrhundertealte Familie. Wir unterhielten uns darüber, was „wir“ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert getan hatten, als ob die Familie ein alteingesessenes Unter­nehmen wäre. Und eigentlich war sie das auch: Meine Vorfahren hatten zwischen 1773 und 1932 einen guten Teil des im Südwesten Englands verkauften Tuchs gereinigt und gefärbt. Vor ­allem aber hatte mein persönlicher Zugang zur Vergangenheit etwas mit meinem Namen zu tun: Mortimer. Es ist einer der bekanntesten Namen des englischen Mittelalters.

Die Mortimers kamen kurz nach der normannischen Eroberung in den 1070er-Jahren nach England und stiegen schließlich im 15. Jahrhundert sogar bis zur Thronanwartschaft auf, konnten sich aber nicht durchsetzen. Auf dem Weg dorthin beteiligten sie sich an Revolten gegen den König und dann auch wieder an Missionen, um die Königsfamilie vor Rebellen zu schützen. Einer aus der Familie, Roger Mortimer, verführte die Königin, regierte vier Jahre lang zusammen mit ihr im Namen ihres Sohnes und wurde schließlich von ebenjenem Sohn als Verräter gehängt. Der Vater jenes Mortimer hatte die Soldaten angeführt, die 1282 den letzten unabhängigen Fürsten von Wales töteten. Ein weiteres Mitglied der Familie war zu seiner Zeit ein berühmter Meister im Lanzenstechen. Und diese Liste könnte man beliebig verlängern. Heute bin ich mir ganz sicher, dass sie nicht meine Vorfahren in direkter männlicher Linie sind, aber als Junge fühlte ich mich von ihren faszinierenden Lebensläufen persönlich angesprochen, als ob sie tatsächlich meine Urururgroßväter gewesen wären. Im Stillen dehnte ich jenes „wir“ unserer Familie auf die letzten 900 Jahre aus. Und dabei fiel mir auf, dass „wir“, da im Allgemeinen auf der Verliererseite der Rebellionen stehend, von modernen Historikern gern die Schuld an allen negativen Aspekten der englischen Geschichte des Mittelalters zugeschoben bekamen. Instinktiv nahm ich eine Gegenposition ein und hinterfragte das Fundament historischer Autorität. Man könnte sagen, dass ich schon mit 13 ein Postmodernist war. Allerdings wollte ich mit meinen Fragen nicht nur einfach die herrschende historische Meinung umstürzen wie so viele kritische Denker der 1980er- und 1990er-Jahre; ich wollte mehr – ich wollte mich auf das wahre Leben dieser mittel­alter­lichen Menschen einlassen.

Eine Begebenheit ist mir besonders in Erinnerung geblieben, und ich habe oft gesagt, dass sie der Beginn meines Nachdenkens über das Leben in der Vergangenheit war, das letztendlich zu Im Mittelalter führte. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, besuchten meine leidgeprüften Eltern mit ihren Söhnen Grosmont Castle an der Grenze zwischen England und Wales. Es war die dritte mittelalterliche Burg, die ich an dem Tag zu sehen bekam, und ich war besonders gespannt darauf. An diesem abgelegenen Ort hatte Henry, der Herzog von Lancaster, Cousin von König Edward III. und der wohl größte Heerführer in vielen Schlachten des 14. Jahrhunderts, das Licht der Welt erblickt. Ich saß auf dem Weg dorthin auf dem Rücksitz, stellte mir die große Halle vor, das Feuer auf der Steinplatte in der Mitte, den Tisch auf dem Podium, überladen mit Fleisch für Lady Lancaster, den Priester neben ihr und die hochschwangere Dame, die sich langsam am Tisch niederlässt, während die Diener durch den mit Binsen ausgelegten Raum ­huschen. Doch dann war der hübsche, von Bäumen umstandene Platz ein echter Schock für mich. Ich hatte vergessen, dass die Burg eine Ruine, ein zerklüfteter Steinhaufen ist, der abgebro­chenen Zähnen in einem Kieferknochen ähnelt, offen den Natur­gewalten ausgeliefert. Ich lauschte dem Rauschen des Windes in den Blättern, wo ich doch kurz zuvor noch geglaubt hatte, ich würde Stimmen aus längst vergangener Zeit hören. Als ich dann um die Ruine herum­ging, ließ alles, was ich auf den Informationstafeln über die Menschen, die hier gelebt hatten, las, sie so tot wirken wie Schmetterlinge, die in Reihen in einem Schaukasten im Museum aufgespießt sind.

In dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Schmetterlinge sehen lebendig, herumflatternd am schönsten aus. Und auch die Vergangenheit wirkt lebendig am besten. Allzu oft wird sie als tot und begraben dargestellt, als ein Skelett und nicht als das Gesicht der Vorwelt, das die Menschen damals sahen, mit Gesichtszügen voller Angst und Freude. Trotz meiner jungen Jahre spürte ich, was meinen Geschichtsstunden fehlte. In der Schule sollte ich die Vergangenheit objektiv sehen, mich von ihr distanzieren. Wenn aber die Menschen der Vergangenheit einst gelebt hatten, dann sollte ich doch sicher versuchen, mich in sie hineinzuversetzen, sie wie mich als Wesen mit Sehnsüchten und Bedürfnissen zu sehen, um ihnen näherzukommen.

Heute weiß ich, dass sich die meisten Menschen so sehr vom Mittelalter entfernt haben, dass sie gar nicht mit ihren Vorfahren fühlen können; sie sind einfach zu weit weg. In ihren Augen ­waren diese Vorfahren brutal, primitiv und schmutzig. Wir haben keine Porträts von ihnen wie von den Personen des 16. Jahrhunderts. Wir haben keine persönlichen Briefe oder Artefakte. Ihre Häuser ­haben sich, wenn sie überhaupt noch stehen, bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Menschen heute haben meist nur noch das eine oder andere archetypische Bild im Kopf – Klöster, Burgen und Ritter. Vor ein paar Jahren habe ich einen historischen Roman besprochen, der im 11. Jahrhundert spielte, in dem aber Bettelmönche als Boten fungierten, Soldaten beim Mittagessen ­saßen und eine 30-Jährige als „noch jung“ beschrieben wurde. Mir wurde nachdrücklich bewusst, dass es in unserer Gesellschaft ganz offensichtlich kaum ein echtes Verständnis für unsere ferne Vergangenheit gibt, wenn einem guten Romanautor, der sich, so ist zu vermuten, doch wenigstens einiges an Hintergrundwissen angelesen hat, nicht klar ist, dass es vor Franziskus und Dominikus keine Bettelmönche gab, dass die mittelalterlichen Essenszeiten sich sehr von unseren unterschieden und dass die Hälfte der Menschen mit 22 schon gestorben war. Wenn man die Leute dazu anhalten wollte, sich mit einer Vision der Vergangenheit zu beschäftigen, wie ich sie auf dem Weg nach Grosmont erlebte, brauchten sie vor allem einen guten Führer, ein Handbuch mit all den Dingen, die sie womöglich vermeiden und umgehen wollten, weil sie gefährlich, tödlich oder einfach unappetitlich waren.

Es dauerte lange, bis ich die Idee zu Im Mittelalter dann auch tatsächlich umsetzte. Am 5. Januar 1995 stellte ich den Plan für das Buch erstmals vor und lernte dabei meine zukünftige Frau kennen. Zwölf Jahre später – in denen wir drei Kinder bekamen und ich drei dicke Biografien wichtiger englischer Persönlichkeiten des Mittelalters schrieb – beschloss ich, dass es an der Zeit sei, endlich zur Feder zu greifen.

Diese zwölf Jahre hatte ich auch genutzt, um mir darüber klar zu werden, wie das Buch aussehen sollte. Bald stand fest, dass ein Geschichtsbuch in Form eines Reiseführers sich auf die Fragen konzentrieren sollte, die sich Menschen heute stellen. Was soll ich anziehen? Was bekomme ich zu essen? Wo kann ich unterkommen? Während ein Historiker üblicherweise nach neuem oder bisher nicht hinreichend ausgewertetem Quellenmaterial sucht und dieses nach neuen Informationen über das Leben in früherer Zeit abklopft, stellt ein Reiseführer einfach auf der Grundlage unserer Erfahrungen mit dem heutigen Lebensstil die Frage, wie wir dort leben könnten. Oft führt das zu ganz neuen Perspektiven. In den 1990er-Jahren überlegte ich, wie die Höflinge es wohl geschafft hatten, dass ihr Atem angenehm frisch roch, oder wie sauber ein Haus sein musste, damit die Nachbarn es annehmbar fanden. Es finden sich wenige direkte Quellen für solche Dinge, aber der ­Autor eines solchen Führers kann Indizien sammeln und etwa Rechnungen für Gewürze finden, die man verwendete, um den Mund zu „säubern“, und Hinweise darauf, dass man Kochgeschirr mit Stroh und Pottasche scheuerte oder die Binsen aus der Halle kehrte und frische Kräuter zwischen den neuen Binsen ausstreute. Diese Dinge wiederum führen zu neuen Erkenntnissen, die Historiker traditionell nicht in ihre Bücher aufgenommen haben. Sie bringen uns auch an die Schnittstelle von Geschichtsschreibung und Archäologie: In vielen Fällen stellte ich fest, dass Archäologen Antworten auf Fragen hatten, die Historiker für unter ihrer Würde hielten – zum Beispiel bei allem, was mit dem Verrichten der Notdurft zusammenhing.

Viele deutsche Leser werden sich unwillkürlich fragen: In ­welchem Verhältnis steht das England des 14. Jahrhunderts zum ­Leben unserer eigenen Vorfahren im 14. Jahrhundert? Nun, manche Dinge sind direkt vergleichbar. Das Bild einer Frau (siehe Abb. 6 im Bildteil), die von einem Mann mit einem Prügel geschlagen wird, stammt aus einer deutschen Handschrift, die heute in der British Library aufbewahrt wird. Ihr langes rosafarbenes Gewand ähnelt dem langen rosafarbenen Gewand auf dem Bild daneben sehr, und dieses kommt aus einer englischen Handschrift und zeigt eine Frau, die einen Mann mit ihrem Spinnrocken schlägt. Auch die Kleider und Schuhe der Männer haben einiges gemeinsam. In anderer Hinsicht allerdings unterschied sich das Leben im mittelalterlichen England sehr von dem in Deutschland. England war im 14. Jahrhundert schon eine zentralisierte Nation, die durch Besteuerung Geld in einem Teil des Landes einnahm, um zugunsten der ganzen Nation in einem anderen Teil aktiv zu werden, und deren Könige dem Parlament Rechenschaft schuldig waren. In dieser Hinsicht war das mittelalterliche England ein Vorläufer des modernen europäischen Staates. Das heutige Deutschland dagegen war im 14. Jahrhundert eine Ansammlung vieler kleiner Herzogtümer, Fürstentümer und anderer Staaten, die alle unter der Herrschaft des gewählten Kaisers des Heiligen Römi­schen Reiches standen. Es gab kein vergleichbares Parlament, in dem gewählte Repräsentanten der Städte direkt mit dem Kaiser verhandeln konnten und dem gegenüber dieser verantwortlich war.

Ein weiterer großer Unterschied zwischen Deutschland und England im 14. Jahrhundert war der Urbanisierungsgrad. Wie Sie im ersten Kapitel sehen werden, gab es zu dieser Zeit kaum große Städte in England. Nur London mit seinen etwa 40 000 Einwohnern konnte nach mittelalterlichen europäischen Standards als Großstadt gelten. Und nur zwei weitere englische Städte, York und Bristol, hatten über 10 000 Einwohner. Im Heiligen Römischen Reich gab es Köln, Nürnberg und Lübeck mit jeweils mehr als 25 000 Bürgern und dazu mehrere Städte, deren Einwohnerschaft über 10 000 hinausging: im Rheinland Frankfurt, Mainz, Speyer, Worms, Straßburg und Basel, dann die Hafenstädte Bremen und Hamburg im Norden, Münster, Osnabrück, Magdeburg, Augsburg, Erfurt und Ulm im Binnenland und schließlich die Ostseehäfen Rostock, Wismar und Stralsund. Auch Breslau im heutigen Polen könnte man noch nennen. All diese Orte unterhielten Verbindungen zu den großen Märkten in der Champagne (Lagny-sur-Marne, Bar-sur-Aube, Provins und Troyes) im wirtschaft­lichen Herzen Europas und zu anderen großen europäischen Städten. Auf dem Festland fanden sich Städte mit mehr als 25 000 Einwohnern in Italien (Florenz, Mailand, Genua, Venedig, Padua, Bologna, Verona, Pavia, Lucca, Rom, Neapel und Palermo), auf der Iberischen Halbinsel (Sevilla, Córdoba, Granada, Barcelona, Valen­cia und Lissabon), in Frankreich (Paris, Toulouse, Bordeaux, Rouen und Lyon) und in den Niederlanden (Gent und Brügge). Diese Verbindungen führten zu einer stärker kosmopolitisch geprägten Grundeinstellung in der ganzen Region und wirkten bis in die kleineren Städte hinein, etwa durch eine bessere Verfügbarkeit exotischer Handelswaren als in England. Verglichen mit dem mittelalterlichen Deutschland war der größte Teil Englands wirtschaftliche wie kulturelle Provinz.

Für den Adel, die hohen Geistlichen und die bedeutenden Kaufleute, die zwischen beiden Regionen reisten, war die Kultur allerdings eine einheitlich christliche – in Hinblick auf ihre Rechtgläubigkeit ebenso wie auf ihre Zweifel. Weltliche Ritter kamen zusammen und traten auf Turnieren gegeneinander an, nach ­Regeln, die alle gleichermaßen kannten und akzeptierten. Herrscherfamilien tauschten Bräute untereinander aus; ihre Mitglieder gingen gemeinsam auf Kreuzzüge und bewaffnete Pilgerfahrten nach Osteuropa wie auch in den östlichen Mittelmeerraum. Kirchenleute der ganzen Christenheit trafen sich in den päpstlichen Zentren Rom und Avignon und tauschten Ideen und Neuigkeiten ebenso aus wie religiöse Standpunkte. Die Südeuropäer sahen englische und deutsche Prälaten in einem ähnlichen Licht. Auf dem Konzil von Konstanz 1415, wo der Status Englands als unabhängige kirchliche „Nation“ heiß diskutiert wurde, notierte Kardinal Fillastre in seinem Tagebuch, „die englische Nation sollte wieder der deutschen eingegliedert werden, zu der sie eigentlich gehört und mit der sie direkt verbunden ist“. Auf demselben Konzil wurde Jan Hus aus Prag der Häresie angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt: Er hatte seine Theologie weitgehend von dem Engländer John Wyclif übernommen. In einer Chronik des Konzils beschrieb der Konstanzer Bürger Ulrich von Richental die Ankunft der englischen Lords: Er zählte die Pferde, mit denen die Herren reisten, verzeichnete, wo sie untergebracht wurden, und verwendete ganz offenbar die gleichen hierarchischen Kategorien wie die Engländer selbst. Die mittelalterliche Kultur Europas war enger verwoben und homogener, als wir uns das gemeinhin vorstellen. Fernreisen waren für den normalen Bürger vielleicht schwierig – und für die normale Bürgerin noch schwieriger –, für die Reichen jedoch eine gängige Übung. Unsere moderne Wahrnehmung ist durch das dazwischenliegende Industriezeitalter und unsere Kennt­nis um die deutlichen kulturellen Unterschiede, die damals in ­Europa herrschten, verzerrt. Diese Differenzen erscheinen uns übertrieben groß, weil wir wenig über den internationalen Austausch und unsere gemeinsame kulturelle Prägung vor dem 19. Jahrhundert wissen.

Heute wird (zumindest in der englischsprachigen Welt) viel über den Zweck und die Bedeutung von Geschichte geschrieben. Ob die Beschäftigung mit der Vergangenheit nun als eine Erklärung dafür gerechtfertigt wird, wie die Gesellschaft dorthin gekommen ist, wo sie heute steht, oder als eine Lektion dazu, wie man herrschen soll und wie nicht – jedenfalls präsentieren mehr Historiker denn je zuvor ihre Arbeiten nicht nur als Werke über die Vergangenheit, sondern als Texte, die auch eine Bedeutung für die moderne Gesellschaft haben. Für mich war Im Mittelalter das Buch, mit dessen Hilfe ich entdeckte, warum die Vergangenheit so wichtig ist. Es geht nicht in erster Linie darum, wie man sich im England des 14. Jahrhunderts kleidete oder wie man sprach, nicht einmal darum, was damals wirklich geschah; es geht vielmehr ­darum, wie es ist, überhaupt in jedem beliebigen Jahrhundert zu leben. Es ist ein Versuch, mit unserer eigenen Zeit zurechtzukommen, indem wir uns anschauen, wie die menschliche Erfahrung in anderen Jahrhunderten aussah. Wer würde schließlich der Meinung eines Mannes über sein eigenes Land trauen, wenn der nie irgendein anderes besucht hat und nie überhaupt auch nur darüber nachgedacht hat, wie das Leben wohl außerhalb seines Heimatlandes aussehen mag? Mit der Zeit ist es das Gleiche. Um unser eigenes Jahrhundert richtig zu verstehen, müssen wir wissen, wie man in vergangenen Jahrhunderten lebte. Und in Deutschland wie in England gab uns das 14. Jahrhundert mit dem Schwarzen Tod einen guten Ausgangspunkt.



Einleitung

Willkommen im mittelalterlichen England


Welche Bilder kommen Ihnen bei dem Wort „Mittelalter“ in den Sinn? Ritter und Burgen? Mönche und Klöster? Endlose Wälder, in denen Vogelfreie leben, die sich über die Gesetze der Mächtigen hinwegsetzen? All das sind gängige Vorstellungen, die aber wenig über das Leben der großen Masse der Menschen verraten. Stellen Sie sich vor, Sie könnten in der Zeit reisen: Was würden Sie finden, wenn Sie ins 14. Jahrhundert zurückgingen? Sie stehen an einem Sommermorgen auf einer staubigen Londoner Straße. Ein Diener öffnet einen Fensterladen im Obergeschoss und beginnt, eine Decke auszuklopfen. Ein Hund, der die Packpferde eines Reisenden bewacht, verfällt in lautes Gebell. Die Händler ganz in der Nähe rufen von ihren Marktständen herüber, während zwei Frauen dastehen und plaudern – eine schützt ihre Augen mit der Hand vor der Sonne, die andere hält einen Korb in den Armen. Die Balken der Häuser ragen in die Straße hinein. Gemalte Schilder über den Türen zeigen, was es in den Läden zu kaufen gibt. Plötzlich greift ein Dieb bei den Marktständen nach der Börse eines Kaufmanns, und der rennt laut rufend hinter ihm her. Alle drehen sich nach den beiden um. Und Sie, mitten in diesem Tohuwabohu, wo werden Sie heute Nacht unterkommen? Wie sieht Ihre Kleidung aus? Was werden Sie essen?

Sobald Sie sich vorstellen, dass die Vergangenheit passiert (und nicht schon passiert ist), eröffnet sich ein neuer Weg, Geschichte zu erfassen. Allein schon die Vorstellung, ins Mittelalter zu reisen, erlaubt uns, die Vergangenheit umfassender zu betrachten – mehr über die Probleme zu erfahren, mit denen sich die Engländer ­damals herumschlagen mussten, die kleinen Freuden ihres Lebens, ihre Eigenarten. Wie eine historische Biografie erlaubt uns auch ein Reiseführer in eine vergangene Zeit, die Bewohner als Menschen zu sehen: Es geht nicht um eine Reihe von Kurven, die Schwankungen beim Ernteertrag oder im Haushaltseinkommen zeigen, sondern um die Frage, wie es ist, in einer anderen Zeit zu leben. Sie können eine erste Ahnung davon bekommen, warum Menschen dies oder jenes taten, und sogar, warum sie Dinge glaubten, die wir einfach unglaublich finden. Diese Einsicht können Sie gewinnen, weil Sie wissen, dass diese Leute Menschen wie Sie und ich sind und einige ihrer Reaktionen schlichtweg natürlich. Mithilfe der Vorstellung, ins Mittelalter zu reisen, lernen Sie nicht nur die Realitäten kennen, die diese Menschen prägten, ­sondern auch ihr Wesen, ihre Hoffnungen und Ängste, das Drama ihres Lebens. Traditionell haben Schriftsteller dazu auf die Fiktion zurückgreifen müssen, aber es gibt keinen Grund, warum ein Sachbuchautor sein Material nicht ebenso direkt und teilnehmend präsentieren dürfte. Es nimmt den Fakten nichts von ihrer Gültigkeit, wenn man sie ins Präsens statt ins Präteritum setzt.

In mancher Hinsicht ist diese Idee nicht neu. Jahrzehntelang haben Bauforscher Bilder von Burgen und Klöstern in ihrer Blütezeit geschaffen. Ähnlich haben Museumskuratoren alte Häuser und ihre Ausstattung rekonstruiert und sie mit den Möbeln einer vergangenen Zeit gefüllt. Interessierte Zeitgenossen versuchen in Reenactment-Gruppen mithilfe des kühnen praktischen Experiments herauszufinden, wie es sich wohl in einer anderen Zeit lebte. Sie tragen die Kleidung jener fernen Zeit, kochen in einem Kessel auf dem offenen Feuer oder versuchen in schwerer Rüstung ein Schwert zu schwingen, wie man es damals trug. Sie rufen uns ins Gedächtnis, dass Geschichte weit mehr ist als ein rationaler Lernprozess. Um die Vergangenheit wirklich zu verstehen, braucht man nicht nur Wissen, sondern auch Erfahrung und den tief empfundenen Wunsch, eine spirituelle, emotionale, poetische, dramatische und inspirierende Verbindung zu unseren Vorfahren auf­zubauen. Es geht um unsere persönlichen Reaktionen auf die Herausforderungen eines Lebens in früheren Jahrhunderten und Kulturen und um unser Verständnis davon, was ein Jahrhundert von einem anderen unterscheidet.

Am nächsten kommen Historiker einer solchen Betrachtung der Geschichte aus erster Hand mithilfe der „virtuellen Geschichte“ und ihrer Frage „Was wäre gewesen, wenn …?“. Sie überlegen, was geschehen wäre, wenn sich die Dinge anders ent­wickelt hätten. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn Hitler 1940 Großbritannien überfallen hätte? Was, wenn die Spanische Armada Erfolg gehabt hätte? Solchen Spekulationen wird natürlich immer entgegengehalten, dass diese Dinge eben nicht geschehen sind (und es deshalb auch keinen Grund gibt, darüber nachzu­denken), aber sie haben den großen Vorzug, den Leser direkt zu einem bestimmten Zeitpunkt zu entführen und Ereignisse so zu präsentieren, als spielten sie sich gerade ab. Das kann der Darstellung eine starke Unmittelbarkeit verleihen. Versetzen Sie sich in die Lage des Herzogs von Wellington bei Waterloo oder Nelsons bei Trafalgar: Beide wussten nur zu gut, was im Fall einer Niederlage auf sie zukam – genau wie ihre politischen Herren in England. Sie dachten ganz sicher über eine Vergangenheit nach, die dann nicht stattfand; so bringt uns die Rekonstruktion dessen, was andernfalls passiert wäre, den Entscheidungsträgern näher.

Stellen Sie sich nur einmal vor, dass die Engländer einige – vielleicht viele – Jahre länger die Tyrannenherrschaft Richards II. hätten ertragen müssen, wenn Henry IV. nicht 1399 nach England zurückgekehrt wäre, um ihn abzusetzen. Das hätte wahrscheinlich zur Vernichtung der Lancaster-Dynastie und all ihrer Unterstützer geführt. Im Frühjahr 1399 war diese Aussicht das Politikum schlechthin und einer der Gründe, die Henry dann wirklich zur Rückkehr bewegten. Und sie sorgte dafür, dass er so viele Unterstützer fand. So gesehen ist klar, dass es für ein angemessenes Verständnis der Vergangenheit entscheidend ist, Ereignisse als tatsächlich stattfindend zu sehen, selbst wenn man über die Folgen heute ebenso spekulieren muss wie damals.

Virtuelle Geschichte, wie ich sie oben beschrieben habe, ist nur für das Verständnis politischer Ereignisse von Nutzen. Für die Sozial­geschichte bringt sie relativ wenig. Wir können nicht gewinnbringend darüber spekulieren, was zum Beispiel wohl passiert wäre, wenn der Schwarze Tod nicht nach Europa gekommen wäre; es ging dabei nicht um eine bewusste Entscheidung. Doch wie die Rekonstruktionen typischer mittelalterlicher Häuser geben uns auch virtuelle Zeitreisen ein klareres, vollständigeres Bild vom ­Leben in einer anderen Zeit. Vor allem ergeben sich so viele Fragen, auf die wir vorher gar nicht gekommen sind und auf die es nicht unbedingt einfache Antworten gibt. Wie grüßen sich die Menschen im Mittelalter? Worüber lachen sie? Wie weit reisen sie? Geschichte aus dem Blickwinkel unserer eigenen Neugier ­heraus zu schreiben zwingt uns, eine ganze Reihe Fragen zu behandeln, die die traditionellen Geschichtsbücher eher außen vor lassen.

Das mittelalterliche England ist ein kaum überschaubares Ziel für den historischen Reisenden. In den vier Jahrhunderten zwischen der normannischen Eroberung und der Erfindung des Buchdrucks wandelt sich die Gesellschaft gewaltig. Ein normannischer Ritter würde sich bei den Vorbereitungen für eine Schlacht des späten 14. Jahrhunderts ebenso fehl am Platze fühlen wie ein Premierminister des 18. Jahrhunderts in einem Wahlkampf unserer Zeit. Deshalb konzentriert sich dieser Reiseführer auf nur ein Jahrhundert, das 14. Diese Zeit kommt der allgemeinen Vorstellung vom „Mittelalter“ mit seinem Rittertum, den Turnieren, der Etikette, Kunst und Architektur wohl am nächsten. Man könnte sie geradezu als den Inbegriff des Mittelalters sehen – sie hat Bürgerkriege, Schlachten gegen die Nachbarländer Schottland und Frankreich, Belagerungen, Geächtete, Mönchtum, Kathedralenbau, Wanderprediger, Flagellanten, Hungersnöte, den letzten Kreuz­zug, den großen Bauernaufstand der sogenannten Peasants’ Revolt und (vor allen anderen Dingen) den Schwarzen Tod zu bieten.

Nachdem ich nun betont habe, dass der Schwerpunkt dieses Buchs auf dem England des 14. Jahrhunderts liegt, muss ich das wieder ein bisschen einschränken. Man kann nicht alle Details der Zeit auf der Grundlage von Belegen aus dem 14. Jahrhundert abdecken; manchmal sind die Zeitdokumente enttäuschend unvollständig. Auch können wir nicht immer sicher sein, dass man 1320 etwas genauso machte wie 1390. In manchen Fällen wissen wir ­sicher, dass sich die Dinge dramatisch änderten: Die ganze Art, Kriege zu führen, wandelte sich im Lauf dieses Jahrhunderts, ebenso wie die Seuchenlage mit der katastrophalen Ankunft der Pest im Jahr 1348. So wurden, wo nötig, Einzelheiten aus dem 15. Jahrhundert herangezogen, um Entwicklungen des ausgehenden 14. Jahrhunderts zu beschreiben, und das 13. Jahrhundert hilft uns, Rückschlüsse auf die erste Hälfte unseres Beobachtungszeitraums zu ziehen. Dieses Verwischen der Zeitgrenzen ist nur nötig, wo es um sehr schwierige Fragen geht. So haben wir zum Beispiel relativ wenige Quellen zu Höflichkeit und Benimmregeln im 14. Jahrhundert, aber verschiedene sehr gute zum frühen 15. Jahrhundert. Da sich gutes Benehmen wohl kaum über Nacht entwickelt hat, habe ich die späteren Belege benutzt, weil sie die umfassendsten und genauesten sind, die uns zur Verfügung stehen.

Für dieses Buch habe ich die verschiedensten Quellentypen heran­gezogen. Natürlich sind zeitgenössische Primärquellen von entscheidender Bedeutung. Dazu zählen unveröffentlichte wie veröffentlichte Chroniken, Briefe, Haushaltsbücher, Gedichte und Ratgeberliteratur. Buchmalereien zeigen das Alltagsleben, das die Texte oft nicht beschreiben: etwa ob Frauen im Damensitz ritten oder nicht. In den erhaltenen Bauten des 14. Jahrhunderts steht uns in England ein reicher Schatz an architektonischen Belegen zur Verfügung – Häuser ebenso wie Burgen, Kirchen und Klöster –, und die ständig wachsende Literatur über sie liefert zusätz­liche Informationen. In manchen Fällen haben wir Dokumente, die den architektonischen Befund ergänzen, wie etwa Baurechnungen und Prüfungsunterlagen. Es gibt eine wachsende Zahl archäo­logischer Funde, von ausgegrabenen Werkzeugen, Schuhen und Kleidungsstücken bis hin zu den Kernen von Beeren aus mittelalterlichen Latrinen und Fischgräten aus den Feuchtböden alter Teiche. Und wir haben eine Fülle eher typischer archäologischer Artefakte wie Münzen, Keramik und Gegenstände aus Eisen. Ein gutes Museum kann Ihnen ein genaues Bild vom Leben im Mittelalter vermitteln, dem nur durch Ihre eigene Neugier und Vorstellungskraft Grenzen gesetzt sind.

Vor allem aber muss gesagt werden, dass die beste Evidenz für die Frage, wie es war, im 14. Jahrhundert zu leben, eine bewusste Wahrnehmung des Lebens in irgendeiner Zeit ist, und das schließt das Heute ein. Unser einziger Kontext für die Interpretation all der historischen Daten und Fakten, die wir je sammeln können, ist unsere eigene Lebenserfahrung. Wir essen vielleicht anderes, sind größer und leben länger, halten Turniere für unglaublich gefährlich und jedenfalls nicht für simple Sportveranstaltungen, aber wir wissen, was Trauer ist, was Liebe, Furcht, Schmerz, Ehrgeiz, Feindschaft und Hunger bedeuten. Wir sollten immer daran denken, dass das, was wir mit der Vergangenheit gemein haben, ebenso wichtig, real und wesentlich für unser Leben ist wie jene Dinge, in denen wir uns unterscheiden. Stellen Sie sich eine Gruppe Historiker in 700 Jahren vor, die versuchen, ihren Zeitgenossen zu er­klären, wie es war, im frühen 21. Jahrhundert zu leben. Vielleicht haben sie ein paar Bücher, auf die sie sich stützen können, ein paar Fotos, vielleicht digitalisierte Filme, die Überreste unserer Häuser und die eine oder andere kommunale Müllkippe, doch vor allem werden sie sich auf die Frage konzentrieren, was es heißt, Mensch zu sein. W. H. Auden hat einmal gesagt, dass man in wenigstens zwei anderen Ländern gelebt haben muss, um sein eigenes Land zu verstehen. Ähnliches kann man von Epochen sagen: Um das eigene Jahrhundert zu verstehen, muss man sich in wenigstens zwei anderen auskennen. Der Schlüssel, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren, mag ein verfallenes Gebäude oder ein ­Archiv sein, doch das Instrument, mit dem wir sie zu erschließen suchen, sind wir selbst – und das wird immer so bleiben.

Frisuren und Haarschmuck im Mittelalter

Ian Mortimer erklärt für „Zeitreisende“ ins Mittelalter wie die richtige Frisur aussah

Ohne die entsprechende Kopfbedeckung aber ist der mittelalterliche weibliche „Look“ nicht vollständig. Und den Kopfputz kann man nicht ohne die Frisuren beschreiben. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts war der wohl beliebteste adlige Frisurenstil das „Widderhorn“. Das lange Haar (alle adligen Frauen tragen ihr Haar lang) wird in der Mitte geteilt ; jede Seite wird zu einem einzelnen langen Zopf geflochten, und der wird dann zu einer Art Dutt oder Schnecke über dem Ohr aufwickelt und mit einer Haarnadel dort befestigt. Wenn Sie verheiratet sind, tragen Sie einen Reif, eine Haube, einen Hut oder Schleier darüber und befestigen Ihre „Rise“, das Tuch, das unter dem Kinn drapiert wird und den Hals bedeckt, an beiden Seiten. Im Jahr 1300 reicht Ihre Cotte bis zum Boden, und die Ärmel sind so lang, dass sie über die Fingerknöchel fallen. Oft sind von Frauen nur das Gesicht und die Finger zu sehen.

Unter Edward III. ändert sich alles. Auffällig ist vor allem die Technik, die beiden Zöpfe zu nehmen und sie an den Schläfen hoch und wieder hinunter zu führen, sodass sie Säulen aus geflochtenem Haar bilden, die das Gesicht einrahmen. Oft sind diese aufwendig mit goldener Gaze durchwirkt – so trägt Königin Philippa ihr Haar in den 1360ern gern. Ihre Zeitgenossin, die Countess of Warwick, hat ihr Haar ähnlich frisieren lassen; doch statt der steifen goldenen Säulen, die das Gesicht umrahmen, hat sie die beiden geflochtenen Säulen über dem Kopf zusammenlaufen lassen und sie dann mit einem goldenen Netzgitter umhüllt. Das Ergebnis ist ein eindrucksvoller Bogen aus goldenem Haar rund um ihr Gesicht. Diese aufwendigen Frisuren brauchen Stunden.

Die meisten adligen Damen geben sich mit schlichten langen Zöpfen oder einer Variation des Widderhornstils zufrieden; dazu kommen ein Reif oder ein Diadem und eine Rise (wenn sie verheiratet sind). Anne von Böhmen, die Ehefrau Richards II., bevorzugt einen einzigen langen Zopf, der den Rücken hinabfällt.

Unverheiratete Mädchen schmücken sich mit Edelsteinen im Haar – oft mit künstlichen Blumen aus Gold und Juwelen – oder mit pelzbesetzten Kapuzen. Es ist für adlige Damen höchst unüblich, in der Öffentlichkeit mit langem, frei fallendem Haar aufzutreten.

Selbst wenn es einfach unter eine Haube gesteckt wird – es wird bedeckt. Im Jahrhundert zuvor und auch im nächsten ist es durchaus üblich, dass die Frauen ihr Haar offen tragen, doch im 14. Jahrhundert tun zumindest Adlige das nur in der Abgeschiedenheit ihrer Wohngemächer. Langes, offenes Haar gilt allgemein als verführerisch und wird deshalb wie auch nackte Arme und Beine versteckt, um Unschicklichkeit zu vermeiden. Nur zügellose und liederliche Frauen wagen sich mit offenem und unfrisiertem Haar nach draußen.

Warum es sich lohnt, in die mittelalterliche Zeit zu reisen

Historische Romane lassen uns teilhaben am mittelalterlichen Leben und an den Freuden der Menschen in vergangenen Zeiten. Durch die Augen der Figuren erleben wir ihre Sorgen und Nöte, ihre Ängste und Hoffenen. Man lernt aber auch Spannendes über die wichtigsten Ereignisse der damaligen Zeit und entdeckt, wie sich die Gesellschaft in dieser Epoche entwickelt hat.

Ein guter historischer Roman ist aber mehr als eine Geschichte - es auch immer ein Spiegel unserer eigenen Gegenwart und kann andere Perspektiven und neue Wege auf unsere Herausforderungen eröffnen.

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Kommentare

1. Großartig geschrieben!
Rita Winter am 06.02.2022

„Krone des Himmels „ dieser großartig geschriebene Roman hat mich bis zum Ende gefesselt. Die Historie ist sehr gut recherchiert. Ich habe jede Seite lesend genossen.

2. So ein wunderbares Buch
Miriam am 06.08.2022

So ein wunderbares Buch! Es liest sich so wunderbar geschmeidig und frisch! Während des Lesens war ich ganz aufgeregt, weil es mich so sehr erfreute es zu lesen. Es ist nicht leicht gut geschriebene historische Bücher von deutschen Autorinnen zu finden. Dieses Buch und Juliane Stadler ist für mich ein wahres Glück! Ich freue mich schon jetzt auf das nächste Buch! Rebecca Gablé bekommt echte Konkurrenz...

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