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Streifzüge durch die Nacht

Streifzüge durch die Nacht

Dirk Liesemer
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Wie ich unsere Heimat neu entdeckte

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Streifzüge durch die Nacht — Inhalt

Zwischen Abenddämmerung und Morgenrot

Weshalb ist die Nacht seit jeher eine Projektionsfläche unserer Ängste und Wünsche, für Märchen und Geschichten? Und warum zieht uns die Dunkelheit so magisch an? Dirk Liesemer wagt sich ein Jahr lang immer wieder in die Einsamkeit der Nacht. Er erkundet das Westhavelland, die dunkelste Region Deutschlands, ebenso wie das Ruhrgebiet, eine der hellsten Gegenden Europas. Er verfolgt die Weißen Nächte auf Usedom, wandert zu später Stunde während des Opernballs durch Wien und besteigt in der Schweiz einen Berg, um die Schwärze der Nacht kennenzulernen. Dabei trifft er Märchensammler und Astronomen, Jäger, Esoteriker und Vogelkundler – und berichtet über Lichtverschmutzung, den Tanz der Glühwürmchen und die Stille unter dem Sternenhimmel.

€ 14,99 [D], € 14,99 [A]
Erschienen am 06.07.2020
272 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99638-9
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Leseprobe zu „Streifzüge durch die Nacht“

BEVOR ICH MICH AUFMACHTE
Früher, in meiner Kindheit, wenn ich spätabends auf der Wiese vor unserem Haus stand und zum Himmel emporschaute, funkelte und blinkte es überall magisch wie zu Anbeginn der Zeit. Ich wusste, wo der Polarstern leuchtet, wo Orion und Kassiopeia zu finden sind, welche Mondphase als nächste kommen würde und dass sich alles über einem dreht, wenn man nur lange genug das Firmament betrachtet. Der Blick ins dunkle Universum weckte meine Fantasie. Alles war so weit, so schwarz, so offen. Ich liebte die Stille und die Weite des [...]

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BEVOR ICH MICH AUFMACHTE
Früher, in meiner Kindheit, wenn ich spätabends auf der Wiese vor unserem Haus stand und zum Himmel emporschaute, funkelte und blinkte es überall magisch wie zu Anbeginn der Zeit. Ich wusste, wo der Polarstern leuchtet, wo Orion und Kassiopeia zu finden sind, welche Mondphase als nächste kommen würde und dass sich alles über einem dreht, wenn man nur lange genug das Firmament betrachtet. Der Blick ins dunkle Universum weckte meine Fantasie. Alles war so weit, so schwarz, so offen. Ich liebte die Stille und die Weite des funkelnden Nachthimmels, aber fühlte mich im Angesicht des Weltraums auch verdammt klein.
Ich fürchtete mich zugleich vor der Nacht. Direkt hinter unserem Haus begann ein dichter großer Wald aus Fichten und Tannen. Nachts knackten dort Äste, es raschelte im Laub, Füchse und Rehe trieben sich im Gehölz umher, vermutlich auch Wildschweine. Allein wagte ich mich nicht allzu weit in diese unbekannte, finstere Welt hinein. Ich hatte nicht unbedingt Angst, aber doch allerlei wilde Vermutungen und Hirngespinste, was mir dort widerfahren könnte. Zumal wir Kinder im Wald einmal eine rostige Bärenfalle entdeckt hatten.
Diese Dinge fielen mir wieder ein, als ich mich vor einigen Jahren, mit Ende dreißig, für ein Abenteuermagazin zu einer Nachtwanderung ins Havelland aufmachte. Es war kein in einer Redaktion ausgeheckter Auftrag gewesen, sondern ging auf einen Vorschlag von mir zurück. Nachts im Havelland bemerkte ich schon in der späten Dämmerung, wie sehr ich die Nacht im wahrsten Sinne des Wortes aus den Augen verloren hatte. Dabei machen die dunklen Stunden immerhin die Hälfte eines vollen Tages aus. Im Grunde hatte ich keine Ahnung mehr, wie man sich im Dunkeln orientiert, was um einen herum so alles passiert und welche Tiere welche Geräusche von sich geben. Ich tapste eher hilflos durch die Gegend und fühlte bedrückt, dass ich mich von der Nacht entfremdet hatte.
Je dunkler es an jenem Abend im Havelland wurde, desto deutlicher spürte ich allerdings auch ein angenehmes, elektrisierendes Kribbeln im Körper: Ich war unterwegs, ich war draußen, ich erlebte etwas Neues und fühlte mich dabei ganz wach – denn ich tat gerade etwas, was ich sehr lange nicht mehr gemacht hatte. Es war ein wenig wie ein erstes Mal. Es hatte wieder den Hauch des Besonderen. So betrat ich also eine weithin unbekannte, in Vergessenheit geratene Welt: das Reich der Dunkelheit. Dass ich von dieser Welt so viel vergessen hatte, empfand ich dabei allmählich immer mehr als eine ideale Voraussetzung, mich ausführlicher mit ihr zu beschäftigen. Zumal ich bald erfuhr, wie gefährdet die Dunkelheit mittlerweile ist – nicht nur in Mitteleuropa.
Man kann diese Art der Themenfindung als zufällig begreifen. Mir gefällt ein anderes Wort besser: Serendipity oder auch Serendiptität. Man streunt umher, folgt der Nase, hält die Augen auf und stößt irgendwann so absichtslos wie zufällig auf dieses oder jenes Thema, von dem man zuvor gar nicht wusste, dass es existiert und einen fesseln könnte. Manchmal beginnt dann eine Geschichte mit einem Wort, einem Gedanken, einer Empfindung oder einer Beobachtung. Mit irgendeinem unscheinbaren Fundstück also, das man am Weg aufliest und so lange im Kopf hin und her wendet, bis daraus mehr wird, eine Idee und schließlich eine Art Konzept.
Zurück am Schreibtisch, begann ich zu recherchieren und mich zu erinnern, um die Facetten der Nacht genauer zu erfassen. Ich bin am Rande eines Dorfes im Eggegebirge in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen, wo abends die Straßenlaternen ausgingen und erst früh am nächsten Morgen wieder zu leuchten begannen. Dazwischen herrschte Finsternis. Später ging es fürs Studium in große Städte. Einen wirklich prächtigen Sternenhimmel habe ich dort seither nie erlebt und – wie mir jetzt klar wird – seltsamerweise auch nie vermisst. Dass man noch vor gut hundert Jahren auch über den Metropolen die Milchstraße erkennen konnte, sollte ich erst während meiner Streifzüge für dieses Buch erfahren.
Denkt man als Städter ans Nachtleben, fallen einem beleuchtete Straßenzeilen ein, Kneipen, Cocktailbars und Diskotheken. Die Nacht spielt sich hier nicht über einem, sondern um einem herum ab. Sie reißt einen eher mit, als dass sie einen staunen ließe. Über unseren Städten sind heutzutage höchstens eine Handvoll Sterne auszumachen. In der Regel ist das Firmament trübe, und das Universum entzieht sich dem Blick. Dass die Erde nur eine kleine Kugel in einer grenzenlosen Weite sein könnte, dieser Gedanke kam mir als Kind auf dem Dorf, aber während meiner Jahrzehnte in Großstädten höchst selten. Trotzdem erstaunte mich eine Umfrage, der zufolge nur die wenigsten Jugendlichen wissen, wo sich am Nachthimmel die Milchstraße befindet. Vermutlich ahnen viele nicht, dass man den schmalen Streifen voller Sterne als Milchstraße bezeichnet. Oder sie haben ihn tatsächlich noch nie gesehen, was traurig wäre.
Je mehr ich recherchierte, desto klarer wurde mir, wie sehr uns Menschen die Nacht abhandengekommen ist. Seit der Erfindung der Glühbirne im achtzehnten Jahrhundert wird die Dunkelheit systematisch aus den Straßen, Hinterhöfen und allen schattigen Ecken vertrieben. Allein in Deutschland sollen nachts acht Millionen Straßenlaternen leuchten, in der Schweiz ungefähr siebenhunderttausend, ebenso in Österreich, auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, sondern nur grobe Schätzungen. In allen drei Ländern kommt damit etwa eine Straßenleuchte auf zehn bis elf Menschen. Daneben existieren zahllose illuminierte Denkmäler, Gewerbegebiete, Bahnhöfe und Flughäfen. Vom Orbit aus betrachtet strahlen vor allem das Ruhrgebiet, die Rhein-Main-Ebene und Metropolen wie Berlin, Zürich und Wien. Einzig in den Hochalpen und im Nordosten Deutschlands herrscht bis heute tiefe Dunkelheit. Nicht nur im Zentrum Europas (hier besonders in den Beneluxländern und im Norden Italiens), sondern auch vielerorts in den Vereinigten Staaten, in Brasilien, Indien, China, Japan und Südostasien wird die Nacht von Jahr zu Jahr immer heller, wie auf Satellitenfotos zu erkennen ist. Sollten Außerirdische unseren Planeten aus großer Ferne beobachten, würde ihnen auffallen, wie die Erde mit jeder Umkreisung um die Sonne an künstlicher Strahlkraft gewinnt.
Unser Planet leuchtet immer mehr wie eine riesige Glühbirne. Unablässig und in nahezu allen Weltgegenden. Er ist längst dabei, seinen Herzschlag zu verlieren, der seit jeher zwischen Hell und Dunkel pulsierte, als müsste es immer so sein. Aber dieses Herz hört nicht etwa auf zu schlagen. Es sieht eher so aus, als wäre ein Schrittmacher implantiert worden, der ständig Energie freisetzt, um alle menschliche Aktivität voranzutreiben. Licht und Finsternis stehen sich längst nicht mehr – wie in den Schöpfungsmythen dargelegt – als zwei gegensätzliche Pole gegenüber. Die Grenzen zwischen Tag und Nacht zerfließen zusehends. Während es tagsüber wie gewohnt sonnenhell ist, herrscht nachts vielerorts eine mal mehr, mal weniger grelle Dauerdämmerung.
Mit der Ausleuchtung unserer Welt sind wir zu Augenmenschen geworden. Es mag etwas weit hergeholt klingen, aber während ich draußen durch die Nacht lief, kam mir zuweilen der Gedanke, dass sich unser nahezu blindes Vertrauen auf die Augen auf die menschliche Sinnsuche ausgewirkt haben könnte. Was soll man vom Unsichtbaren und Jenseitigen halten, wenn alles im Lichte strahlt? Welche letzten Fragen bleiben? Weitverbreitet ist schließlich das Argument, dass man nur an das glaubt, was man auch sieht. Manchmal fragte ich mich auch, ob es nur ein historischer Zufall war, dass die technische Ausleuchtung der Welt und die philosophische Aufklärung nahezu zeitgleich stattfanden. Ich denke nein.
Man muss die Nacht nicht gleich als die letzte große Terra incognita bezeichnen. Doch fremd und unheimlich ist sie uns nicht nur heute, sondern war es auch schon in vergangenen Zeiten. Man muss nur einmal Märchen und Sagen lesen. Im Dunkeln verlieren wir nicht nur schneller die Orientierung, wir spinnen uns auch allerlei seltsame Fantasien zurecht. Manche Menschen fürchten sich schon davor, nachts auch nur hundert Meter allein durch ein Waldstück zu gehen. Ein Naturpädagoge erzählte mir einmal, dass er mit seinen Studenten regelmäßig Experimente durchführt. Nicht wenigen falle es bereits schwer, bei einer gemeinsamen Wanderung eine halbe Stunde lang zu schweigen. Sie ertrügen die Stille und Einsamkeit nicht. Existenziell bedrohlich fühle es sich für sie an, wenn sie im Dunkeln allein durch ein kurzes Waldstück laufen sollen. Sogar wenn klar zu erkennen sei, dass jenseits der Passage eine vertraute Person auf sie wartet, könnten sich manche nicht überwinden.
So sehr sind wir nachts von der Möglichkeit eines Verbrechens überzeugt, dass in der Dunkelheit niemand gern jemanden hinter sich her laufen hört. Wir alle haben dunkle Vorahnungen, was in der Nacht passieren könnte: ein Angriff aus dem Nichts, ein Überfall oder Schlimmeres. Allabendlich werden diese Urängste im Fernsehen durchgespielt. Pünktlich mit der Dämmerung beginnen die Krimis, gefolgt von Horrorfilmen. Immer geht es um die sprichwörtlichen Schattenseiten der menschlichen Existenz. Niemand schaut sich tagsüber solche Filme an. Man müsste das Zimmer abdunkeln, um eine halbwegs schummrige und angemessene Atmosphäre zu schaffen. Während wir positive Begriffe mit Helligkeit verbinden, wird Negatives mit Dunkelheit assoziiert: Jemand ist erleuchtet, jemand anderes umnachtet. Der eine hat ein sonniges Gemüt und einen klaren Verstand, der andere macht eine düstere Miene und ist nicht gerade der Hellste.
Doch wie erkundet man die Nacht? Jene Zeit des Tages also, die uns allen vertraut ist, die wir meist verschlafen und nur selten bewusst wahrnehmen. Anfangs wollte ich eine Wandertour von Hamburg nach Wien unternehmen. Ich wäre ausschließlich nachts gelaufen und hätte mich tagsüber ausgeruht. Vorzugsweise im Frühling oder Herbst, wenn die Nächte lang genug und nicht zu kalt sind. Aber dann hätte ich die Nacht nur zu einer Jahreszeit erlebt und auch viele Regionen und Orte jenseits meines Weges auslassen müssen. Die Nacht, so viel war klar, offenbart sich jedes Mal anders: Je nach Jahreszeit, Mondphase, Wetter, Vegetation und Umgebung erscheint sie mal heller oder dunkler, wärmer oder kühler, feuchter oder trockener. Mal von Sternen übersät, mal von Wolken verhangen, mal in künstliches Licht getaucht. Wie wirken sich all diese Unterschiede auf Menschen, Tiere und Pflanzen aus, auf die inneren Uhren und den Rhythmus des Lebens? Ich wollte es herausfinden.
Statt einer einzigen langen Tour markierte ich auf einer Karte möglichst unterschiedliche Regionen in Deutschland, der Schweiz und Österreich, darunter die Insel Amrum, die Ostseeküste, das Ruhrgebiet, das Erzgebirge, den Schwarzwald, die Silenerberge im Kanton Uri und das Karwendel. Es würde am Meer entlanggehen, an einem Fluss, durch moorige und bergige Landschaften, durch illuminierte Metropolen wie Berlin, Zürich und Wien, an abgelegenen Dörfern vorbei und hinein in finstere Wälder. Es sollte also keine große, zusammenhängende Wanderung werden. Ich wollte stattdessen viele einzelne Streifzüge unternehmen. Mal hier, mal dort, verbunden nur durch das Thema Nacht, geordnet nach dem, was mich als jeweils Nächstes interessierte.
Vor meinem ersten Streifzug war ich nicht frei von Befürchtungen. Alle, denen ich von meinem Vorhaben erzählte, brachten weitere Ängste ins Spiel. Und es kursieren erstaunlich viele. Ich schaute mir zwar keine Verbrechensstatistiken an, aber ich informierte mich über wilde Tiere und erfuhr, dass Wölfe grundsätzlich scheue Tiere sind. Hin und wieder reißen sie zwar Schafe und geraten dabei in einen Blutrausch, aber seit ihrer Wiederansiedlung ist hierzulande noch kein Mensch attackiert worden. Als aufrecht gehende Zweibeiner, heißt es, zählen wir nicht zu ihrer Beute. Allerdings gibt es historische Berichte von Angriffen, die in Kirchenchroniken des achtzehnten Jahrhunderts verzeichnet sind. Derartige Attacken gelten jedoch als absolute Ausnahmen, die nur in Hungerwintern stattfanden. Ich beschloss, mich nicht vor Wölfen zu fürchten. Viel gefährlicher sind ohnehin Zecken und Wildschweine, Letztere vor allem im Frühling, wenn sie Junge zur Welt gebracht haben. Sollte ich ihren Weg kreuzen und mich falsch verhalten, könnte ein Angriff höchst brisant bis tödlich verlaufen.
Gegen die von Zecken übertragenen Krankheiten ließ ich mich impfen, gegen die Wildschweine besorgte ich mir Pfefferspray, das mir jedoch kein Gefühl von Sicherheit vermittelte und alsbald in einem Schrank verschwand. Es hätte mir vermutlich ohnehin nicht viel geholfen. Überhaupt schleppte ich stets nur wenig in meinem Rucksack mit mir herum, etwas zu trinken und zu essen, meine Kamera samt Stativ und ein Diktiergerät. Eine Stirnlampe wollte ich nur im Notfall verwenden. Schließlich ging es in diesem Jahr darum, die Dunkelheit zu erkunden und dabei zu lernen, sich auch wieder mithilfe der Ohren, der Nase und des Tastsinnes zurechtzufinden.
Wie also sieht die Nacht aus, wie orientiert man sich, und wie ergeht es einem, wenn man nichts mehr oder nur sehr wenig erkennt? Ich versuchte, mich an meine Kindheit zu erinnern, aber sie war ja schon so lange her. Wie ein Analphabet musste ich alles wieder von Neuem lernen.


Winternächte
Meteorologischer Winter
1. Dezember bis Ende Februar
Astronomischer Winter
Von der Wintersonnenwende (21. oder 22. Dezember)
bis zur Frühlings-Tagundnachtgleiche (19., 20. oder 21. März)
Länge des Winters
89 Tage/Nächte auf der Nordhalbkugel
Wien
Sonnenuntergang 21. Dezember: 16:02 Uhr
Sonnenaufgang 22. Dezember: 7:42 Uhr

Berlin
Sonnenuntergang 21. Dezember: 15:54 Uhr
Sonnenaufgang 22. Dezember: 8:15 Uhr

Bern
Sonnenuntergang 21. Dezember: 16:43 Uhr
Sonnenaufgang 22. Dezember: 8:13 Uhr

Quelle: timeanddate.de
Wintersternbilder
Orion
Zwillinge
Fuhrmann
Stier
Sternschnuppen
Quadrantiden
28. Dezember bis 12. Januar
Höhepunkt am 4. Januar

Es war Advent, als ich aufbrach, mich in einen Zug setzte und durch eine verschneite Landschaft ins Allgäu fuhr. Meine ersten Streifzüge wollte ich auf mich zukommen lassen, ich wollte schauen, was passiert, und dabei erkunden, wie sich im Verlaufe der Dämmerung die Ohren und die Augen und alle anderen Sinne an die Nacht anpassen. Dass es im Dunkeln aber keineswegs nur ums Beobachten geht, sondern um viel persönlichere Erfahrungen, lernte ich rasch. So sammelte ich anfangs vor allem Eindrücke und gewann Orientierung: ob nun auf einer Sonnenwendfeier oder nachts entlang der Isar, ob während eisiger Stunden im Karwendel, am Stephansdom in Wien oder am Ende des Winters im sagenhaften „Finsterwald“ im Osten Deutschlands. Schritt für Schritt ging es hinein ins Dunkel.


HINAUS IN DIE ABENDDÄMMERUNG
Fünfzehn Stunden Nacht lagen vor mir. Gerade eben, um ungefähr siebzehn Uhr, war die Sonne untergegangen, erst um kurz nach acht würde sie morgen früh wieder aufgehen. Was sollte ich nur so lange draußen treiben? Es war ein früher Abend kurz vor Weihnachten, als ich meine Herberge in Füssen verließ und hinaus in die Dämmerung des Allgäus wanderte. Ich spazierte an Kneipen und Gaststätten vorbei und blickte auf die Öffnungszeiten. Unmöglich, dort zu später Stunde einzukehren, um sich aufzuwärmen oder gar mit der Bedienung bis zum nächsten Morgen über die Nacht zu philosophieren. Eine Wanderung am Lech, die ich zunächst vorgehabt hatte, ließ sich nicht umsetzen, weil irgendwo ein Teil eines Hanges abgerutscht war.
So lief ich aus Füssen hinaus, ohne eine große Idee zu verfolgen. Ich wollte nur schauen und beobachten. Um mich herum waren Felder und Bäume schneebedeckt, darüber leuchtete im Westen ein oranger Lichtstreif entlang des Horizonts, das Firmament in eisigem Mattweiß. Hinter mir, im Osten, färbte sich der Himmel derweil in ein tiefes Blau. Allmählich flutete von dort die Nacht heran.
Ich überquerte eine Brücke und folgte einem ausgetretenen Pfad hinunter zum Lech. Unter meinen Wanderschuhen splitterte verharschter Schnee, was eine Handvoll Enten aufschreckte, die auf einer Eisfläche am Ufer gehockt hatten. Lautlos glitten sie ins Wasser und flüchteten auf den still dahinfließenden Fluss. Ich blieb stehen, verharrte eine Weile und blickte über das Gewässer zurück zur Stadt. Noch immer strahlten dort weder Laternen noch Straßenlampen. Ich hatte mir eine weihnachtliche Szenerie mit allerlei farbigem Schmuck vorgestellt, aber es existierte hier fast keine Inszenierung. Füssen versank unbeleuchtet und unscheinbar in der Dämmerung, was ich denn auch sympathischer fand. So wandte ich mich von der Stadt ab, drehte mich, ohne weiter nachzudenken, zum letzten Abendlicht und realisierte erstmals, dass man offenbar immer eher in Richtung einer Lichtquelle blickt als dorthin, wo sich die Dunkelheit ausbreitet. Ich will dies hier als eine erste Erkenntnis festhalten: Nicht nur Insekten, sondern auch Menschen werden vom Licht angezogen.
Am Fluss stehend fixierte ich jenen Punkt am Horizont, an dem vor einer guten halben Stunde die Sonne verschwunden war. Noch immer war es dort hell, und es machte den Anschein, als zöge die untergegangene Sonne die letzten Lichtstrahlen hinter sich her, um sie nicht allein in der Kälte einer Winternacht zurücklassen zu müssen.
Über mir blich der Himmel aus. Was eben noch glänzend weiß gestrahlt hatte, wirkte jetzt fahlgrau, stumpf und trist. Am Ufer des Lechs atmete ich die Ruhe der Landschaft ein und betrachtete die Atemwölkchen, die in gleichmäßigem Rhythmus aus meinem Mund aufstiegen. Mit der Dämmerung versanken um mich herum die Konturen ins Schemenhafte.
In diesem Moment innerer Ruhe fiel mir die Maus Frederik ein. Wie aus dem Nichts war sie da, einfach so. Nach dreieinhalb Jahrzehnten. Frederik war der Held eines Kinderbuches. Meine Mutter hatte mir die Geschichte einst vorgelesen, vor mehr als drei Jahrzehnten. Dass ich mich ausgerechnet jetzt daran erinnerte, störte mich. Was hatte die Maus hier in meinen Gedanken zu suchen? Sie schien nicht hierher zu passen und schon gar nicht in ein Buch über die Nacht zu gehören. Was sollte das? Wie eine lästige Fliege versuchte ich, Frederik davonzujagen. Warum und aus welchen Tiefen des Bewusstseins er gerade jetzt emporgestiegen war, wurde mir erst allmählich klar.
Eigentlich hatte ich auf diesem ersten Streifzug in die Dunkelheit möglichst genau beobachten wollen, wie die Dämmerung der Natur jegliche Farbigkeit entzieht. Wie verändert sich dabei der Himmel? Welches Sternbild würde zuerst zu sehen sein? Schärft sich das Gehör, je weniger man sieht? Die Fragen waren am Schreibtisch entstanden. Ich hatte nicht gänzlich unvorbereitet hinausgehen wollen. Nun am Fluss aber mutmaßte ich, dass mir diese Fragen die Sicht auf Wesentlicheres verstellen könnten. Wie eine Schablone, die einem nur das zeigt, was man sich ohnehin zu finden vorgenommen hat. Sollte ich nicht vielmehr beobachten, was die Dämmerung in mir selbst auslöst? Und seien es die Erinnerungen an ein altes Kinderbuch?
Gehört nicht gerade dies zur Vermessung der Dunkelheit: seinen Gedanken und Assoziationen zu folgen, gleichgültig, warum und aus welchen Untiefen des Bewusstseins sie gerade auftauchen? Warum sollte ich mich nicht in meinen Erinnerungen verlieren? Weshalb alles immer gleich fortwischen? Ich beschloss als erste Lektion dieser Streifzüge, mich treiben zu lassen.
Und dann passierte etwas, was mir länger nicht widerfahren war: Innerhalb kürzester Zeit kehrte die Kindergeschichte von Frederik in einer kaum mehr für möglich gehaltenen Detailfülle in mein Gedächtnis zurück. Verträumt schaute Frederik den ganzen Sommer und Herbst über von einer Feldmauer in die Sonne, während seine Mäusefamilie fleißig Körner für den Winter sammelte. Wenn er gefragt wurde, ob er nicht helfen wolle, erwiderte Frederik kurz, er sei nicht faul. Er sammle Farben, Wörter und Sonnenstrahlen. Aber niemand verstand ihn. Erst tief im Winter, als alle Vorräte aufgefuttert waren und die Mäuseschar sehnsüchtig in ihrer dunklen Höhle auf den Frühling wartete, setzte sich Frederik vor ihnen auf einen Stein. „Schließt eure Augen“, forderte er sie auf und begann zu erzählen. Vom warmen Licht der Sonne, von grünen Wiesen, rotem Mohn und gelben Sonnenblumen. Mit diesen Bildern im Kopf, überstand die Mäusefamilie träumend die eisige Dunkelheit.
Erst nach und nach begriff ich, weshalb mir die Geschichte ausgerechnet in der Dämmerung eingefallen war: Sie lag zu nahe und passte in die Stimmung der abendlichen Winterlandschaft. Die Parallelen der Geschichte zum Hier und Jetzt, zum Abend und zum Winter, hatten sich aufgedrängt. Und da ich allein unterwegs war, lenkte mich niemand ab. Ich fand, sie passte ganz gut als Auftakt zu diesen Streifzügen durch die Nacht.
Schließlich wandte ich mich vom Lech ab, lief einen Waldweg entlang und stieg hinauf zum Gipfel des Kalvarienberges. Es ging vorbei an Kreuzen, Kapellen und Tafeln, auf denen die christliche Opfergeschichte erzählt wird. Ich hatte keinen besonderen Plan für diesen ersten Streifzug, sondern wollte lediglich schauen und beobachten, ein paar Ideen und Eindrücke sammeln. So stapfte ich einen verschneiten Prozessionsweg entlang, den im Sommer täglich Hunderte oder Tausende Touristen nehmen. Auf meinem Weg durch den Wald war es rutschig, einsam und still. Nicht einmal ein Zweig knackte. Niemand lief umher, nirgends ein Tier. Es wurde dunkler, bald ließen sich mit bloßem Auge die Texte auf den Tafeln nicht mehr entziffern, und dann verschwanden auch die Abbildungen. Nur der Weg war zwischen den kahlen Bäumen noch ungefähr auszumachen.
Später wurde mir klar, dass ich bereits jetzt, am frühen Abend, die dunkelste Phase dieser Nacht erlebte. Denn bald schon wurde es wieder heller: Im Osten ging der Vollmond auf und schimmerte durchs Geäst. Je höher er stieg, desto mehr reflektierte der Schnee sein weißes Licht.
Vom Gipfel des Kalvarienberges aus blickte ich auf Füssen hinunter und hörte selbst hier noch den Lärm der Autos, der kilometerweit durch die Landschaft dröhnte. Im Wald hatte ich ihn nicht wahrgenommen. Jetzt klang er nicht wie ein monotones, dumpfes Rauschen, das einen im besten Falle an eine Brandung hätte erinnern können. Vielmehr störte mich jedes einzelne Auto, sodass ich mich abwandte und nach Südwesten blickte: In der Ferne glommen die Lichter der österreichischen Gemeinde Vils – siehe Bild 21. Ich drehte mich noch weiter und schaute als Nächstes nach Südosten, wo einige Kilometer entfernt zwei irritierend helle Flecken strahlten: Das Schloss Hohenschwangau glänzte in einem gelblichen, Neuschwanstein in gleißend weißem Kunstlicht. Hinter ihnen ragte düster eine Bergwand empor, über der sich Orion abzeichnete, das hellste Sternbild des Winterhimmels. Doch es war weit unscheinbarer als die in Szene gesetzten Prachtbauten aus dem neunzehnten Jahrhundert, die mich anzogen. Wo Licht ist, befindet sich ein Ziel.
Ich lief durch einen erstaunlich lautlosen Wald, in dem nichts knackste oder raschelte, kraxelte einen kurzen Hang hinab und kam an einem vereisten See vorbei, den man in der Dunkelheit kaum von einer flachen Wiese unterscheiden konnte. Wolken waren aufgezogen, verdeckten die Sterne und verschleierten den von einem farbigen Lichthof umgebenen Mond. Der Himmel schimmerte im Westen blaugrau, im Osten in einem rötlichen Grau. Welches Grau das natürliche war und welches vielleicht nur aufgrund von Lichtreflexionen entstand, fand ich erst Monate später heraus.
Niemand außer mir streifte jetzt hier draußen herum, obwohl kaum eine Region in Deutschland von so vielen Touristen besucht wird wie das Allgäu. Nicht einmal ein Hund wurde spazieren geführt. Niemanden konnte ich ansprechen und mir seine Geschichte anhören. Andererseits gefiel es mir, dass mir niemand die Nacht streitig machte. Sie gehörte mir allein, ich musste sie mit niemandem teilen. Mitten in Europa findet sich noch wahre Einsamkeit. Man kann ganz für sich durch die Landschaft streifen. Ich mochte die Stille, die mich hier umgab, aber sie machte mich auch nervös. Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Womit sollte ich ein ganzes Buch füllen? Ich konnte ja nicht nur vom Abendlicht, von der Einsamkeit der Nacht, vom Umherwandern bis zum nächsten Morgen erzählen. Es würde sonst ein Buch voller Beschreibungen und Impressionen. Ein sehr stilles Buch. Keine Menschen, keine Dramen. Es kam mir vor wie eine verwegene Idee, die aber allzu leicht scheitern konnte. An dieser Stelle im Wald wurde mir klar, dass ich mich mit anderen Menschen würde verabreden müssen, wenn ich nicht das ganze Jahr allein durch die Landschaft laufen wollte. Mit Freunden, Forschern, Künstlern und Mondsüchtigen. Noch ahnte ich nur, wie viele Facetten sich der Nacht abringen lassen.
In die Konzeption meines Vorhabens vertieft, näherte ich mich Neuschwanstein. Nur eine Person, wohl ein Angestellter des Schlosses, lief grußlos auf den letzten Metern an mir vorbei. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, und als er vorüber war, fragte ich mich, ob er mich überhaupt bemerkt hatte. Als ich vor dem Gebäude stand, wirkte es im Schein grellweißer Strahler wie vereist und eingefroren. Eher gespenstisch als märchenhaft. Und gänzlich absurd: Für wen nur leuchteten diese Strahler? Oder sollten sie sicherstellen, dass jeder, der sich dem Bauwerk näherte, sofort entdeckt würde? Ich verstand es nicht. Alles war still und verlassen, die Tore verriegelt. Kaum zu glauben, dass hier an jedem Sommertag Tausende Menschen im definierten Takt durchgelotst werden. Alles hier wirkte kalt und abweisend und in Schockstarre, obwohl – oder gerade weil – es so hell erleuchtet war. Ich fühlte mich unwohl und machte mich wieder davon.
Zurück im Wald, hörte ich doch noch ein irritierendes Geräusch: Ein unheimliches Schwirren lag in der Luft. Es klang, als würde irgendwo ein Kabel Funken sprühend aus einem Stromkasten zischeln. Oder flog eine Monsterhornisse umher, die nach mir suchte? Zwei rote Punkte schossen plötzlich summend über die Bäume hinweg. Hunderte Meter weiter stand ein amerikanischer Tourist mitten auf dem Weg, der mit seiner Drohne ein paar Fotos der Schlösser machte. Er lasse sie am liebsten im Dunkeln fliegen. „Dann bin ich allein, und niemand muss sich gestört fühlen.“ Wir liefen gemeinsam nach Füssen zurück, wobei er mir wie ein Komplize vorkam.
Tief in der Nacht, zwischen zwei und vier Uhr, streifte ich allein durch die Altstadt von Füssen. Laternen beleuchteten das Kopfsteinpflaster, während fast alle Fenster und Häuser dunkel waren. Vor einer Shisha-Bar stritt ein Pärchen, wer denn nun wem etwas zu beichten habe. Irgendwo lärmten betrunkene junge Leute herum, ihre Stimmen schwirrten eine Weile lang durch die verwinkelten Gassen. Das Echo suchte sich seinen Weg, aber die Jugendlichen selbst blieben unsichtbar. Schließlich herrschte Ruhe. Kein Mensch war mehr zu hören, kein Auto dröhnte durch die Straßen, kein Glucksen des nahen Flusses, kein Windzug in den Büschen.
Ich betrat den Schlosspark, sah zum Lech hinunter, suchte nach Motiven, stellte mal hier, mal dort meine Kamera auf und versank in der Stille. Nur meine Schritte und mein Atmen waren zu hören, aber auch dies filterte mein Gehirn bereits heraus, als etwas Größeres neben mir in den Fluss klatschte. Hatte jemand einen Stein in den Fluss geworfen, um mich zu erschrecken? War ein Tier hineingesprungen? Ein Reh, ein Fuchs? Ich hielt gebannt inne. Da quakte eine Ente. Mehr nicht.
Ich fühlte mich ertappt, auch ein wenig beschämt, aber ich wusste nun, dass man nachts tatsächlich jedes Geräusch viel intensiver und überraschter wahrnimmt, weil es nicht mehr gedämpft oder gar in der Lärmkulisse des Tages verschluckt wird.


WINTERSONNENWENDE
In dieser Nacht, der längsten des Jahres, sollte es viel um Weiblichkeit gehen. So hatte man es mir am Telefon angekündigt und dabei von „Mutternächten“ gesprochen – ein Wort, das mir erst einmal Unbehagen bereitete. Punkt achtzehn Uhr, es war bereits dunkel, traf ich sechs ältere Damen am Rande eines finsteren Waldes. Sie stammten alle aus den umliegenden Orten und trafen sich regelmäßig zu Meditation und Gesang. Sie wollten heute Nacht eine Art zeremonieller Verbeugung vor der Dunkelheit machen.
Nahezu schweigend liefen wir eine vereiste Straße hinauf zum Falkenstein, der sich nahe Pfronten erhebt. Ich wusste nicht viel mehr, als dass gleich mit einer ausführlichen Zeremonie das alte Jahr verabschiedet und das neue begrüßt werden sollte. Es war der Abend vor der längsten Nacht des Jahres, dem 21. Dezember, dem astronomischen Winteranfang.
Mich erwartete esoterisches Neuland, ein Ritual aus christlichen, indischen, anthroposophischen und vermeintlich keltischen Versatzstücken. Was die Kelten genau glaubten und welchen Ritualen sie folgten, ist heute nicht bekannt. Sie hinterließen keine schriftlichen Zeugnisse, sondern gaben ihr Wissen ausschließlich mündlich weiter. Normalerweise messe ich solchen Zeremonien nicht allzu viel Bedeutung zu. Heute Nacht ging es mir jedoch darum, etwas über die Dunkelheit zu lernen.
Vorneweg schritt Monika Hofer, die in einem Beutel eine gläserne Kristallklangschale und allerlei Utensilien trug. Sie hatte sich als „geistige Heilerin“ und Klangtherapeutin vorgestellt, aber treffender ist es, sie eine „spirituelle Begleiterin auf dem Weg des Erinnerns“ zu nennen. „Es gibt nichts zu lernen, es ist alles schon in uns, diese innere Weisheit“, sagte sie und führte aus: „Wie einst unsere Vorfahren mit den Kräften des Kosmos und der Natur verbunden waren, so sind wir es auch.“ Sie möchte den Menschen beibringen, sich wieder „mit den kosmischen Kräften zu verbinden“ und „die Elemente der Natur zu spüren“.
„Bayernkönig Ludwig der II.“, so erzählte sie mit ruhiger Stimme, „hat oben auf dem Berg eine Burg errichten wollen.“ Nicht so wuchtig wie Neuschwanstein, dafür noch prächtiger. Leider habe man unter ihm nicht viel mehr als das Fundament und einige Mauern errichten können, als er für verrückt erklärt wurde. „Zu Unrecht übrigens“, wie sie meinte. „Tatsächlich handelte es sich um einen höchst sensiblen Herrscher mit einem präzisen Gespür für magische Plätze, die er als kosmische Einstrahlungspunkte bezeichnete.“
Sie selbst kenne kaum einen anderen Ort, wo man derart heftige Schwingungen wahrnehmen könne. Nicht einmal in der Königskammer der Cheopspyramide von Gizeh ginge es derart intensiv zur Sache, aber das sollte besser nicht die ganze esoterische Szene wissen. „Sonst ist hier bald großer Rummel los.“
Je näher wir dem Gipfel kamen, desto weiter öffnete sich der Blick über das Allgäu. Die Landschaft war in Schwärze versunken. Man sah kaum mehr als die Lichter verstreuter Ortschaften. Sie wirkten wie Bojen auf einem Meer. Vor uns ging der Mond auf. Kaum war er in seiner prachtvollen Gänze zu sehen, hielt Monika Hofer inne und begann zu erzählen: „Überall in der Natur wirken ein weibliches und ein männliches Prinzip.“ Die Dunkelheit stehe für die Weiblichkeit, weshalb man die langen, dunklen Winternächte auch als Mutternächte bezeichne. „In der längsten dieser Nächte, der Wintersonnenwende, wird das Licht als ›Lichtsamen‹ für das neue Jahr geboren.“ Genau genommen sei diese Nacht erst morgen, aber einige Traditionen hätten das neue Jahr bereits am 20., andere am 21. Dezember gefeiert.
Wind zog auf und rauschte durch den Fichtenwald, durch den wir zum Gipfel liefen. Wolkenschleier verhüllten den Erdtrabanten. Monika schaute hinauf und sprach nicht vom Mond, sondern der „Mondin“. Wenn das Licht der Sonne, also der Tag symbolisch für das männliche Prinzip stehe, erklärte sie, dann stehe der Mond für das weibliche, eben für die Nacht. „Außerdem dauert eine Mondphase achtundzwanzig Tage, was ziemlich genau dem weiblichen Zyklus entspricht.“ Das alles kam mir erstaunlich schlüssig vor.
Als sich um den Mond herum ein farbiger Lichtsaum bildete, der einem geschlossenen Regenbogen ähnelte, wurden ihre Erklärungen komplizierter. Vielleicht auch willkürlicher. Es gab auch nicht mehr die eine Interpretation. „Das Mondlicht gehört zwar zum männlichen Prinzip“, sagte sie, „weil es letztlich von der Sonne stammt, aber die einzelnen Farben des Lichtsaumes zählen zum weiblichen.“ Dabei wirke das silbrig-klare Weiß des Mondlichts reinigend und klärend, das Türkis stehe wie alle Farben des Regenbogens hingegen bereits für die Kraft des neuen Jahres.
Auf den letzten Metern zum Gipfel stolperten wir eine vereiste Treppe hinauf zur königlichen Ruine, vor deren Eingang eine Linde stand. Im Innern des Gemäuers stieg ich auf ein Podest und blickte weit über die Landschaft: In südlicher Richtung blinkten die Lichter einer österreichischen Ortschaft, in allen anderen Richtungen die Dörfer und Städte des Allgäus. Über mir erstreckte sich ein schwarzer, drohender Himmel, zerrissene Wolken sausten eilig davon. Zwischen ihnen blinkten letzte Sterne. Es zog sich zu. Wind blies mir eisig ins Gesicht, ich fror.
Das Mondlicht leuchtete in die Ruine. Im Innern platzierte Monika Hofer eine Glasschale in den Schnee, stellte eine rote Kerze hinein und entzündete sie. „Diese Flamme steht symbolisch für das Urlicht“, erklärte sie. „Es war immer schon und wird immer sein und ist in jedem und allem enthalten.“ Drumherum verstreute sie Nadeln, Rinde und Holzstückchen. Wacholder, der für Wachheit und die Lichtahnen steht. Die Splitter der Eibe für Lebenskraft. Sie verteilte auch Rosenblätter, Myrrhe und Weihrauch. Die Symbole der Liebe, der Heilung und des Segens. Ganz außen legte sie um alles herum zwölf Tannenzapfen, die wie Sonnenstrahlen in alle Richtungen wiesen. „Zwölf ist die Zahl der Stunden, der Monate und der Apostel, aber auch der zwölf dunklen, heiligen Nächte zwischen den Jahren, die wiederum für die zwölf kommenden Monate des neuen Jahres stehen.“ Jener finsteren Winternächte also, auch Raunächte genannt, die einst von den Menschen im Allgäu und anderswo gefürchtet wurden. Schwarze Reiter, so wurde erzählt, galoppierten in jenen düsteren Nächten über den Himmel, veranstalteten eine „Wilde Jagd“ und brachten Unheil und Tod in die Dörfer. Niemand ging damals vor die Tür.
Schweigend stellte ich mich zu den Damen um das flackernde „Urlicht“. Der Mond schimmerte durch die kahlen Äste der Linde, Wolken trieben zornig übers Firmament, der Wind fauchte durch Mauern und Ritzen. Mit ruhiger Stimme begann Monika zu erzählen, vom Wind, den Gestirnen, den Elementen, den Himmelsrichtungen. Ihre Worte lenkten unsere Gedanken. „Es ist Zeit zu vergeben, das alte Jahr abzuschließen, das neue anzunehmen.“ Sie sprach auch von der Kälte, die uns umgab. „Kälte verleiht Klarheit“, sagte sie, was mir, während ich meine kühlen Zehen in den Schuhen zusammenzog, nicht wirklich plausibel vorkam.
Sie entfachte ein Stückchen Kohle, das sie auf ein Häufchen aus Weihrauch, Myrre und Palo Santo legte, dem heiligen Holz der Inka-Schamanen. Ein angenehmer Geruch breitete sich mit den Rauchwölkchen aus und wurde von einer Böe fortgetragen. Eine Dame nach der anderen entzündete eine Kerze und steckte sie in den Schnee vor sich. Meine ging alsbald wieder aus. „Nicht schlimm“, sagte Monika, „wichtig ist nur, dass die Kerze überhaupt einen Moment lang gebrannt hat.“ Damit sei das Licht des neuen Jahres symbolisch in der Welt und wirke fortan unsichtbar bis zur nächsten längsten Nacht.
Als es zu schneien begann, zog Monika Hofer einen Zettel hervor. „Das Wesen der Dunkelheit ist die liebende Mutter selbst“, las sie vor. „Mutter Natur wölbt die dunkle Winternacht mit den Sternen über uns. Die Natur ruht aus, still liegt das Land, und in der dunkelsten Nacht wird das Licht wiedergeboren.“ Nach jedem Satz machte sie eine Pause, während Schneeflocken um uns herumtanzten. Stoisch las sie weiter: „Diese Zeit ermöglicht große Heilung. Sie ist von einem inneren Licht erfüllt. Es geschieht in der Dunkelheit und Ruhe, dass wir uns regenerieren. Dass Altes sich vollendet und Neues entsteht. Träume gebären aus eigener Kraft. Der Same des Lebens beginnt in der dunklen Erde zu keimen.“ Immer tiefer krabbelte die Kälte in meine Schuhe hinein. Ich bewegte meine Zehen verzweifelt, aber so unauffällig wie möglich hin und her.
„Unser Leben beginnt im dunklen Raum der Mutter“, sagte die Erinnererin und schloss mit dem Satz: „In der Dunkelheit erfahren wir die großen Mysterien des Lebens.“ Zuletzt hauchte sie „Aloha mahalo“ und strich mit ihrer Hand über den Rand der Klangschale. Ein Ton erklang. Tief und summend. Wir sollten überlegen, was wir uns für unsere Nächsten wünschten. Die Wünsche würden mit dem Klang in die Welt getragen. Sie kreuzte still die Hände auf der Brust, wodurch die linke und rechte Seite vereint würden. Es sei der „lemurische Gruß“, erklärte sie mir später. Er bedeute: „Ich ehre und sehe das Licht in dir.“ Damit würden die Schattengeister der Verstorbenen geehrt, die uns unsichtbar umschwirrten. Nachdem sie den Gruß der indischen Yogis – „Aloha namaste“ – ausgesprochen hatte, durfte ich trampelnd die Wärme in meine Füße zurückholen.
Monika und ich liefen bis weit nach Mitternacht durch die Felder und Straßen rund um Pfronten. Ich fragte nach den Details und den Hintergründen der Zeremonie auf dem Falkenstein. Ihre Erklärungen hörte ich mir wie ein neugieriger, aber neutraler Reporter an. Wie jemand, der das Ganze von Weitem sieht, der nicht bewerten, sondern erst einmal zuhören und einordnen will. Im Grunde aber blieb ich die ganze Zeit über skeptisch. Die Zeremonie hatte mich an meine Zeit auf der Waldorfschule erinnert, was für mich nicht die allerbeste Voraussetzung ist, um gelassen und wohlwollend über etwas nachzudenken. Und mit Esoterik konnte ich noch nie viel anfangen. Trotzdem habe ich oben auf dem Falkenstein zwei Dinge gelernt.
Zum einen war es eine Bemerkung, die eine der Damen machte. „Das Christentum, das sich selbst als eine Religion des Lichtes sieht“, sagte sie, „drängte einst nicht nur den keltischen Glaubenskosmos zurück, sondern auch die Verehrung der Dunkelheit.“ Und das ist keineswegs nur schön prosaisch dahergesagt. Unsere Welt sähe anders aus, wenn wir weniger dem Licht huldigten. Oder neutraler formuliert: wenn wir weniger künstliches Licht einsetzen würden. Spinnt man diesen Gedanken fort, folgt daraus eine Kapitalismuskritik: Würde nämlich alles künstliche Licht mit einem Schlag für immer ausgehen, könnte nachts kein Flugzeug mehr starten oder landen, kein Lastwagen mehr Güter transportieren und kaum noch eine Fabrik neue Waren produzieren. Diese Welt wäre eine andere, wenn der keltische Glaubenskosmos nicht besiegt worden wäre. Es mag überraschend klingen, aber aus dieser Perspektive ermöglichte das Christentum erst die moderne, allzeit ausgeleuchtete Welt wie wir sie kennen, wobei sie natürlich keineswegs die einzige Religion ist, die dem Licht huldigt.
Meine zweite Erkenntnis lässt sich in wenige Worte fassen: Jeder Mensch mag das Tageslicht. Dass manche auch die Dunkelheit lieben, vielleicht noch mehr als die Helligkeit, weiß ich seit dem Abend auf dem Falkenstein.

Dirk Liesemer

Über Dirk Liesemer

Biografie

Dirk Liesemer, geboren 1977, studierte Politik und Philosophie in Münster und Rennes, Frankreich. Er besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitete als Redakteur in Berlin und München. Heute ist er als freiberuflicher Autor für diverse Magazine, u.a. mare, Free Men’s World und...

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