Mein Gott, Walther — Inhalt
Mike Krüger ist die Kultfigur im deutschen Fernsehen. In den Siebzigern vertonte er mit „Mein Gott, Walther“ das Lebensgefühl der Mittelschicht, in den Achtzigern erfand er mit Thomas Gottschalk die deutsche Kino-Komödie neu und zur Jahrtausendwende zog er zusammen mit Rudi Carrell und „7 Tage, 7 Köpfe“ in jedes deutsche Wohnzimmer ein. Doch mühelos verlief sein Leben vor der Ausnahmekarriere keineswegs. Ähnlich wie im Kultsong „Mein Gott, Walther“ kannte er das Hadern, die Sehnsucht nach Akzeptanz und fühlte sich erst frei, als er begriff, dass es auch in Ordnung ist, „unter den Kleinen einer der Größten zu sein“. Anlässlich seines 40. Bühnenjubiläums wirft er einen Blick zurück und erzählt, warum eine einsame Kindheit auch humorbildend sein kann und wie er aus Versehen zu einem der beliebtesten Entertainer der Republik wurde. Denn das Leben ist oft Plan B!
Leseprobe zu „Mein Gott, Walther“
Wie ich wurde, was ich blieb
Es war wohl der größte Fehlstart des Jahrhunderts, wenn man mal von Jürgen Hingsens Hattrick bei den Olympischen Spielen in Seoul absieht. Obwohl, als Sprinter bei Olympia dreimal zu früh aus dem Startblock zu eiern ist vielleicht immer noch besser, als zwei Monate zu früh bei seiner eigenen Geburt zu erscheinen. Halbseitig gelähmt in einem Ulmer Brutkasten zu liegen war in meinen babyblauen Augen kein standesgemäßer Start. Jedenfalls nicht für jemanden, der fest damit gerechnet hatte, im lichtdurchfluteten Kinderzimmer eines [...]
Wie ich wurde, was ich blieb
Es war wohl der größte Fehlstart des Jahrhunderts, wenn man mal von Jürgen Hingsens Hattrick bei den Olympischen Spielen in Seoul absieht. Obwohl, als Sprinter bei Olympia dreimal zu früh aus dem Startblock zu eiern ist vielleicht immer noch besser, als zwei Monate zu früh bei seiner eigenen Geburt zu erscheinen. Halbseitig gelähmt in einem Ulmer Brutkasten zu liegen war in meinen babyblauen Augen kein standesgemäßer Start. Jedenfalls nicht für jemanden, der fest damit gerechnet hatte, im lichtdurchfluteten Kinderzimmer eines Penthouses mit Blick in den Park und der rührenden Unterstützung einer gut aussehenden vierundzwanzigjährigen Hebamme zur Welt gebracht zu werden.
Aber sei’s drum – immerhin hat so der 14. 12. 1951 seine Chance genutzt, ein toller Tag zu werden. Seit Kriegsende waren erst sechs Jahre vergangen, und unser Land war von Wohlstand etwa so weit entfernt wie Karl Lagerfeld von Jack Wolfskin-Trekkingsandalen. 1951 war ein sehr aufregendes Jahr. Unseren Brüdern und Schwestern in der DDR wurde der erste Fünfjahresplan verordnet, und in Frankfurt am Main hatte die erste IAA eröffnet, der Schah von Persien und die schöne Soraya feierten Hochzeit, und im schwedischen Lund war der Öffentlichkeit die erste Tetrapak-Verpackung für Milch vorgestellt worden. Warum ich unbedingt diesem Jahr mit meiner Geburt die Krone aufsetzen wollte und nicht, wie eigentlich geplant, 1952 damit veredeln, ist mir bis heute ein Rätsel. Meine Mutter war 39 Jahre alt und mein Vater 41 – beide waren auf einer Geschäftsreise durch die junge Bundesrepublik zurück in Richtung Hamburg unterwegs, bis meine Geburt die Zwangsrast in Ulm verursachte. Deshalb steht heute in meinem Pass unter Geburtsort logischerweise nicht Hamburg, sondern Ulm. Ein wenig hat mich später darüber hinweggetröstet, dass es bei Hildegard Knef und Albert Einstein genauso ist. Ich hätte auch gerne etwas von der Intelligenz von Einstein und der Schönheit von Hildegard Knef gehabt, aber leider – zuerst leider, heute Gott sei Dank – hatte das Schicksal andere Pläne für mich. Egal – immerhin hat mir der Professor in der Ulmer Kinderklinik das Leben gerettet, und schon nach sechs Monaten Brutkasten wurde ich in einem überhitzten Opel von meinen Eltern nach Hamburg überführt.
Edel sei der Mensch, Milchreis tut gut
Da ich die ersten zehn Jahre meines Lebens kaum erinnern kann, werde ich nur das erzählen, was ich bis heute nicht vergessen habe. Wie ich aus gut unterrichteten Quellen erfuhr, soll meine Mutter mich vergöttert haben und ich sie. Mein Vater war Prokurist der Norddeutschen Treuhand und Kreditgesellschaft und mehr damit beschäftigt, Deutschland wiederaufzubauen, als mich zu vergöttern. Mit dem Wiederaufbau war er anscheinend so erfolgreich, dass er schon bald Geschäftsführer der „Bewobau“ (einer Tochtergesellschaft der „Neuen Heimat“) in Hamburg wurde, und wir zogen aus unserer kleinen Anderthalb-Zimmer-Wohnung in ein Häuschen nach Groß Flottbek.
Mein Vater baute jetzt Wohnungen und Häuser in der ganzen Republik und im verständlicherweise erst seit Kurzem wieder befreundeten Ausland. Anscheinend begleitete ihn meine Mutter öfter auf seinen Reisen, denn sonst kann ich mir nur schwer erklären, warum sie drei Jahre nach meiner Geburt ausgerechnet in einem Hotelzimmer in Paris gestorben ist. Mit meinem Vater konnte ich über dieses Thema leider nie sprechen. Es wurde immer ein großes Geheimnis um den Tod meiner Mutter gemacht. Was vielleicht auch daran lag, dass mein Vater schon ein halbes Jahr nach ihrem Tod seine Sekretärin heiratete. Vielleicht hat er es aber auch einfach nur im Jubeltaumel der gewonnenen Fußball-WM in Bern vergessen.
Ich war zwar damals erst drei Jahre alt, glaube heute aber, dass ich mehr mitbekommen habe, als alle annahmen. Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass sich die anderen mir gegenüber seltsam verhielten. Vielleicht hatte ich auch deshalb später nie ein wirklich gutes Verhältnis zu meinem Vater, der stets schwieg und das Thema wechselte, wenn ich nach meiner Mutter fragte – bis ich es irgendwann ganz ließ.
Bis heute weiß ich leider nicht, woran meine Mutter tatsächlich gestorben ist. Statt einer vernünftigen Erklärung bekam ich als kleiner Junge öfter so merkwürdige Sätze zu hören wie: „Michael – iss bitte keine Pfirsiche mit Schale – denk an deine Mutter!“
Ich habe mir dann natürlich die abstrusesten Todesursachen durch Pfirsichschaleessen ausgemalt und danach panisch alles mit Pfirsichen gemieden, weil ich dachte, meine Mutter sei daran gestorben. Mit viel Geduld und liebevoller Zuwendung meiner Therapeutin Dr. Del Monte ist es mir heute möglich, zumindest eine Dose Pfirsiche „entsteint und geschält“ in der hintersten Ecke meines Vorratsschranks zu lagern. Nächstes Jahr gucke ich mir mal das Etikett genauer an. Der Mensch braucht schließlich Ziele.
Mit meiner Stiefmutter bekam mein Vater dann eine Tochter, meine Stiefschwester. Zu diesem angeheirateten und mir aufoktroyierten Teil meiner Familie habe ich dann später jeden Kontakt abgebrochen und möchte mich deshalb an dieser Stelle auch lieber wieder meiner selbst widmen, dem kleinen Michael.
Denn das tat damals außer mir selbst kaum jemand. Da meine Eltern mich kaum beachteten, soll ich ein sehr aufsässiges Kind gewesen sein – das sagen zumindest alle Kindermädchen, die ich damals verschlissen habe.
Mit sechs bekam ich trotzdem ohne nennenswerte Komplikationen die Volksschulreife und mit acht ein rotes Rennrad. Das hatte das schlechte Gewissen meines Vaters von einer Geschäftsreise aus Italien mitgebracht. Mir hat dieses Rad mit einem Schlag eine gewisse Prominenz unter den anderen Achtjährigen eingebracht und mich angesehen, mobil und unabhängig gemacht. Wer 1959 als Junge ein rotes Rennrad mit weißen Reifen sein Eigen nannte, der war quasi der König der Neubausiedlung, der Chef an der Schippe, der Eierwart der Osterinsel!
Die Anerkennung durch die Jungs in meinem Alter wusste ich sehr zu schätzen, aber noch mehr liebte ich die Unabhängigkeit, die ich mit diesem rollenden Schatz erlangt hatte. Denn ungefähr eine halbe Stunde Fahrzeit von unserem Haus entfernt lebten Tanta Minna und Onkel Gustaf. Tante Minna war die Tante meiner Mutter und wohnte mit ihrem Mann Gustaf in den sogenannten Nissenhütten. Das waren winzige Wellblechhäuser, die nach dem Krieg Bombenopfer und Flüchtlinge beherbergten. Hunderttausende Hamburger standen nach dem Krieg ohne Wohnung da, und pausenlos kamen Flüchtlinge aus den Ostgebieten an. Die britische Militärregierung hatte im Herbst 1945 Angst, dass die Leute ohne Dach über dem Kopf im Winter erfrieren würden, deshalb wurden überall Siedlungen mit bis zu 130 Nissenhütten aus dem Boden gestampft. Die waren schnell hochgezogen, denn vier Mann konnten die klapprige Konstruktion des Kanadiers Peter Norman Nissen in vier Stunden aufbauen. Doch der Name wurde schnell zum Makel, denn auch die Nissen (Eier) der ortsansässigen Kopfläuse fanden auf den dortigen Bewohnern schnell eine neue Heimat, da es Bad, Toilette oder Warmwasseranschluss in diesen Behelfsbauten natürlich nicht gab. Als einfühlsamer Leser kann sich bestimmt jeder vorstellen, dass der feine Herr Bewobau-Direktor keinen allzu großen Drang verspürte, die Tante seiner Frau in dieser charmanten Blechbude zu besuchen. Sein Glück lag eindeutig im behaglichen Einfamilienhausluxus. Sein Pech war allerdings, dass ich mein Glück ausgerechnet in Tante Minnas hutzeliger „Nissenhütte“ fand. Ich zog die Wärme und Geborgenheit in dieser Wellblechhütte bei Weitem der emotionalen Kälte in unserem Direktorenkühlhaus vor. Zum Entsetzen meiner Eltern fuhr ich immer öfter mit meinem Rennrad zu Tante Minna und kam oft erst spätabends wieder nach Hause.
Tante Minna hatte ein riesiges, weiches Bett mit unendlich vielen Decken und Kissen, das mitten im Raum stand. An der Wand wärmten das Zimmer ein großer Bollerofen und ein Herd, die beide mit Holz oder Kohle befeuert wurden. Vor dem Ofen standen der Esstisch, vier Stühle und ein Sessel für Onkel Gustaf – das war’s. Das Plumpsklo war draußen im Garten, und gewaschen wurde sich in einer Schüssel – mit anderen Worten, es war das Paradies für einen acht Jahre alten Jungen. Onkel Gustaf baute mir ein Blasrohr, Tante Minna briet Heringe mit Bratkartoffeln, und zum Nachtisch gab es diesen sensationellen Milchreis mit selbstgemachtem Fliederbeersaft – mehr Glück ging nicht! Tante Minna hatte ein großes Herz, viel Humor und sorgte für mich nach dem Sinnspruch: Edel sei der Mensch, Milchreis tut gut.
Mein Vater sah das nicht so. Da ich, wenn meine Eltern auf Geschäftsreise waren, dort auch gerne übernachtete – allerdings ohne vorher unserem Kindermädchen Bescheid zu sagen –, wurde mir der Umgang mit Tante Minna und Onkel Gustaf irgendwann verboten. Erschwerend kam hinzu, dass mein Vater ein Bauvorhaben in Hamburg-Wellingsbüttel verwirklicht hatte und wir nun in eines dieser neuen Doppelhäuser umzogen, das mindestens 40 Kilometer von Tante Minna entfernt lag. Da sich der Bau der Anlage verzögerte (das gab es auch damals schon), musste ich ein halbes Jahr lang jeden Morgen eine Stunde mit der S-Bahn von Othmarschen nach Wellingsbüttel fahren, denn meine Eltern hatten mich dort auf dem Peter-Petersen-Gymnasium angemeldet.
Peter Petersen war ein berühmter deutscher Reformpädagoge, der als Erster den Begriff „Frontalunterricht“ geprägt hat. Die „Front“ in Frontal bekam ich dann auch jeden Tag im Unterricht zu spüren, und dementsprechend miserabel waren meine Noten. Frontalunterricht – so richtig zärtlich und liebevoll klingt das bis heute nicht. Mich wunderte jedenfalls nicht, dass irgendwann jemand herausfand, dass Peter Petersen nach dem Krieg hauptsächlich durch antisemitische Äußerungen aufgefallen ist. Also wurde die Schule doch schon sehr zügig am 7. November 2010 in „Irena-Sendler-Schule“ umbenannt. Der neue Name hatte in einer Kampfabstimmung mit 24% zu 21% gegen „Heinz-Erhardt-Schule“ gewonnen. Der war zwar schon zu meiner Schulzeit berühmter als Peter Petersen, aber damals hätte es niemand gewagt, eine Schule nach einem Humoristen zu benennen. Das werden meine alten Comedy-Kollegen und ich wahrscheinlich nicht mehr erleben, dass die ersten Schulen in Otto-Waalkes-Handelsschule, Jürgen-von-der-Lippe-Abendgymnasium oder Mike-Krüger-Universität Quickborn umbenannt werden. Einmal war ich ganz dicht dran, dass wenigstens die Straße am Gymnasium in Quickborn „Mike-Krüger-Weg“ heißen sollte. Die Bürgerschaft hätte den Antrag schon genehmigt, aber das „Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium“ am „Mike-Krüger-Weg“ wurde dann doch noch zum Segen aller in letzter Sekunde von einer Bürgerinitiative verhindert. Was soll’s, denn dass es überhaupt einmal dazu kommen würde, damit hätte damals in Wellingsbüttel wohl niemand gerechnet. Dank meines nicht vorhandenen Fleißes, meiner zeitweise stillgelegten Hochbegabung und der rührenden Unaufmerksamkeit meiner Eltern wurden meine Noten so schlecht, dass mein Vater den Entschluss fasste, seinen Erziehungsauftrag komplett in die Hände des „Nordsee-Internats“ in Büsum zu legen. Von da an wurde alles anders.
Keiner soll hungern, ohne zu frieren
Wenn man heutzutage an Internate denkt, dann fallen einem so berühmte Namen wie „Salem“ oder „Louisenlund“ ein, Eliteschmieden für den bräsigen Nachwuchs unseres nicht mehr vorhandenen Hochadels und der oberen Zehntausend aus Wirtschaft und Gesellschaft. Reich, abgeschoben und abgehoben. Oder man assoziiert den Begriff „Internat“ mit Geschichten aus Jugendbüchern, zum Beispiel „Die Jungens von Burg Schreckenstein“ oder „Das fliegende Klassenzimmer“. Geschichten, in denen Lehrer immer hart, aber fair und kumpelig sind.
Wer seine Kinder insgesamt nicht so gelungen findet, der kann sie natürlich auch gleich nach England auf ein altehrwürdiges Lehrinstitut schicken: Dann sind sie erstens weiter weg, zweitens rücken sie einem am Wochenende nicht dauernd auf die Pelle, und drittens sind sie später trink- und prügelfest. Und laufen das ganze Jahr – egal, bei welchem Wetter – im T-Shirt rum. Engländer halt. Mit all dem hatte das „Nordsee-Internat“ in Büsum, mal abgesehen vom Alkohol und der Gewalt, nichts gemein. Büsum kam auch nur für Kinder infrage, deren Eltern nicht genug Geld hatten, oder nicht mehr ausgeben wollten. Denn mit den 500 D-Mark, die Büsum im Monat kostete, kann man in Internaten wie „Louisenlund“ gerade mal den täglichen Wackelpudding bezahlen. Waldmeister statt Weltmeister.
Das Erste, was mir im „Nordsee-Internat“ auffiel, als ich durch die Eingangstür trat, war eine unglaublich steile, lange Treppe, die für mich kleinen, zehn Jahre alten Jungen fast senkrecht in das obere Stockwerk zu führen schien. Rechts neben dem Eingang befand sich das „Erzieherzimmer“, und links ging es in einen großen Speisesaal. Davor war eine freie Fläche, an deren Ende eine Tischtennisplatte stand. Von dort aus ging es in den „Schuhraum“, in dem die Schuhe aller Internierten in einzelnen Fächern lagerten. Ein Geruch, den ich nie vergessen werde. Ein leicht entzündliches Gasgemisch aus verqualmter Hornhaut, käsemaukigen, vollgeschweißten Einlegesohlen und Schuhwichse. Jeden Abend war „Schuhappell“, und jedes Zimmer musste seine geputzten Schuhe vorzeigen. Vielleicht war deshalb der Duschraum auch nur durch diesen muffig riechenden Fuß-Parmesan-Verschlag zu erreichen. Der Duschraum roch allerdings auch nicht nach Chanel, eher nach Kamel.
Der erste Stock, in dem sich unsere Aufenthaltsräume befanden, glich einem Kasernenflur, von dem rechts und links die Zimmertüren abgingen. Hinter den vorderen sieben verbargen sich 6-Mann-Zimmer mit einem Tisch und sechs Stühlen in der Mitte. An den Wänden standen Kleiderspinde, wie man sie auch bei der Bundeswehr verwendet. In drei Ecken waren „Doppelschreibtische“, sodass jeder Bewohner eine kleine Ecke „Privatsphäre“ hatte, also einen halben Schreibtisch und ein Stück Wand, an dem man Fotos oder Poster anbringen durfte. Hinter einer der Türen war ein riesiger Waschraum, und am Ende des Ganges verbarg sich unser Heiligtum: „der Saloon“. In diesem Zimmer standen zwei heruntergekommene, abgewetzte Sofas, ein paar durchgefurzte Sessel und der einzige Schallplattenspieler im ganzen Haus. Wer jetzt denkt, dass dieser unglaubliche Luxus nicht mehr zu toppen sei, der folge mir noch ein Stockwerk höher in den 42-Mann-Schlafsaal. Hier verbrachten die Insassen des Nobeletablissements ihre Nächte. Natürlich in Etagenbetten, wie es früher in jeder Art Knast so üblich war. Vor dem Schlafsaal gab es ein Krankenzimmer mit zwei Betten und zwei Zimmer für die „Großen“. Das waren die ältesten sechs, die das unglaubliche Privileg genossen, in Dreibettzimmern zu schlafen. Die „ältesten Sechs“ waren zwischen 14 und 16 Jahre alt und sehr gefürchtet, denn den Frust, die Wut und die Aggression, die in diesen pubertären Jungs oft wütete, ließen sie gnadenlos an Schwächeren und Neulingen wie mir aus. Sie waren gleich nach den Erziehern die dunkle Seite der Macht im Internat. Die Darth Vaders vom Todesstern Büsum.
Diese Macht bekam ich gleich am ersten Tag zu spüren, denn alle „Neuen“ mussten sich am Nachmittag vor der „Vollversammlung“ einfinden. Das bedeutete im Klartext: Die mächtigen Sechs saßen hinter einem Tisch aufgereiht wie die Arschgeigen der heiligen Inquisition, und die gesamte restliche Meute stand dahinter. Ich, der kleine Mike, saß auf einem Stuhl davor und musste Fragen beantworten, die dem Intelligenzgrad einer Hirnamöbe zur Ehre gereicht hätten: „Wieso haben dich deine bekloppten Alten denn in diese Drecksbude eingeliefert? Wie siehst du denn aus?“ Ich konnte zum Glück die wichtigste aller Fragen: Kannst du Fußball spielen?, mit einem klaren „Ja“ beantworten und hatte so bis zum ersten Testspiel schon mal Zeit gewonnen. Ich dachte, wenn ich erst mal einen auf unterwürfig mache, würde ich vorerst am besten durchkommen, und damit sollte ich leider auch recht behalten. Denn mein Nachfolger als Delinquent, ein Junge aus Bochum, war unvorsichtigerweise etwas zu aufsässig cool und wurde gleich zu zweimal „Prügelgasse“ verurteilt. Prügelgasse war eine brutale Angelegenheit, zu der sich die 48 Internatler in zwei Reihen aufstellten. Der verurteilte Unglücksrabe musste durch die entstandene Gasse laufen, und jeder versuchte, ihm auf seinem Weg ordentlich eine zu verpassen. Das war echt übel, denn die meisten droschen drauf wie auf „kaltes Eisen“. Aber zweimal Prügelgasse, wie es der Junge aus Bochum bekommen hatte, war kaum zu schaffen, da sich die Großen meistens ans Ende der Gasse stellten, um dem dort schon schwer Angeschlagenen den Rest zu geben. Der arme Kerl schaffte es auch nur anderthalbmal und wurde dann ins Krankenzimmer getragen. So hatte ich schon an meinem ersten Tag meine wichtigste Lektion gelernt: Die Prügelgasse sollte ich auf jeden Fall vermeiden. Heute frage ich mich ziemlich verwundert und entsetzt, wo bei solchen Aktionen eigentlich die Erzieher waren und warum das ganze unmenschliche Szenario nicht unterbunden wurde. Naiv und gutgläubig, wie ich nun mal war, konnte ich ja nicht ahnen, dass die größte Gefahr genau von diesen für uns abgestellten Elitepädagogen ausgehen sollte.
Büsum war auch 1962 schon ein verschlafener Badeort an der Nordsee. Es gab eine „Mainroad“ mit ein paar Kneipen und Geschäften, einen kleinen Hafen, in dem die Fischkutter bei Ebbe auf dem Trockenen lagen, und einen Strand ohne Sand, aber mit Rasen. Dazu kamen ein Gymnasium und drei Internate. Ich weilte im Haus „Sommerlust“, das war die Abteilung für die Kleinen. Im „Seeblick“ wohnten die Jungen aus der Oberstufe, die waren so zwischen 16 und 20 Jahre alt – je nachdem, wie oft ein Schüler seinen Vertrag per Sitzenbleiber-Ehrenrunde verlängerte. Zu unser aller Freude war der dritte Schulknast ein Mädcheninternat ganz am anderen Ende von Büsum. Die „Internatis“ wurden von den anderen Schülern gleichermaßen bewundert, bestaunt und beneidet, weil sie ja aus vermeintlich „reichen“ Familien kamen. Jeden Morgen gingen wir – wie alle anderen Schüler aus Büsum und Umgebung – ins „Nordsee-Gymnasium“, das heißt, dort trafen sich „Internatis“, Bauernsöhne, Fischköppe und die Söhne und Töchter aller anderen Einwohner, die die Anforderungen dieser Hochbegabtenschmiede erfüllten.
Zu meiner Zeit war natürlich alles besser, denn früher war ja auch alles aus Holz. Im Ernst, der Unterricht wurde damals noch in Holzbaracken abgehalten. In jedem Klassenzimmer stand ein Holzofen, der vor dem Unterricht von nervösen, gewaltbereiten Schülern auch gerne mal mit zertrümmertem Inventar liebevoll ergänzend versorgt wurde.
Da ich leider zum Herbst in diese Einöde gekommen war, lernte ich das Kaff gleich von seiner hässlichsten Seite kennen. Der Winter war nicht nur die Zeit, in der die bitteren, saukalten Winterstürme über das flache Land und die Nordseeküste fegten, sondern auch die Zeit, in der die Internatis versuchten, ihre schlechten Noten vom letzten Halbjahr wieder aufzuholen. Dazu gab es dann alle möglichen Nachhilfe-AGs. Im Speisesaal, der nachmittags zum sogenannten Büffelbunker wurde, versuchte sich jeder verzweifelt an irgendetwas vom morgendlichen Unterricht zu erinnern. Das waren Monate voller Tristesse, die ich noch heute nur zu gerne mental storniere.
Ansonsten war Sport die „Nummer 1“ im Internat, besonders und vor allem: Fußball. Gespielt wurde dreimal die Woche, und zwar so lange, bis der Platz gefroren und damit unbespielbar war. Ich hatte schnell spitzgekriegt, dass man als Stammspieler der Schulmannschaften unter dem persönlichen Schutz des Direktors stand, der in einer beleuchteten Vitrine vor seinem Rektorenzimmer voller Stolz die errungenen Pokale zur Schau stellte. Und da ich einen ausgeprägten Überlebenswillen besaß und nach dem Debakel meines Bochumer Mitschülers eine Prügelgassenallergie entwickelt hatte, meldete ich mich umgehend bei der „Fußball AG“ an.
Keine schlechte Idee, sich nach einem Protektor umzuschauen. Das bestätigte sich nur wenig später, als eines Morgens ein „Großer“ – nennen wir ihn mal Bernd – in unserem Zimmer stand und mir ohne Vorwarnung rechts und links eine Backpfeife gab. Nach dieser herzlich humanen Begrüßung klärte mich Bernd über die edlen Beweggründe seiner Tat auf: „Moin, ich bin Bernd. Du bist ab heute mein Diener. Dafür passe ich ab jetzt auf dich auf.“ Halleluja! Bernd, der Retter war mir erschienen! Wie schön! Und wie praktisch, dass er mich gleich schlug! Was für eine gute Idee, dann brauche ich mir morgens nicht mehr selbst eine zu scheuern!
Von da an holte ich morgens für Bernd Kuchen vom Bäcker. Oft auch von meinen eigenen 2 Mark Taschengeld, die wir pro Woche bekamen – aber eigentlich nur, wenn Bernd zufällig sein Geld nicht dabeihatte. Was zufällig natürlich öfter als zufällig passierte. Nachmittags erledigte ich dann für Bernie noch einige Botengänge, und abends putzte ich selbstredend seine Schuhe in der ollen Miefkammer. Dafür stand ich aber unter Bernds persönlichem Schutz, und so konnte mir nicht mehr jeder dahergelaufene Zwölfjährige nachts, wenn ich gerade eingeschlafen war, ohne Vorwarnung in mein tiefenentspanntes Antlitz schlagen. Mittleres Elend hilft gegen übles Elend, eine völlig neue Erfahrung.
Aber kommen wir zur zweiten immer argwöhnisch zu beobachtenden Spezies – den Erziehern. Sie glänzten bei körperlicher Gewalt oder anderen Formen der Erniedrigung durch Mitschüler zu 99 Prozent mit Abwesenheit. Ansonsten aber traten sie immer als Pärchen auf: Es waren immer ein Erzieher und ein Referendar anwesend. Die Erzieher waren fest angestellt, und wer als Referendar irgendwo in Deutschland Mist gebaut hatte, der wurde nach Büsum strafversetzt. Die meisten von dem asozialen Pack sind heute wahrscheinlich schon tot, aber ich werde aus Rücksicht auf ihre Familien ihre wahren Namen verschweigen. Unser Lieblingspädagoge war Herr Schmidt, der praktisch sanft wie Gandhi war, wenn er nicht gerade übel gelaunt war. Natürlich war er immer übel gelaunt, und dann war er eher sanft wie Idi Amin. Schmidt ließ die Jungs der einzelnen Zimmer abends oft zum Schuhappell im Speisesaal antreten. Warum? Aus Boshaftigkeit und Sadismus. Wenn er ein Paar nicht ordentlich geputzter Schuhe fand, mussten wir im Schlafanzug und mit zwei Paar Schuhen in den Händen eine Runde um das winterlich verschneite Gebäude drehen. Manchmal auch zwei oder fünf, wie es Sado-Schmidti gerade in den Sinn kam. Wenn Schmidt Nachtdienst hatte, musste er unten im Erzieherzimmer nächtigen. Also beschlossen einige Schüler, meist so gegen 1:00 Uhr nachts, eine „Randale“ zu veranstalten. Eine Randale begann meistens mit einer Kissenschlacht im 42-Mann-Schlafsaal und endete im totalen Chaos, bei dem Doppelbetten umgeworfen, Stühle die Treppe hinuntergeschmissen und – wenn es besonders „lustig“ wurde –, „Neue“ auf Matratzen gebunden und hinter den Stühlen die Treppe heruntergeworfen wurden, oder umgekehrt. Nach spätestens einer halben Stunde stand dann Sado-Schmidti, den Rohrstock schwingend, im Saal und schrie wie von Sinnen: „Ruhe, ihr Arschlöcher! Die Sextanerecke vortreten!“
Das war schlecht, denn in der Sextanerecke lag auch ich. Die acht Sextaner traten vor Schmidt, der wutverzerrt und wahrscheinlich deshalb sehr lautstark die Zahl „Zehn“ in den Saal rief. Das war noch schlechter. Zehn satte Hiebe mit dem Rohrstock. Fünf waren schon schwer zu ertragen, aber zehn waren echt scheiße. Einer nach dem anderen mussten wir unsere Schlafanzughose herunterziehen, uns vor Schmidt bücken und bekamen zehn satte Hiebe mit seinem Rohrstock auf den Hintern. Wer noch nie in seinem Leben zehn harte Schläge mit einem Rohrstock bekommen hat – was hoffentlich auf die meisten zutrifft –, der weiß natürlich nicht, dass man danach mindestens drei Nächte vor Schmerzen nicht mehr schlafen kann und es mindestens eine Woche dauert, bis die Striemen einigermaßen verheilt sind.
In diesem ersten Winter in Büsum war ich also hauptsächlich damit beschäftigt, mich an die neuen Mitschüler und Prügelpädagogen im Gymnasium zu gewöhnen, meine Noten in Richtung Versetzung zu trimmen und Massa Bernd zu dienen. Mein Hauptziel blieb aber weiterhin, meine Fähigkeiten im Fußball zu verbessern und zu den wenigen Auserwählten zu gehören, die in der Schulmannschaft spielten. Dieses Ziel sollte ich schon zwei Jahre später erreicht haben. Außerdem erinnere ich mich schon fast etwas wehmütig an die große Sturmflut, die Büsum eines Nachts Mitte Februar bedrohte und in der wir abkommandiert wurden, um mit allen anderen Anwohnern Sandsäcke auf den Deich zu schleppen. Das Schleppen hat geholfen, Büsum blieb verschont.
Aber mit Phantomschmerzen im Allerwertesten denke ich manchmal heute noch, dass es mir um Büsum damals nicht leidgetan hätte.
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