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Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben

Harriet Köhler
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„Es ist eine wunderbare Handreichung, die die Berliner Autorin da aufgeschrieben hat – mit Schwung, klugen Gedanken und meditativen Impulsen.“ - die tageszeitung

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Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben — Inhalt

Urlaub zu Hause verbringen: Den meisten von uns ist der Gedanke so fremd wie früheren Generationen die Vorstellung einer Auslandsreise. Dabei ist Daheimbleiben kein Bekenntnis zur Langeweile, sondern die Möglichkeit, genau das zu finden, was wir in der Ferne oft vergeblich suchen: uns selbst. Es ist außerdem ein Akt der Rebellion – gegen Jetlags, CO2-Irrsinn und den Irrglauben, der geistige Horizont eines Menschen korreliere mit seinem Meilenkonto. Das beste Rezept gegen Stau ist immer noch, gar nicht erst loszufahren; man muss nur etwas mit sich und seiner Zeit anzufangen wissen. Harriet Köhler zeigt uns, wie wir zu Entdeckern in unserer Stadt werden, zu Weltenbummlern im eigenen Viertel und zu glücklichen Urlaubern in der eigenen Wohnung.

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 02.09.2019
208 Seiten, Flexcover mit Klappen
EAN 978-3-492-27735-8
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€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 02.09.2019
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99512-2
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben“

„Na, diese Reise fängt ja vielversprechend an!“

Erzherzog Franz Ferdinand unterwegs nach Sarajewo, als eine Achse seines Salonwagens heiß gelaufen war

LONELY PLANET

Vom Fernweh

„Da, wo du nicht bist, ist das Glück.“

Franz Schubert

Ein Buch über das Daheimbleiben sollte vermutlich nicht ausgerechnet an einem nasskalten Februartag vor einem Reisebüro beginnen, wenn der Winter schon so lang ist, dass man sich nicht mehr an das Gefühl erinnern kann, im T-Shirt durch die Stadt zu laufen, und der Frühling noch so fern, dass man sich kaum vorstellen kann, dass er [...]

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„Na, diese Reise fängt ja vielversprechend an!“

Erzherzog Franz Ferdinand unterwegs nach Sarajewo, als eine Achse seines Salonwagens heiß gelaufen war

LONELY PLANET

Vom Fernweh

„Da, wo du nicht bist, ist das Glück.“

Franz Schubert

Ein Buch über das Daheimbleiben sollte vermutlich nicht ausgerechnet an einem nasskalten Februartag vor einem Reisebüro beginnen, wenn der Winter schon so lang ist, dass man sich nicht mehr an das Gefühl erinnern kann, im T-Shirt durch die Stadt zu laufen, und der Frühling noch so fern, dass man sich kaum vorstellen kann, dass er überhaupt jemals wieder übers Land ziehen wird. Es sollte vielleicht nicht unbedingt an einem Tag beginnen, an dem für jeden, der auch nur ein bisschen Platz für Träume in sich hat, das Fernweh unbezwingbar wird.

Ich lebe in Berlin, einer Stadt, von der ich manchmal scherzhaft behaupte, sie läge nicht im Osten Deutschlands, sondern in Westsibirien. Der Winter hier dauert ungefähr neun Monate, und spätestens im Februar verliere ich regelmäßig den Glauben daran, dass er überhaupt jemals wieder geht. Die Pappeln in meinem Kiez säumen dann den Straßenrand wie eine Armee von Toten; in den von den Nachbarn im Sommer liebevoll gepflegten Baumscheiben beugen sich welke Funkien und Farne; und der Himmel hängt so tief, dass er einem auf die Schultern drückt.

In jenem Februar, in dem mich aus wolkenverhangenem Himmel plötzlich das Fernweh packte, war der Winter besonders grimmig. Oder vielleicht kam er mir auch nur besonders grimmig vor, denn ich hatte gerade einen kleinen Sohn geboren und konnte mich plötzlich nicht mehr einfach so vor der Kälte draußen verkriechen. Unser Baby schlief nämlich nicht, zumindest nicht in seinem Bettchen; obendrein war es oft schon gegen fünf Uhr morgens wach, weshalb ich nicht selten in der Morgendämmerung einen ersten Spaziergang unternahm, bei dem ich zwar erbärmlich fror, es hingegen, dick in Wolle gepackt und gemütlich schuckelnd, endlich, endlich ins Land der Träume glitt.

Ich werde diesen Winter nie vergessen: wie ich über die Rollsplittdünen auf den vereisten Gehwegen stapfte und den Kinderwagen durch die gefrorene Stadt bugsierte, vorbei an tiefgekühlten Hundehaufen, rußpatinierten Schneebergen und vergessenen Weihnachtsbäumen, in denen noch Lamettareste hingen. Ich werde die Kälte nicht vergessen, die ihren Weg noch durch die Maschen meiner dicksten Wollmütze fand. Die jeden meiner Schritte knirschen und jeden meiner Atemzüge einen Augenblick lang weiß in der Luft stehen ließ, ehe er sich in nichts auflöste.

Ich hatte mir in diesem Winter angewöhnt, mir einmal am Tag ein winziges Italiengefühl zu verschaffen und nach meiner morgendlichen Runde auf einen Cappuccino und ein Panino bei der kleinen italienischen Salumeria an der übernächsten Ecke einzukehren. Ich mochte die sizilianische Familie, die den Laden betrieb: Papa Nino, der jeden Morgen kistenweise frisches Gemüse in die Küche trug und die herrlichsten Antipasti wieder herausbrachte; seine Frau Maria, die mir stets einen Extrakeks auf die Untertasse legte; Carmelo und Salvatore, die beiden Söhne, die immer für einen Plausch zu haben waren und die das Baby, das mich regelmäßig an meine Grenzen brachte, jeden Tag aufs Neue mit einer Begeisterung feierten, dass ich mich meiner unglücklichen Gefühle fast ein bisschen schämte.

Doch an diesem Februarmorgen kam ich nicht bis zur Salumeria. Ich wurde aufgehalten: von den braun gebrannten Beinen einer Frau, von einem weißen Sandstrand und türkisfarbenem Wasser.

Direkt neben der Salumeria gibt es ein kleines Reisebüro, dem ich bis dahin keine große Beachtung geschenkt hatte. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie eine Reise aus dem Katalog gebucht – als ich jünger war, gehörte ich eher zu den Leuten, die einfach ohne Planung losfliegen und dann sehen, wohin der Wind sie trägt; später dann hatte ich meine Reisen stets selbst im Internet zusammenbastelt, war Empfehlungen gefolgt oder einfach dorthin gereist, wohin ich eingeladen war. Reisebüro, das hatte für mich immer ein bisschen nach all-inclusive gerochen, nach reservierten Sonnenliegen und Abendessen vom Büffet.

An diesem Tag im Februar aber stand ich plötzlich vor einem Aufsteller, der für 14 Tage in einem Fünf-Sterne-plus-Resort auf den Malediven warb, inklusive Flug.

14 Tage.

Fünf Sterne plus.

Malediven.

Eigentlich bin ich nicht der Typ für Strandurlaub. Ich finde es unbequem, lange auf einem Handtuch zu liegen, die Sonne ist mir zu heiß, und ich hasse es, mich ständig akribisch eincremen zu müssen. Und die Malediven fand ich als Reiseziel eher befremdlich – wer wollte schon freiwillig 14 Tage auf einer Insel verbringen, die man schneller umrundet hat als die Reichstagskuppel?

Doch jetzt blieb ich stehen, schuckelte den Kinderwagen von Hand weiter und betrachtete die herrliche Bräune der Frau, ihre schlanken Glieder, die sich im warmen Sand rekelten. Ich spürte in meinen Körper hinein: Wann hatte ich meine Beine eigentlich das letzte Mal bewusst gesehen? In den letzten Wochen war ich morgens bloß hastig in die lange Wollunterwäsche geschlüpft und abends in den karierten Flanellpyjama. Den Rest des Tages hatten sie mich mit schnellen Schritten durch die immergrauen Tage getragen, hatten ohne Luft und Tageslicht ihren Dienst verrichtet.

Mein Blick wanderte zum sich in der Ferne erstreckenden Horizont. Das Rauschen des Meeres – ich konnte es beinahe hören. Ich stellte mir vor, wie die glitzernden Wellen alles davonspülen würden: die bleierne Müdigkeit, die beinahe zum Normalzustand geworden war; das Gefühl der Unzulänglichkeit, das mich durch die Tage begleitete; die Kälte, die in den letzten Monaten nie ganz aus meinem Körper gewichen war. Ich stellte mir vor, wie sich meine Zehen in den warmen, feinen Sand krallen würden.

Eigentlich hatten mein Mann und ich erst wenige Wochen zuvor beschlossen, uns in unserem Reiseverhalten einzuschränken. Bis dahin hatten wir zu den Leuten gehört, die eigentlich ständig irgendwohin fuhren: im Sommer zu einer abgeschiedenen Bergpension in Südtirol, nach Korsika oder Marseille, im Frühling nach Palermo oder Palma, im Spätherbst nach Arles, nach Südafrika, nach Namibia. Wir verbrachten Weihnachten in Brügge oder Tallinn, Silvester in einem Haus in der Uckermark, Karneval in Köln, Ostern auf Capri. Wann immer wir mal drei freie Tage hatten, guckten wir, ohne darüber nachzudenken, nach Flügen – weil es irgendwie zum Leben dazugehörte, weil wir Lust darauf hatten und weil wir es uns halbwegs leisten konnten. Wir verreisten, weil wir das Gefühl hatten, dass die Welt uns offenstand und wir sie uns einfach nehmen konnten. Wir reisten, weil es schön war, beim Wiederkommen etwas zum Erzählen zu haben. Und wir reisten auch, weil es gesellschaftlich legitimiert war: Schließlich habe ich von klein auf gelernt, dass Reisen bildet.

Unseren Urlaub einfach zu Hause zu verbringen? Oder auch nur ein paar freie Tage? Auf die Idee wären wir im Leben nicht gekommen.

Nun hatten wir uns jedoch vorgenommen, uns beim Reisen deutlich zu beschränken. Oder zumindest etwas. Nicht, dass wir ganz und gar auf Urlaub verzichten wollten – wir nahmen uns nur vor, nicht mehr anlass- und gedankenlos in den Flieger zu steigen. Wir beschlossen, in Zukunft eingehend zu prüfen, ob eine Reise wirklich nötig war, und dann zu gucken, wie wir möglichst klimaverträglich dorthin kommen würden.

Aber jetzt, an diesem Februartag, an dem es draußen so kalt war, dass an den Fensterscheiben mancher Altbauten Eisblumen blühten, wusste ich plötzlich: Der Ernstfall war eingetreten. Ich musste verreisen, musste fort von hier.

Da war es, das Fernweh.

Fernweh – das Gefühl der Sehnsucht danach, an einem anderen Ort zu sein, kennt wahrscheinlich jeder. Dabei ist der Begriff noch gar nicht besonders alt; in Wörterbüchern tauchte er zum ersten Mal in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts auf, als Analogbildung zum viel älteren „Heimweh“. Die Gefühle, die die beiden Begriffe beschreiben, sind eigentlich gar nicht so verschieden; sie richten sich weniger auf einen Ort in der Außenwelt als auf eine innere Empfindung. Wer Heimweh hat, sehnt sich eher nach einem idealisierten Ort als einem realen. Er fühlt sich unbehaust, einsam und vermisst eine Zeit, in der er sich aufgehoben wähnte im Kreise seiner Freunde, seiner Familie. Wer unter Fernweh leidet, wünscht sich nicht einfach woanders hin. Klar: Wir sehnen uns nach den betörenden Gerüchen auf fremden Märkten, der unverständlichen Melodie fremdsprachigen Stimmengewirrs. Wir sehnen uns nach der Unübersichtlichkeit großer Städte, in denen man sich immer ein bisschen lebendiger, schneller, aufmerksamer fühlt. Wir sehnen uns danach, eine menschenleere Landschaft zu überblicken. Aber schon die Tatsache, dass sich das Wort „Fernweh“ durchgesetzt hat und nicht das ältere „Wanderlust“, deutet darauf hin, dass wir eigentlich ein Gefühl der Defizienz damit beschreiben, einen Mangel, einen Schmerz, ein Unbehagen: Wir sehnen uns vor allem nach einem anderen Leben – danach, nicht nur die winterliche Wollunterwäsche, sondern auch den Alltag abzustreifen. Danach, dass sich unter einer fremden Sonne alles auflöst, was uns von uns selbst entfernt, und nur noch übrig bleibt, was wir wirklich sind.

Es gibt bestimmt viele Gründe, warum Menschen ins Auto, in den Zug oder ins Flugzeug steigen und ihre kostbaren Urlaubstage dazu verwenden, an die abwegigsten Orte der Welt zu reisen, in eine gigantomanische Stadt oder an einen ausschließlich von Stechmücken besiedelten finnischen See: Wir haben das Bedürfnis nach Erholung, wollen unseren Horizont erweitern, die Welt sehen. Aber von allen Gründen, die Menschen fürs Reisen haben, ist das Fernweh vermutlich der stärkste. Erholen könnten wir uns ja auch bei einem Spaziergang im Stadtpark und einem anschließenden Bad. Von der Welt sieht man mehr, wenn man sich eine gut fotografierte Reisereportage im Fernsehen anschaut. Unseren Bildungshunger stillt auch ein gutes Buch oder der Besuch einer Sonderausstellung im Museum.

Doch die Sehnsucht danach, an einem anderen Ort etwas anderes zu erleben und dabei unser Alltags-Ich abzustreifen – die können wir nicht beiseitefegen. Für viele Menschen ist es ein echtes Bedürfnis: das Fremde zu entdecken, das schließlich auch in uns haust. Unsere deutsche Kartoffeligkeit hinter uns zu lassen. Unsere Korrektheit und Penibilität und Funktionskleidungsmentalität. Kein Wunder, dass wir uns grämen, wenn wir im Urlaub von Touristen umzingelt werden, die unsere Metamorphose ständig stören, weil sie uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, wer wir eigentlich sind!

Steckt nicht in jeder von uns der Glamour einer Pariserin? Wir müssten nur durchs Marais flanieren. Sind wir nicht eigentlich großstädtische Kosmopoliten? Auf nach New York! Und wie herrlich es mal wieder wäre, seinen sizilianischen Stolz und seine Lässigkeit herauszukehren – man müsste nur nach Palermo fliegen und dort auf einer Terrasse mit Blick aufs Meer ein Glas sizilianischen Weißweins trinken!

Verbarg sich nicht auch in mir, der übernächtigten Mutti im dicken Daunenparka, noch ein anderer Mensch? Der Mensch, der ich früher einmal gewesen war? Einer, der gelassener, eleganter, interessanter, klüger, abenteuerlustiger, präsentabler, einfach irgendwie besser war als die Frau, der das Babyschuckeln so sehr in Fleisch- und Blut übergegangen war, dass sie abends, wenn das Baby im Bett war, auf dem Küchenstuhl weiterwippte wie eine Hospitalismuspatientin? Die Frau, die ich wirklich war?

Das Reisebüro habe ich dann natürlich nicht betreten, so viel Individualreisendenehre hatte ich auch nach der Geburt meines ersten Kindes noch im Leib. Doch die Sehnsucht verging nicht so einfach. Mir fiel ein Artikel in einem englischsprachigen Magazin ein, den ich ein paar Wochen zuvor gelesen hatte – zum Glück fand ich das Heft noch, es war sogar noch an der richtigen Stelle aufgeschlagen. Der Text handelte von einer Region im Südwesten Portugals, zwischen Lissabon und Algarve, die vom Tourismus noch kaum erschlossen war, dafür jedoch mit spektakulären Stränden und großartigen Fischlokalen aufwarten konnte, mit rauer, unberührter Landschaft und einfachen Steinhäusern. Ich klappte meinen Laptop auf und googelte ihren Namen: Alentejo.

Eigentlich hatten wir uns ja vorgenommen, nach Möglichkeit nicht mehr zu fliegen, aber mit dem Zug nach Portugal, noch dazu mit einem Säugling – das war natürlich Quatsch. Die Fotos, die nun auf dem Monitor erschienen, von steilen Klippen und dem schäumenden Ozean, verwandelten das in mir lodernde Fernweh in eine Feuersbrunst, die alle meine Bedenken mit flammender Zunge fraß. Ich rief meinen Mann an, der von der Idee begeistert war und mir einen Zeitraum im Sommer nannte, an dem sich die Reise für ihn gut einrichten ließe. Bis dahin war es zwar noch eine ganze Weile, aber, so frohlockten wir, das bedeutete auch, dass das Baby dann bestimmt aus dem Gröbsten raus sein würde.

Bei Airbnb entdeckte ich ein winziges Ferienhaus, ein altes Gebäude, das einmal zu einer Mühle gehört hatte und von einem Architekten modern-schlicht umgebaut worden war – mit bodentiefen Fenstern und altmodischen Zementfliesen, wie sie damals in Berlin jeder haben wollte. Es gehörte zu einem Estate mit mehreren anderen Ferienhäuschen, die wie zufällig über ein kleines Flusstal versprenkelt waren; unten am Fluss gab es ein schattiges, mit Teppichen und Sofas ausgestattetes marokkanisches Zelt und ein Kanu, das man sich ausleihen konnte. Jeden Tag, so versprachen es die Vermieter, würde uns morgens frisches Brot gebracht, einmal die Woche käme eine Yogalehrerin an den zum Anwesen gehörenden Pool, bis zum fantastischen, kinderfreundlichen Sandstrand waren es nur ein paar Kilometer.

Eine Yogastunde am Pool – das kam mir, die ich es in den letzten Monaten nur mit Mühe und Not zum Rückbildungskurs geschafft hatte, vor wie ein Heilsversprechen. Ich buchte drei Flüge nach Faro, einen Mietwagen und kompensierte, so viel Umweltbewusstsein hatten wir dann doch noch, bei Atmosfair die 1,7 Tonnen CO2, die wir dabei in die Luft pusten würden. Bei einer Reisebuchhandlung in der Nähe kaufte ich einen dicken Reiseführer, in dem ich immer mal wieder blätterte. Wenn mir langweilig war, klickte ich mich durch die Badebekleidungssortimente der großen Onlinehändler.

Immer noch schob ich im dicken Daunenparka Tag für Tag den Kinderwagen über verschneite Gehwege. Aber allein die Aussicht auf unsere geplante Reise führte dazu, dass mir mein Leben nicht mehr ganz so beengt vorkam und der Himmel über Berlin nicht mehr ganz so grau und grimmig. Manchmal, während ich eine besonders stille Sackgasse auf- und abmarschierte, malte ich mir aus, wie es sein würde, wenn ich das Flugzeug betrat: auf dem Arm das Baby, das jetzt noch ein schreiendes Bündel war, im Sommer aber vielleicht schon laufen können würde. Ich stellte mir vor, wie wir in unseren Mietwagen stiegen und die Küste entlang zu unserem hübschen Häuschen fahren würden. Ich spürte bereits die portugiesische Sonne auf der Haut und schon einen Augenblick später die erquickende Brandung des Atlantiks, der sich glitzernd auf einem Körper brach, der dann schon wieder mir gehören würde.

Enttäuschte Erwartungen

„Unter Wasser geht das Land weiter.“

Ludwig Fels

Als ich ein paar Tage nach unserer Rückkehr aus Portugal die Nachbarin aus der Wohnung gegenüber im Treppenhaus traf und sie sich erkundigte, wie unser Urlaub gewesen sei, erzählte ich von einem stillen, grünen Tal, durch das sich ein flüsternder, dunkler Fluss schlängelte, und von der Stelle, an der das Tal sich plötzlich zu einem weiten, weißen Sandstrand öffnete und sich in einer verschwenderischen Mündung mit dem Atlantik vermählte. Ich erzählte vom fangfrischen Fisch in einem ganz einfachen Restaurant an einer Landstraße, von Serpentinenstraßen in einer kargen, bergigen Landschaft, von Männern mit gegerbten Gesichtern, die mit Strohhut und Spitzhacke auf ihrem kleinen Stück Ackerland standen und in der Gluthitze der portugiesischen Nachmittagssonne versuchten, der dürren Erde etwas abzuringen. Ich erzählte vom schlichten, aber köstlichen Abendessen auf unserer Veranda und der flirrenden Hitze über der Terrasse am Pool, von der aus man einen Blick übers ganze Tal hatte. Und weil der Mann unserer Nachbarin Weinliebhaber war, hängte ich auch noch einen Exkurs über die fantastischen portugiesischen Weißweine an, von deren Qualität kaum jemand in Deutschland wusste und die man vor Ort selbst im Supermarkt in exzellenter Qualität bekam.

Nachdem ich in den Monaten zuvor fast ausschließlich über Babyschlaf, Babyzubehör und Babybrei gesprochen hatte, hörte mich fast wieder an wie ein richtiger Mensch. Ich hörte mich an wie eine Frau, die bereit war, ins Berufsleben zurückzukehren, abends auszugehen und nicht mehr ausschließlich mit Leuten zu verkehren, die ebenfalls Kinder hatten.

Ich hörte mich fast wieder an wie ich selbst.

Und log ich etwa? Natürlich nicht. Alles, was ich meiner Nachbarin erzählte, stimmte. Es war ein wunderbarer Urlaub gewesen. Portugal war toll, das Alentejo einer der schönsten Landstriche, in denen ich je gewesen war.

Und doch erzählte ich nur ein Teil der Wahrheit.

Ich erzählte jenen Teil der Wahrheit, der sich – weil unser Hirn dazu neigt, Erwartung und Realität in Einklang zu bringen, weshalb uns der Wein im Urlaub stets besser zu schmecken scheint und wir schwören könnten, dass das teure Ariel besser wäscht als das billige Tandil – aus der Vielzahl der Eindrücke durchgesetzt hatte. Jener Teil, der zu meiner Erinnerung geworden war.

Angela Merkel hat mal gesagt, sie möge an Deutschland besonders gern, dass die Fenster so schön schließen. Ich hatte immer über diesen Satz gelacht, aber in dem südportugiesischen Flusstal begriff ich, was sie damit meinte.

Denn die Wahrheit über unsere Reise ins Alentejo war auch: Das vermeintliche Architektenhaus wirkte wie von einem Hobbyhandwerker zusammengeschraubt. Die Küchenausstattung beschränkte sich auf zwei Herdplatten und eine Nespressomaschine; es gab keine brauchbaren Pfannen oder Messer, die Türen schlossen nicht richtig, und abends hatte man die Wahl zwischen greller LED-Beleuchtung, dem funzeligen Schein einer Stumpenkerze und kompletter Dunkelheit. Wenn man im feuchtkalten Schlafzimmer die Matratze des Bettes anhob, schlug einem der Geruch von Schimmel entgegen. Am Esstisch konnte man nur auf unbequemen Hockern sitzen, die umfielen, wenn man sich nur ein bisschen zu weit nach hinten lehnte.

Ohne Kind wäre das alles nicht weiter tragisch gewesen. Wir wären abends ins Restaurant gegangen und anschließend müde ins Bett gefallen und hätten uns um die Details unserer Behausung nicht weiter gekümmert. So aber versuchten wir Abend für Abend aus den sehr mäßigen Zutaten, die es im fast zwanzig Kilometer entfernten Supermarkt zu kaufen gab, ein brauchbares Essen zusammenzurühren, das wir dann auf Zehenspitzen auf die unbeleuchtete Terrasse trugen und im Schein einer Grabkerze einnahmen, weil die Tür zum Schlafzimmer nicht richtig schloss und wir panische Angst hatten, unseren Sohn zu wecken. Der war nämlich in den letzten Monaten erst so richtig ins Gröbste hineingeraten und schlief nun überhaupt nicht mehr (und wir in Folge auch nicht). Wir betranken uns mit tatsächlich großartigem Wein, allerdings aus bunten, eisbecherförmigen Gläsern. Wir ließen uns von den Mücken zerstechen, die Abend für Abend als gigantisches Geschwader aus der saftigen Vegetation am Fluss stiegen und sich auf uns stürzten. Wir redeten nur leise und hielten jedes Mal den Atem an, wenn auch nur das verhaltenste Knacksen aus dem Babyphone drang.

Das waren die Nächte. Die Tage verbrachten wir zu großen Teilen im Auto, weil das der einzige Ort war, an dem sich unser Sohn hin und wieder zu einem Nickerchen hinreißen ließ. Während wir fuhren, schwiegen wir, zum einen, weil wir befürchteten, das Kind zu wecken, zum anderen, weil wir uns in diesen Tagen über alles Mögliche stritten und nicht sonderlich wild darauf waren, überhaupt miteinander zu reden. Dass wir so schlecht drauf waren, lag nicht in erster Linie am Schlafmangel und auch nicht am anstrengenden Baby, sondern vor allem daran, dass wir merkten, dass wir durch einen bloßen Ortswechsel doch keine anderen Menschen geworden waren. Das, was sich in Berlin noch angefühlt hatte wie Urlaubsbedürftigkeit und Erschöpfung, fiel nicht plötzlich von uns ab, bloß weil wir im Urlaub waren. Was hatten wir uns nur von dieser Reise versprochen? Wir waren Mutter und Vater geworden und würden es auch bleiben, egal wohin wir flüchteten. Wir konnten unsere neuen Rollen nicht abschütteln, ob wir nun in Belize, Barcelona oder Berlin waren. Unser Leben hatte sich verändert, wir mussten es neu justieren, es ließ sich nicht einfach so abstreifen wie ein Winterparka.

Wer in die Fremde fährt, findet sich dort nicht, sondern hat sich selbst im Gepäck – das hätten wir eigentlich wissen müssen. Wer hat noch nie die Erfahrung gemacht, dass er in einem abgeschiedenen Ferienhaus Büroprobleme wälzt? Wer saß noch nie im Wellnessbereich eines fernen Hotels, zu gestresst, um seine Behandlung auch nur ansatzweise zu genießen? Wer hat noch nie erlebt, dass eine vermeintlich große Liebe dem Härtetest des ersten gemeinsamen Urlaubs nicht standhält? Wir entkommen uns nicht, egal wie weit wir wegfahren. Warum nur erhoffen wir uns genau das dann doch immer wieder? Warum bleiben wir nicht einfach zu Hause und machen das Beste aus dem, was wir sind?

Die Reise nach Portugal steckte mir noch lange in den Gliedern, auch als ich längst einen Termin mit einer Schlafberaterin in Berlin-Mitte vereinbart hatte und plötzlich süße, lange Nächte durchschlief. Sie steckte mir noch in den Gliedern, als mein Mann und ich uns längst wieder zusammengerauft und begriffen hatten, dass wir uns unglücklich machen würden, wenn wir mit den engen Grenzen haderten, die einem so ein Kleinkind setzt; dass wir annehmen mussten, was uns das Leben gebracht hatte, anstatt ständig dagegen anzukämpfen. Ich verspürte ihre Nachwirkungen sogar noch während der Kita-Eingewöhnung unseres Sohnes, als die zarte Urlaubsbräune auf meinem Gesicht längst verblasst war. Eigentlich verstrich sie erst, als ich endlich einmal dazu kam, die Urlaubsfotos, die ich mit meiner Kamera gemacht hatte, auf meinen Laptop zu überspielen, wo ich sie leicht bearbeitete – und beim Durchblättern plötzlich die Empfindung hatte, dass es doch ein ziemlich schöner Urlaub gewesen war. Die Bilder, die ich vom Flusstal gemacht hatte, waren herrlich. Das Ferienhaus: wunderschön mit seinen großen Fenstern und alten Kacheln. So niedlich: das vergnügt an einer Fritte nuckelnde Baby. Spektakulär: der Atlantikstrand.

 

Harriet Köhler

Über Harriet Köhler

Biografie

Harriet Köhler, 1977 in München geboren, studierte Kunstgeschichte, besuchte die Deutsche Journalistenschule und arbeitete danach als freie Autorin unter anderem für Die Zeit, den Tagesspiegel, GQ, Neon, den Zündfunk des Bayerischen Rundfunks und für MTV. Schon ihr Debüt „Ostersonntag“ war bei...

Pressestimmen
SWR2 „Matinee“

„Ein anregendes Buch“

ff – Das Südtiroler Wochenmagazin (A)

„Unterhaltsam und inspirierend“

medienprofile – Medienempfehlungen für die Büchereiarbeit

„Ein Buch, das Denkanstöße geben kann“

reise-magazin.de

„Das Buch ist aktueller denn je und ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, die Urlaubswochen daheim zu verbringen.“

die tageszeitung

„Es ist eine wunderbare Handreichung, die die Berliner Autorin da aufgeschrieben hat – mit Schwung, klugen Gedanken und meditativen Impulsen.“

ruhrbarone.de

„Das liest sich süffig und sehr amüsant. Für alle besonders geeignet, denen der reisefreie Sommer 2020 wie die endgültige Apokalypse der eigenen Urlaubsreiseplanung erscheint. Leseempfehlung!“

„Begegnungswege“ – Radio des Begegnungszentrums für aktive Gewaltlosigkeit

„Es gibt sehr viele lesenswerte Tipps in diesem Buch, die auch nach der Corona-Krise noch wertvoll sein werden.“

Osnabrücker Zeitung

„Köhler hat viel gelesen, sie zitiert berühmte Autoren und bekannte Wissenschaftler. Auch das macht ihr Büchlein so lesenswert. Und: Es passt prima in unsere Zeit.“

die tageszeitung

„Ein Buch wie gemacht für die Kontaktsperre: Harriet Köhlers vergnügliche ›Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben‹.“

VN Vorarlberger Nachrichten (A)

„Harriet Köhler zeigt uns, wie wir zu Entdeckern unserer Stadt werden, zu Weltenbummlern im eigenen Viertel und zu glücklichen Urlaubern in der eigenen Wohnung.“

24vest.de

„Daheimbleiben ist kein Bekenntnis zur Langeweile, sondern die Möglichkeit, genau das zu finden, was wir in der Ferne oft vergeblich suchen: uns selbst. Es ist außerdem ein Akt der Rebellion – gegen Jetlags, CO2-Irrsinn und den Irrglauben, der geistige Horizont eines Menschen korreliere mit seinem Meilenkonto. Jetzt müssen wir zwangsläufig all das sein lassen. Aber mit einem solchen Buch ist das ungleich unterhaltsamer als ohne.“

StadtRadio Göttingen „Mittendrin“

„Harriet Köhlers ›Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben‹ ist mehr als eine Ansammlung von Tipps, es ist eine philosophische Auseinandersetzung mit dem sich selbst zu Hause aushalten.“

ZDF „Volle Kanne“

„Ganz, ganz charmant!“

YouTube „Herbert liest!“

„Ich empfehle dieses Buch, weil es wirklich kein bisschen ideologisch ist, kein bisschen erhobener Zeigefinger. Es ist lustig, es ist praktisch.“

reisebuecherwanderfuehrer.blogspot.com

„Selten liegt ein Buch gerade zu passend zu den Zeitläufen auf dem Tisch wie dieses: Zuhausebleiben! Das Gebot der Stunde in Coronazeiten. Manch eine/r, der/dem die Decke auf den Kopf fällt, kann es gebrauchen.“

amazedmag.de

„Die Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben ist keine Anleitung, zum Langweiler zu werden, sondern viel mehr ein inspirierendes Buch, das uns anhält, das zu schätzen, was wir bereits haben.“

arte Magazin

„Klug und charmant.“

Falter (A)

„Eine hervorragende Erzählerin.“

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