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Eines Tages in Paris

Eines Tages in Paris

Juliet Blackwell
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Roman

„Überraschende Wendungen machen diese wunderbare Geschichte zu einem spannenden Lese-Erlebnis.“ - monikaschulte.blogspot.com

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Eines Tages in Paris — Inhalt

Als Claire nach Louisiana zurückkehrt, um ihrer sterbenden Großmutter beizustehen, findet sie in deren Nachlass ein altes Kunstwerk: Es ist die Totenmaske einer Frau, eingewickelt in einen rätselhaften Brief. Claire findet heraus, dass die Maske unter dem Namen „L’inconnue de la Seine“ bekannt ist und vor über 100 Jahren in Paris gefertigt wurde. Fasziniert von dem Kunstwerk bricht Claire auf, um sich auf die Spuren der geheimnisvollen Schönen zu begeben. Ihre Recherchen führen sie aber nicht nur in die schillernde Welt der Belle Époque, sondern auch zum Beginn einer großen Liebe.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 03.04.2018
Übersetzt von: Hanna Klimesch
384 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97998-6
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Leseprobe zu „Eines Tages in Paris“

Er schläft.

Sabine kriecht noch vor Anbruch der Dämmerung durch das Atelier und fleht die stummen Gesichter an, sie nicht zu verraten. Sie beobachten jede ihrer Bewegungen, stille Zeugen ihres Verbrechens.

Sie schlüpft durch die Tür und schreckt zusammen bei dem kreischenden Geräusch von Metall auf Metall. Nebel umschließt sie, der Dunst dringt durch ihre fadenscheinige Bluse, wie mit Nadeln sticht ihr die kalte Luft in die Haut.

Sabine denkt sehnsuchtsvoll an die zwei Kleider, die sie im Schrank zurückgelassen hat. Er hatte sie ihr gekauft. Es sind die [...]

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Er schläft.

Sabine kriecht noch vor Anbruch der Dämmerung durch das Atelier und fleht die stummen Gesichter an, sie nicht zu verraten. Sie beobachten jede ihrer Bewegungen, stille Zeugen ihres Verbrechens.

Sie schlüpft durch die Tür und schreckt zusammen bei dem kreischenden Geräusch von Metall auf Metall. Nebel umschließt sie, der Dunst dringt durch ihre fadenscheinige Bluse, wie mit Nadeln sticht ihr die kalte Luft in die Haut.

Sabine denkt sehnsuchtsvoll an die zwei Kleider, die sie im Schrank zurückgelassen hat. Er hatte sie ihr gekauft. Es sind die feinsten Gewänder, die sie je getragen hat: eines blau, eines grün. Gefertigt aus geschmeidigem Batist, einem samtig weichen Material, so verlockend. Oft hatte sie den Rock gestreichelt und das Gefühl genossen, wenn der kostbare Stoff ihre Handflächen liebkoste. Er hatte sie damit aufgezogen.

Nimm nichts mit.

Sie trägt den schweren schwarzen Rock und die dünne graue Bluse, die sie trug, als sie einander auf der Place Pigalle kennengelernt hatten. Als sie noch dachte, er sei ihre Rettung. Vorher.

Ihre Füße stecken in alten schwarzen Stiefeln. Ihr einziger Schutz gegen die Kälte der Nacht ist der taubengraue Schal, den ihre Mutter ihr zu ihrem sechzehnten Weihnachtsfest geschenkt hatte. Sie trägt ihr Haar so, wie er es gerne hat: als altmodischen Dutt links und rechts am Kopf.

Als wäre sie einer anderen Zeit entsprungen.

Auch das goldene Armband hat sie aufgegeben, es liegt noch in dem Nest aus weichem schwarzen Samt, in einer blauen Schachtel auf ihrem Nachtkästchen. Und ihren Kamm aus Schildpatt. Ihren kleinen Handspiegel. Die Kerzenstumpen und das kleine Büchlein mit den Sonetten, ihr Skizzenbuch und die Kohle. Sogar ihren Kissenbezug hat sie zurückgelassen, in den sie ihre wenigen Habseligkeiten gepackt hatte, als sie vor so langer Zeit ihrem Zuhause auf dem Land entflohen war.

Vor Paris. Bevor sie das Modell eines Künstlers wurde. Vor Maurice.

Vorher.

Die kalte Luft sticht ihr in die Wangen. Das trübe Licht der Gaslaternen wirft einen gelben Schein auf das Kopfsteinpflaster und blitzt in den Regenpfützen auf.

Eine Warnung scheint in ihnen aufzuleuchten: Damit wirst du nicht davonkommen. Damit wirst du niemals davonkommen!

Sabine hält den Kopf gesenkt und geht, so schnell sie sich getraut. Sie lauscht. Sie hört Wasser aus einem Wasserspeier an der Seite der Kirche herunterplätschern. Ein oder zwei Blocks entfernt wiehert ein Pferd. Ein Hund jault auf. Ihre Stiefel klackern auf dem Kopfsteinpflaster, ein Widerhall ihres Herzschlags.

Ihr hektischer Atem ist das lauteste Geräusch.

Und … noch etwas anderes?

Sie erstarrt. Hält den Atem an. Lauscht.

Schritte.

Sabine rennt. Rennt um ihr Leben.

Sie schafft es bis zum Quai du Louvre. Bis zum Pont Neuf.

Bis zur Brücke über die Seine.

Das war wahrscheinlich ein Fehler, dachte Claire, als sie ihren Gepäckwagen durch den Ausgang des Flughafens von New Orleans bugsierte. Warum musste sie auch ausgerechnet immer den erwischen, bei dem ein Rad klemmte? Die Glastür glitt hinter ihr zu und schnitt sie von der unnatürlichen Kälte im Terminal ab. Mit einem Mal stand sie knietief in der drückenden Juli-Schwüle Louisianas.

Louisiana. Claire kam in den Sinn, dass sie noch mit verbundenen Augen und zugehaltenen Ohren genau wüsste, wo sie war. Sie konnte es fühlen, es lag eine schmerzhaft vertraute Note in der Luft. Die Hitze streckte die feuchten Finger nach ihr aus und umschlang sie. Die Schwüle wisperte auf ihrer Haut, begrüßte sie wie ein vertrauter Liebhaber.

Ein Liebhaber, den sie vor Jahren mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung verlassen hatte, einer abstrakten Zuneigung, gepaart mit dem fieberhaften Wunsch weiterzuziehen.

Claire atmete die heiße, feuchte Luft tief ein und blies sie langsam wieder aus, während sie die Autos absuchte, die draußen vor der Gepäckausgabe um Parkplätze in der ersten Reihe konkurrierten. Als sie das Darlehen für den neuesten Wagen ihres Cousins Ty mitunterzeichnet hatte, hatte er gesagt, dass der „riesig, schwarz und glänzend“ sei. Das war ein Vorteil, dass sie in Plaquemines Parish mehr Cousins hatte, als sie zählen konnte: Es gab immer jemanden, der sie vom Flughafen abholen konnte.

Eine kleine Gruppe angetrunkener Touristen Mitte zwanzig rempelte Claire auf dem feuchtfröhlichen Gang zum Taxistand zur Seite. Anscheinend waren sie auf der Suche nach den berühmten Mardi-Gras-Feiern – außerhalb der Saison. Sie schaffte es gerade noch, ihre Laptoptasche aufzufangen, die ihr von der Schulter rutschte. Ein Schweißtropfen lief ihr den Rücken herunter. Da stand sie nun, mit einer Hand am Gepäck. Die zwei großen Koffer, der Seesack und die Handtasche waren alles, was sie auf der Welt besaß, abgesehen von den wenigen Kartons mit Büchern und Erinnerungen, die sie mit der Post vorausgeschickt hatte. Die restlichen Dinge hatte sie weggegeben, bevor sie Chicago verlassen hatte.

Das war wahrscheinlich ein Fehler, dachte Claire wieder. Der Satz war so etwas wie ein Mantra geworden, seit ihre Cousine Jessica sie letzte Woche angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass ihre Großmutter wohl bald sterben würde.

„Mammaw braucht dich jetzt, Chance“, hatte Jessica gesagt. Claires Verwandte nannten sie Chance; ihre Großmutter war Mammaw. „Sie redet Cajun. Niemand versteht sie außer Onkel Remy. Und du weißt ja, wie er ist.“

Als Claire den Anruf erhalten hatte, saß sie gerade in ihrem klimatisierten Büro in Chicago und fragte sich, was sie in die Oper anziehen sollte. War ihr normales schwarzes Bürokostüm gut genug für den Abend? Vielleicht wenn sie es ein bisschen aufhübschte, mit einer auffälligen Ethnokette oder einem bunten Tuch. Oder verlangte der Anlass eher nach Glitzer und Seide? Von ihrem Schreibtisch aus sah sie auf endlose Flure hinab, mit beigem Teppichboden, ein Gewirr aus kleinen Bürowaben und alten Fabrikmauern aus Ziegelsteinen, die für ihren Arbeitgeber No-Miss Systems, ein Softwareunternehmen, aufwendig renoviert und mit Oberlichtern und Trennwänden aus Stahl und Glas ausgestattet worden waren. Sie ließ ihren Blick über die stumme Bürolandschaft gleiten, stellte sich Mammaws Haus vor und dachte: Wenn Jessica eine Stimme aus der Vergangenheit ist, was ist dann meine Zukunft? Ein Abend in der Oper? Wirklich?

Du bist deinen kurzen Hosen wohl allmählich entwachsen, Chance Broussard.

Wie ihr frischgebackener Exfreund Sean sagen würde: „Da ist Claire mal wieder ein klitzekleines bisschen indifferent.“

Dann entdeckte Claire Tys Wagen, der sich riesig und neu seinen Weg durch ein Meer von kleineren Autos und verbeulten Pick-ups bahnte. Er ignorierte das Hupen, parkte in zweiter Reihe, sprang aus dem Auto und schloss Claire in die Arme. Dann warf er ihre schweren Taschen auf die Ladefläche, als wären sie federleicht.

Ty fuhr in Richtung des kleinen Städtchens in Plaquemines Parish, wo sie aufgewachsen waren. Sie plauderten über das Leben in der Großstadt, über sein neues Auto, die Jobsituation auf den Ölbohrplattformen, Mammaws heiklen Gesundheitszustand, bis das Gespräch im Sande verlief. Claires Verwandte arbeiteten hart, verachteten Wehleidigkeit, grüßten die Flagge und liebten Football. Wenn sie Alkohol tranken, schlugen die jungen Männer manchmal über die Stränge und die älteren Leute erzählten komplizierte Geschichten, in denen Fakten und Fiktion, Geschichte und Fantasie ineinandergriffen. Doch wenn ihre Cousins nicht in Erzählstimmung waren, dann schwiegen sie stoisch. Ihre Gedanken, Hoffnungen und Träume verstauten sie unter schweißgetränkten Baseballcaps der New Orleans Saints oder der Ragin’ Cajuns.

Claire sah grübelnd in die Landschaft hinaus, die sich flach, bedeckt von Dickicht und niedrigen Bäumen, durchzogen von Bächen und Flussarmen, vor ihr ausstreckte.

Nachdem Claire das Telefonat mit Jessica beendet hatte, hatte sie ihre Arbeit erledigt, mit ihrem Abteilungsleiter gesprochen und war zu einem Treffen mit Sean in einer angesagten Lounge gehastet, einer ehemaligen Surfbar, die nun ironisch im Stil der Fünfzigerjahre à la Frank Sinatra und Rat Pack dekoriert war. Sie bestellten Craft-Cocktails aus Produkten aus der Umgebung, für deren Zubereitung der bärtige Barkeeper jeweils etwa zehn Minuten brauchte und die mindestens das Vierfache von dem kosteten, was sie in der alten Bar dafür ausgegeben hätten.

Als die Cocktails fertig waren, setzten sie sich an einen Tisch und Claire erzählte Sean, dass sie bei No-Miss gekündigt hatte und nach Hause fahren würde, um sich um ihre Großmutter zu kümmern.

„Einfach so?“, fragte Sean, wobei sich ein erstaunter Ausdruck in sein hübsches Gesicht schlich und der bittere Grapefruitcocktail auf halbem Weg zu seinem Mund in der Luft verharrte.

„Sobald sie in der Firma einen Ersatz für mich gefunden haben.“

„Aber … was ist mit mir? Was ist mit uns?“

„Ich …“ Claire sprach nicht weiter. Die traurige Wahrheit war, dass sie nicht über Seans Reaktion auf ihre Neuigkeiten nachgedacht hatte.

Natürlich war er ihr wichtig. Ihr lag etwas an Sean. Viel sogar. Sie hatten sich kurz nach dem College kennengelernt, und Sean, der aus Evanston kam, hatte Claire in die Wunder der großen Stadt eingeführt. Er hatte sie in schicke Restaurants und auf Cocktailpartys mitgenommen, hatte ihr gezeigt, wie man ein Taxi heranwinkte oder sich in der U-Bahn zurechtfand und wie man durch das Museum of Art schlenderte und dabei elaborierte Kommentare fallen ließ. Mit Sean an ihrer Seite hatte Claire Geschmack an thailändischer und äthiopischer Küche gefunden. Sie gewöhnte sich auch daran, in dem schicken Eckcafé in der Nähe der Arbeit für eine Tasse French Roast so viel zu zahlen wie zu Hause für ein komplettes Frühstück. Sie waren jung, verdienten gut, und sie hatten Spaß.

Aber in letzter Zeit hatte Sean das nicht mehr gereicht. Ihre Freunde heirateten, kauften Häuser und bekamen Kinder. Claire mochte Sean und genoss seine Gesellschaft. Aber es fehlte etwas.

Jahrelang war sie eine Getriebene gewesen: wollte aus ihrer Heimatstadt wegkommen, dann das College beenden, dann einen Job ergattern, dann mehr Geld verdienen. Und jetzt? Sie saß zehn Stunden pro Tag über einer Tastatur, am Wochenende ging sie in edle Klubs, konnte sich eine schöne Wohnung und neue Klamotten leisten … Aber war es das, wofür sie so hart gearbeitet hatte? Claire ging in ihrer Arbeit auf: programmieren, Betatests durchführen, Fehler beheben. Aber sie fragte sich: War irgendetwas davon langfristig von Bedeutung? War das schon alles?

Und wenn sie sich vorstellte, wie sie sich mit Sean irgendwo niederließ und eine Familie gründete, dann hatte sie das Gefühl, die Wogen würden über ihrem Kopf zusammenschlagen und sie vergeblich nach Luft schnappen.

„Was ist denn los, Claire?“ Sean nahm ihre Hand und drückte sie sanft. „Du bekommst einen Anruf und willst plötzlich dein komplettes Leben hier in Chicago aufgeben? Es tut mir leid, dass es deiner Großmutter nicht gut geht, aber sie ist auch nicht mehr die Jüngste, nicht wahr? Es kommt also nicht wirklich unerwartet, oder täusche ich mich? Könntest du sie nicht einfach besuchen, wie …?“

Wie jeder andere auch, beendete Claire seinen Satz in Gedanken. Doch wie sehr sie die teuren Cocktails auch genießen mochte, so hatte sie sich in der Stadt doch nie heimisch gefühlt.

Als sie damals an der Universität von Chicago angekommen war, mit einem Stipendium in der Tasche, da war sie aus der Menge herausgestochen wie ein Fremdkörper. Sie trug die falsche Kleidung und eine krause Dauerwelle, die schon seit zwei Jahrzehnten aus der Mode war, wenn man ihrer wenig diplomatischen Zimmergenossin Zoey Glauben schenkte, die aus New York City stammte und sich mit so etwas auskannte. Sie sprach mit einem Akzent, der über ihren Sätzen hing wie ein Mückenschwarm an einem warmen Sommerabend über den Sümpfen.

Anfangs fand sie alles einschüchternd – die geschwätzigen Studenten, die gelehrten Professoren, den Stadtverkehr. Genau wie zu Hause verschanzte sie sich am Abend in ihrem Zimmer oder lernte in der Bibliothek.

Aber nach ein paar einsamen Wochen traf Claire eine Entscheidung. Schließlich hatte sie sich nicht aus Plaquemines Parish herausgekämpft, um ihr Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Also setzte sie ihre hervorragende Lernkompetenz ein, um das Verhalten der anderen Mädchen zu studieren: ihre Kleidung, ihren Tonfall, die Art, wie sie kicherten und über Jungs Witze machten. Wie leicht sie Versprechen brachen, wie sie Ja sagten, wenn sie Nein meinten, und Nein, wenn sie Ja meinten. Wie sie sich per se nicht setzten, um eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, und an einem Tag nur Selleriestangen mit Erdnussbutter und am nächsten dafür riesige Schüsseln mit Eis aßen.

Immer häufiger stellte sie sich in der Zeit als Claire vor, nicht mehr als Chance. Und sie lernte zu trinken und zu rauchen, zu flirten und „Party zu machen“. Sie erzählte lange und wilde Geschichten über ihre Heimatstadt, die ihre Freunde unglaublich witzig fanden, und kultivierte ihren merkwürdigen Bayou-Akzent. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Claire sozial und akademisch Erfolg. Dem armen kleinen Cajunmädchen gelang es, Freunde zu gewinnen, auf Jungs verführerisch zu wirken und trotzdem ihr Studium cum laude abzuschließen. Sie fand einen guten Job als Softwareentwicklerin in Chicago, und ihr Einstiegsgehalt überstieg all ihre Erwartungen und war gemessen an den Standards von Plaquemines Parish ein kleines Vermögen. Zu Hause würden sie sagen: „Also, diese Chance! Seht sie euch nur an! Sie verkörpert den amerikanischen Traum – kommt aus dem Nichts und hat etwas aus sich gemacht.“

Doch das lag nun schon einige Jahre zurück, und Claire hatte nicht mehr das Gefühl, den amerikanischen Traum zu leben.

Früher hatte sie wissen wollen, warum sie nicht gemeinsam mit ihrer Mutter gestorben war, als Lizzie Broussards zehn Jahre alter Ford von der Straße abgekommen war und mit dem Dach nach unten im Bayou landete. Mammaw hatte darauf stets geantwortet: „Gott hat etwas ganz Besonderes mit dir vor, du wirst sehen. Die Stimme deiner Mutter hat sich aus dem Sumpf erhoben, damit du gerettet wirst – es war ein Wunder!“

Doch inzwischen fragte Claire sich: Abgesehen von dem Gehaltsscheck, ging es ihr heute wirklich besser, besser als wenn sie damals direkt nach der Schule den Job in der Raffinerie angenommen und nach der Arbeit mit der Clique bei Charlie Bob’s ein Bier getrunken hätte.

Claire wusste, Seans Antwort darauf wäre ein entschiedenes Ja.

Und doch …

„Mammaw ist nicht einfach nur meine Großmutter“, erwiderte Claire. Sie versuchte, ihren Standpunkt klarzumachen. „Sie hat mich großgezogen. Sie hat mir das Leben gerettet.“

„Ich weiß, wie wichtig sie für dich ist“, sagte er mit weicher Stimme. „Und du solltest unbedingt zu ihr fahren. Nimm dir ein paar Wochen frei, sag, du brauchst Zeit für deine Familie. Ich könnte dich begleiten.“

Sean war ein netter Mann, umgänglich und rücksichtsvoll. Aber er war es gewöhnt, dass Claire seinen Wünschen entsprach. Claire war es egal, ob sie in ein klassisches Konzert oder in die Oper gingen, ob sie beim Vietnamesen oder beim Thailänder aßen. Aber diesmal war es anders.

„Ich bin in Chicago nicht glücklich, Sean. Irgendwie ist mir das alles nicht genug. Es ist schwierig, es zu erklären, aber … Ich will etwas anderes.“

„Du willst also zurück nach Plaquemines Parish ziehen?“ Er presste die Lippen zusammen, und seine Worte hatten einen schnippischen Klang. „Du hasst es dort. Wie oft hast du mir erzählt, dass du nie richtig dazugehört hast, dass du mehr vom Leben willst? Du hast so hart daran gearbeitet, dem Ganzen zu entkommen. Wie kannst du auch nur daran denken, wieder zurückzugehen?“

„Es wäre ja nur für eine Weile, sodass ich bei Mammaw sein kann. Jessica sagt, dass es wahrscheinlich nicht mehr lange dauert. Ich werde mir Gedanken über meine Zukunft machen. Vielleicht komme ich ja auch zurück nach Chicago, ich weiß es einfach noch nicht. Tut mir leid, Sean. Du bist ein wunderbarer Mann. Ich habe einfach–“

„Das ist ein Fehler, Claire“, unterbrach Sean sie. „Du machst einen Fehler.“

„Ja, vielleicht“, räumte sie ein.

Wahrscheinlich war es wirklich ein Fehler. Aber es war ein Fehler, den sie machen musste.

Zehn Tage später war sie in das Flugzeug nach Plaquemines Parish gestiegen, wo man billigen, mit Chicory gestreckten Kaffee trank, wo niemand im Traum daran dachte, in die Oper zu gehen, und wo Claire nun mit ihrem Universitätsabschluss und ihren Großstadtgepflogenheiten herausstach wie ein Fremdkörper.

„Warum liegt denn da ein Baum auf dem Dach?“, fragte Claire, als Ty vor Mammaws Haus hielt.

„Wir hatten einen Sturm vor ein paar Tagen“, antwortete Ty und sah hinauf zu dem Laub auf dem kleinen weißen Holzbungalow. „Ist doch nur ein Ast.“

„Ja“, sagte Claire. „Ein sehr großer Ast.“

„Fällt mir gerade erst auf“, erwiderte Ty achselzuckend. „Ich würde mich ja kümmern, aber ich muss jetzt zurück zur Arbeit. Remy ist wahrscheinlich eh schon dran.“

Genau in diesem Moment kam Onkel Remy grauhaarig und leicht gebeugt aus dem Haus. Auf alten Fotos, auf denen er als junger Mann in Uniform zu sehen war, grinste er stets breit. Er war ein begabter Mechaniker gewesen, der schon von Kindesbeinen an alles reparieren konnte. Das sagten alle. Aber er war mit einer Kopfverletzung aus Vietnam zurückgekehrt, und obwohl es äußerlich so wirkte, als wäre alles verheilt, hatte er sich im Innern verändert. Er war wieder bei Mammaw eingezogen und dortgeblieben.

Mammaw sagte immer, er sei „etwas langsam“. Auch in seiner Gegenwart. Remy schien das nie zu stören. Erst seit Claire nach Chicago gegangen war, fiel ihr auf, dass es irgendwie nicht ganz richtig war, so etwas zu sagen. Remys Langsamkeit war ihr immer als eine unumstößliche Tatsache erschienen, so wie man beispielsweise groß war oder Locken hatte. Als Mädchen hatte sie darüber nicht weiter nachgedacht. Er war in ihrer Kindheit ihr Freund gewesen – ihr einziger echter Freund. Sie hatten gemeinsam Verstecken gespielt und manchmal sogar mit Barbies, wenn sie im Gegenzug versprach, mit ihm Dame zu spielen.

„Hey!“, rief Remy und kam den rissigen, asphaltierten Weg entlanggeschlurft. „Na so was! Meine liebe Chance! Wir haben dich vermisst!“

Sie sprang aus dem Auto, lief auf Remy zu und fiel ihm in die Arme. Sie hielten einander lange fest. Er roch leicht nach Mottenkugeln und Gewürzen, ein schmerzhaft vertrauter Geruch, der für sie Zuhause und Familie bedeutete.

Wahrscheinlich hatte Sean recht. Wahrscheinlich war die ganze Sache ein Fehler. Aber das hier – dieser eine Moment – war die Reise wert.

„Wir müssen jemanden holen für das Dach“, sagte Onkel Remy besorgt, sobald sie sich aus der Umarmung löste. Das war es auch schon mit der herzlichen Begrüßung zu Hause. Claire war nicht überrascht; Remy lebte in der Gegenwart. Er fing an, seine Hände zu kneten und trat von einem Fuß auf den anderen. „Ist mitten durch die Teerpappe gekracht. Was, wenn es wieder regnet?“

„Mach dir keine Sorgen, Remy“, beruhigte ihn Claire. „Ich kümmere mich drum. Arbeitet Cousin Hog nicht auf dem Bau?“

„Er ist auf dem Krabbenkutter“, sagte Remy und hob den Seesack von der Ladefläche herunter. Ty trug die schwereren Koffer ins Haus, und winkte ihnen zum Abschied.

„Die sind zurzeit alle draußen auf den Kuttern“, fuhr Remy fort. „Zumindest diejenigen, die nicht auf der Bohrinsel sind.“

„Dann rufe ich jemand anders, kein Problem.“

„Jessica weiß bestimmt, was zu tun ist. Sie weiß alles.“

„Gute Idee. Lass mich kurz Mammaw Hallo sagen, dann überlegen wir uns was, okay?“

„Okay.“ Er nickte und schien sich zu entspannen. „Gut, dass du wieder zu Hause bist, Claire. Wirklich gut, dass du wieder zu Hause bist.“

 

Wie immer, wenn Claire durch Mammaws gelbe Tür trat, erfasste sie ein intensives Gefühl von Nostalgie, vermischt mit dem Drang zu fliehen, zurückzueilen in ihr Großstadtleben mit den überteuerten Drinks und den Menschen, die die internationalen Nachrichten verfolgten.

Mammaw hatte vor zehn Jahren mit dem Rauchen aufgehört, aber das Haus roch immer noch nach kaltem Zigarettenrauch, nach alten Büchern und nach Cola von Dr Pepper. Eine uralte Klimaanlage im Fenster rappelte und spuckte gerade so viel kalte Luft aus, um die Hitze ein bisschen abzumildern. Trotzdem war es im Wohnzimmer, das mit Möbeln und Bücherregalen vollgestellt war, stickig. Hinter dem vorderen Zimmer lag die Küche, und seitlich gab es zwei Schlafzimmer und ein Badezimmer. Das war alles. Als Chance eingezogen war, hatte sie entweder auf dem Sofa geschlafen oder manchmal mit Mammaw in deren Bett.

„Sie ist wach und wartet auf dich“, sagte Remy. „Sie spricht nur Cajun, also ist es gut, dass du da bist. Willst du 'ne Limo?“

„Nein, danke. Ich brauche gerade nichts.“

Claire sah vor ihrem inneren Auge lebhaft das Bild, wie sie mit sechs Jahren das allererste Mal das Haus betreten und gewusst hatte, dass sie bleiben würde. Gewusst hatte, dass sie nicht zu ihrem Vater zurückmusste. Dass sie in Sicherheit war. Mammaw hatte Lachskroketten gemacht; sie hatte Chance an der Tür begrüßt, während sie ihre Hände an einem Geschirrtuch trocknete. Dann hatte sie Chance in die Küche geschoben, hatte sie auf die Anrichte gehoben und ihr einen großen Becher süßen Tee in die Hand gedrückt.

Sie hatte verkündet, dass sie ab dem nächsten Tag im Haus ausschließlich Cajun sprechen würden.

„Aber … ich kann doch gar kein Cajun“, hatte Chance besorgt protestiert.

„Du wirst es lernen, genau wie ich Englisch gelernt habe. Als ich klein war, haben wir zu Hause nur Cajun gesprochen, und als ich in die Schule gekommen bin, sollte ich plötzlich Englisch reden, obwohl ich doch gar kein Englisch konnte. Wenn die Lehrer hörten, dass ich in meiner Sprache redete, musste ich mich auf Reis knien.“

„Auf Reis knien?“

„Ganz genau“, bestätigte sie, während ihre knochigen, geschickten Finger Dosenfisch, gehackte Zwiebeln, Paniermehl, Eier und Gewürze für die Lachskroketten in einer riesigen blauen Keramikschüssel vermengten. Chance sah zu, wie die rosafarbene Masse wie weiche Knete durch die Finger ihrer Großmutter glitt.

„Und jetzt geh und wasch deine Hände. Du musst mir hier helfen.“

„Aber … ist Reis denn nicht weich?“, hatte Chance gefragt und war von der Anrichte heruntergesprungen. Sie zog den Schemel an die große altmodische Spüle, griff nach oben, um den antiken Wasserhahn aus Messing aufzudrehen, und hielt die Hände unter das Wasser. Sie griff nach dem riesigen Stück Kernseife, das Mammaw bei Piggly Wiggly gekauft hatte, und verrieb sie zwischen den Händen, während sie im Kopf Happy Birthday to You von vorne bis hinten durchsang, so wie sie es gelernt hatte.

Chance bemühte sich immer, alles so zu tun, wie sie es gelernt hatte.

Sie wusch sich die Hände ab, trocknete sie an einem ausgebleichten Handtuch, das noch ganz steif war. Es scheuerte, und durch die Seife fühlten sich ihre Hände trocken und wund an, aber auch sehr sauber.

„Ich spreche nicht von gekochtem Reis wie in Jambalaya, Schätzchen“, lachte Mammaw. „Das wäre ja weich wie ein Kissen. Es waren ungekochte, harte Körner. Sie bohren sich in deine Haut, und es fühlt sich an, als würden sie sich bis unter deine Kniescheibe drücken. Probier es aus, dann siehst du ja, ob es dir gefällt.“

„Nein, danke, Ma’am.“

Mammaw lachte wieder, löffelte eine kleine Handvoll Lachsmasse aus der Schüssel und ließ sie in die offene Hand fallen, um eine Krokette zu formen.

„Du bist ein gutes Mädchen, Chance. Ja, Gott hat etwas Großes mit dir vor, Schätzchen, glaub mir. Deshalb hat er dich verschont und deiner Mama geholfen, aus dem Jenseits zu sprechen.“

Claire fasste in die Schüssel, nahm ein bisschen von der klebrigen Masse heraus und versuchte konzentriert, einen Taler daraus zu formen. Sie gab ihr Bestes, aber als sie ihn aufs Blech legte, sah er neben den makellos runden Scheiben ihrer Großmutter aus wie ein ausgefranster Klumpen. Erschrocken sah sie zu Mammaw auf.

„Du musst nicht immer solche Angst haben, Schätzchen“, beruhigte Mammaw sie, nahm das unförmige Teil vorsichtig auf die Hand und glättete die Ränder mit einer schnellen, geübten Bewegung. „Jeder ist ungeschickt, wenn er klein ist. Kein Grund, sich zu schämen. Man braucht Zeit, Dinge zu lernen. Zeit und Übung.“

Chance bemühte sich bei der zweiten Krokette noch mehr, ihre Zungenspitze verharrte vor lauter Konzentration im Mundwinkel.

„Außerdem“, fuhr Mammaw fort, „glaube ich nicht, dass Gott dich gerettet hat, damit du eine gute Köchin wirst. Dafür ist der Rest von uns zuständig. Er hat andere Pläne mit dir. Ganz andere Pläne.“

„Welche denn?“

„Das weiß ich nicht. Es geht mich auch nichts an. Aber etwas ganz Besonderes. Vertrau mir.“

 

Claire betrat Mammaws hellblaues Zimmer. Es war so klein, dass das Doppelbett mit dem schweren Gestell kaum hineinpasste. Auf ein knallbuntes Kissen war von Kinderhand Beste Mammaw der Welt gestickt.

Und dann war da Mammaw. Jessica hatte Claire gewarnt, dass Mammaw nicht mehr viel aß, trotzdem war es ein Schock, sie so winzig zu sehen, als ob sie verschrumpeln und irgendwann in den weichen weißen Laken verschwinden würde. Sie war immer kräftig gewesen, und ihre molligen Arme und ihr großer Busen waren ein willkommener Fluchtpunkt für das verängstigte kleine Mädchen gewesen. Doch Mammaws hellbraune Augen waren so klar wir immer, und ihr Lächeln war ungetrübt.

„Nein, was bist du doch für eine Augenweide, Schätzchen?“

Claire quetschte sich auf die Bettkante und umarmte ihre Großmutter, wobei sie aufpasste, nicht zu fest zu drücken. Sie konnte Mammaws Knochen und den schnellen Herzschlag durch das dünne rosafarbene Nachthemd spüren.

Einmal in der dritten Klasse hatte Claire auf dem Heimweg einen verletzten Vogel gefunden. Das Gefühl in der Handfläche war das gleiche gewesen: winzig, zerbrechlich und ein rasender Herzschlag. Remy hatte ihr geholfen, aus Zeitungen und Blättern ein kleines Nest zu bauen. Sie hatten Würmer ausgegraben, aber das verängstigte kleine Tier hatte ihr Angebot ignoriert. Es hatte den Tag nicht überlebt. Sie hatten es in einer Schuhschachtel hinter dem alten Ford begraben, der neben der Garage vor sich hin rostete, seit sie denken konnte. Remy hatte die Stelle mit einem einfachen Holzkreuz markiert, das immer noch dort stand.

Mammaw entzog sich der Umarmung, und Claire fühlte Tränen in sich aufsteigen.

„Wag es ja nicht, wegen mir traurig zu sein, Schätzchen“, sagte Mammaw in Cajun und drohte ihr mit dem Finger. „Ich bin fast bereit zu gehen. Ich brauche nur noch zwei Dinge: Ich muss ein paar Briefe schreiben und meine Beerdigung planen. Ich möchte hier zu Hause sterben, hörst du? Bring mich ja nicht ins Krankenhaus. Versprich es mir!“

Claire nickte, unfähig zu sprechen.

Mammaw hatte sich nie mit Gefühlen aufgehalten. Sie nahm die Dinge in die Hand; das machte sie aus, das, und wie sie spontan lachte, wie sie mit offenem Mund aß und alles glaubte (und wiederholte und ausschmückte), was sie in der Boulevardzeitung las. Wie sie – als sie älter wurde und nicht mehr so gut gehen konnte – mit einem Bürostuhl durch die Küche rollte, sich vom Tisch abstieß, um zur Anrichte zu gelangen, und umgekehrt.

„Ich habe ein paar Anweisungen für meine Beerdigung“, fuhr Mammaw fort. „Aber hilf erst mal Remy mit diesem Baum, der aufs Dach gefallen ist. Damit er endlich von was anderem redet. Dieser Junge sorgt sich noch zu Tode, das schwöre ich. Und schieb den ganzen Kram da oben einfach auf die Seite, ja, Schätzchen?“

„Natürlich, das mache ich“, antwortete Claire. „Ich kümmere mich gleich darum. Aber kann ich dir vorher nicht noch irgendetwas bringen? Vielleicht was zu essen?“

„Ich habe riesige Lust auf Gumbo. Vielleicht kannst du die Zutaten für morgen besorgen?“

„Das mache ich. Und jetzt gerade willst du nichts?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich mache ein kleines Nickerchen. Ab mit dir an die Arbeit.“

Claire küsste die weiche Wange ihrer Großmutter – sie roch nach Mandeln, eine Mischung aus Jergens-Creme und Babypuder – und tat wie ihr geheißen. Als Erstes rief sie bei einer Dachdeckerfirma an, die Männer wollten am nächsten Tag kommen. Dann schlüpfte sie in ein altes Paar Jeans und streifte ein T-Shirt über.

Claire traf Remy in seinem Schlafzimmer an und bat ihn um Hilfe. Sie betrat seinen Wandschrank, schob die muffigen Armeeuniformen und den dunklen Anzug beiseite, den er für Hochzeiten oder Beerdigungen aufhob, und drückte mit den Fingerspitzen leicht gegen die Bretter an der Rückseite des Schranks, sodass eine Luke aufsprang und eine Holzleiter zum Vorschein kam, die daran festgeschraubt war.

Claire fragte sich, wie es sein konnte, dass sie sich als Kind oft auf dem Dachboden aufgehalten hatte. Es war unerträglich heiß, und innerhalb von Minuten standen ihr Schweißperlen auf der Stirn. Es war so drückend und eng, dass sie kaum Luft bekam, während sie die Kisten auf die unbeschädigte Seite des Dachbodens schob. Einige – diejenigen, die Briefe und Fotos enthielten – reichte sie Remy nach unten, damit er sie in einer Ecke seines Schlafzimmers übereinanderstapelte. Claire arbeitete so schnell wie möglich, um der Hitze wieder zu entkommen, aber als sie auf eine Kiste stieß, die ganz hinten unters Dach geschoben war, verlangsamte sie das fieberhafte Tempo.

„Was ist das für eine Holzkiste aus Paris, Remy? Kennst du die?“, rief sie nach unten.

Sein Kopf tauchte in der Luke auf. „Das weiß ich nicht. Ich bin nicht oft hier oben. Da solltest du Mammaw fragen.“

Sobald sich Claire der Kiste näherte, brachen die Erinnerungen über sie herein.

Es war August, und unter dem Dach war es heiß wie in einem Ofen.

Doch die zehnjährige Chance störte sich nicht daran. Hier oben auf dem Dachboden hatte sie eine Zuflucht gefunden.

Es war der einzige Ort, wo sie sich vor ihrer vier Jahre älteren Cousine Jessica verstecken konnte, und vor dem Mob aus Anhängern, der Jessica auf Schritt und Tritt folgte und tat, was immer sie verlangte, und das nur, weil sie langes, glänzendes platinblondes Haar hatte und, das musste Chance zugeben, blitzgescheit war. Sie lebte mit ihren Eltern in einem riesigen Nobelbungalow mit Whirlpool und Kabelfernsehen einschließlich aller Premiumkanäle. Jeder aus Jessicas Entourage wusste: Sie brauchten ihre Karten nur richtig auszuspielen, um mit etwas Glück zu einem Kinoabend mit Pizza und Limonade bei Jessica eingeladen zu werden.

Chance war bei diesen Events nur dabei, wenn Mammaw eine große Sache daraus machte und darauf bestand, dass sie auch eingeladen wurde. Aber Chance scherte sich nicht darum. Sie wollte sowieso nicht hin.

Wahrscheinlich wusste Jessica gar nicht, dass es in Mammaws kleinem Häuschen einen Dachboden gab. Denn wenn sie es wüsste, dann würde sie Onkel Remy so lange auf die Nerven fallen, bis er ihr den geheimen Eingang verriet. „Wo versteckt sich nur diese Chance?“, würde sie lächelnd fragen. „Wir haben eine Überraschung für sie!“

Und auch wenn Chance Remys Liebling war und er es nicht verraten wollte, würde er es doch tun müssen. Jessica machte ihre Sache einfach zu gut.

In der drückenden Hitze war Chance innerhalb von Sekunden von einem Schweißfilm überzogen, aber sie genoss die Einsamkeit, den Nervenkitzel, einen geheimen Rückzugsort zu haben. Hier oben hatte sie schon lange, stickige Nachmittage mit einem großen Becher süßen Tee verbracht, sicher vor Jessica und ihrer Gang, und hatte Mammaws Schätze durchstöbert, auch wenn das meiste nur Plunder war: alte Alben mit verknitterten Fotos und ausgeblichenen Schnappschüssen – sie war immer auf der Suche nach Bildern von ihrer Mutter gewesen –, modrig riechende Babykleidung, Kartons mit Bowlingpokalen und Armeeunterlagen, ein altes rosafarbenes Babybett, an dem zwei Stäbe fehlten.

Doch dann fiel ihr Blick auf die hölzerne Kiste.

Jemand hatte sie ganz nach hinten unter das Dach geschoben, weit hinter die Pappkartons, in denen einst Hundefutter und Waschmittel aufbewahrt wurde, und die jetzt mit alten Schulheften, vergilbten Spitzendeckchen und selbst gebasteltem Weihnachtsschmuck vollgestopft waren.

Attention – Fragile stand in roten Buchstaben auf den Seiten der Kiste. Manipuler avec attention. Der Absender lautete: Moulage Lombardi, 17 Rue de la Huchette, Paris, France.

Paris. Ein Kribbeln durchströmte sie.

Neugierig wie sie war, versuchte sie, die Kiste mit bloßen Händen zu öffnen und dabei die Holzsplitter zu ignorieren. Doch es gelang ihr nicht. Sie suchte herum, bis sie in der Weihnachtskiste auf einen Kranzhalter aus Metall stieß, schob ihn in den schmalen Spalt unter dem Deckel und stemmte sich mit all ihrem Gewicht dagegen. Mit einem lauten Quietschen gaben die rostigen Nägel nach, und Chance hob den Deckel an.

Darin war eine Mischung aus Sägespänen, Zeitungen und zusammengeknülltem Schmierpapier. Sie schob alles beiseite und erstarrte: In der Kiste lag das lebensgroße schlafende Gesicht einer Frau. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie lächelte, ein bisschen nur, als hütete sie ein Geheimnis.

Sie war bestimmt wunderschön, dachte Chance.

Aber das Gesicht war in ein halbes Dutzend Stücke zerbrochen, und hässliche Risse überzogen die glatte weiße Stirn und die runden Wangen.

Was für ein Jammer. Sie hätte so hübsch an einer Wand ausgesehen. Vielleicht über dem Fernseher, sodass man während der Werbepausen sie hätte anschauen können. Direkt neben dem Gratiskalender aus der Bäckerei des Ortes, neben Remys altem Armeefoto und dem blau-schwarz-grünen Bild einer Spinne in ihrem Netz, das Claire in der zweiten Klasse mit Fingerfarbe gemalt und das Mammaw gerahmt und voller Stolz aufgehängt hatte.

Chance streichelte über die Teile der Maske, ertastete die Linien und Konturen. Die Stücke waren aus dickem Gips und sehr schwer. Die Oberfläche glänzte seidig, als ob sie von einer Lackschicht bedeckt wäre, aber als sie mit den Fingern an den Kanten der Scherben entlangfuhr, fühlten diese sich sandig und rau an und erinnerten sie an die groben grauen Felsen am Strand.

Als sie die Hände zurückzog, waren sie von weißem Staub bedeckt. Chance zerrieb den Staub zwischen den Fingern und fragte sich, wer die Dame wohl war und wie sie den langen Weg von Paris bis auf Mammaws Dachboden gefunden hatte.

Chance zögerte, dann warf sie einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob sie auch wirklich allein war. Natürlich war sie es, denn schließlich kam hier nie jemand hoch. Aber man wusste ja nie.

Sie kniff die Augen zu, atmete tief aus und griff nach dem zerbrochenen Gesicht. Sie wartete, ob die Maske zu ihr sprechen würde.

Das war genau der Grund, warum Chance eine Außenseiterin war und Jessicas Verachtung auf sich zog. Kein Wunder, dass deine Mama sich umgebracht hat und dich mit sich nehmen wollte!

Chance war sich darüber bewusst, aber manchmal funktionierte es trotzdem. Manchmal, wenn sie sich vor ihrem Vater in dem kleinen Dreieck zwischen Sofa und Wand versteckte, dann nahm sie eine der selbst gemachten Tonfiguren ihrer Mutter in die Hand – ein kleines Schwein, ein Elefant oder eine Robbe –, schloss die Augen und hielt die Luft an. Und dann konnte sie fühlen, wie sie zum Leben erwachten. In ihrer Hand.

Und sie flüsterten ihr zu: „Alles wird gut werden. Du bist nicht allein. Du bist ein Wunder.“

Chance schloss die Augen, legte die Hände auf das Gesicht und konzentrierte sich. Sie war geduldig, aber die Frau weigerte sich, zu ihr zu sprechen. Vielleicht funktionierte es ja nur bei Dingen, die ihre Mutter gemacht hatte, dachte Chance. Vielleicht war das die Art ihrer Mutter, aus dem Grab zu ihr zu sprechen.

Doch egal ob stumm oder nicht, Claire mochte das Gesicht in der Kiste. Die Frau sah so freundlich und nett aus. Und definitiv, als ob sie etwas zu sagen hätte, aber wohl erst, wenn sie selbst die Zeit dafür gekommen sah. Oder blieb sie etwa stumm, weil sie zerbrochen war? Vielleicht sollte sie Kleber holen? Sie könnte sie ja reparieren.

Chance richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Papiere, in die das Gesicht gebettet war. Sie glättete eines nach dem anderen und versuchte, die Sätze zu entziffern. Doch obwohl Mammaw darauf bestand, dass sie zu Hause Cajun sprachen, war Chances Französisch noch nicht perfekt. Sie sprach die Wörter aus, so gut sie konnte. Eines der Blätter schien ein alter Einkaufszettel zu sein, sie erkannte haricots verts, poireaux, pommes de terre. Da waren kurze Notizen, Rezepte und grobe Skizzen von Gesichtern und Händen. Und eine Liste mit Maßen.

Und dann entdeckte sie den Brief.

Es war kein wirklicher Brief, und er war zerrissen, aber Chance durchwühlte die Kiste und fand die zweite Hälfte.

Die Schrift war geschwungen und schwer zu entziffern, anders als auf den anderen Zetteln. Die Tinte war zu einem Sepiaton verblasst, und das Papier war vergilbt, so als ob die zwei Farbtöne über die Jahre versucht hätten, sich einander anzunähern.

Das schwere Papier war gefaltet und auf den 26 février datiert. Kein Jahr, kein Kontext, keine Adresse. Geschrieben in Französisch lautete der Brief:

Meine Liebe, meine Teuerste,

Olivier wird uns helfen. Wir dürfen nicht länger zögern. Wir müssen handeln. Ich werde warten. Nimm nichts mit.

In einer anderen Handschrift, ungeübter, weniger selbstsicher und mit mehr Tintenflecken versetzt, stand darunter: 

Er wird mich niemals lebendig gehen lassen.


Chance drehte das Blatt um und leerte die Holzkiste aus, um nach weiteren Hinweisen zu suchen. Aber das war alles. Ihre Hände zitterten, als sie den Brief erneut las und dem Klang der Worte lauschte. Es musste sich um etwas Besonderes handeln, das stand fest. 

Vielleicht war es das, dachte Chance. Vielleicht war das das Geheimnis, der Grund, weshalb sie dem Tod entkommen war.

Erzähl es mir noch mal. Erzähl mir von meiner Mama, als das Auto von der Straße abgekommen ist. Warum bin ich nicht auch gestorben?

Gott hat etwas Großes mit dir vor, Chance. Glaub mir. Du bist ein Wunder, Schätzchen, vergiss das nie.

Juliet Blackwell

Über Juliet Blackwell

Biografie

Juliet Blackwell wuchs in Kalifornien auf. Nach ihrem Studium der Anthropologie arbeitete sie als Sozialarbeiterin, Englischlehrerin sowie als freischaffende Künstlerin und Autorin, unter anderem in New York, Kuba und Frankreich. Sie hat zahlreiche Romane veröffentlicht, die es auf die New York...

Pressestimmen
monikaschulte.blogspot.com

„Überraschende Wendungen machen diese wunderbare Geschichte zu einem spannenden Lese-Erlebnis.“

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