


Einer fehlt Einer fehlt - eBook-Ausgabe Einer fehlt
Roman
— Vom Wert der Freundschaft und der Liebe„Wie man es von Thommie Bayer kennt, entfasert er vorsichtig, fast zärtlich, dass fein gewirkte Gespinst zwischenmenschlicher Beziehungen und verliert dabei inzwischen auch die Enden nicht aus dem Blick.“ - Goslarsche Zeitung
Einer fehlt — Inhalt
Drei Freunde, zwei Frauen, eine große Suche
Die Geschichte einer großen Freundschaft und ihrer schwersten Prüfung: In den wilden 70ern haben sich Georg, Paul und Schubert auf einer Italienreise kennengelernt und sind seither die engsten Freunde. Verbunden und zeitweise getrennt wurden und werden sie durch Carolin, in die alle drei verliebt und mit der sie nacheinander zusammen waren, Schubert bis heute. Als Georgs Frau stirbt und er aus Wien verschwindet, machen Schubert und Paul sich auf die Suche nach ihm - und nach ihrer Vergangenheit. Eine sentimentale Reise in die Gefilde der Freundschaft und der Liebe, die bis nach Ligurien führt.
„Thommie Bayer erzählt Geschichten, die sich leicht und amüsant lesen lassen, aber zum Nachdenken verführen.“ NDR Kultur
Leseprobe zu „Einer fehlt“
Das Jahr ist wieder alt geworden. Ein Windstoß wird in absehbarer Zeit, in Tagen, nicht Wochen, die letzten leuchtenden Farben aus dem Bild wischen und nur graubraune Flicken eines Teppichs übrig lassen. Stare, Störche und Graugänse sind vorbeigezogen, das müde Grün der Weinberge und Rapsfelder mischt sich mit dem Nebel und wartet ergeben auf die Erstarrung des Winters.
Um von dieser Erstarrung nicht erfasst zu werden, träumt sich Paul in den Süden, nach Apulien, ins Veneto, nach Rom. Zu träumen ist ihm selbstverständlich, er hat zwei Drittel seines [...]
Das Jahr ist wieder alt geworden. Ein Windstoß wird in absehbarer Zeit, in Tagen, nicht Wochen, die letzten leuchtenden Farben aus dem Bild wischen und nur graubraune Flicken eines Teppichs übrig lassen. Stare, Störche und Graugänse sind vorbeigezogen, das müde Grün der Weinberge und Rapsfelder mischt sich mit dem Nebel und wartet ergeben auf die Erstarrung des Winters.
Um von dieser Erstarrung nicht erfasst zu werden, träumt sich Paul in den Süden, nach Apulien, ins Veneto, nach Rom. Zu träumen ist ihm selbstverständlich, er hat zwei Drittel seines Lebens fernab der Wirklichkeit verbracht. Als professioneller Leser war er immer im eigenen Kopf unterwegs an Orten, die er sich vorstellen musste, in Leben, die er selbst nicht leben konnte, und an Grenzen, die man allenfalls im Schlaf überschreitet.
Und seit einem Jahr auch in der Erinnerung.
Die hat sich mittlerweile zu einer Kette verbundener Ereignisse gefügt: Jeder Fehler hatte Folgen, jedes Unglück einen Grund, und jede Gnade war ein Lohn für sein Geschick. Eine weitgehende Fälschung also, ein aufgeräumtes Leben, in dem sich Kapitel an Kapitel reiht, kein Wort mehr zu viel oder ungenau ist, und kein Zufall mehr die Wendungen erklärt.
Manchmal allerdings ist die Grenze zwischen Erlebtem und Gelesenem so durchlässig, dass Paul sich beim Plagiieren ertappt und insgeheim Streichungen vornimmt, wenn er irgendeiner Anekdote ein Stück Literatur beigemischt hat. Als Lektor bei einem großen Verlag ist er durch Tausende von Texten gegangen, die sich wie Aerosole im Raum seiner Innenwelt verteilt haben und jederzeit dazwischenschieben konnten, mal als Gedanke oder Satz, mal als Ereignis oder Gefühl aus zweiter Hand.
Paul fährt den Computer hoch. Aber noch bevor er sich seiner morgendlichen Routine widmen kann, unerwünschte E-Mails löschen, erwünschte oder zumindest akzeptable beantworten, durch Facebook scrollen auf der Suche nach Nachrichten und sich dabei verlieren in den Bildern, Behauptungen und Befindlichkeiten, die seine heterogene Schar aus überwiegend virtuellen Freunden postet, ertönt die amerikanische Bahnübergangsglocke seines Mobiltelefons und lenkt seine Aufmerksamkeit vom großen Bildschirm auf den kleinen. Eine SMS von Schubert: Ich glaube, wir müssen uns um Georg kümmern.
Paul schreibt: Was ist los?
Es dauert keine dreißig Sekunden, bis Schubert antwortet: Malin ist gestorben. Gestern.
Lange Minuten vergehen, bis Paul klar wird, dass er nur geradeaus starrt, nach draußen, durchs Fenster ohne irgendwas zu sehen außer Georgs Frau, der Schönheit, die sich nicht ein einziges Mal ihm gegenüber herzlich oder auch nur aufmerksam gezeigt hat. Seit fast vierzig Jahren kannte er sie, und bis auf wenige Gelegenheiten, bei denen man es längere Zeit miteinander aushalten musste, war sie zwischen Tür und Angel an ihm vorbeigehuscht. Wann immer Schubert und er kamen, war sie auf dem Sprung. Sie mochte Georgs beste Freunde nicht, weil sie Georg nicht mochte.
Warum sie ihn nie verlassen hat, ist ein Rätsel, dessen Lösung Paul schon lange nicht mehr interessiert. Georgs ergebene Liebe hätte jeden Versuch, ihre Kälte erklären oder verstehen zu wollen, zu einer Art von Verrat an ihm gemacht. Also blieben ihr Verhalten und Pauls Abneigung eine Art von Tabu.
Der nebelfeuchte Geruch von Holzrauch bringt Paul wieder in sein Arbeitszimmer zurück. Die Nachbarin hat ihren neuen Kaminofen in Betrieb genommen. Das Festnetztelefon klingelt, und das Display zeigt die Nummer von Schubert.
„Das ist furchtbar“, sagt Paul, nachdem er abgenommen hat, denn sie halten sich nie mit Begrüßungsformeln auf.
„Ja“, erwidert Schubert, „sie ist beim Zahnarzt gestorben. Von jetzt auf gleich. Der arme Zahnarzt. Stell dir das mal vor, er dreht sich kurz weg, um den Bohrer zu wechseln, und dann liegt da eine Tote.“
Paul schweigt, wie meist, wenn er mit Schubert telefoniert. An Gesprächen mit ihm muss man sich nicht übertrieben beteiligen. Und das Einzige, was er in diesem Moment hätte sagen können, schluckt er hinunter, denn Schubert auf seine Herzlosigkeit hinzuweisen, wäre Heuchelei, weil auch Paul sich eher schockiert als erschüttert fühlt.
„Ellen hat mich angerufen. Sie sagt, er klingt so fertig, dass sie Angst hat, er tut sich was an. Sie ist in Philadelphia und kann nicht sofort zurückfliegen, weil noch zwei Konzerte mit ihr als Headliner anstehen. In ihrem Vertrag gibt es kein Schlupfloch, sagt sie, sie müsste schon selber tot sein, um das Konzert zu canceln. Eine tote Mutter gilt nicht.“
„Hältst du das für möglich? Dass er sich was antut? Georg ist doch ein stabiler Mensch.“
„Na ja, manchmal sind es die Stabilen, die zusammenbrechen, weil sie nicht auf die Idee kommen, Hilfe zu suchen“, sagt Schubert. „Ellen kennt ihren Vater, sie sagt, so hat er noch nie geklungen. Tonlos, leblos. Ihre Angst um ihn schien mir sogar die Trauer um ihre Mutter zu überlagern. Oder es ist eine Art Übersprunghandlung.“
„Hast du ihn angerufen?“
„Er geht nicht ran. Ich hab’s viermal probiert. Festnetz, Handy, E-Mail, keine Reaktion.“
„Kennst du irgendwen in Wien, der mal bei ihm vorbeigehen könnte?“
„Niemanden, der auch ihn kennt.“
Paul hat ein Bild vor Augen. Es ist aus einem Film. Oder aus mehreren Filmen. Ein Klischee. Eine Hand leert den Inhalt einer Pillendose in die andere, die wird zu einem Mund geführt, der mit großen Schlucken Wasser oder Alkohol alles hinunterschluckt.
„Ich hab einen Flieger um halb fünf, der landet um zehn vor sechs in Schwechat“, sagt Schubert, „kommst du auch? Mir wäre wohler mit dir an meiner Seite.“
Paul nickt nur, aber dann wird ihm klar, dass ein Kopfnicken am Telefon nicht funktioniert, also sagt er „Ja“ und verspricht, sich per Handy zu melden, wenn er angekommen ist. „Kann spät in der Nacht werden“, sagt er noch, „ich nehm das Auto.“
„Dann bis gleich“, sagt Schubert, und „danke“, und dann legt er auf. Auch das ist Standard bei ihren Telefonaten: Schubert hat den Text und Schubert hat das Schlusswort.
~
Annik, die Nachbarin, ist schon zur Arbeit aufgebrochen, ihren hellgelben Beetle hat Paul beim Telefonieren vorbeifahren sehen. Er schreibt ihr einen Zettel, dass er für einige Tage wegmüsse, sie seine Post sammeln solle, er leider am Abend deshalb nicht kochen könne und die morgige Fahrt zum Bauhof mit dem gesammelten Laub ausfalle.
Nachdem er alle Heizkörper auf drei gedreht, den Koffer geschlossen, Mantel und Mütze daraufgelegt und alle Pillen in die Umhängetasche gepackt hat, überlegt er, ob es sinnvoll wäre, ein Buch mitzunehmen, entscheidet sich aber dagegen. Er wird nicht zum Lesen kommen.
Seit einem Jahr stapeln sich Bücher, die er noch einmal lesen will, auf dem Couchtisch, Der Magus, Garp, Abspann, Der Meister und Margarita, Mister Aufziehvogel, Tom Sawyer und Djamila, aber die lang ersehnten Mußestunden des Rentnerlebens füllten sich mit Facebook, Netflix und Blogbeiträgen. Der Stapel ist zu einer immer leiser werdenden Mahnung mutiert, das wirkliche Lesen nicht zu vergessen, einer Art Dekoration, einem Accessoire, einem Zeichen, dem Paul keine Bedeutung mehr zugesteht.
Dabei war das der Plan fürs neue Leben gewesen. Endlich lesen, was er will, wofür die Zeit nie reichte, weil der Stapel dessen, was er lesen musste, nie zur Neige ging. Vielleicht braucht er einen anderen Plan, aber noch zeichnet sich keiner ab. Und noch hat er die Geduld, darauf zu warten, ohne schlechtes Gewissen und ohne Angst, in der noch immer ungewohnten Ruhe zu verkümmern.
~
Nachdem der riesige Wagen aus der Garage ist, klappt Paul die Seitenspiegel aus und legt die CD mit dem fünften Klavierkonzert von Beethoven bereit. Einlegen und starten wird er sie erst auf der Autobahn.
Nieselregen löst den Nebel ab auf der Fahrt hinunter ins Rheintal, und Paul freut sich, endlich wieder in Bewegung zu sein. Der Grund dafür ist denkbar traurig, und einstweilen hält er das Bild seines erschütterten Freundes noch fern, aber die vielen Kilometer, die nun vor ihm liegen, das Reisen an sich, tun ihm gut, als habe der kleine und ehemals mondäne Kurort, in dem er seit einem Jahr wohnt, der Alltag mit seinen gleichmäßigen Verrichtungen und das Alleinsein ihn gelähmt und falle diese Lähmung jetzt mit jeder Kurve, jedem Kreisverkehr und jeder überquerten Kreuzung von ihm ab.
~
Paul war nie allein bevor er sich entschloss, München zu verlassen. Nicht als Kind mit zwei Geschwistern, nicht als Schüler im Internat, nicht in den Wohngemeinschaften seiner Studienzeit und nicht in all den Jahren als Lektor, zuerst mit Carolin, seiner großen Liebe, und dann, nachdem sie die Stadt und ihn verlassen hatte und er sich wieder ins alte Wohngemeinschaftsfahrwasser gleiten ließ, weil er so die Hypothek für die Wohnung in der Münchner Maxvorstadt nicht in voller Höhe von seinem anfangs eher schmalen Gehalt abknapsen musste.
Nach Tilgung der letzten Rate war aus der anfangs nur pragmatischen Lösung längst eine Lebensart geworden, an der er nichts mehr auszusetzen hatte, sodass er einfach alles weiterlaufen ließ und sich vornahm, das Abenteuer des Alleinseins erst als Rentner zu wagen. Dann aber richtig. Verkauf der Wohnung, Umzug in eine Kleinstadt nahe der Grenzen zu Frankreich und der Schweiz, Nestbau ohne jeden ästhetischen oder praktischen Kompromiss und Leben in dem Rhythmus, der sich von selbst einstellt.
Ein Vierteljahr dauerte die Renovierung, bei der sich Paul als Handlanger nützlich machte, jeden Fortschritt im Blick behielt und jede Entscheidung vor Ort treffen konnte, sodass am Ende alle Lichtschalter in derselben Höhe, im selben Abstand von den Türrahmen und vor allem gerade angebracht waren, jeder in die Decke versenkte Halogenstrahler richtig saß, und die roten Bodenfliesen aus Italien wie ein karierter See durch die ganze Beletage flossen, als hätten sie ihre feste Form erst hinterher gebildet.
Nachdem die Umzugsfirma alles aus dem Münchner Lagerhaus gebracht hatte und er aus der Ferienwohnung aus- und ins fertiggebaute Nest eingezogen war, stand die Nachbarin abends mit Brot und Salz vor seiner Tür, und er lud sie spontan zum Essen und zur Einweihung des neuen Herds ein.
Ein paar Tage später revanchierte sie sich, und daraus erwuchs nach und nach die Routine, dass zweimal in der Woche er und zweimal sie kochte, sodass er nur an den Wochenenden abends wirklich allein war, weil sie dann zu ihrer Tochter nach Altkirch im Sundgau fuhr.
Ans Kochen hat er sich schon als junger Erwachsener gewöhnt. Carolin, die behauptete, nicht mal ein Ei hinzubekommen, hatte wenig Neigung gezeigt, zum Essen auszugehen, und er noch weniger, sich jeden Abend mit Schinkenbrot, Spiegelei oder allenfalls Spaghetti zufriedenzugeben. Ein paar zusammengesammelte Rezepte später war er ein passabler Koch geworden, nicht die Sorte, die sich mit handgeschmiedeten japanischen Messern an der kupferumrandeten Kochinsel spreizt, sondern einer, der in überschaubarer Zeit essbare Hausmannskost auf den Tisch bringt.
Carolin. Drei Jahre war sie geblieben und dann eine Woche vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag mit Georg nach Hamburg gezogen. Nach drei zermürbenden Nächten, in denen sie versuchte, zu erklären, dass Paul nichts falsch gemacht habe, dass es einfach passiert sei, dass sie ihn nicht verlieren wolle, er Georg nicht die Freundschaft kündigen dürfe, weil auch der ihn nicht verlieren wolle, half er ihr die Koffer zum Auto zu tragen, in dem Georg saß und das Lenkrad anstarrte.
Anfangs glaubte Paul an eine Episode, die nun eben vorbei sei, eine Phase unter anderen im Leben, die sich irgendwann den nachfolgenden angleichen würde. Was ihm in diesem Moment, in seiner fassungslosen Lähmung wie ein früher Tiefpunkt seines Lebens erschien, wäre später ein Mosaikstein, Teil des größeren Ganzen, aber die Jahre vergingen, Amouren und Bindungen, ernsthafte und spielerische, lösten einander ab, ohne dass sich jemals die Helligkeit und Wärme eingestellt hätten, die das Zusammensein mit Carolin auf ihn abgestrahlt hat.
Man liebt nur einmal, dachte er manchmal, und wenn das zu früh geschieht, dann dehnt sich die Ebene hinterher. Im Lauf der Zeit verstand er, dass all die Frauen, die er an sich heranließ, so verschieden sie auch sein mochten, eines gemeinsam hatten: Sie waren nicht Carolin.
~
Die Scheibenwischer haben ihre Arbeit eingestellt, aber die Fahrbahn ist noch nass, als er auf die Autobahn einbiegt. Paul beschleunigt auf Hundertzwanzig und stellt den Tempomaten ein, dann überlässt er die CD dem Laufwerk und sich der Musik.
Die großartige Anlage und der fast lautlose Motor haben den Ausschlag gegeben beim Kauf dieser Limousine. Die Schönheit und Eleganz der Inneneinrichtung und äußeren Form taten ein Übriges dazu, obwohl die Fahrten zum Supermarkt in Frankreich oder nach Basel ins Museum nicht gerade überlaut für so viel Platz und Luxus sprachen. Umso mehr ist ihm jetzt die Fahrt nach Wien als Begründung willkommen. Neun Stunden entspanntes Gleiten sind ein Argument.
Google Maps hat gezeigt, dass er neuerdings nördlich von München nach Linz weiterfahren kann und nicht mehr wie beim letzten Mal über Rosenheim und Salzburg muss, weshalb er den Impuls unterdrückt hat, über Zürich und Innsbruck zu fahren, obwohl das die schönere Strecke gewesen wäre.
Dieses Auto ist das einzige, das er je besessen hat. In der Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist, gab es immer jemanden, der ihn mitnahm, in der Mittelstadt, in der er seinen Zivildienst absolviert hat, war es genauso, und in München, wo er schließlich landete, wäre ein eigener Wagen nur lästig und angesichts der glänzenden Möglichkeiten, mit U-Bahn, Bus oder Fahrrad überall hinzukommen, auch überflüssig gewesen.
Erst mit vierzig hat Paul den Führerschein gemacht, weil seine damalige Freundin Erbin einer Mietwagenfirma war und mit ihm den Gardasee, Verona und Venedig sehen wollte, ohne die ganze Zeit als Chauffeurin fungieren zu müssen. Nachdem die Liaison in die Brüche gegangen war, blieben die Vorzugspreise bestehen, sodass er weiterhin nach Herzenslust in alle Richtungen verreisen konnte, ohne Plan und ohne große Vorbereitungen.
Am Rasthof Bühl nimmt er das erste und dritte Klavierkonzert aus ihren Hüllen, und als diese beiden verklungen sind, schwingt er sich schon die Kurven der Geislinger Steige hinauf. Für einen normalen Wochentag ist der Verkehr erstaunlich flüssig, sogar vor den beiden Baustellen, die er bis jetzt durchfahren und im Stuttgarter Raum, wo er fest mit Stau gerechnet hat.
Schon seit mehr als einer Stunde gleitet er unter blauem Himmel dahin, und langsam schiebt sich das Bild von Georg wie eine Folie über das Geschehen. Verzweifelt? Stumpf? Betrunken oder unter Tabletten, die alles in ein Dämmerlicht tauchen? Tot?
Wenn Georgs Tochter Ellen das für möglich hält, ist es nicht so leicht von der Hand zu weisen, wie Paul das instinktiv will. Er hat Georg nie hilflos erlebt. Cholerisch ja, impulsiv und fahrig, versteinert vor Schmerz, aber niemals kraftlos oder auch nur desorientiert.
~
Als er auf ihn aufmerksam wurde, waren sie beide fünfzehn. In diesem Alter hat man die Einsamkeit schon kennengelernt und mit Glück einen Sinn für Seelenverwandte entwickelt.
Georg war neu in die Klasse gekommen, hatte die ersten Wochen während des Unterrichts nur aus dem Fenster oder vor sich hin geschaut, nie zur Tafel, zum Lehrer oder gar zu seinen Mitschülern, auf den Fluren hielt er den Kopf gesenkt und war nicht einmal durch Rempler oder Sticheleien zum Aufblicken zu bewegen, und draußen wurde er sofort unsichtbar. Er schien sich, sobald er das Portal durchquert hatte, in Luft aufzulösen.
Irgendetwas an diesem neuen Mitschüler war bemerkenswert, sei es, dass er ein bisschen aussah wie James Dean, sei es, dass er so fremd und verloren unter den anderen wirkte, wie Paul sich selbst fühlte, was auch immer es war, es brachte ihn dazu, seinen Blickradius so einzurichten, dass dieser Fremdling, und sei es nur am Rande, darin auftauchte. Er beobachtete ihn.
Deshalb fiel ihm auf, dass Georg nach ein paar Wochen begann, während des Essens unauffällig Wurst und Schinken in ein Taschentuch zu sammeln. Danach sah Paul ihn im nahen Wäldchen verschwinden. Auf einmal war er, zumindest für Paul, nicht mehr unsichtbar. In einer Pause nach dem Mittagessen folgte er ihm, vorsichtig, in einigem Abstand, und fand ihn auf einem Baumstumpf sitzend neben einem zerzausten grau rot getigerten Kater, der sich gierig über das Essen hermachte, während Georg ihm Wasser aus einer olivfarbenen Feldflasche in ein vom Buffet gestohlenes Glasschälchen goss.
Der Kater zuckte zusammen und duckte sich fluchtbereit, als Paul auf einen Zweig trat, Georg blickte auf und sagte: „Bleib da, sonst haut er ab“, und Paul tat wie ihm geheißen.
„Du kannst dich hinsetzen“, sagte Georg, „dann bist du weniger bedrohlich“, und Paul folgte auch dieser Anordnung und sah dem jetzt wieder entspannten Kater zu, dessen Schnurren er über die vielleicht sieben Meter Distanz hinweg hören konnte. Er zündete sich eine Zigarette an, die zwölfte in seinem Leben, er hatte erst vor einer Woche damit angefangen und musste manchmal noch husten. Diesmal nicht.
„Hast du mir auch eine?“, fragte Georg, und Paul warf ihm das Päckchen zu, schaffte es aber nicht über die ganze Distanz, sodass Georg aufstehen musste, um es dort, wo es gelandet war, abzuholen. Der Kater schaute nur kurz auf und fraß weiter. Offenbar vertraute er Georg und ließ sich auch von dessen schnelleren Bewegungen nicht aus der Ruhe bringen.
„Feuer“, kommandierte Georg, und Paul warf ihm sein Zippo zu. Diesmal passte die Distanz und vor allem das Gewicht des Feuerzeugs, und Georg fing es lässig auf.
„Was machst du hier?“
„Sehen, wen du fütterst.“
„Wenn du es jemand sagst, bist du tot.“
„Ich kann mitsammeln, wenn du willst, das Zeug schmeckt sowieso scheiße.“
„Gut“, sagte Georg, „Darius braucht Abwechslung von den ewigen Mäusen und Vögeln.“
Sie schwiegen eine Zeit lang und schauten jeder woandershin, Paul auf den Kater, der sich jetzt putzte, und Georg in Richtung der Dünen, die sich an das Wäldchen anschlossen.
„Warum bist du hier?“, fragte Georg schließlich ohne den Kopf zu drehen.
„Hier im Wald oder hier in der Schule?“
„Schule.“
„Ich hab Asthma, und der Arzt sagt, es geht vielleicht für immer weg, wenn ich eine Weile hier bin. Und du?“
„Meine Alten lassen sich scheiden, und ich bin im Weg.“
„Sie wollen dir den Scheidungskrieg ersparen.“
„Eher wollen sie sich meine Gegenwart ersparen. Ich würde sie nur vom Wesentlichen ablenken, sich nämlich Sachen an den Kopf zu werfen. Echt und metaphorisch.“
Der Kater streckte sich. Zuerst die Vorderbeine, dann die Hinterbeine, dann rieb er seinen Kopf an Georgs Bein.
„Müsste er nicht eine Perserkatze sein, wenn er Darius heißt?“
„Müsstest du nicht an deinen Hausaufgaben sitzen, wenn du ein Streber bist?“
„Wieso Streber?“
„Weil du weißt, dass Darius ein persischer König war.“
„Da du es auch weißt, bist du auch einer.“
„König?“
„Streber.“
„Asthma und Rauchen passen übrigens nicht supergut zusammen.“
Georg grinste, Paul zuckte die Schultern, und der Kater putzte sich wieder. Dann stand er auf und kam herüber zu Paul, schnupperte an dessen Knie, dann an seiner Hand, dann legte er eine Pfote auf Pauls Oberschenkel und nahm ihn damit offiziell in den Geheimbund auf.
„Gute, schnell zu lesende Unterhaltungslektüre.“
„Ein lesenswerter Kurzroman, der einen an manchen Stellen hell auflachen lässt und an anderen nachdenklich macht.“
„›Einer fehlt‹ ist eine wahrhaftige Liebeserklärung an die Freundschaft. Ein Roman, der es fertigbringt, lauter schwere Themen zu bewegen, und dabei selbst ganz leicht zu sein.“
„Sein neuer Roman ›Einer fehlt‹ ist leicht erzählt ist und stimmt doch zutiefst nachdenklich.“
„Es ist große Klasse, wie leichtfüßig Bayer eine doch dramatische Geschichte erzählen kann.“
„Ein Roman, der unaufgeregt daherkommt und dennoch von einer behutsamen Spannung getragen wird.“
„Ein wunderbares Buch über Freundschaft, in der nicht alles ausdiskutiert werden muss, die ein Leben lang Bestand haben kann. Dass Thommie Bayer schreiben kann, das wissen nicht nur seine Fans.“
„Ein Roman, der unaufgeregt daherkommt und dennoch von einer behutsamen Spannung getragen wird.“
„Wie man es von Thommie Bayer kennt, entfasert er vorsichtig, fast zärtlich, dass fein gewirkte Gespinst zwischenmenschlicher Beziehungen und verliert dabei inzwischen auch die Enden nicht aus dem Blick.“
„Bewegende Ode an die Freundschaft.“
„Ein feinsinniger, einnehmender Roman, der die Regionen der Freundschaft beflügelnd durchmisst und die Bedeutung des Wortes Freund in all seinen Facetten eindrucksvoll beleuchtet.“
DATENSCHUTZ & Einwilligung für das Kommentieren auf der Website des Piper Verlags
Die Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, info@piper.de verarbeitet Ihre personenbezogenen Daten (Name, Email, Kommentar) zum Zwecke des Kommentierens einzelner Bücher oder Blogartikel und zur Marktforschung (Analyse des Inhalts). Rechtsgrundlage hierfür ist Ihre Einwilligung gemäß Art 6I a), 7, EU DSGVO, sowie § 7 II Nr.3, UWG.
Sind Sie noch nicht 16 Jahre alt, muss zwingend eine Einwilligung Ihrer Eltern / Vormund vorliegen. Bitte nehmen Sie in diesem Fall direkt Kontakt zu uns auf. Sie selbst können in diesem Fall keine rechtsgültige Einwilligung abgeben.
Mit der Eingabe Ihrer personenbezogenen Daten bestätigen Sie, dass Sie die Kommentarfunktion auf unserer Seite öffentlich nutzen möchten. Ihre Daten werden in unserem CMS Typo3 gespeichert. Eine sonstige Übermittlung z.B. in andere Länder findet nicht statt.
Sollte das kommentierte Werk nicht mehr lieferbar sein bzw. der Blogartikel gelöscht werden, ist auch Ihr Kommentar nicht mehr öffentlich sichtbar.
Wir behalten uns vor, Kommentare zu prüfen, zu editieren und gegebenenfalls zu löschen.
Ihre Daten werden nur solange gespeichert, wie Sie es wünschen. Sie haben das Recht auf Auskunft, auf Berichtigung, auf Löschung, auf Einschränkung der Verarbeitung, ein Widerspruchsrecht, ein Recht auf Datenübertragbarkeit, sowie ein Recht auf Widerruf Ihrer Einwilligung. Im Falle eines Widerrufs wird Ihr Kommentar von uns umgehend gelöscht. Nehmen Sie in diesen Fällen am besten über E-Mail, info@piper.de, Kontakt zu uns auf. Sie können uns aber auch einen Brief schicken. Sie erhalten nach Eingang umgehend eine Rückmeldung. Ihnen steht, sofern Sie der Meinung sind, dass wir Ihre personenbezogenen Daten nicht ordnungsgemäß verarbeiten ein Beschwerderecht bei einer Aufsichtsbehörde zu. Bei weiteren Fragen wenden Sie sich gerne an unseren Datenschutzbeauftragten, den Sie unter datenschutz@piper.de erreichen.