

Die Erfindung der Sehnsucht Die Erfindung der Sehnsucht - eBook-Ausgabe
Roman
— Eine einfühlsame Hommage an das Leben, die Freundschaft und die Aussöhnung mit der VergangenheitDie Erfindung der Sehnsucht — Inhalt
Einfühlsam und inspirierend: eine Hommage an Sehnsucht, Freundschaft und die Aussöhnungmit der Vergangenheit
Einst gefeiert als Stimme einer neuen Generation, lebt die Schriftstellerin Lilli Jansen heute zurückgezogen in ihrer Hamburger Villa – und findet keine Worte für ihren letzten Roman. Bis ein Lied der Kapverdischen Inseln, das von Sehnsucht und Heimat erzählt, sie auf das tropische São Vicente führt.
Lillis Suche nach Inspiration scheint vergeblich, doch dann lässt eine unerwartete Freundschaft sie ihr Leben mit neuen Augen betrachten. Durch seine Neugier und seinen kindlichen Optimismus gewinnt der junge Luís das Herz der sonst so verschlossenen Lilli. Und während er ihr seine Welt zeigt, findet sie den Mut, ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Eine Geschichte verdrängter Kindheitserinnerungen, die sie zurückführt in die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs auf Helgoland, dem roten Felsen in der Nordsee.
Bewegend und wunderschön erzählt, erinnert „Die Erfindung der Sehnsucht“ von Tom Diesbrock mit seiner unerschütterlichen Heldin an die Frauenfiguren von Isabel Allende und Elena Ferrante.
„Sensibel, philosophisch – unwiderstehlich!“ Iserlohner Kreisanzeiger über „Ein Vogel namens Schopenhauer“
„Klug!“ tv Hören und Sehen
Der große neue Roman vom Autor von »Ein Vogel namens Schopenhauer»
Leseprobe zu „Die Erfindung der Sehnsucht“
Prolog
Mindelo, São Vicente
Hat sie die Nordsee jemals so regungslos erlebt? Lilli steht am Ende der Landungsbrücke und lässt ihren Blick über das spiegelglatte Meer gleiten. Es ist unheimlich. Die Wasserfläche ohne eine einzige Welle bis zum Horizont, der schwer auszumachen ist zwischen der dunkelgrauen See und dem kaum helleren Himmel.
Drei schneeweiße Bäderschiffe liegen vor der Insel auf Reede, eines davon erkennt Lilli sofort als die KAISER. Allerdings scheint niemand an Bord zu sein. Überhaupt ist nirgendwo ein Mensch zu sehen, fällt ihr nun auf, [...]
Prolog
Mindelo, São Vicente
Hat sie die Nordsee jemals so regungslos erlebt? Lilli steht am Ende der Landungsbrücke und lässt ihren Blick über das spiegelglatte Meer gleiten. Es ist unheimlich. Die Wasserfläche ohne eine einzige Welle bis zum Horizont, der schwer auszumachen ist zwischen der dunkelgrauen See und dem kaum helleren Himmel.
Drei schneeweiße Bäderschiffe liegen vor der Insel auf Reede, eines davon erkennt Lilli sofort als die KAISER. Allerdings scheint niemand an Bord zu sein. Überhaupt ist nirgendwo ein Mensch zu sehen, fällt ihr nun auf, auch nicht auf der Landungsbrücke, und selbst die Börteboote, mit denen sonst die Passagiere zu den Schiffen transportiert werden, dümpeln einsam an ihren Pollern.
All das ist sehr seltsam.
Mit unsicheren Schritten geht Lilli langsam die Brücke hinab, bis sie den Landungsplatz erreicht. Die große Standuhr vor dem Kurhaus zeigt 0:00 Uhr. Während sich vor dem Café normalerweise die Tagesbesucher und Bädergäste drängen, um zu sehen und gesehen zu werden, ist sie nun der einzige Mensch. Die Leere ist bedrückend. Von innerer Unruhe getrieben biegt Lilli in den Südstrand ein. Dort liegen Fischerboote und die Körbe der Hummerfischer einsam im Sand.
Was sucht sie nur hier?
Die Möwen über ihr sind die einzigen Lebewesen, die Lilli wahrnimmt, und deren Schreie die einzigen Geräusche. Sie folgt dem Strandweg – bis sie weit vor sich auf einer Bank jemanden sitzen sieht. Es ist ein Mädchen, erkennt sie beim Näherkommen. Jetzt hat sie Lilli bemerkt und winkt lächelnd. Sie trägt lange geflochtene Zöpfe; kann es wirklich ihre Freundin Grete sein? Lilli spürt eine unbändige Freude, und zugleich wächst ein Unbehagen in ihr.
Sie bleibt stehen und blickt zu Boden. Dann dreht sie sich abrupt um und geht mit schnellen Schritten zurück zur menschenleeren Landungsbrücke. Ohne noch einmal zurückzublicken.
Lilli muss sich anstrengen, um ihre Augen auch nur ein Stück zu öffnen. Widerwillig geben die müden Lider nach, ihr Blick ertastet langsam die niedrige Zimmerdecke. Weiß gestrichene, grob bearbeitete Bretter hinter klobigen Holzbalken, so viel kann sie ohne Brille erkennen. Nicht der vertraute Anblick ihres Schlafzimmers mit seinen übertriebenen Stuckverzierungen.
Sie weiß, sie hat geträumt, ohne sich zu erinnern, wovon. Sie lächelt, denn diese nebelige Wirklichkeit, irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein, ist angenehm. Nur einen Augenblick noch möchte sie in diesem Nebel verweilen. Möchte nicht darüber nachdenken müssen, was wirklich ist und was nicht. Und wo sie sich befindet. Auf einer afrikanischen Insel, natürlich. Daher die Wärme. Und der blumige Duft, der schwer in der Luft liegt. Von draußen dringt das Krähen eines Hahns ins Zimmer. Dann ist es wieder still.
Also hat sie den norddeutschen November tatsächlich hinter sich gelassen, das ist gut. Oder?
Behäbig dreht Lilli den Kopf. Auf dem Nachttisch findet sie zum Glück ihre Brille und sieht sich damit in dem unbekannten Raum um, skeptisch, als vermutete sie eine Gefahr. Die Läden vor dem einzigen Fenster sind fast geschlossen, nur ein schmaler Spalt lässt ein wenig Licht hereinfallen auf saubere weiß gekalkte Wände. Vor dem Fenster ein Schreibtisch aus schwerem Tropenholz, viel zu mächtig für das kleine Zimmer. Ein antik aussehender Spiegel im hölzernen Rahmen. Der Boden aus breiten Dielen, von der Zeit gedunkelt und glatt geschliffen. Das Haus muss alt sein.
Lilli reibt sich die Augen und erlaubt sich dabei ein leises Stöhnen.
Ob man von ihr erwartet, dass sie sich unten bei den Leuten blicken lässt, fragt sie sich. Eigentlich bevorzugt sie die Anonymität großer Hotels, wo man darauf vertrauen kann, dass sich niemand für einen interessiert. Hier ist sie vermutlich der einzige Gast.
Sie streift das dünne hellblaue Laken ab und lässt ihre Beine langsam aus dem Bett gleiten. Mit Mühe richtet sie sich auf. Eine Weile sitzt sie einfach nur da und betrachtet die in den Lichtstrahlen schwebenden Staubteilchen. Sie findet in sich nicht den geringsten Antrieb; offenbar hat sie ihr vertrautes Phlegma nicht zu Hause zurückgelassen. Schade.
Lilli atmet tief durch.
Eine Glasvase mit frischen Blumen steht in einer Ecke des Zimmers auf einem runden Holztischchen. Jemand hat sich Mühe gegeben, es ihr hier behaglich zu machen; das ist beruhigend. Vor dem klobigen Kleiderschrank steht ihr riesiger Reisekoffer. Am Abend zuvor, erinnert sich Lilli jetzt, haben der Taxifahrer und ihre Gastgeberin – wie war noch mal ihr Name? – das uralte Ding mühsam heraufgeschleppt.
Und jetzt sitzt sie also hier, die einst ach so berühmte Lilli Jansen, und weiß nicht, was sie tun soll. Oder tun will. In diesem ärmlichen Zimmer am Ende der Welt.
Lillis Blick senkt sich auf ihre langen Beine, die unter dem weißen Nachthemd herausragen, dünn und winterblass. Obwohl sie nicht mehr müde ist, spürt sie die Versuchung, sich zurücksinken zu lassen und die Augen einfach wieder zu schließen. Das Leben lässt sich leichter aushalten mit geschlossenen Augen, denkt sie; gerade wenn man sich so schwach fühlt wie sie in diesem Moment. Aber Schwäche ist natürlich nicht hinzunehmen.
„Reiß dich gefälligst zusammen!“, zischt sie sich an und entscheidet sich aufzustehen.
Vorsichtig, als würde sie dem Boden nicht trauen, richtet sie sich auf. Über dem Holzstuhl vor dem Schreibtisch hängt unordentlich ihr dickes graues Reisekostüm, offenbar am Abend zuvor achtlos dort hingeworfen. Wie war sie nur auf die dämliche Idee gekommen, damit in die Tropen zu reisen? Am besten, sie holt sich ein leichtes Kleid aus dem Koffer. Aber dafür müsste sie ihn ausräumen, und dazu hat sie überhaupt keine Lust.
Zuerst einmal wird sie das Fenster öffnen, beschließt sie, und dann in Ruhe überlegen, was zu tun ist.
Lilli muss sich weit über den Schreibtisch beugen, um die schweren Läden aus massivem Holz mit einem kräftigen Stoß zu öffnen. Augenblicklich schlägt ihr eine Welle grellen Lichts entgegen. Sie hält sich schützend eine Hand vor das Gesicht und taumelt einen Schritt zurück. Dem Licht folgend, strömt warme Luft in den Raum, die den schon vertrauten blumigen Duft mit sich trägt.
Ihre Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt haben. Dann beugt sich Lilli erneut über den Schreibtisch, um einen Blick aus dem Fenster zu wagen. Sie sieht einen großen Baum, an dem grüne Früchte wachsen, vermutlich Avocados. Erst dann bemerkt sie den Jungen mit dem zu großen weißen Baseballcap. NASA steht in blauen Lettern darauf. Er blickt zu ihr herauf und scheint nicht recht zu wissen, was er von der älteren Frau im Nachthemd zu halten hat. Schließlich traut er sich, zaghaft zu lächeln.
„Guten Morgen, Senhora.“ Er deutet ein Winken an. „Haben Sie gut geschlafen?“
Der unerwartete menschliche Kontakt überfordert Lilli. Sie starrt den Jungen an und erwidert dann ungelenk sein Winken. Schließlich antwortet sie mit von der Nacht rauer Stimme:
„Guten Morgen! Ja, hab ich wohl.“
Mehr weiß sie gerade nicht zu sagen und lässt sich wie in Zeitlupe in den Stuhl zurücksinken. Sie vergräbt das faltige Gesicht in ihren ungewöhnlich großen Händen.
„Was zur Hölle habe ich hier zu suchen?“, flüstert sie.
1
Hamburg – einige Monate zuvor
„Liebe Lilli, glaub mir doch, die Welt wartet auf ein Buch von dir. Wirklich!“
„Ach was, so ein Blödsinn“, schnaufte sie verächtlich. „Die Welt wartet auf niemanden. Geschweige denn auf die Ergüsse einer alten Frau, die früher einmal eine Schriftstellerin war.“
„Auch wenn du es mir nicht glaubst: Wir bekommen noch immer Briefe und Mails von Menschen, die uns fragen, wann endlich etwas Neues von Lilli Jansen erscheint.“
„Das denkst du dir doch aus, Johannes. Man hat mich längst abgeschrieben und vergessen. Längst! Deine Schmeicheleien kannst du dir also sparen. Mir ist durchaus bewusst, dass mein alter Kram lediglich von Oberstufenschülern gelesen wird. Und gewiss nicht freiwillig.“
Natürlich galt Lilli noch immer als eine der bedeutenden Autorinnen der Gegenwart, und natürlich wusste sie das. Allerdings tat es eben auch gut, dies hin und wieder von ihrem Verleger zu hören.
„Aber nein, Lilli, wie sollte man dich vergessen, selbstverständlich liest man dich noch, du bist schließlich eine Größe im Literaturbetrieb! Von deinen Auflagenzahlen können die heutigen Bestsellerautoren doch nur träumen.“
Jedenfalls von ihren Auflagen vor zig Jahren, aber das ließ er besser unerwähnt.
„Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass die Leser – und vor allem die Leserinnen – deine Stimme heutzutage mehr denn je brauchen. Deine Perspektive auf die Welt und deine unvergleichliche Fähigkeit, in deinen Geschichten der Gesellschaft, ja uns allen, einen Spiegel vorzuhalten, und …“
„Ach, spar dir deinen Schmalz. Du übertreibst mal wieder schamlos, mein Lieber.“
Über Lillis Gesicht huschte die Andeutung eines zufriedenen Lächelns. Er gab sich heute wirklich Mühe, dachte sie anerkennend. Nicht einmal sich selbst gegenüber mochte sie eingestehen, wie wohl seine Beteuerungen ihr taten. In letzter Zeit grübelte sie viel über den Wert ihres Schaffens. Sicher, sie hatte eine Menge Bücher verkauft. Aber bedeutete dies, dass sie auch etwas erreicht hatte in ihrem Leben? Diese Frage wollte sie nicht loslassen, und ihr eigenes Urteil war nicht gerade wohlmeinend.
Lilli erhob sich aus ihrem Stuhl und ging unruhig ein paar Schritte im Raum umher, soweit es das Telefonkabel zuließ. Sie nahm ihre Brille ab und rieb sich mit einer Hand dieAugen.
„Von wegen ›unvergleichliche Fähigkeit‹! Ich werde nur immer kurzsichtiger und vergesslicher, und ich bin so müde und … Ach, wie oft soll ich dir das noch erklären. Ich würde ja gern – aber ich kann einfach nicht mehr.“
Diese Gespräche führten sie inzwischen beinahe wöchentlich. Mehrfach hatte sie Fräulein Melchior gebeten, ja, angefleht, die Anrufe ihres Verlegers bitte abzuwimmeln. Sie solle ihm einfach sagen, sie schlafe oder sei ausgegangen oder unpässlich oder was zum Henker auch immer. Aber nein, ihre Hausdame ignorierte ihren Wunsch. Man war nicht einmal mehr Herrin im eigenen Haus, hatte Lilli schließlich resigniert einsehen müssen.
Ihr Blick fiel auf die eindrucksvollen alten Eichen in ihrem Garten, deren Blätter bereits begannen, sich zu verfärben. Der Herbst stand vor der Tür, und bald würde der verhasste Winter einziehen. Und zu allem Übel hatte sie auch noch dieses vermaledeite Buch zu schreiben …
Johannes unternahm einen weiteren verzweifelten Anlauf.
„Liebe Lilli, in deinem Exposé hast du doch bereits einige durchaus interessante Ansätze entwickelt. Wenn du denen einfach folgst und …“
„Einfach!? Ist das dein Ernst?“, unterbrach sie ihn barsch. „Als wenn man einen Roman einfach mal eben zusammenrühren könnte wie ein … wie einen Kuchen! Meinst du, es war je einfach für mich, ein Buch zu schreiben? Ach, ihr Verlagshansel habt ja keine Ahnung, ihr Marketingfuzzies und Buchhalterseelen!“
Sie genoss ihre Empörung offensichtlich. Für einen Moment atmete sie tief durch und fuhr dann mit leiser, aber schneidender Stimme fort:
„Es ist natürlich etwas anderes, wenn man sich in seinen Büchern nur ständig wiederholt. So wie dieser B. Oder auf einem Niveau schreibt wie diese, wie heißt sie noch? Aber ich bin schließlich eine ernsthafte Autorin. Auch wenn du das womöglich anders siehst.“
„Gewiss bist du das, entschuldige, so meinte ich es doch nicht, liebe Lilli.“
Seine Stimme klang weich und beschwichtigend. Da er den Kontakt zu seinen wichtigen Autorinnen und Autoren nicht dem Lektorat überließ, war er ein derart divenhaftes Gebaren sicherlich gewohnt.
Lilli antwortete mit ihrem bewährten eisigen Schweigen. Dabei kam es ihr gelegen, die Pose der unverstandenen Künstlerin einnehmen zu können. Wenn sie ausreichend gekränkt war, konnte sie das Gespräch indigniert beenden und hätte wieder ein wenig Zeit gewonnen. Das hatte schon mehr als einmal funktioniert. Aber sie wusste auch, dass sie sich nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag herausreden und herausschmollen konnte. Schließlich hatte sie einen Vertrag unterschrieben.
Es war schon eine Weile her, dass sie dem völlig überraschten Johannes ein Exposé präsentiert hatte. Nicht etwa, weil sie der Menschheit nach so langer Zeit – fast zehn Jahre waren seit ihrer letzten Veröffentlichung vergangen – ein weiteres Buch schenken wollte, Gott bewahre, nein. Sie brauchte schlicht das Geld. Nur deshalb war sie überhaupt in der Lage, diese unseligen Telefonate führen zu müssen.
Eigentlich war Lilli immer davon ausgegangen, von den Tantiemen ihrer Werke einen angenehmen Lebensabend bestreiten zu können. Was lange auch zu funktionieren schien. Aber dann begannen die Verkäufe zu sinken wie ein rostiger alter Kahn, und ihre Bücher wurden kaum noch nachgedruckt. Es war beschämend.
Inzwischen lebte sie hauptsächlich von ihren Ersparnissen, und die würden nicht mehr lange reichen. Wenn sie sich also nicht auf ihr baldiges Ableben verlassen wollte – und dazu hatte sie, jedenfalls im Moment, noch keine Lust –, musste sie unbedingt ihre Einnahmesituation verbessern. Zuerst hatte sie überlegt, ihre Villa zu verkaufen, aber den Gedanken schnell verworfen. Nicht dass sie sonderlich an dem alten Gemäuer hing. Aber sie hätte sich eine neue Bleibe suchen und mit ihrem ganzen Krempel umziehen müssen, und dazu war sie nun wirklich zu alt.
Da erschien es ihr als das kleinere Übel, noch ein letztes oder vorletztes Buch zu schreiben. In diesem Punkt hatte sie sich leider gewaltig getäuscht.
Lillis Exposé war im Grunde eine Unverschämtheit. Während sich jeder ambitionierte Autor die allergrößte Mühe gibt, Verlage mit möglichst knappen, schlüssigen Konzepten von sich zu überzeugen, hatte sie ein Konvolut aus über dreißig Seiten produziert. Getippt auf ihrer alten Olympia mit handschriftlichen Ergänzungen und Streichungen; dazu diverse mit Bleistift gekritzelte Zeichnungen, die die Handlung irgendwie verdeutlichen sollten.
Ihre Agentin, mit der sie nur noch sporadisch Kontakt pflegte, hatte sich geweigert, es an den Verlag weiterzuleiten. Anders als Johannes gab sie sich wenig Mühe, ihre Klientin mit aufmunternden Worten oder gar Schmeicheleien bei Laune zu halten. Das könne doch wohl unmöglich ihr Ernst sein! „Nicht nachvollziehbar, wirr, uninteressant“, waren noch die freundlicheren Adjektive, mit denen sie Lillis Exposé kommentiert hatte. Selbst eine mäßig begabte Anfängerin hätte mehr zustande gebracht als die „prominente Frau Jansen“. Sie möge sich bitte erst einmal eine halbwegs schlüssige Handlung überlegen. Und sich vielleicht ein wenig bemühen, diese auch verständlich zu beschreiben.
Aber Lilli hatte überhaupt keine Lust, sich zu bemühen. Also ignorierte sie das Gemecker ihrer Agentin und faxte die Seiten des Exposés, womöglich nicht einmal in der richtigen Reihenfolge, direkt an ihren Verleger. Wohl wissend, wie sehr er sich ein neues Buch von ihr wünschte.
Johannes hatte sich mit seiner Antwort einige Tage Zeit gelassen, was ungewöhnlich für ihn war. Und auch dann klang er nicht gerade enthusiastisch. Aber immerhin meinte er, darin die „Fundamente einer großen Erzählung“ zu entdecken, „eine echte Lilli Jansen“. Wahrscheinlich befürchtete er, nie wieder etwas von seiner berühmtesten Autorin angeboten zu bekommen, wenn er dieses Manuskript ablehnte. So erhielt sie umgehend einen Vertrag zu ihren alten, sehr großzügigen Konditionen und einen nicht unerheblichen Vorschuss.
Damit gab es kein Zurück mehr.
Ihrer Agentin hatte Lilli den Verriss des Exposés übel genommen und, nicht zum ersten Mal, beschlossen, die Zusammenarbeit zu beenden. Inzwischen musste sie sich allerdings eingestehen, dass deren Kritik nicht ungerechtfertigt war. Lilli hatte tatsächlich nur ungefähre und sich ständig ändernde Vorstellungen davon, wovon die Geschichte handeln und was sie ihren Leserinnen mitteilen sollte.
Was sie allerdings sehr genau wusste: Wenn sie schon gezwungen war, sich noch einmal auf diese Tortur einzulassen – hoffentlich ein allerletztes Mal! –, dann sollte es auch ein großer Wurf werden. Ein würdiges, weises Alterswerk, mit dem sie ihr Schaffen abschließen und krönen würde. Ja, die Literaturwelt sollte den Atem anhalten und dieses ganze lichtscheue Kritikerpack, das Lilli Jansen schon abgeschrieben hatte, ihr gefälligst Respekt zollen und sich vor ihrem Werk verbeugen!
Diese Vorstellung gefiel ihr sehr. Dafür lohnte es sich schon, sich ein bisschen anzustrengen.
Im Moment hatte Lilli vor, einen großen Bogen zu schlagen. Sie wollte die Geschichten von Frauen mehrerer Generationen und ihrer Familien erzählen, vom Kriegsende 1945 bis heute, und sie kunstvoll miteinander verweben. Ein Epos in Prosa wollte sie schaffen, komplex und vielschichtig, das die politische und gesellschaftliche Entwicklung nachzeichnen und sich kritisch mit der Gegenwart auseinandersetzen würde. Vielleicht so etwas wie ein matriarchalisches Buddenbrooks. Jansen goes Mann. Sie grinste bei dem Gedanken – und schämte sich sofort für ihre Überheblichkeit.
In den letzten Monaten hatte sie alles gesammelt und notiert, was ihr dazu in den Sinn kam, von schwammigen Assoziationen bis zu konkreteren Handlungsideen. Es war eine Menge. Nur hatte sie keine Ahnung, wie all diese Fragmente zusammenpassen könnten. Je länger sie darüber nachsann, desto verwirrender erschien ihr das Puzzle. Und wenn sie zu Beginn noch recht anständig motiviert war, näherte sich ihr Interesse an dem Projekt allmählich der Nulllinie.
Vielleicht hätte sie doch lieber das Haus verkaufen sollen?
„Also, dann will ich dich mal nicht länger von deiner Arbeit abhalten. Womöglich wartet deine Muse schon auf dich.“ Johannes kicherte gequält.
Für einen Moment hatte Lilli ganz vergessen, dass er noch immer in der Leitung war. „Das ist überaus freundlich von dir, vielen Dank.“
„Ich bin mir sicher, es wird etwas Wunderbares entstehen. Solche Phasen der Schreibhemmung gehören schließlich zum kreativen Prozess, nicht wahr?“
Kreativer Prozess! Muse! Sie musste sich förmlich auf die Zunge beißen, um einige sehr böse, sarkastische Bemerkungen für sich zu behalten. Es gelang ihr zum Glück.
„Wir werden sehen, Johannes, wir werden sehen.“
„Wenn du mir vielleicht …?“ Er machte eine Pause, und man hörte förmlich, wie er mit sich rang. „… ein ungefähres Datum nennen könntest, an dem das Manuskript fertig sein könnte?“
Lilli schwieg.
„Also wirklich nur ganz grob, dann könnten wir unsere Planung dahin gehend anpassen. Und dir natürlich einen prominenten Platz im Programm einräumen.“
Lillis Schweigen bereitete ihm ein offensichtliches Unbehagen, bis er schließlich kleinlaut meinte: „Gib mir doch einfach Bescheid, wenn du mir ein Datum nennen kannst, ja?“
„Das werde ich tun, sicher.“
Erbost knallte sie den Hörer auf das Wählscheibentelefon, ließ sich mit einem Stöhnen in ihren Schreibtischstuhl sinken und blickte eine Weile aus dem Fenster in den Garten.
Wie gerne würde sie jetzt mit dem Gärtner an ihrem kleinen Gartenteich sitzen, den sie im Sommer gemeinsam angelegt hatten, sich mit dem jungen Mann über Alltäglichkeiten unterhalten und dabei gemütlich ein Fläschchen Bier trinken. Natürlich ohne dass Fräulein Melchior etwas davon mitbekommen durfte.
Sie schüttelte den Kopf. Solche kindischen Ablenkungsmanöver konnte sie sich nicht mehr leisten, sie musste endlich einen passablen Anfang für das Buch finden! Doch jedes Mal, wenn sie sich dazu durchrang, ein leeres Blatt in die Schreibmaschine zu spannen, ließ allein dieser Anblick sie in eine katatone Starre verfallen.
Allerdings war so ein erster Satz auch eine geradezu furchterregende Angelegenheit. Wo die ersten Worte doch schon über Sieg oder Niederlage entschieden, sich alles Kommende in ihnen bereits erahnen lassen musste! Sie legten das Fundament, setzten die Sprache und bestimmten die Melodie, die sich durch das ganze Buch ziehen würde. Ja, schon der erste Satz hatte im Grunde – davon war Lilli überzeugt – sämtliche Erwartungen zu erfüllen, die man an ein Buch nur haben konnte. Und an ein Buch von Lilli Jansen durfte, musste man selbstverständlich sehr hohe Erwartungen haben.
Also ein Ding der Unmöglichkeit, zumindest für die Lilli Jansen in ihrer letzten Schaffensphase. Es war schlicht zum Verzweifeln …
Wie hatte sie nur früher ihre Einstiege gefunden? Vermutlich, indem sie darauf vertraute, dass die ersten Worte und Sätze schon in ihrem Hirn auftauchen würden. Was sie ja auch zuverlässig getan hatten. Natürlich musste sie auch damals schon heftig mit sich ringen; leicht war ihr das Schreiben nie gefallen. Wenn ihr aber erst einmal klar war, worüber sie schreiben wollte, kamen die ersten Wörter eines Buchs bald wie von allein. Als würden sie von jemand anderem in die Maschine getippt, und Lilli müsste sie nur demütig entgegennehmen.
Jetzt wartete sie bereits seit Monaten auf eine Eingebung, und nicht ein einziger verdammter Buchstabe wollte ihr einfallen! Nur die Notizzettel vermehrten sich auf dem Fußboden und jeder freien Fläche wie Bakterien.
In sich zusammengesunken, den Kopf schwer auf die Hände gestützt, saß Lilli vor ihrer alten Schreibmaschine und starrte auf das grausam leere Blatt darin. Ihr Abscheu für dieses Gerät wuchs mit jedem Tag.
Ein Geräusch vor dem Fenster unterbrach ihre düsteren Gedanken. Draußen machte sich der Gärtner gerade daran, die Büsche und Bäume zurückzuschneiden und die Pflanzen auf den Winter vorzubereiten. Als er Lillis Blick bemerkte, winkte er ihr freundlich zu, und sie erwiderte den Gruß mit einem gequälten Lächeln.
Es hatte doch alles keinen Sinn! Anstatt hier weiter ihrer Schreibblockade zu frönen, könnte sie in die Stadt fahren. Vielleicht stieß sie ja beim Stöbern in ihrer Lieblingsbuchhandlung auf eine Idee? Dort kannte man sie und ließ sie in Ruhe. Sie könnte auch ein bisschen an der Elbe spazieren gehen, um ihr erstarrtes Hirn vom frischen Wind durchpusten zu lassen. War womöglich heute der Tag, an dem ihr der erste Satz zufliegen würde? Wäre der nur erst gefunden, könnten sich daraus der zweite und dritte ergeben, und dann entstände alles Weitere wie von allein. So wie früher.
Ach, was redete sie sich nur ein …
Die deprimierende Wahrheit war doch: Es mangelte ihr schlicht an Können und Kreativität. Ihre grauen Zellen waren, genau wie sie selbst, alt und träge geworden. Oder lag es an der mangelnden Übung, schließlich hatte sie seit Jahren nichts mehr veröffentlicht? Na ja, die eine oder andere Idee war ihr schon noch gekommen, aber keine erschien ihr wert, daraus ein Buch zu machen. Und außerdem: Warum hätte sie auch die Mühe auf sich nehmen sollen?
Alt und träge eben.
Lillis Blick wanderte über die unzähligen Bücher in dem riesigen Regal, das bis zu der mit Stuck verzierten hohen Decke reichte. Ihre eigenen beanspruchten darin kaum einen Meter. War es nicht absurd, dass dies im Grunde alles war, was sie in ihrem langen Leben zustande gebracht hatte? Ein paar Bücher? Sicher, sie hatten Lilli Ruhm und Erfolg beschert, aber reichte das aus, um dafür gelebt zu haben? War diese Bilanz nicht ziemlich beschämend?
Ach, die immer gleichen erdrückenden Fragen. Die wie ein bösartiger Tumor mit jedem Jahr des Älterwerdens aggressiver wurden, während sie sich ihnen gegenüber immer wehrloser fühlte. Perfiderweise waren es nicht einmal Fragen, sondern als Fragen getarnte Anklagen. Lilli saß schon so lange auf ihrer eigenen Anklagebank; sie war es so leid, sich immer wieder vor sich selbst rechtfertigen zu müssen. Am Ende hatte sie ja doch keine Chance, das Urteil abzuwenden.
Und da lauerte sie auch schon, die hinterlistigste aller Fragen:
Wäre sie glücklicher und ihr Leben erfüllter geworden, wenn sie Kinder gehabt hätte?
Diese Frage führte ins Bodenlose, das wusste Lilli; ihr musste sie unbedingt ausweichen, um nicht in ihrer Traurigkeit wie im Treibsand zu versinken. Dabei war sie im Grunde eine sexistische Unverschämtheit – welcher kinderlose Mann würde sich dies je fragen? Lilli war jetzt wütend, und das tat gut, denn die Wut war ihr einziger Schutz vor inquisitorischen Fragen und Selbstanklagen.
Entschlossen erhob sie sich aus ihrem Stuhl und ging mit langen, energischen Schritten im Zimmer umher. Obwohl das Alter ihr einige Zentimeter geraubt hatte, war sie noch immer eine beeindruckende Erscheinung, die viele Männer und fast alle Frauen – nicht nur intellektuell – überragte.
Wie alt sie tatsächlich war, verrieten weder die Klappentexte ihrer Bücher noch die Website des Verlags. Warum sollte das Alter einer Schriftstellerin auch von Bedeutung sein? Laut ihren Biografen musste sie die achtzig bereits erreicht haben, was man ihr aber keinesfalls ansah. Ihre Falten trübten nicht das Bild einer energischen, charismatischen Person. Gewiss käme niemand auf die Idee, Lilli Jansen als Seniorin oder ältere Dame zu bezeichnen – behauptete jemand, dass sie noch Marathons laufe, man würde es zweifellos glauben.
Als lange Haare in den Sechzigerjahren zum Symbol innerer und äußerer Freiheit wurden, ließ sich Lilli ihre raspelkurz schneiden und trug sie bis heute so. Weil es ihr half, einen klaren Kopf zu behalten, behauptete sie. Inzwischen war ihr Haar ergraut, aber sie wäre nie auf die Idee gekommen, es färben zu lassen. Der Meckischnitt war genauso zu ihrem Markenzeichen geworden wie ihre auffällig große Brille aus knallrotem Kunststoff und die weit geschnittenen grauen Hosenanzüge, zu denen sie meist Sneakers trug.
Lilli blieb vor dem Regalmeter mit ihren eigenen Büchern stehen, zögerte kurz und zog dann ihr Erstlingswerk heraus. Zärtlich strich sie über den abgegriffenen Einband.
Dieses Buch hatte einst alles für sie verändert. Wie viel Aufgeregtheit bei seinem Erscheinen darum zelebriert wurde! Aufregend war es natürlich auch für sie, jedenfalls zu Beginn. Es war die Zeit der außerparlamentarischen Opposition, der Studentenbewegung und der Proteste gegen den Vietnamkrieg. In Bonn regierte die Große Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger mit einem Finanzminister, der Franz Josef Strauß hieß und bekanntlich „lieber ein kalter Krieger sein wollte als ein warmer Bruder“.
Man ging gegen Aufrüstung und die Notstandsgesetze auf die Straße und gegen die verkrusteten Strukturen der Gesellschaft und Universitäten. Man protestierte gegen den „Muff von tausend Jahren“, das kapitalistische System und Politiker, denen man ihre Rolle im Nationalsozialismus vorhielt. Während sich die Elterngeneration vor allem für den Wiederaufbau und die Segnungen des Wirtschaftswunders zu interessieren schien und darüber mit einer Vergangenheit, die noch gar nicht so lange vergangen war, nichts mehr zu tun haben wollte.
In dieser bewegten Zeit war Lilli nach Westberlin gekommen, um dort Politikwissenschaften zu studieren. Wie so viele Entwurzelte spürte sie sofort, dass sie sich auf dieser ummauerten Insel am richtigen Ort befand. Zwar kein Ort, an dem man sich geborgen und zu Hause fühlen konnte, aber ein Zuhause brauchte und wollte Lilli auch nicht. Sie zog, wie es sich damals gehörte, in eine Kommune und trat dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund bei. Bald beschäftigte sie sich mit dem Studium nur noch am Rande.
Es waren aufregende Jahre. Alles floss, alles war in Bewegung, zumindest hatte es den Anschein. Die Sehnsucht nach Aufbruch und Wandel war unter den jüngeren Menschen riesengroß, und epochale Veränderungen schienen tatsächlich greifbar nah. Man beschäftigte sich mit dem Existenzialismus und las ganz selbstverständlich Adorno und Marcuse.
Was sich allerdings nicht so schnell wandelte, wie Lilli es gehofft und erwartet hatte: Von einer Gleichberechtigung von Frauen und Männern konnte noch immer nicht die Rede sein. Als Wortführer traten hauptsächlich Männer auf, und Männer stellten die Mehrheit auf den Demonstrationen. Auf der Straße marschierten sie unter dem Bild von Rosa Luxemburg – und überließen zu Hause den weiblichen Kommunarden das Kochen und Putzen. Und für die Männer, mit denen Lilli Affären hatte – von Beziehungen sprachen sie damals nicht –, war es ganz selbstverständlich, dass sie sich um ihre schmutzige Wäsche kümmerte.
Nach einiger Zeit wich Lillis Begeisterung über das revolutionäre Westberlin einer wachsenden Wut, und die blieb lange ihr stärkster Antrieb. Auch und gerade für ihr Schreiben.
Während Lilli in der Erstausgabe ihres ersten Romans blätterte, fragte sie sich, wie ihre Lebensgeschichte wohl verlaufen wäre, wenn sie dieses Buch nicht geschrieben hätte.
Schon bald nach ihrer Ankunft in Westberlin begann sie, an ihrem Studienfach zu zweifeln. Zwar verstand sie sich als politischen Menschen – aber mit der politischen Wissenschaft konnte sie sich nicht anfreunden. Und auf keinen Fall wollte sie sich halbherzig auf einen Job einlassen, um irgendwie ihre Miete zu zahlen. Nur, wofür schlug ihr Herz? Was wollte sie wirklich tun?
Je länger Lilli über das Leben und Arbeiten, ihre Werte, Wünsche und Ziele nachdachte, desto mehr schwirrte ihr der Kopf.
Der Zufall kam ihr zu Hilfe, als sie eines Tages im Schaufenster eines Trödlers eine Schreibmaschine sah. Mit diesem Gerät könnte sie endlich Ordnung in ihre Gedanken und Ideen bringen. Würden diese erst sauber getippt schwarz auf weiß auf dem Papier stehen, fiele es ihr sicherlich nicht mehr so schwer, Prioritäten zu setzen und eine Entscheidung zu treffen. Mit beinahe Mitte zwanzig sollte man doch wissen, was man will!
Auf dem Weg nach Hause besorgte sich Lilli von ihrem letzten Geld einen Packen Papier, ließ sich in ihrem winzigen Zimmer auf der Matratze nieder und begann, mit zwei Fingern zu tippen. Ohne ein Konzept schrieb sie alles auf, was ihr in den Sinn kam; wie im Rausch füllte sie Seite um Seite, tage- und nächtelang und kettenrauchend, und als das Papier verbraucht war, lieh sie sich ein paar Mark von einer Mitbewohnerin, um sich neues zu kaufen, und tippte weiter.
Lilli schrieb über ihre Träume und Gefühle, über Ideale und Utopien, politische und philosophische Ideen, darüber, was in der Gesellschaft in ihren Augen nicht stimmte und verändert werden müsste. Und als ihr schließlich alle Themen behandelt und beschrieben schienen, mochte sie noch immer nicht aufhören. Sie überlegte, was es zu schreiben geben könnte, und kam auf die Idee, von den Menschen zu erzählen, die ihr seit ihrer Ankunft in Westberlin begegnet waren. Ohne dass es ihr anfangs bewusst war, löste sie sich immer mehr von den Fakten und begann, daraus fiktive Geschichten zu weben.
So hatte Lilli für sich die Magie des Schreibens entdeckt.
Doch ohne ihre Verlegerin wäre aus Lilli wohl keine Schriftstellerin geworden. Elisabeth, die Mutter von Johannes, war damals nicht viel älter als sie selbst. Als sie sich nach einer Podiumsdiskussion kennenlernten, hatte sie gerade von einem Onkel die Leitung des Familienverlags übernommen.
„Man überließ mir schweren Herzens die Verantwortung“, erzählte sie Lilli später mit einem bitteren Lachen. „Ich war ja nur eine Frau. Aber zum Leidwesen der Familie gab es keine männlichen Interessenten. ›Versuch es halt mal‹, hieß es, nicht gerade ermutigend … Und wohl auch nur, weil der Verlag kaum noch Geld abwirft. Kein Wunder bei dem verstaubten Programm! Und unseren Autoren, die alle schon etwas in die Jahre gekommen sind, allesamt männlich, klar.“
Elisabeth wollte frischen Wind in den Laden bringen und nur Literatur herausgeben, die sich kritisch mit Gegenwart und Zeitgeist auseinandersetzte. Vor allem aber wollte sie Frauen eine Stimme geben.
Lilli war die einzige Frau unter den Teilnehmenden der Diskussion gewesen – worum es ging und welche Standpunkte sie vertreten hatte, daran erinnerte sie sich heute nicht mehr; gewiss waren sie radikal, und bestimmt war Lilli laut und vehement aufgetreten. Als sie unter tosendem Applaus die Bühne verließ, sprach Elisabeth sie an, ohne Höflichkeiten und einleitende Worte:
„Ich habe einen Verlag, und ich suche Autorinnen. Für eine Reihe von Schriften, die sich mit philosophischen und politischen Themen aus feministischer Sicht befassen. Worüber du schreiben willst, liegt bei dir. Interesse?“
Lilli hatte das Angebot enorm geschmeichelt. Sie bedankte sich, dachte kurz darüber nach und lehnte es ab. Mit einer Klarheit, die sie selbst verwunderte. Sie sei zwar tatsächlich Schriftstellerin – welche Hybris!, dachte sie heute grinsend –, aber sie wolle Geschichten erzählen. Zwar durchaus mit gesellschaftskritischem Hintergrund, diese Erkenntnis kam ihr gerade erst in diesem Augenblick, aber eben Romane. Es tue ihr leid, dass sie damit für Elisabeths Anliegen nicht infrage komme.
Ihre zukünftige Verlegerin nickte und fragte sie, ob sie mit ihr irgendwo in Ruhe einen Kaffee trinken wolle. Sie würde gern mehr über ihre Arbeit erfahren. Das brachte Lilli in Verlegenheit; denn außer jeder Menge Ideen im Kopf und unzähligen Fragmenten auf Papier hatte sie noch kein einziges Buchkonzept. Aber Elisabeth ließ sich davon offenbar nicht abschrecken. Als sie sich voneinander verabschiedeten, reichte sie Lilli ihre Visitenkarte und sagte mit fester Stimme:
„Melde dich, wenn du etwas hast. Ich bin auf jeden Fall interessiert.“
Lilli grinste, schob ihr erstes Werk zurück an seinen angestammten Platz im Regal und strich noch liebevoll einmal über den Buchrücken. Noch heute empfand sie es als kleines Wunder, dass ihm ein so großer Erfolg beschieden war.
Als sie, knapp ein Jahr und viele durchtippte Nächte später, Elisabeth das Manuskript überreichte, hätte sie platzen können – vor Stolz und aus Angst vor der Reaktion. Aber bereits am nächsten Tag hatte es die Verlegerin gelesen.
„Ich habe nicht wenig von dir erwartet, Lilli Jansen, und du hast meine Erwartungen sogar übertroffen!“
Trotzdem waren die beiden Frauen gleichermaßen verblüfft, dass das Buch solche Wellen schlug, als es im folgenden Jahr in kleiner Auflage erschien. Nach der ersten, extrem positiven Rezension in einer großen überregionalen Zeitung war es innerhalb von Tagen vergriffen. Über Monate konnten gar nicht genug Bücher gedruckt werden, um die gewaltige Nachfrage zu befriedigen.
Lillis Roman traf einen Nerv, vor allem bei ihren Leserinnen. Das Feuilleton war fast einstimmig begeistert. Eine besonders euphorische Stimme stellte die junge Autorin gar in eine Reihe mit Isherwood und Salinger. Sie schreibe „menschlich einfühlsam und absolut glaubwürdig“, und dabei würde ihr „mit fast spielerischer Leichtigkeit eine scharfsinnige und schonungslose Analyse der gesellschaftlichen Situation gelingen“.
Mit den Adjektiven scharfsinnig und schonungslos wurden ihre Bücher fortan häufig bedacht. Und über Nacht galt die eben noch Unbekannte als „wichtige Stimme einer neuen Generation“.
Dabei erzählte ihr erstes Buch nichts, was nicht schon oft erzählt worden war – nur bisher meistens aus der Perspektive eines Mannes: Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die, ziemlich naiv und gerade volljährig, 1968 nach Westberlin kommt und in den Trubel zwischen Flower-Power und APO gerät. Es geht um das Erwachsenwerden, um Liebe und Drogen, um große Träume und noch größere Enttäuschungen.
Erst später verstand Lilli, dass sie ihre Heldin einige der intensiven Erfahrungen und Gefühle erleben ließ, nach denen sie sich damals vergeblich gesehnt hatte.
Mit dem Erfolg fand sie sich unversehens in einer veränderten Realität wieder. Fast täglich gab sie nun Zeitungen und Radiosendern Interviews. Sogar im Fernsehen trat sie auf, damals entdeckte die Republik gerade die Talkshow. Man riss sich förmlich um sie, denn sie nahm kein Blatt vor den Mund; sie kritisierte, was sie für kritisierenswert hielt, war eloquent, oft provozierend und dabei selbstironisch und freundlich. Außerdem löste sie keine allzu schlimmen Skandale aus; sie war wohl angemessen rebellisch für die damalige Medienlandschaft.
Eine Weile hatte Lilli Spaß daran, fast ohne Unterbrechung durch Westdeutschland zu touren, aus ihrem Buch zu lesen, zu diskutieren und über Feminismus und Ungleichheit zu sprechen. Sie sonnte sich im Interesse an ihrer Person – bis die immer gleichen Fragen und Kommentare sie zu langweilen begannen.
Als sie schließlich nach Westberlin zurückkehrte in der Erwartung, man würde sich mit ihr über den Erfolg freuen, schlug ihr von allen Seiten Misstrauen und Ablehnung entgegen. Während ihr Buch in der Öffentlichkeit als wichtige Unterstützung der Emanzipationsbewegung gefeiert wurde, warfen ihr Freunde, Mitbewohner und politische Genossen vor, „die Seite gewechselt und sich dem Establishment angebiedert“ zu haben.
Besonders schmerzte Lilli, dass nur wenige Frauen ihr aufgeschlossener begegneten.
„Weißt du, Lilli“, versuchte Elisabeth sie zu trösten, „ich glaube, dass viele Frauen neidisch sind auf dich und deine Karriere. Und dass die meisten Männer schlicht Angst haben vor einer unabhängigen, erfolgreichen Frau.“
Trotz des Rückhalts ihrer Verlegerin, und obwohl sie als Schriftstellerin immer größere Erfolge feierte, begann für Lilli eine Zeit, in der sie sich so allein fühlte wie noch nie in ihrem Leben.
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