

Der seltsame Tod des Mr McNab Der seltsame Tod des Mr McNab - eBook-Ausgabe
Ein Fall für Iain Wallace und Oma Trudy
— Cosy Crime mit schrulligen Ermittlern im malerischen SchottlandDer seltsame Tod des Mr McNab — Inhalt
Schottland, Schafe, Schädelbruch. Spannend-humorvolle Cosy Crime für Fans von Richard Osman, M.C. Beaton und Robert Thorogood
„Und die wichtigste Regel in den Highlands: Hör immer auf deine Großmutter!“
Aus London ins schottische Hinterland versetzt, versucht Iain Wallace mit dem ereignislosen Leben als Dorfpolizist zurechtzukommen. Doch als eine Leiche gefunden und Iain mit der Aufklärung betraut wird, sieht er sich plötzlich aufmüpfigen Naturschützern, intriganten Lokalpolitikern und randalierenden Schafzüchtern gegenüber, die so gar nicht in das träumerische Highland-Idyll passen wollen. Niemand außer ihm und seiner krimiversessenen Großmutter Trudy, die sich ungefragt in den Fall einmischt, ist an dessen Aufklärung interessiert. Und als kurz darauf ein zweiter Mord geschieht, gerät Trudy in Lebensgefahr.
Leseprobe zu „Der seltsame Tod des Mr McNab“
Kapitel 1
Leise vor sich hin fluchend, bückte Iain Wallace sich nach seinem Handy, das glücklicherweise auf ein Büschel Gras und nicht in die danebenliegende Pfütze gefallen war. Er hatte zuvor instinktiv auf das Stechen am Handrücken reagiert und mit voller Wucht dagegen geschlagen, ohne jedoch an das Handy zu denken, das sich zur selben Zeit in seiner Hand befunden hatte. Verdammte Mücken! Iain hatte so früh im Jahr noch nicht mit ihnen gerechnet und deswegen Regel Nummer eins in den Highlands missachtet: Vergiss niemals dein Insektenspray! Schon gar [...]
Kapitel 1
Leise vor sich hin fluchend, bückte Iain Wallace sich nach seinem Handy, das glücklicherweise auf ein Büschel Gras und nicht in die danebenliegende Pfütze gefallen war. Er hatte zuvor instinktiv auf das Stechen am Handrücken reagiert und mit voller Wucht dagegen geschlagen, ohne jedoch an das Handy zu denken, das sich zur selben Zeit in seiner Hand befunden hatte. Verdammte Mücken! Iain hatte so früh im Jahr noch nicht mit ihnen gerechnet und deswegen Regel Nummer eins in den Highlands missachtet: Vergiss niemals dein Insektenspray! Schon gar nicht auf einer Schafweide am Morgen nach einem heftigen Regenguss. Am nächsten Tag würde er bestimmt am ganzen Körper mit Stichen übersät sein.
Das Handy hatte zu Iains Erleichterung nichts abbekommen. Er schaute es sich noch einmal von allen Seiten an, konnte aber keine Mängel entdecken. Erstaunt stellte er fest, dass das Gespräch, das er bis eben geführt hatte, schon über fünfzehn Minuten andauerte und dass die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung trotz seines Missgeschicks unermüdlich weitergeredet hatte. Ob es ihr wohl auffallen würde, wenn er einfach auflegte?
„Iain?“, schallte es plötzlich aus dem Telefon. Und dann noch einmal, aber wesentlich lauter: „Iain? Bist du überhaupt noch da?“
„Du musst nicht schreien. Ich bin noch dran.“ Dass er die letzten zwei Minuten verpasst hatte, ließ er unerwähnt.
„Und?“
„Was, und?“
„Kommst du nachher zum Mittagessen?“
„Wie oft soll ich es denn noch sagen? Ich habe heute keine Zeit!“, antwortete Iain gereizt. Wie gern hätte er heute Mittag in der angenehm kühlen Küche ihres Hauses gesessen, noch dazu gut gesättigt und bereit für ein kleines Mittagsschläfchen. Stattdessen war er am frühen Sonntagmorgen von Police Constable Ben Parker aus dem Schlaf gerissen worden und quälte sich nun durch eine hügelige Weidelandschaft, weil es keine direkte Autoverbindung zum Tatort gab – zerstochen von Mücken und mit Schafmist an seinen guten Lederschuhen. Wahrscheinlich würde er sich auch noch einen Sonnenbrand holen, da sich die Sonne bereits ihren Weg durch die Wolkendecke bahnte.
„Hast du etwa ein Date?“ Iain konnte eine gehörige Portion Aufregung und eine Spur Unglauben aus der Frage heraushören und war froh, dass sie nicht wusste, wie es in Wirklichkeit um sein Liebesleben bestellt war. Dieses Thema wollte er mit Sicherheit nicht am Telefon und schon gar nicht heute mit ihr besprechen.
„Ich habe einen neuen Fall“, sagte er stattdessen und wunderte sich, dass sie noch nichts davon gehört hatte. Regel Nummer zwei in den Highlands: Weiß es einer, wissen es alle! Obwohl so mancher genauso wie Iain glauben könnte, dass die Meldung, wegen der PC Parker ihn heute Morgen aus dem Bett geklingelt hatte, nichts weiter als heiße Luft war.
„Ein echter Fall?“ Die Aussicht auf ein Verbrechen löste, wie Iain schon vermutet hatte, eine noch größere Aufgeregtheit aus als die Hoffnung, dass er ein Date haben könnte. „Worum geht …?“
Aber Iain kam nicht mehr in die Verlegenheit, eine ausweichende Antwort geben zu müssen, da die Verbindung plötzlich abbrach. Verwundert betrachtete Iain das Handy in seiner Hand – kein Netz. Hätte er das einem seiner Londoner Freunde erzählt! Keiner würde ihm glauben, dass es tatsächlich noch Orte gab, an denen man keine Verbindung zur Außenwelt hatte. Netzempfang war für sie genauso überlebenswichtig wie Atmen.
Iain konnte im Moment allerdings gut darauf verzichten. Ein paar Minuten ohne Empfang waren wie eine kleine Verschnaufpause von seinem Leben. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er mit Anfang dreißig zurück in seine Heimatstadt gezogen war, wenn man Dunlay denn als solche bezeichnen konnte, so wenig Zeit wie er dank seiner Mutter hier verbracht hatte. Am Ende war ihm keine Wahl geblieben. Die einzige andere Option war eine Suspendierung auf unbestimmte Zeit gewesen, aber sein ehemaliger Mentor DCI Watson hatte ihm geraten, sich lieber rarzumachen, bis die internen Ermittlungen abgeschlossen waren. Also hatte Iain beschlossen, statt in London zu sitzen und grüblerisch Däumchen zu drehen, die freie Stelle als Polizeichef von Dunlay, im hohen Norden von Schottland, anzunehmen und vorerst Dorfpolizist zu spielen. Dabei hätte er es besser wissen sollen. Denn nun saß er in Dunlay, dem wohl langweiligsten Ort der Welt, und drehte trotz allem grüblerisch Däumchen. In London hätte es wenigstens mehr als genug Dinge gegeben, die ihn von seinen Sorgen abgelenkt hätten. Das Aufregendste, was in Dunlay passierte, waren die wöchentlichen Bridgeabende im Seniorenheim. Deshalb fiel es ihm schwer zu glauben, dass es hier tatsächlich einen Mord gegeben haben sollte.
Iain nahm einen tiefen Atemzug, dann steckte er sein nutzlos gewordenes Handy in die hintere Hosentasche und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Ohne die Möglichkeit, jemanden zu kontaktieren, sollte er sich hier definitiv nicht verlaufen. Iain sah zu dem Hügel hinauf, der hoch vor ihm aufragte und der ihm aus seiner Kindheit vage bekannt vorkam. Dahinter musste sich der Fundort der Leiche befinden. Das hoffte Iain zumindest. Er hatte zu schwitzen begonnen, und die Aussicht, diesen steilen Hügel zu besteigen, nur um dann festzustellen, dass es der falsche war, steigerte Iains Laune nicht im Mindesten.
Schnaufend erreichte Iain die Spitze des Hügels, stützte sich schwer atmend auf den Knien ab und lockerte seine Krawatte. Wann war er nur so unfit geworden? Hatte er nicht Jahr für Jahr die abteilungsübergreifenden Sportwettkämpfe der Londoner Polizei gewonnen und sich damit den Neid vieler Kollegen zugezogen? Und jetzt? Die Schweißflecke unter seinen Armen hatten die Größe von Elefantenohren, das Hemd spannte über seinem nicht mehr vorhandenen Waschbrettbauch, und er keuchte, als wollten seine Lungenflügel kollabieren. Dunlay hatte ihn träge gemacht. Wenig Bewegung und die gute Hausmannskost seiner Großmutter vertrugen sich einfach nicht. Ganz zu schweigen von den vielen Leckereien, die die Frauen der Stadt nahezu täglich in der Polizeistation vorbeibrachten.
Als Iain sich schließlich wieder aufrichtete, musste er sich aber eingestehen, dass sich der Aufstieg gelohnt hatte. Vor ihm, hinter der Steilküste, die südlich von Dunlay lag, funkelte das Sonnenlicht in den sanften Wellen des Loch Ayren, einem Fjord, der in eine Meerenge mündete, die den Nordwesten Schottlands von den Äußeren Hebriden trennte. Die Inselgruppe konnte man an besonders klaren Tagen mit bloßem Auge sehen, heute aber war sie nur wolkenverhangen am Horizont zu erahnen.
In den übrigen Himmelsrichtungen erstreckte sich, so weit das Auge reichte, Weideland. Das Grün der Gräser war so intensiv, wie es nur nach einem heftigen Regenschauer in Schottland der Fall war. Hier und dort tummelten sich weiße wollige Schafe wie Wolken am Himmel, und ihr Blöken vereinigte sich mit den Schreien der Möwen zu einer einzigartigen Melodie. Richtung Norden konnte Iain noch die Außenzüge von Dunlay ausmachen, während man in Richtung Süden die Spitzen des verfallenen Corrin Castle erkennen konnte. Die salzige Meeresbrise fuhr durch Iains Haare und vermischte sich mit dem zarten Duft der Heideblüten und dem zugegebenermaßen strengen Geruch nach Schafmist.
Das hier war Heimat, und genau das hatte Iain an Schottland schon immer geliebt.
Weniger schön war allerdings die Menschenmenge, die sich in der Senke zwischen Hügel und Steilküste versammelt hatte und aufgeregt hinter einem flatternden gelben Absperrband wartete. Keine fünf Meter davon entfernt, am tiefsten Punkt der Senke, lag ein regloser Körper leicht verkrümmt im Gras. Sein Constable hatte nicht gelogen, es gab tatsächlich einen Toten. Sein Herz machte einen kleinen Satz, das Leben in Dunlay versprach doch aufregender zu werden als erwartet.
Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte Iain außerdem drei Personen in der typischen schwarz-weißen Uniform der schottischen Polizei ausmachen. Den Mann, der ganz am Ende des Absperrbands in der Nähe der Klippe stand, konnte Iain zwar nur undeutlich erkennen, er war sich aber sicher, ihm noch nie zuvor begegnet zu sein. Den schlaksigen jungen Mann, der am Absperrband entlangtigerte und jeden anzählte, der es wagte, seinen Fuß in Richtung Leiche zu bewegen, erkannte Iain allerdings sofort. Ben Parker, sein tüchtiger, manchmal etwas chaotischer Police Constable, dessen feuerrote Haare wie immer unter dem tief ins Gesicht gezogenen Hut hervorblitzten. Der Letzte im Bunde war ein untersetzter Mann, der seinen Polizeihut abgesetzt hatte und so den Blick auf seine angegrauten, am Hinterkopf lichter werdenden Haare freigab. Iain hatte mit Special Constable George Mcleod bisher noch nicht direkt zusammengearbeitet, hatte aber trotzdem das Gefühl, ihn gut zu kennen, da Mcleod den Großteil seiner Zeit im Polizeirevier verbrachte. Für gewöhnlich hockte er dann neben seinem alten Schulfreund Police Sergeant Richard Lamb und lenkte diesen von der Arbeit ab. Die beiden gab es nur im Doppelpack, deswegen irritierte es Iain, dass von Sergeant Lamb heute jede Spur fehlte. Auch wenn Iain es sich nur ungern eingestand, war er froh darüber. Er hatte keine Lust, sich einen weiteren Vortrag über seine eigenen Unzulänglichkeiten anzuhören. Denn obwohl Iain sein Vorgesetzter war, ließ Sergeant Lamb keine Gelegenheit aus, ihn zu kritisieren. Ob es um seine Arbeitsweise, die Art seiner Kleidung oder auch nur darum ging, wie Iain seinen Kaffee trank, der Sergeant konnte aus allem eine dreißigminütige Standpauke machen. Verbesserungsvorschläge natürlich inklusive. Ein klärendes Gespräch war schon lange überfällig, doch bis jetzt hatte Iain noch nicht die Energie dafür aufbringen können. Insgeheim hoffte er darauf, dass es sich mit der Zeit bessern würde. Schließlich war er noch keine drei Monate in Dunlay.
Da Iain sich aber voll und ganz auf den vor ihm liegenden Fall konzentrieren wollte, war die angespannte Situation mit PS Lamb heute zumindest nebensächlich. Er schritt langsam den Hügel hinab, da hatte PC Parker ihn bereits entdeckt, kam auf ihn zugelaufen und hielt ihm als Erstes eine Flasche Wasser entgegen, die Iain dankbar annahm. Etwas neidisch betrachtete Iain das hübsche Gesicht des Constables – unzählige Sommersprossen, aber nicht ein Tropfen Schweiß. Dem jungen Mann schienen weder die Sonne noch die Mücken etwas auszumachen. Unauffällig wischte Iain sich die letzten Schweißperlen von der Stirn.
„Guten Tag, Inspector, sind Sie etwa über die Weide gekommen? Wissen Sie, es gibt einen viel kürzeren Weg …“
„Den kenne ich, danke“, unterbrach Iain ihn und schob alle aufkommenden Erinnerungen an den schmalen Klippenpfad beiseite. Er drehte sich zu der anwachsenden Menschenmenge um. „Was machen die vielen Leute hier? Müssten die heute nicht in der Kirche sein?“
„Die Neuigkeit hat schnell die Runde gemacht. Ein Todesfall ist interessanter als das Gerede von Pfarrer Knox.“ Parker zögerte kurz. „PS Lamb möchte allerdings keine Predigt verpassen. Es ist ihm ein Bedürfnis, im Anschluss mit dem Pfarrer jedes noch so kleine Wort durchzugehen und zu analysieren. Deswegen wollte ich ihn nicht behelligen.“
Da Iain nur zu Weihnachten und Beerdigungen in die Kirche ging, kannte er den Pfarrer nicht persönlich. Trotzdem tat John Knox ihm leid. So langsam fragte Iain sich, wer noch alles in den Genuss von Lambs Ergüssen kam.
„Das schaffen wir auch ohne ihn“, bestätigte Iain schließlich seinem Constable, auf dessen Gesicht sich Erleichterung abzeichnete. „Sie haben sich anderweitig Hilfe geholt, Ben?“
PC Parker nickte beflissentlich. „Special Constable George Mcleod kennen Sie ja bereits, Sir. Das dort hinten ist SC Jimmy Gordon.“ Der Constable deutete auf den Mann am anderen Ende der Menschenmenge, der kurz zu ihnen herüberwinkte.
Also ein weiterer freiwilliger Polizist, dachte Iain. Er war froh, dass sie Gordon und Mcleod hatten. Auch wenn Dunlay gewöhnlich nicht einmal Arbeit für die drei offiziellen Polizeibeamten bot, waren die Special Constables, die eingesetzt werden konnten, wenn das Personal knapp war, in diesem Fall mehr als hilfreich.
„Ich habe Superintendent Gilmour bereits telefonisch über den unklaren Todesfall informiert. Er lässt ein Forensikteam aus Inverness hochkommen. Aber es wird ein wenig dauern, bis sie hier sind“, sagte Parker. „Superintendent Gilmour hat mich zudem beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass Sie den Tatort gern schon untersuchen und dokumentieren können, da heute sicherlich kein Team der Mordkommission auftauchen wird.“
Iain sah den Constable mit hochgezogenen Augenbrauen an. Das entsprach nicht dem Protokoll.
Parker errötete und kam ins Stocken. „Ähm … seine genauen Worte waren: ›Wallace soll sich ein Handy schnappen, ein paar Fotos machen, Fragen stellen und dann gefälligst auf die Forensiker warten!‹“ Seine Gesichtsfarbe nahm bei dem Versuch, den rauen Ton des Superintendents nachzuahmen, einen tiefen Rotton an.
Iain nickte. Er hatte sich schon gefragt, wie sich der Umgang mit Gilmour gestalten würde. Kurz und knackig, so wie es aussah.
„Der dem Fall zugewiesene Detective Inspector wird sich bei Ihnen telefonisch melden, damit Sie ihm die bisherigen Erkenntnisse mitteilen können, Sir“, fügte PC Parker unsicher hinzu.
Gemeinsam gingen sie zu der Leiche hinüber. Die Augen des massigen Mannes blickten starr in den Himmel, und sein schütteres graues Haar hing schlaff am Kopf. Die quietschgelben Gummistiefel und der schreckliche, buntgemusterte Wollpulli bildeten einen seltsamen Kontrast zu dem steifen Toten.
„Dann sollten wir wohl ein paar Erkenntnisse für den DI sammeln, nicht wahr?“ Iain versuchte die Bitterkeit darüber, dass er nicht mehr selbst in der Mordkommission arbeitete und diesen Fall wieder abgeben musste, aus seiner Stimme zu verbannen. „Also, was haben wir hier, Ben?“
„Das ist …“ PC Parker errötete erneut, was seine Sommersprossen nur noch stärker hervorstechen ließ. „Das war“, korrigierte er sich selbst, „Mr Alistair McNab. Achtundsiebzig Jahre alt. Er war der wohlhabendste Schafhirte in der Gegend. Der Besitzer dieses Landes und aller darauf befindlichen Schafe. Wohnte in diesem kleinen Haus an der Ortsgrenze. Keine Angehörigen.“
„Irgendwelche Feinde, von denen Sie wissen?“ Da Iain selbst erst vor gut zwei Monaten nach Dunlay gezogen war, war er auf das Lokalwissen seines Constables angewiesen. Dieser zögerte kurz, bevor er antwortete: „Er blieb gern für sich allein, hatte keine Freunde und tat alles dafür, dass es dabei blieb. Aber deswegen wird man doch nicht gleich umgebracht, oder?“
„Und wer hat ihn gefunden?“, fragte Iain, ohne auf die Bemerkung einzugehen.
„Sein einziger Mitarbeiter. Dean Rodd.“ PC Parker deutete auf einen kräftigen Mann, der ganz rechts über die Gruppe von Schaulustigen hinausragte. Der Constable gab SC Mcleod einen Wink, woraufhin dieser Mr Rodd unter dem Absperrband hindurchließ und ihn zur Leiche führte.
PC Parker stellte Iain Dean Rodd vor. Es folgte ein kräftiges Händeschütteln – wie immer etwas länger als unbedingt nötig, um abzuschätzen, aus welchem Holz der jeweils andere geschnitzt war. Regel Nummer drei in den Highlands: Ein Handschlag sagt mehr als tausend Worte. Wie stumpfsinnig auch immer sich das anhören mochte. Nach dem ersten vermurksten Handschlag – natürlich mit PS Lamb – hatte Iain es sich angewöhnt, extra kräftig zuzudrücken. Deutlich zu viel war wohl immer noch besser als zu wenig, nahm Iain an. Da Rodd ihn aufmunternd ansah, hatte er den Test offenbar bestanden.
Iain sah sich den Schafhirten genauer an. Dean Rodd war das Abbild eines Nordmanns. Mit seinem kräftigen Körperbau und seinem struppigen, nicht allzu gepflegten blonden Haar sah er aus, als wäre er gerade von einem Wikingerschiff gesprungen. Die Herzen mussten ihm nur so zufliegen. Dass auch er quietschgelbe Gummistiefel trug, verminderte den Eindruck allerdings erheblich.
Neben dem riesigen Schafhirten sah der untersetzte SC Mcleod noch kleiner aus. Das schien ihn aber nicht im Geringsten zu kümmern, ganz im Gegenteil. Seine Mundwinkel waren so weit nach oben gezogen, dass es beinahe grotesk aussah und in der vorliegenden Situation völlig fehl am Platze wirkte.
„Sie müssen meine Begeisterung entschuldigen.“ Seine Worte überschlugen sich fast. „Aber es ist alles so aufregend. Ich habe bisher immer nur bei Geschwindigkeitskontrollen oder beim Verteilen von Strafzetteln helfen dürfen. Aber eine Leiche! Hier in Dunlay. Damit hätte ich im Lebtag nicht gerechnet. Ich dachte, die Demonstration am Dienstag wäre das Aufregendste, was mir jemals in meiner Laufbahn als Special Constable passieren würde. Und jetzt das hier. Nur schade, dass dafür tatsächlich ein Mann sterben musste.“
Erwartungsvoll sah er in die Gesichter der anderen Männer, die ihn entgeistert anstarrten.
Im Grunde kannte Iain dieses Verhalten schon. Er hatte genügend Special Constables erlebt, die sich nur deshalb für diese Arbeit begeisterten, weil sie sich mehr Abwechslung in ihrem Leben wünschten. Das hatte allerdings noch nie jemand so unverblümt ausgesprochen.
Nach einem peinlichen Moment der Stille ergriff Iain das Wort. „Mcleod, würden Sie netterweise wieder zum Absperrband gehen und die Leute vom Tatort fernhalten?“
Dieser machte sich sofort eifrig nickend und immer noch grinsend davon, während Iain ihm nachdenklich hinterherschaute und sich fragte, wann er das letzte Mal so viel Begeisterung für seine Arbeit aufgebracht hatte. Auch wenn Mcleods Lächeln unangebracht war, wirkte es nicht böswillig, sondern aufrichtig verzückt, und Iain wünschte sich, selbst wieder so ein Hochgefühl erleben zu dürfen.
„Mr Rodd …“ Iain wandte sich dem jungen Schafhirten zu.
„Dean.“ Er schenkte Iain ein Lächeln, das wohl schon so manches Herz erobert hatte. Iain, der kurz aus dem Takt geriet, holte sein Notizbuch hervor, ein Brauch, den er am Anfang seiner Ausbildung aufgeschnappt und auch als Detective Inspector beibehalten hatte. Durch die vertraute Geste fühlte er sich auf Anhieb wohler.
„Also gut, Dean. Sie haben Mr McNab gefunden?“
„Hab meine tägliche Morgenrunde gemacht, Zäune geprüft, Schafe gezählt. Da bin ich über ihn gestolpert.“
„Wann war das?“
„Kurz nach Sonnenaufgang.“
„Können Sie mir eine genaue Uhrzeit nennen?“
„Ich weiß nicht …“ Hilfe suchend sah Rodd zuerst die Sonne und dann PC Parker an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Augenrollend nahm Iain sich vor, die korrekte Uhrzeit später am Computer nachzuprüfen. Auch wenn Dean Rodd sehr gut aussah, der Hellste war er offensichtlich nicht.
„Und Mr McNab? Machte er gewöhnlich auch eine Morgenrunde?“, fragte Iain weiter.
„Wozu bräuchte er mich dann?“
Auf PC Parkers Gesicht stahl sich ein kleines Grinsen, während Iain versuchte nicht allzu genervt zu klingen. „Und können Sie sich vorstellen, was Mr McNab so früh am Morgen, noch vor Ihrer ersten Runde, hierhergeführt haben könnte?“
„War wahrscheinlich mit John spazieren.“
„John? Könnte ich den vielleicht sprechen?“, fragte Iain in der Hoffnung, einen brauchbareren Zeugen zu finden.
„Schwierig.“ Rodd kratzte sich am Kopf.
„Wieso?“
„Little John ist Mr McNabs Hund.“ Iain blieb der Mund offen stehen. Am liebsten hätte er Dean Rodd mit seinem Notizbuch geschlagen, als dieser wenig hilfreich hinzufügte: „Hab ihn nicht gesehen, falls du ihn doch befragen willst.“
Iain atmete tief durch. „Eine letzte Frage. Haben Sie die Leiche in irgendeiner Form angefasst?“
„Angefasst?“, fragte Dean Rodd und zog die Stirn kraus, was ihm einen etwas dümmlichen Gesichtsausdruck verlieh.
„Haben Sie die Leiche bewegt oder etwas entfernt?“, formulierte Iain seine Frage um.
Deans Gesicht hellte sich auf. „Er lag auf dem Bauch, superviel Blut am Hinterkopf. Hab ihn umgedreht, um zu gucken, ob er noch lebt. Soll ich euch helfen, ihn wieder zurückzudrehen?“
Der Hüne hatte sich bereits hinuntergebeugt, aber Iain packte seinen kräftigen Arm und zog ihn in Richtung des Absperrbandes. „Nein, vielen Dank, Mr Rodd … Dean. Sie haben uns wirklich sehr geholfen und dürfen jetzt gehen. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.“
„Cheerio.“ Leise vor sich hin summend verschwand Dean Rodd nicht nur hinter die Absperrung, sondern gleich den nächsten Hügel hinauf.
„Dean ist ein bisschen einfach, aber kein schlechter Kerl“, nahm Parker den jungen Hirten in Schutz.
Kopfschüttelnd betrachtete Iain die vor ihm liegende Leiche. „Hoffen wir nur, dass er keine wichtigen Spuren verwischt hat.“
PC Parker schaute aufmerksam zu, während Iain sich neben den leblosen Körper kniete und ihn eingehend betrachtete. Die Untersuchung einer Leiche war kein Hexenwerk. Detective Chief Inspector Watson hatte Iain bei seiner allerersten Mordermittlung eine einfache, aber effektive Vorgehensweise beigebracht – erst den Gesamteindruck in sich aufnehmen und dann ins Detail gehen. Allerdings fiel ihm auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an dem Toten auf außer dessen grotesker Kleidungsstil. Wenigstens trug der alte Mann zu dem grässlichen Pullover ein einfaches weißes Hemd und eine ebenso einfache braune Hose. Vielleicht war der Pullover ein Geschenk und der alte McNab hatte sich verpflichtet gefühlt, ihn zu tragen? Die gelben Stiefel waren höchstwahrscheinlich Arbeitskleidung, Dean Rodd hatte sie ebenfalls getragen. An den Sohlen klebte feuchte Erde, und an den Schäften waren Wassertropfen und Schlamm hochgespritzt. Der Rest der Kleidung war relativ trocken, aber ohne erkennbaren Grund übersät mit Grashalmen und vereinzelten lilafarbenen Blüten. Möglicherweise eine Folge des Wendemanövers, überlegte Iain. Er bemerkte eine leichte Seitwärtsbeugung des gesamten Körpers, die gewiss durch das Umdrehen entstanden war. Es ärgerte Iain, dass er sich die Wunde am Hinterkopf nicht angucken konnte, da er die möglicherweise am Leichnam vorhandenen Spuren nicht noch mehr verunreinigen oder zerstören wollte, als es womöglich schon geschehen war. Das würde die Obduktion klären müssen. Dafür hatten sie wenigstens einen guten Blick auf das Gesicht des Toten. Die Augen waren leicht aufgerissen, und der Mund war zu einem O geformt.
„Er sieht überrascht aus, nicht?“ PC Parker war von hinten an Iain herangerückt und betrachtete den Toten über dessen Schulter.
Iain, der auf die Untersuchung konzentriert war, hatte nur eine gemurmelte Zustimmung für den jungen Polizisten übrig. Da mit dem Auftauchen des Forensikteams nicht so bald zu rechnen war, holte Iain sein Handy aus der Hosentasche und machte einige Fotos, bevor er sich die Leiche im Detail ansah. Wenigstens brauchte er dafür keinen Empfang. Weiter auf den Toten fokussiert, steckte Iain sein Handy zusammen mit seinem Notizbuch zurück in die Tasche und zog dann seine mitgebrachten Gummihandschuhe an. Er fuhr mit den Händen über die Kleidung, nahm aber nur eine leichte Feuchtigkeit wahr, zu wenig, um vom nächtlichen Regen zu stammen.
„Wissen Sie, wann es heute Nacht geregnet hat, Ben?“
„Das müsste zwischen ein und zwei Uhr morgens gewesen sein. Ich konnte nicht schlafen, Mary ist mir einfach nicht aus dem Kopf gegangen, sie arbeitet neuerdings in der Bank …“ Die Wangen des Constables flammten auf.
Iain konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, ging aber nur auf den ersten Teil des Gesagten ein. „Also haben wir zumindest ein Zeitfenster. Die Sonne geht wann ungefähr auf? Um fünf oder sechs? Der Tod muss also etwa zwischen zwei und sechs Uhr morgens eingetreten sein, wenn die Aussage des Schafhirten stimmt.“
Parker nickte beflissen, froh darüber, dass sein Geplapper unbeachtet blieb. Iain hatte inzwischen die Kleidung des Toten abgeklopft und machte sich nun an dessen Hosentaschen zu schaffen. Als er dort nichts fand, zog er McNab die Stiefel aus, was von der Menschenmenge hinter ihm mit einem Raunen quittiert wurde. Aber auch hier war nichts zu entdecken.
„Seltsam, müsste er nicht wenigstens einen Schlüssel dabeihaben? Oder ein Handy?“
„McNab wusste, wie er unerwünschte Besucher von seinem Haus fernhielt, dafür brauchte er nicht einmal abzuschließen. Wobei die meisten Leute das hier sowieso nicht tun, wenn sie nicht gerade den Schlüssel irgendwo am Haus verstecken.“ Parker hielt inne und fuhr nach kurzer Überlegung fort: „Ich wette, der alte McNab hat gar kein Handy besessen, er hielt die meiste Technik für neumodischen Firlefanz.“
Iain blickte verwundert zu dem Constable hoch. Da PC Parker aber nicht weiter auf das Thema einging, fuhr Iain mit der Untersuchung fort und betastete zu guter Letzt das Gesicht, den Hals und die Ohren des Toten, jedoch ergebnislos. Bis auf die mutmaßliche Wunde am Hinterkopf, die er im Moment nicht beurteilen konnte, schien der Tote keine Blessuren zu haben – keine Strangulationszeichen, keine ungewöhnlichen Einblutungen, keine Kratzer an den offenen liegenden Hautstellen – und die Kleidung war intakt. Es gab nichts, was auch nur annähernd hilfreich für die Ermittlungen gewesen wäre.
Iain richtete sich auf. Nach der Betrachtung des Toten folgte nun die der Umgebung. Diese bestand, so weit das Auge reichte, aus Wiese, durchsetzt mit kleinen Pfützen und Schafdung. An den angrenzenden Hügeln fanden sich kleine Ansammlungen von Heidekraut, die gegenwärtig ihre volle Blütenpracht noch nicht entfaltet hatten. Unterbrochen wurde dieser ansonsten unberührte Flecken Weideland von einem Trampelpfad, der quer durch die Senke etwa einen Meter neben dem Fundort der Leiche entlanglief und unzählige Fuß-, Pfoten- und Hufspuren aufwies.
„Nützliche Fußabdrücke zu finden, wird die Hölle werden“, sagte Iain.
„Ich denke, die Arbeit kann man sich sparen“, antwortete der Constable bekümmert. „Sowohl die Einheimischen als auch die Touristen nutzen diesen Weg als Abkürzung zwischen Dunlay und Corrin Castle, von den Klippen aus ist es nur noch eine halbe Meile bis zur Burg.“
„Einfach klasse.“ Frustriert schaute Iain sich um. „Und McNab war damit einverstanden?“
„Solange sie ihn und seine Schafe in Ruhe ließen und auf dem Pfad blieben, schon.“ Iain hatte den Eindruck, dass das nur die halbe Wahrheit war, kam aber nicht dazu, nachzufragen, da der junge Constable bereits weitersprach: „Als Sie vorhin noch nicht hier waren, habe ich mich mit einigen Leuten hinter der Absperrung unterhalten, aber keiner scheint etwas zu wissen oder etwas Brauchbares gesehen zu haben. Sie sind alle aus reiner Sensationslust hier. Es passiert aber auch nicht alle Tage, dass eine Leiche gefunden wird. Schon gar nicht in Dunlay.“
Seufzend sah Iain sich ein letztes Mal um. Sie hatten die Leiche eines reichen Schafhirten. Die Wunde am Kopf, wenn sie sich tatsächlich so darstellte, wie Dean Rodd sie beschrieben hatte, deutete auf einen Schlag auf den Kopf hin. Ein Tatwerkzeug hatten sie bis jetzt aber noch nicht gefunden. Es gab keinerlei Hinweise auf einen Kampf, und die einzigen Spuren waren Grashalme auf der Kleidung des Toten und die Fußabdrücke von halb Dunlay. Das Geld konnte möglicherweise ein Motiv sein, doch ein Motiv allein reichte nicht aus, um einen möglichen Mörder zu überführen. Dieser Fall war schon jetzt eine Sackgasse, der Albtraum eines jeden Ermittlers. Iain empfand eine gewisse Erleichterung, dass er ihn spätestens morgen wieder abgeben durfte. Sollte sich doch irgendein wichtiger Detective Inspector aus Inverness damit herumärgern.
Innerlich wollte Iain schon mit dem Fall abschließen, als ihm ein paar Meter den Hügel hinauf ein großer, feucht glänzender Stein ins Auge fiel. Wie konnte der Stein noch feucht sein, wenn das Gras drum herum schon vollständig in der Sonne getrocknet war? Iain schritt vorsichtig den Hügel hinauf, dicht gefolgt von PC Parker, als plötzlich ein Tumult ausbrach.
„Ma’am …“, erklang eine Stimme hinter ihnen, um Beherrschung bemüht.
„Komm mir nicht mit Ma’am, Jimmy Gordon. Ich habe dich schon als kleinen Jungen nackt durch den Garten laufen sehen. Nur weil du dich SC nennen darfst, heißt das noch lange nicht, dass du mich herumkommandieren darfst.“ Eine aufgebrachte Frauenstimme schallte über die Hügel, gefolgt vom Lachen der Menschenmenge.
Ohne sich umzudrehen, wusste Iain, wer die Szenerie betreten hatte. Nur eine einzige Frau konnte mit nur zwei Sätzen so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und gleichzeitig einen erwachsenen Mann zum Heulen bringen. Leise stöhnend ging Iain auf SC Gordon zu, um ihn von seinem Leid zu erlösen.
Mitfühlend ergriff er Gordons Schulter, der die scharfe Zurechtweisung von eben aber mit Fassung trug. „Danke, Gordon, ich übernehme ab hier.“
Das ließ sich der Special Constable nicht zweimal sagen und ging mit schnellen Schritten zu den beiden anderen Polizisten und der stetig wachsenden gaffenden Menge hinüber.
„Grandma, wie bist du so schnell hierhergekommen?“, fragte Iain, erhielt aber nur ein Schnauben als Antwort. „Okay, Tante Trudy“, versuchte er es erneut, diesmal mit deutlicher Betonung auf dem Wort Tante.
„Wie böse.“ Ihre Augen funkelten ihn zwar an, aber Iain sah, dass ein Lächeln Trudys Lippen umspielte. Als er ein kleiner Junge gewesen war und seine Großmutter gerade einmal Mitte vierzig, hatte sie eine Zeit lang darauf bestanden, dass er sie mit Tante ansprach. Iain konnte sich noch genau daran erinnern, dass er das damals schon idiotisch gefunden hatte und allen Belehrungen zum Trotz bei Grandma geblieben war. Inzwischen nannte er sie meist beim Vornamen und hob sich, obwohl Trudy mit ihren zweiundsiebzig Jahren endlich das richtige Alter dafür erreicht hatte, das Grandma für besondere Gelegenheiten auf.
An sich konnte Iain sie sogar verstehen. Trudy war noch nie der großmütterliche Typ gewesen. Ihr weißblondes Haar war raspelkurz, und auch heute trug sie wieder eine ihrer verrückten Farbkombinationen. Nur Trudy konnte auf die Idee kommen, eine grelle orangefarbene Bluse mit grünen Shorts zu kombinieren. Getoppt wurde das Ganze wie immer von einem Halstuch im Tartan der Familie Wallace – ein grünes Karomuster auf rotem Grund, durchzogen von feinen gelben Linien. Wahlweise trug sie das Tuch statt um den Hals auch um die Hüften, den Kopf oder an ihrem Handgelenk. Ihr Beitrag zum schottischen Kulturerbe, wie sie ständig behauptete.
Durch ihre vor Anstrengung geröteten Wangen wirkte Trudy heute sogar noch jünger, auch wenn sie leicht außer Atem war. Sie musste den ganzen Weg von zu Hause bis hierher gerannt sein, und zwar an den Klippen entlang, ansonsten wäre sie nach ihrem Telefongespräch vorhin niemals so schnell hier gewesen.
Nachdem sie sich einige Sekunden lang angefunkelt hatten, lenkte Iain ein. Er hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit seiner Großmutter zu streiten.
„Meine allerliebste Trudy, was hat dich an diesem wunderschönen Frühlingstag an diesen schrecklichen Ort geführt?“
Trudy warf ihm einen letzten genervten Blick zu, bevor sie erwiderte: „Ich wollte mir den Tatort angucken. Im Ort spricht man über nichts anderes.“
„Da dachtest du dir, du kommst in halsbrecherischer Geschwindigkeit hierhergelaufen, und dann was?“ Iain schaute sie erbost an. Sie wusste, dass er es hasste, wenn sie den Klippenweg nahm. Er wollte sich gar nicht vorstellen, in welchem Tempo sie den schmalen Pfad entlanggerast war.
„Ich wollte dir meine Hilfe anbieten.“
„Ich brauche keine Hilfe.“
„Deinem Großvater habe ich immer bei seinen schwierigen Fällen geholfen.“ Iains Großvater war bis zu seinem Tod der Polizeichef von Dunlay gewesen. Nachdem er am Anfang des Jahres gestorben war, hatte Iain kurz darauf seinen Job übernommen. Sehr zur Enttäuschung von PS Lamb, der wohl schon lange auf eine Beförderung gehofft hatte.
„Erstens habe ich genug Personal, das mir hilft.“ Iain deutete auf die drei Männer, die am anderen Ende des Absperrbandes standen und wie der Rest der Schaulustigen ungeniert in ihre Richtung starrten. Sie saugten jedes einzelne Wort auf, das zwischen Iain und seiner Großmutter gewechselt wurde, sicherlich, um es später brühwarm im Ort weiterzuerzählen.
Iain griff nach dem Arm seiner Großmutter und führte sie ein Stück von der Meute weg.
„Zweitens“, sagte er in leiserem Ton, „ist das hier nicht mein Fall. Der Superintendent sucht wahrscheinlich genau in diesem Moment einen cleveren Inspector aus, der die Ermittlung übernehmen wird.“
Schließlich hatte sich doch Verbitterung in seine Stimme geschlichen. Iain hatte es geliebt, bei der Londoner Mordkommission zu arbeiten. Er vermisste das Gefühl, an einer heißen Spur dran zu sein, und den Nervenkitzel, dem Täter immer näher zu kommen, bis er ihn schließlich überführt hatte. In der letzten halben Stunde hatte er sich fast wieder wie er selbst gefühlt, so wenig einladend dieser Fall auch sein mochte.
Trudys Blick wurde weicher. Iain hatte ihr nichts über die Ereignisse in London und das Chaos, das er dort zurückgelassen hatte, erzählt und stattdessen den Tod seines Großvaters als Grund für seinen Umzug nach Dunlay vorgeschoben. Aber seine pfiffige Großmutter hatte es ihm natürlich nicht abgekauft, dass er seine gute Position in London allein ihretwegen aufgegeben hatte.
„Iain, am Ende wird alles gut werden“, sagte sie mit zur Abwechslung beinahe großmütterlichem Ton und fuhr ihm mit der Hand beruhigend über den Arm.
Der Moment währte aber nur kurz, da zu viel Emotionalität laut Trudy nur verweichlichte. Dann war seine gewohnt störrische Großmutter wieder da. „Das heißt aber nicht, dass ich dir nicht trotzdem helfen kann.“
„Du kannst absolut nichts zu diesem Fall beitragen. Es gibt keine Hinweise und keine Zeugen. Die Befragungen werden langwierig und wahrscheinlich im Nichts verlaufen. Und wer weiß, ob es überhaupt ein Mord war“, entgegnete Iain genervt. Den großen Stein, den er gerade hatte untersuchen wollen, ließ er lieber unerwähnt.
„Und die vielen Grashalme auf seiner Kleidung? Er wird sich ja nicht im Gras gewälzt und dann einfach zum Sterben hingelegt haben, oder?“
Iain verfluchte den Scharfblick seiner Großmutter, der mit zunehmendem Alter nicht weniger akkurat geworden war. Schon früher hatte sie sofort erkannt, wenn er irgendetwas ausgefressen hatte.
„Das hat nichts zu bedeuten, Dean Rodd hat ihn umgedreht“, sagte er dennoch.
„Dieser dumme Klotz von einem Schafhirten.“ Natürlich kannte seine Großmutter ihn. Wie konnte es auch anders sein? Trudy kannte einfach alles und jeden.
„Und was ist mit Little John?“
„Was soll schon mit ihm sein? Es ist ein Hund, er wird sich irgendwo versteckt haben und irgendwann wieder auftauchen.“ Iain verlor langsam die Geduld. Er wollte die Beweisführung abschließen und nach Hause gehen.
Aber Trudy sah ihn skeptisch an. „Hast du Little John schon einmal gesehen?“
„Nein …“
„Das ist ein Biest von einem Tier. Sein Kopf geht mir bis hier.“ Sie deutete auf ihre Schulter. „Eine Mischung aus Bloodhound und Deutscher Dogge.“
„Er kann trotzdem einfach weggelaufen sein.“
Trudy schüttelte vehement den Kopf. „Nein, nein, nein. Little John ist der anhänglichste Hund, den ich kenne. Ich dachte, ich würde ihn schon auf dem Weg hierher hören, weil er neben seinem toten Herrchen sitzt und heult. Aber keine Spur von ihm. Ich sage dir, wer den Hund hat, ist der Mörder.“
Trudy liebte alte Kriminalromane, von Sherlock Holmes bis Miss Marple, sie hatte sie alle gelesen, und Trudys Art, einen Fall aufzuklären, ähnelte offensichtlich den Methoden ihrer alten Helden – ein einzelnes unbedeutendes Indiz herauspicken und daran durch eine weit hergeholte Erklärung den Täter festmachen. Dass Polizeiarbeit harte, zuweilen langweilige Arbeit war und sich die Suche nach einem Täter über Monate, sogar Jahre hinziehen konnte, blieb in diesen Büchern natürlich unerwähnt.
Aber Iain hielt sich mit seiner Meinung lieber zurück, da er seine Großmutter nicht verärgern wollte. Denn wie lautete die überhaupt wichtigste Regel in den Highlands? Hör immer auf deine Großmutter! Allerdings nicht, wenn sie sich in deine Arbeit einmischen will.
„Warum willst du diesen Fall eigentlich so unbedingt aufklären?“, fragte er stattdessen.
„Alistair war ein Nachbar und guter Bekannter von mir.“
Iain zog die Augenbrauen hoch. Er konnte sich nicht erinnern, dass Trudy jemals irgendjemanden als guten Bekannten bezeichnet hatte. Sobald sie jemanden gut leiden konnte, waren sie Freunde fürs Leben, und die Leute, die sie nicht mochte, fanden kaum Erwähnung. Alistair McNab schien in keine der beiden Kategorien zu passen, und doch war Trudy, im Gegensatz zu den übrigen Schaulustigen, ernsthaft betroffen.
Also gab Iain nach. „Momentan können weder du noch ich irgendetwas unternehmen. Versprichst du mir zu gehen, wenn ich dir im Gegenzug verspreche, dich auf dem Laufenden zu halten, falls es etwas Neues gibt?“
„Nur wenn du mir versprichst, morgen auf jeden Fall zum Mittagessen zu kommen.“
Wie aufs Stichwort knurrte Iains Magen. Wie gern wäre er jetzt mit seiner Großmutter zurück in die Stadt gegangen und hätte sich von ihr bekochen lassen! Da er heute früh keine Zeit mehr für ein vernünftiges Frühstück im Marianne’s gehabt hatte, hatte ein alter Müsliriegel als morgendlicher Snack herhalten müssen, den Iain im Handschuhfach des Polizeiwagens gefunden hatte und von dem er nicht wissen wollte, wie lange er dort schon gelegen hatte. Bestimmt schon länger als ein Jahr, zumindest nach der Trockenheit und dem fehlenden Geschmack zu urteilen. Aber seine Untersuchung war noch nicht abgeschlossen, und das Forensikteam musste auch noch in Empfang genommen werden.
„Sobald ich den Fall übergeben habe, sollte einem Mittagessen nichts im Weg stehen“, versprach Iain.
Trudy strich Iain zum Abschied kurz über die Wange. „Traue niemals allgemeinen Eindrücken, mein Junge, sondern konzentriere dich auf die Einzelheiten. Finde den Hund, und du findest deinen Mörder!“
Ohne ein weiteres Wort wandte Trudy sich ab und ging in Richtung Klippen davon.
Iain biss die Zähne zusammen, allerdings nicht, weil Trudy schon wieder den gefährlichen Weg über die Klippen nahm. Dieser verdammte Arthur Conan Doyle, dachte er. Hätte er Sherlock Holmes nicht in einer Schreibtischschublade verrotten lassen können? Dann müsste er sich jetzt nicht mit seiner Zitate schwingenden Großmutter herumschlagen.
Kopfschüttelnd ging Iain zu der Stelle, an der er den feuchten Stein gesehen hatte. Er war sich sicher, dass Blut daran war.
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