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Der schmale Pfad durchs Hinterland - eBook-Ausgabe Der schmale Pfad durchs Hinterland

Richard Flanagan
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Roman

„Die packende subjektive Wahrheit in der grünen Hölle“ - Abendzeitung München

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Der schmale Pfad durchs Hinterland — Inhalt

„Ein tiefgründiges und bewegendes Meisterwerk über einen verzweifelten jungen Mann in Zeiten des Krieges“, urteilt der Observer - preisgekrönt entfachte Richard Flanagans Roman weltweit einhellige Begeisterung: Dorrigo Evans ist ein begabter Chirurg, eine glänzende Zukunft steht ihm bevor. Als der Zweite Weltkrieg auch Australien erreicht, meldet er sich zum Militär. Doch der Krieg macht keine Unterschiede, und während Dorrigo in einem japanischen Gefangenenlager mit seinen Männern gegen Hunger, Cholera und die Grausamkeit des Lagerleiters kämpft, quält ihn die Erinnerung an die Affäre mit der Frau seines Onkels. Bis er einen Brief erhält, der seinem Leben eine endgültige Wendung gibt. Richard Flanagans schmerzvoll poetischer Roman erzählt von den unterschiedlichen Formen der Liebe und des Todes, von Wahrheit, Krieg und der tiefen Erkenntnis eines existentiellen Verlusts.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 14.09.2015
Übersetzt von: Eva Bonné
448 Seiten
EAN 978-3-492-97117-1
Download Cover
€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 12.01.2017
Übersetzt von: Eva Bonné
448 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30999-8
Download Cover

Leseprobe zu „Der schmale Pfad durchs Hinterland“


1

Warum ist am Anfang immer das Licht? Dorrigo Evans’ erste Erinnerungen handelten von Sonnenstrahlen, die einen Kirchensaal durchfluten, einen hölzernen Kirchensaal, in dem er mit seiner Mutter und seiner Großmutter sitzt. Er wankt in gleißend helles Licht, hinein in das übersinnliche Willkommen und wieder hinaus, in die Arme der Frauen. Der Frauen, die ihn lieben. Als wage er sich auf See und kehre an den Strand zurück, wieder und wieder.
Gesegnet seist du, sagt seine Mutter, während sie ihn umarmt und wieder loslässt. Gesegnet seist du, Junge.
Das [...]

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1

Warum ist am Anfang immer das Licht? Dorrigo Evans’ erste Erinnerungen handelten von Sonnenstrahlen, die einen Kirchensaal durchfluten, einen hölzernen Kirchensaal, in dem er mit seiner Mutter und seiner Großmutter sitzt. Er wankt in gleißend helles Licht, hinein in das übersinnliche Willkommen und wieder hinaus, in die Arme der Frauen. Der Frauen, die ihn lieben. Als wage er sich auf See und kehre an den Strand zurück, wieder und wieder.
Gesegnet seist du, sagt seine Mutter, während sie ihn umarmt und wieder loslässt. Gesegnet seist du, Junge.
Das musste 1915 oder 1916 gewesen sein. Er war damals ein oder zwei Jahre alt. Die Schatten kamen erst später hinzu, in Gestalt eines Unterarmes, dessen schwarzer Umriss sich im trüben Licht der Petroleumlampe hob. Jackie Maguire saß in der kleinen, dunklen Küche der Evans’ und weinte. Damals weinte niemand, außer Babys. Jackie war ein alter Mann, vierzig vielleicht oder noch älter, und er versuchte, sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem pockennarbigen Gesicht zu wischen. Oder mit den Fingern?
Unveränderlich war in Dorrigo Evans’ Erinnerung nur dieses Weinen. Es klang, als würde etwas zerbrechen. Der schleppende Rhythmus ließ Dorrigo an ein Kaninchen denken, das seine Hinterläufe auf den Boden schlägt, wenn es in der Schlinge erstickt. Es war das einzige vergleichbare Geräusch, das er je gehört hatte. Er war neun, er war ins Haus gelaufen, um seiner Mutter die Blutblase an seinem Daumen zu zeigen, und er hatte keine Vergleichsmöglichkeiten. Nur ein Mal hatte er einen Mann weinen sehen, eine wunderliche Szene war das gewesen, als sein Bruder Tom nach dem Ersten Weltkrieg aus Frankreich zurückgekehrt war. Er war aus dem Zug gestiegen, hatte seinen Seesack in den warmen Staub neben den Bahngleisen fallen lassen und war unvermittelt in Tränen ausgebrochen.
Beim Anblick seines Bruders hatte Dorrigo Evans sich gefragt, was einen gestandenen Mann zum Weinen bringen könn­­te. Später dann hatten Tränen einfach als die Bestätigung von Gefühlen gegolten, und Gefühle waren der einzige Kompass im Leben. Gefühle waren in Mode und Emotionen ein Theater, die Leute traten als Schauspieler auf und wussten nicht mehr, wer sie abseits der Bühne waren. Dorrigo sollte lange genug leben, um all diese Veränderungen zu sehen. Und er konnte sich an eine Zeit erinnern, als man sich schämte zu weinen. Als man sich vor der Schwäche fürchtete, die sich durch Tränen offenbarte. Vor den Problemen, die man dann unweigerlich bekommen würde. Dorrigo sollte lange genug leben, um zu sehen, wie Menschen gelobt wurden für Taten, die wenig löblich waren, allein, weil die Wahrheit eine Katastrophe gewesen wäre für ihre Gefühle.
Am Abend von Toms Heimkehr verbrannten sie den Kaiser in einem Freudenfeuer. Tom sprach nicht über den Krieg, die Deutschen, das Gas, die Panzer und die Schützengräben, von denen sie gehört hatten. Er sprach gar nicht. Die Gefühle eines Mannes stimmen nicht immer mit dem Leben überein. Manchmal stimmen sie mit gar nichts überein. Tom starrte einfach nur in die Flammen.


2

Ein glücklicher Mann hat keine Vergangenheit, ein unglück­licher Mann hat nichts anderes. Im hohen Alter wusste Dorrigo Evans nicht mehr, ob er den Satz gelesen oder selbst ersonnen hatte. Ersonnen, verwechselt, in kleine Teilchen zerbrochen. Unermüdlich in kleine Teilchen zerbrochen. Stein zu Kies zu Staub zu Schlamm zu Stein, so geht es in der Welt, pflegte seine Mutter zu antworten, wenn er Gründe oder Erklärungen verlangte, warum die Welt so war oder so. Die Welt, sagte sie. Sie existiert einfach so, Junge. Er hatte beim Spielen versucht, eine Festung zu bauen und einen Stein von unter einem Findling auszugraben, als ein zweiter, größerer Stein auf seinen Daumen fiel und sich unter dem Nagel eine pochende Blutblase bildete.
Seine Mutter setzte Dorrigo auf den Küchentisch, wo das Lampenlicht am hellsten war, wich Jackie Maguires seltsamen Blicken aus und hielt den Daumen ihres Sohnes ins Licht. Durch Dorrigos Schluchzer hindurch sagte Jackie Maguire dies und das. Seine Frau war eine Woche zuvor mit dem jüngsten Kind in den Zug nach Launceston gestiegen und nicht zurückgekommen.
Dorrigos Mutter griff zum Fleischmesser. An der Klinge klebte erstarrtes Hammelfett. Sie hielt die Messerspitze in die glühenden Herdkohlen, ein Rauchkringel stieg auf und erfüllte die Küche mit dem Geruch von verbranntem Hammelfleisch. Sie zog das Messer heraus, und die glutrote Spitze war von leuchtend weißem Staub bedeckt, ein Anblick, den Dorrigo gleichermaßen faszinierend wie entsetzlich fand.
Nicht bewegen, sagte sie und hielt seine Hand so fest, dass er erschrak.
Jackie Maguire erzählte, wie er mit dem Postzug nach Launceston gefahren war, um sie zu suchen, doch er hatte sie nirgends finden können. Vor Dorrigo Evans’ Augen berührte die glühende Messerspitze den Daumennagel, er fing zu qualmen an, als seine Mutter ein Loch in die Nagelhaut brannte. Dorrigo hörte Jackie Maguire sagen –
Sie ist wie vom Erdboden verschluckt, Mrs Evans.
Dem Qualm folgte ein kleiner dunkler Blutschwall aus Dorrigos Daumen, und dann waren der Schmerz und die Angst vor dem glutroten Fleischmesser verschwunden.
Los, sagte seine Mutter und schob ihn vom Küchentisch. Los jetzt, Junge.
Verschluckt!, sagte Jackie Maguire.
In jenen Tagen war die Welt noch weit und die Insel Tasmanien die ganze Welt. Und von ihren vielen abgelegenen und vergessenen Außenposten waren nur wenige noch vergessener und abgelegener als Cleveland, das Dorf von etwa vierzig Seelen, in dem Dorrigo Evans lebte. Die ehemalige Sträflingskolonie und Postkutschenstation, erst in schlechte Zeiten und dann in Vergessenheit geraten, bestand nun als Rangierbahnhof fort; eine Handvoll baufälliger Gebäude im georgianischen Stil und ein paar vereinzelte Holzhäuser mit Verandagesicht, deren Bewohner seit einem Jahrhundert in Verbannung und Verfall lebten.
Die Kulisse bildete ein Wald aus gekrümmten Eukalyptusbäumen und Silberakazien, die sich in der flimmernden Hitze wiegten. Die Sommer waren heiß und hart und die Winter einfach nur hart. Elektrischer Strom und Radioempfang ließen auf sich warten, zwar lebten sie in den 1920ern, doch hätten es genauso gut die 1880er oder 1850er sein können. Viele Jahre später beschrieb Tom, der kaum zu Allegorien neigte, jedoch von seinem, wie Dorrigo meinte, bevorstehenden Tod und den damit einhergehenden Altersängsten geprägt war, jene Zeit als den langen Herbst einer sterbenden Welt.
Ihr Vater war Eisenbahnarbeiter, und die Familie bewohnte ein holzverkleidetes Häuschen, das der Eisenbahngesellschaft gehörte und direkt an den Bahngleisen stand. Im Sommer, wenn das Wasser knapp wurde, holten sie es eimerweise aus dem Stelzentank, der die Dampflokomotiven versorgte. Sie schliefen unter den Fellen der Possums, die ihnen in die Falle gegangen waren, und ernährten sich hauptsächlich von selbst gefangenen Kaninchen, selbst geschossenen Wallabys, selbst angebauten Kartoffeln und selbst gebackenem Brot. Ihr Vater, der die Depression der 1890er überlebt und gesehen hatte, wie Männer auf den Straßen von Launceston verhungert waren, konnte sein Glück nicht fassen, in diesem Arbeiterparadies gelandet zu sein. Lediglich in seinen weniger heiteren Momenten pflegte er noch zu sagen: „Man lebt wie ein Hund, und man stirbt wie ein Hund.“
Dorrigo Evans kannte Jackie Maguire, weil er seine Ferien manchmal bei Tom verbrachte. Um zu Tom zu gelangen, fuhr er hinten auf Joe Pikes Pferdewagen mit, von Cleveland bis zur Abzweigung im Fingal Valley. Während das alte Zugpferd, Joe Pike nannte es Gracie, friedlich dahintrottete, lehnte Dorrigo sich zurück und träumte davon, sich zwischen die Äste der wild gekrümmten Eukalyptusbäume zu schmiegen, die zitternd am weiten, blauen Himmel vorüberzogen. Er roch feuchte Borke und trockenes Laub und hörte die glucksenden Schwärme der grün-roten Moschusloris hoch oben. Er lauschte dem Gesang von Zaunkönigen und Honigfressern und dem Peitschenknallruf der Joe Wittys, durchsetzt von Gracies Hufgeklapper und dem Knarren und Klirren der Ledergurte, Holzachsen und Eisenketten des Pferdewagens. Ein Universum aus Sinneseindrücken, das in seinen Träumen wiederauferstand.
Auf dem alten Kutschenpfad passierten sie die Postherberge, aus dem Geschäft gedrängt von der Eisenbahn und mittlerweile zu einer Ruine verfallen, in der mehrere verarmte Familien hausten, auch die von Jackie Maguire. Alle paar Tage kündete eine Staubwolke das Herannahen eines Automobils an, dann sprangen die Kinder aus dem Busch und jagten die lärmende Wolke, bis ihre Lungen brannten und ihre Beine sich anfühlten wie Blei.
An der Abzweigung im Fingal Valley ließ Dorrigo Evans sich vom Pferdewagen rutschen, winkte Joe und Gracie zum Abschied und machte sich auf den langen Marsch nach Llewellyn, einen Ort, der sich hauptsächlich dadurch auszeichnete, dass er noch kleiner war als Cleveland. Hinter Llewellyn lief er in nordöstlicher Richtung über die Koppeln, orientierte sich an den schneebedeckten Gipfeln des Ben-Lomond-Massivs und schlug sich durch den Busch bis zur Schneelandschaft hinter dem Ben durch, wo Tom als Fallensteller auf Possumjagd ging. Er arbeitete jeweils zwei Wochen am Stück und hatte dann eine Woche frei. Am frühen Nachmittag erreichte Dorrigo Toms Zuhause, eine Höhle, die unterhalb eines Gebirgskamms am Ende eines Canyons lag. Die Höhle war nur wenig kleiner als ihr Küchenanbau zu Hause, selbst an der höchsten Stelle konnte Tom nur mit gebeugtem Kopf aufrecht stehen. Wie ein Ei verjüngte die Höhle sich zu den Enden hin, und der Eingang wurde von einem Felsvorsprung überragt, was bedeutete, dass das Feuer die ganze Nacht hindurch brennen und die Höhle wärmen konnte.
Manchmal ließ Tom, inzwischen war er Anfang zwanzig, Jackie Maguire für sich arbeiten. Tom hatte eine gute Stimme und sang abends gern das eine oder andere Lied. Danach las Dorrigo Jackie Maguire, der nicht lesen konnte, und Tom, der es angeblich konnte, im Schein des Feuers aus alten Ausgaben des Bulletins und aus Smith’s Weekly vor, die den Bibliotheksbestand der beiden Possumjäger bildeten. Besonders gern hörten die Männer Aunty Roses Ratgeberkolumne und die Buschballaden, die sie clever fanden und manchmal sogar sehr clever. Irgendwann fing Dorrigo an, ihnen auswendig gelernte Gedichte aus The English Parnassus vorzutragen, einem Buch aus seiner Schule. Ihr Lieblingsgedicht war Tennysons „Ulysses“.
Dann hielt Jackie Maguire sein lächelndes, pockennarbiges Gesicht, das glänzte wie ein frisch gestürzter Plumpudding, in den Feuerschein und rief: Ach, unsere Vorfahren! Die haben die Wörter noch fester zusammengeknüpft, als ein Fallstrick ein Kaninchen würgt!
Dorrigo verriet Tom nicht, was er eine Woche vor Mrs Jackie Maguires Verschwinden beobachtet hatte: Toms Hand unter ihrem Rock, während sie, eine kleine, doch unübersehbare
und aparte Frau, am Hühnerschuppen hinter der Post­herber­­­ge lehnte. Tom vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Dorrigo wusste, sein Bruder küsste sie.
Viele Jahre noch dachte Dorrigo an Mrs Jackie Maguire, deren richtigen Namen er nie erfuhr, deren richtiger Name so war wie das Essen, von dem er im Kriegsgefangenenlager täglich träumte – ob nun wirklich existent oder nicht, es drängte sich in seinen Schädel, es verschwand, sobald er danach greifen wollte. Nach einer Weile dachte er weniger an sie, und noch eine Weile später gar nicht mehr.


3
Als Einziger in seiner Familie bestand Dorrigo nach der Dorfschule die Eignungsprüfung, und so erhielt er im Alter von zwölf Jahren ein Stipendium und durfte die Launceston High School besuchen. Er war groß für sein Alter. In der Mittagspause des ersten Schultages fand er sich auf dem sogenannten oberen Feld wieder, einer staubigen Fläche mit abgestorbenem Gras, Baumrinde und Blättern, die zu einer Seite von hohen Eukalyptusbäumen begrenzt wurde. Er beobachtete die großen Jungen aus der dritten und vierten Klasse, Jungen mit Koteletten, Jungen mit Muskeln wie erwachsene Männer, die sich in zwei ungeordneten Reihen aufstellten, sich anrempelten und schubsten wie bei einem Stammestanz. Dann begann die Magie des Kick-to-Kick. Einer trat den Football über das Feld zu den Jungen der anderen Reihe hinüber, die sich auf den Ball stürzten oder, kam er hoch herein, in die Luft sprangen, um ihn zu fangen. Wie brutal der Kampf um die Beute auch sein mochte – wer immer sie ergatterte, war plötzlich unantastbar. Ihm gebührten der Sieg und das Privileg, den Football zur anderen Reihe hinüberschießen zu dürfen, wo sich der Vorgang wiederholte.
So ging es die ganze Mittagspause hindurch. Die älteren Jungen dominierten das Spiel zwangsläufig, sie holten die meisten Punkte und traten den Ball am häufigsten. Einige jüngere schafften wenige Punkte und Tritte, viele nur einen oder keinen.
Dorrigo schaute die ganze erste Pause zu. Ein anderer Neuzugang erklärte ihm, man müsse mindestens in der zweiten Klasse sein, um beim Kick-to-Kick mitspielen zu dürfen – die Großen waren zu stark und zu schnell, sie dachten sich nichts dabei, den anderen ihre Ellenbogen gegen die Schläfen zu rammen, die Faust ins Gesicht, das Knie in den Rücken. Dorrigo bemerkte ein paar kleinere Spieler, die in geringem Abstand hinter der eigentlichen Meute lauerten, um jene Bälle abzustauben, die zu hoch getreten wurden und über das Gedränge hinwegsegelten.
Am zweiten Tag gesellte er sich zu den Kleineren dazu. Und am dritten, er hatte sich bis dicht an den Rand der Meute herangewagt, sah er über die vielen Schultern einen zitternden Volley aus großer Höhe auf sich zukommen. Eine Sekunde lang hing der Football vor der Sonne, und da begriff Dorrigo, dass dieser Ball von ihm gepflückt werden wollte. Er roch die Pissameisen im Eukalyptus und spürte die flackernden Schatten der Äste über sich hinweggleiten, als er in die Meute hineinrannte. Die Zeit verlangsamte sich, und er fand im Gedränge der größten, stärksten Jungen gerade so viel Platz, wie er brauchte. Er begriff, dass der Ball, der dort oben vor der Sonne hing, ihm gehörte, er brauchte nichts weiter zu tun, als aufzusteigen. Sein Blick war starr auf den Ball gerichtet, er spürte, dass er es in diesem Tempo nicht schaffen würde, und so setzte er zum Sprung an; seine Füße fanden den Rücken eines Jungen und seine Knie die Schultern eines anderen, und so stieg er über alle anderen hinweg ins blendende Sonnenlicht auf. Auf dem Höhepunkt der Schlacht reckte er den Arm weit über den Kopf, spürte den Ball in seiner Hand und wusste, nun konnte er sich wieder aus der Sonne herausfallen lassen.
Er presste sich den Football an die Brust und landete auf dem Rücken, mit solcher Wucht, dass es ihm den Atem verschlug. Unter bellendem Keuchen kam er auf die Beine, richtete sich im Licht auf, den ovalen Ball in seinen Händen und bereit, in eine neue, größere Welt einzutreten.
Während er rückwärtstaumelte, hielt die Meute respektvollen Abstand.
Wie zum Teufel heißt du?, fragte ein älterer Junge.
Dorrigo Evans.
Das war sensationell, Dorrigo. Du bist dran.
Der Duft der Eukalyptusborke, das unverfroren fahle Licht der tasmanischen Mittagsstunde, so gleißend hell, dass er die Augen zukneifen musste; die warme Sonne auf der gespannten Haut, die schwarzen, kurzen Schatten der anderen, das Gefühl, auf einer Schwelle zu stehen, frohlockend in ein neues Universum hinüberzugleiten, während das alte bekannt und greifbar blieb und noch nicht ganz verloren ging – all dessen wurde er sich bewusst. Der heiße Staub, der Schweiß seiner Mitspieler, das Gelächter, das unbekannte, reine Glück, in Gesellschaft von anderen zu sein.
Dein Kick!, hörte er jemanden rufen. Tritt das Ei, bevor es klingelt und alles vorbei ist!
Und in den abgelegensten Winkeln seines Wesens wusste Dorrigo Evans, dass sein ganzes bisheriges Leben eine Reise zu diesem Moment gewesen war, als er in die Sonne flog, und von nun an würde die Reise ihn von hier fortführen. Nichts würde ihm je wieder so real erscheinen, nie wieder würde das Leben so bedeutungsvoll sein.

4
Du bist ein cleverer Schlingel, was?, sagte Amy. Sie lag auf dem Hotelbett neben ihm, achtzehn Jahre nachdem er Jackie Maguire am Küchentisch der Mutter hatte weinen sehen, und sie drehte seine kurz geschnittenen Locken mit dem Finger auf, während er „Ulysses“ für sie rezitierte. Das Zimmer lag im dritten Stock eines heruntergekommenen Hotels und ging auf eine weite Veranda hinaus, die ihnen, indem sie jede Sicht auf die Straße unten und den Strand gegenüber versperrte, die Illusion vermittelte, auf dem Indischen Ozean zu treiben. Pausenlos krachten und schäumten die Wellen unter ihnen.
Es ist eine Finte, sagte Dorrigo. Wie wenn man jemandem eine Münze aus dem Ohr zieht.
Nein, das stimmt nicht.
Nein, sagte Dorrigo. Es stimmt nicht.
Was ist es dann?
Dorrigo war unschlüssig.
Und die Griechen, die Trojaner … was soll das? Wo ist der Unterschied?
Die Trojaner waren eine Familie. Sie sind die Verlierer.
Und die Griechen?
Die Griechen?
Nein, die Spieler der Port Adelaide Magpies. Natürlich die Griechen. Wofür stehen sie?
Für die Gewalt. Aber die Griechen sind für uns die Helden. Sie gewinnen.
Warum?
Er wusste es nicht genau.
Zunächst einmal hatten sie dieses Pferd, sagte er. Das Trojanische Pferd, ein Geschenk der Götter, in dem sich der Tod der Menschen verbarg, das eine im anderen.
Warum verabscheuen wir sie nicht dafür, diese Griechen?
Das wusste er nicht genau. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger konnte er sagen, warum eigentlich Troja dem Untergang geweiht war. Er ahnte, dass die Götter und das Schicksal einfach nur eine andere Bezeichnung für die Zeit waren, aber das auszusprechen wäre töricht gewesen, hätte es doch bedeutet, dass gegen die Götter niemand bestehen konnte. Doch bereits im Alter von siebenundzwanzig, fast achtundzwanzig Jahren war er so etwas wie ein Fatalist, wenn es um sein Schicksal ging (nicht unbedingt um das der anderen). Als hätte man das Leben einander zeigen, aber niemals erklären können, und als wären Worte – alle Worte, die nichts direkt benannten – für ihn das Wahrhaftigste gewesen.
Er schaute über Amys nackten Körper hinweg, über die sichelförmige Einbuchtung zwischen Brustkorb und Hüftknochen, über die winzigen Härchen darauf, und sah durch die verwitterten Balkontüren mit der abgeplatzten weißen Farbe. Draußen zeichnete das Mondlicht einen schmalen Pfad auf das Meer, der vor seinem Blick zu fliehen schien und in ausgebreiteten Wolken endete.
Denn meine Bestimmung ist es,
hinter den Sonnenuntergang zu segeln und das Bad
aller Sterne des Westens, bis zu meinem Tod.
Warum liebst du die Wörter so?, hörte er Amy sagen.
Seine Mutter starb an Tuberkulose, als er neunzehn war. Er war nicht dabei. Er war nicht einmal in Tasmanien, sondern auf dem Kontinent, denn er hatte ein Stipendium bekommen und studierte Medizin an der Universität von Melbourne. In Wahrheit trennte ihn noch weit mehr als ein Meer von seiner Mutter. Am Ormond College hatte er Studenten aus bedeutenden Familien kennengelernt, die sich großer Taten rühmten und eines Stammbaumes, der weit über die Entdeckung Australiens hinaus bis ins noble England reichte. Über Generationen war die Geschichte ihrer Ahnen beurkundet, welche politischen Ämter sie bekleidet und welche Unternehmen sie besessen, welche Eheschließungen die Dynastie gestärkt hatten, welche Herrenhäuser und Schaffarmen ihnen gehört hatten. Erst im hohen Alter wurde Dorrigo klar, dass vieles davon reine Fiktion gewesen war, gewagter als alles, was Trollope je versucht hatte.
Einerseits fand er diese Leute phänomenal öde, andererseits faszinierend. Nie zuvor waren ihm so selbstsichere Menschen begegnet. Juden und Katholiken waren minderwertig und Iren hässlich, Chinesen und Aborigines durften nicht einmal als menschlich gelten. Das sagten sie nicht, das wussten sie. Ihre skurrilen Gewohnheiten verwunderten ihn. Ihre Häuser aus Stein. Das Gewicht ihres Tafelbestecks. Ihr Unwissen über das Leben der anderen. Ihre Blindheit für die Schönheit der Natur. Er liebte seine Familie, aber stolz war er nicht. Die größte Leistung seiner Familie war es gewesen, dass sie überlebt hatte. Er sollte ein ganzes Leben brauchen, um anzuerkennen, wie groß diese Leistung war. Damals jedoch – im Vergleich zu den Würden, dem Wohlstand, dem Besitz und Ruhm, mit dem er sich zum ersten Mal im Leben konfrontiert sah – erschien ihm das reine Überleben wie ein Versagen. Und anstatt sich zu schämen, hielt er sich von seiner Familie fern, bis zum Tod seiner Mutter. Bei der Beerdigung hatte er nicht geweint.
Komm schon, Dorry, sagte Amy. Warum? Sie strich ihm mit dem Finger über den Oberschenkel.
Später fürchtete er sich vor beengten Räumen, Menschenmengen, Straßenbahnen, Zügen und Tanzveranstaltungen, vor allem, was ihn einwärtsdrängte und ihm das Licht abschnitt. Er bekam Atemnot. Im Traum hörte er sie rufen.
Junge, rief sie, komm her, Junge.
Doch er kam nicht. Er fiel beinahe durch die Prüfungen. Er las „Ulysses“ und las es dann noch einmal. Er spielte wieder Football, immer auf der Suche nach dem Licht, nach der Welt, die er in der hölzernen Kirche kurz erahnt hatte, er stieg höher und höher der Sonne entgegen, bis er Captain war, bis er Arzt war, bis er Chirurg war, bis er dort im Hotelbett neben Amy lag und der Mond über dem Tal ihres Unterleibs aufging. Er las „Ulysses“, und dann las er es noch einmal.
Der lange Tag flieht. Langsam steigt der Mond, die Tiefe
Rings klagt mit vielen Stimmen. Kommt, ihr meine Freunde!
’s ist nicht zu spät, eine neure Welt zu suchen.
Er suchte das Licht, das am Anfang war.
Er las „Ulysses“, wieder und wieder.
Er sah Amy an.
Worte waren das erste Schöne auf der Welt, dem ich begegnet bin, sagte Dorrigo Evans.

Richard Flanagan

Über Richard Flanagan

Biografie

Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman „Goulds Buch der Fische“, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine insgesamt sechs Romane sind seither in 41 Ländern erschienen. Für „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ erhielt Richard Flanagan den...

Pressestimmen
BÜCHER Magazin

„Packender Einblick in die brutale Lebenswelt australischer Zwangsarbeiter und eine Studie über Menschlichkeit.“

Buchkultur (A)

„Das Schöne und das Grausame liegen dicht beieinander in Flanagans Roman (...) wenn er den Schmerz beschreibt, die Folter, auch die Erotik, die Zartheit, die alles verändernde Macht eines einzigen Kusses – dann liegt eine Bedeutung in diesen Gesten, die beim Lesen unmittelbar und körperlich spürbar wird.“

SR 2

„In einem gnadenlosen Realismus schildert Flanagan, wie Dorrigo Evans und seine Männer ums Überleben kämpfen. Wohin man blickt, sieht man Leiden und Tod. Und doch gelingt es Flanagan, selbst dort Menschlichkeit und Liebe Raum zu geben“

Die Rheinpfalz

„Wie noch keinem anderen Schriftsteller zuvor gelingt es dem Australier (...) die letzten Momente seiner Figuren einzufangen, ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Verblüffung. Das ist einmalig – und bislang unerreicht.“

Abendzeitung München

„Die packende subjektive Wahrheit in der grünen Hölle“

Süddeutsche Zeitung - Extra

„›Der schmale Pfad durchs Hinterland‹ ist ein Kriegsroman, der nicht in den Kugel- und Bombenhagel der Front eintauchen muss, um ein Bild des Grauens zu zeichnen, und zugleich ein in Buchstaben gegossenes Denkmal über Pathos, Zusammenhalt und Menschlichkeit in Zeiten größter Unmenschlichkeit.“

Neue Presse

„Liebe und Krieg, unendliches Leid und gewaltiges Glücksversprechen werden ohne Sentiment erzählt – wunderbar.“

Kurier

„Verrecken und die Liebe wechseln einander ab (...) Alles gehört zusammen, alles fließt ineinander, bald fließt man selbst mit. Eine außergewöhnliche Leseerfahrung.“

Sonntags Zeitung (CH)

„Ein grandioser Roman über das, was Charakter und Persönlichkeit ausmachen.“

Ruhr Nachrichten

„Flanagan stellt diesen Ereignissen eine große Liebe gegenüber und schafft damit einen nicht mehr zu überbietenden Kontrast: Das Schönste und das Schlimmste, was ein Mensch erleben kann, sind in diesem Buch vereint. Ganz große Literatur!“

Evie Wyld

„Ein wichtiges Buch, das aus schrecklichen Geschehnissen etwas Wunderschönes macht. Jeder sollte es lesen.“

Deutschlandradio Kultur

„Flanagan stellt plastisch und glaubhaft dar, wie wichtig für das Überleben des Einzelnen der Zusammenhalt der Gemeinschaft ist. Dieses Buch ist ein Beleg dafür, wie vielschichtig die Vergegenwärtigung des ›abscheulichen Horrors‹ geraten kann.“

Falter (A)

„Wie es Flanagan gelingt, sich in den Feind hineinzudenken (...) zählt zu den faszinierendsten Aspekten des Romans.“

Die Zeit

„›Der schmale Pfad durchs Hinterland‹ zählt zum Kreis der Werke, deren künstlerischer Rang nicht zu trennen ist von ihrer Bedeutung als historisches Zeugnis.“

Luxemburger Tageblatt

„Das Buch wirkt wie ein riesiges Gemälde der menschlichen Abgründe.“

WDR 4 „Bücher“

„Ein Buch, das berührt und noch lange nachklingt.“

(CH) Berner Zeitung

„Wie er Unmenschliches in stille Bilder fasst und aus einer grauenerweckenden Geschichte poetische Schönheit zieht – das ist sein Verdienst.“

Neue Zürcher Zeitung

„eines der beeindruckendsten Prosawerke der letzten Jahre, dessen Lektüre man so leicht nicht mehr abschüttelt. Wenn es heute tatsächlich noch immer jene Bücher geben sollte, die das Leben verändern können, dann gehört Flanagans Roman mit Sicherheit dazu.“

Wilhelmshavener Zeitung

„Ein furioses, erschütterndes literarisches Feuerwerk. (...) Unbedingt lesen.“

Tages Anzeiger

„Ein Roman, in dem das Höchste und das Erbärmlichste einen literarischen Tanz vollführen, von dem man auch beim Lesen kaum glauben kann, dass er möglich ist – und gelingen kann.“

Kurier am Sonntag

„seine Sprache ist präzise, manchmal fast unbarmherzig knapp, dann wieder von erstaunlicher poetischer Tiefe. Grandios.“

Sächsische Zeitung

„ein großes Epos (...) Mit gnadenloser Wucht entrollt Richard Flanagan diese Tortur eines Lebens und fragt unter Verzicht auf einfache Antworten, wie und ob einer ein Mensch bleiben kann in Zeiten kollektiver Verbrechen.“

Süddeutsche Zeitung

„Mit diesem Roman hat Richard Flanagan seinen Markstein einer eigenständigen Literatur Australiens geschaffen.“

Heilbronner Stimme

„Auf verschiedenen Zeitebenen baut Flanagan ein faszinierendes Mosaik, das zeigt, wie schwierig es ist, nach dem Überleben weiterzuleben. (...) ein literarisches Meisterstück, spannend und erschütternd.“

Observer

„Ein tiefgründiges und bewegendes Meisterwerk über einen verzweifelten jungen Mann in Zeiten des Krieges.“

Kommentare zum Buch
Einmal Hölle und zurück!
tinaliestvor.de am 29.03.2017

Die Australier Dorringo Evans und Darky Gardiner sind alles außer ganz gewöhnliche Männer. Beide gehen durch die Hölle und müssen in Kriegsgefangenschaft unter den Japanern eine Eisenbahnstrecke durch den Dschungel bauen.   Während Dorringo als Arzt dafür sorgt, dass die kaum noch Lebenden noch ein wenig länger als Zwangsarbeiter tätig sind, ist Gardiner gut für die Moral der Truppe.   Eines haben beide Männer gemeinsam: Gerechtigkeit. Doch wie zur Hölle setzt man das um, wenn man schon in der Hölle ist?   Ein Roman über Schuld, Unschuld, Kriegsverbrechen, Hoffnung und ein klein wenig Liebe.

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