Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*
Tod auf dem Fluss

Tod auf dem Fluss

Richard Flanagan
Folgen
Nicht mehr folgen

„Wie Flanagan Bilder im Kopf des Lesers erzeugt, das ist nur meisterlich zu nennen.“ - buch-haltung.com

Alle Pressestimmen (1)

E-Book (9,99 €)
€ 9,99 inkl. MwSt.
sofort per Download lieferbar
In den Warenkorb
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei

Tod auf dem Fluss — Inhalt

Aljaz Cosini führt als Raftingführer Touristen den wilden Franklin River in Tasmanien hinunter. Bei der Landung vor einem Wasserfall gleitet Aljaz bei dramatischen Rettungsversuch auf einem Felsen aus und stürzt in den Fluss. Von der Wucht des Wassers an die Felsen gedrückt, droht er zu ertrinken. Während er um sein Leben kämpft, zieht seine Vergangenheit an ihm vorbei. Aljaz' Erinnerungen und Gefühle fügen sich zu einem großen erzählerischen Porträt dieses wilden Landstrichs und seiner Bewohner...

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.06.2016
368 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97259-8
Download Cover

Leseprobe zu „Tod auf dem Fluss“

Eins

Als ich geboren wurde, wickelte sich die Nabelschnur um mei- nen Hals, und ich kam auf die Welt, wild mit beiden Armen ru- dernd, unfähig, zu schreien und die Luft einzuziehen, die ich zum Leben außerhalb des Mutterleibs brauchte, stranguliert von ebendem Ding, das mich bis dahin ernährt und am Leben erhalten hatte.
So etwas ist Ihnen noch nie unter die Augen gekommen!
Und das nicht allein deswegen, weil ich halb erdrosselt war. Denn ich wurde in der Fruchtblase geboren, jenem durchschei- nenden Ei, in dem ich im Leib meiner Mutter herangewachsen war. [...]

weiterlesen

Eins

Als ich geboren wurde, wickelte sich die Nabelschnur um mei- nen Hals, und ich kam auf die Welt, wild mit beiden Armen ru- dernd, unfähig, zu schreien und die Luft einzuziehen, die ich zum Leben außerhalb des Mutterleibs brauchte, stranguliert von ebendem Ding, das mich bis dahin ernährt und am Leben erhalten hatte.
So etwas ist Ihnen noch nie unter die Augen gekommen!
Und das nicht allein deswegen, weil ich halb erdrosselt war. Denn ich wurde in der Fruchtblase geboren, jenem durchschei- nenden Ei, in dem ich im Leib meiner Mutter herangewachsen war. Lange bevor mein feuchter, grindiger Kopf vom wogenden Fleisch meiner Mutter in seine Form gepresst wurde, als sie mich unter Schmerzen in diese Welt hinausstieß, hätte die Fruchtblase eigentlich zerreißen sollen. Wunderbarerweise aber kam ich eingeschlossen in diese elastische Hülle aus meiner Mutter hervor und war bei meiner Ankunft in der Welt in einer ähnlichen Lage wie jetzt, da ich sie wieder verlassen soll. Ich schwamm in einem milchig blauen Beutel voll Fruchtwasser, meine Gliedmaßen zuckten sonderbar, schlugen und stießen hilflos gegen die dünne Haut. Von meinem Kopf, den zudem das Gewirr der Nabelschnur verbarg, war kaum etwas zu erkennen. Ich machte seltsame verzweifelte Bewegungen, als wäre ich dazu verdammt, das Leben immer nur durch den feinen schlei- migen Film zu sehen, der mich umgab, als wollte mich das, was mich bis dahin schützend umhüllt hatte, von der übrigen Welt und meinem Leben abschneiden. Es war und ist ein komischer Anblick, meine Geburt.
Ich wusste damals natürlich nicht, dass ich bald aus meiner unvollkommen gerundeten Sphäre vertrieben werden sollte, die ihrerseits gerade aus ihrer Hülle, Mamas Leib, ausgestoßen worden war, nachdem dessen innere Wandung weniger als einen Tag vorher plötzlich in äußerst heftige Bewegung geraten war. Wenn ich etwas geahnt hätte von all den Schwierigkeiten, die schon bald über mich hereinbrechen sollten, hätte ich mich nicht von der Stelle gerührt. Nicht dass mir das etwas genützt hätte – die pulsierende Pressbewegung der Wände um mich he- rum diente ja einzig dem Zweck, mich aus einer Welt auszutrei- ben, von der ich immer nur Gutes erfahren und der ich nie etwas Böses angetan hatte, es sei denn, man wollte mir meine stete und zielstrebige Entwicklung von einem bloßen Zellhaufen hin zu einem vollständigen Menschen als einen feindseligen Akt aus- legen.
Die Decke und der Fußboden meiner Welt kamen nicht mehr zur Ruhe, immer stärker wurden ihre Bewegungen, wie die hereindrängende Flut, die ein Riff nach dem anderen über- spült und mit jedem Brecher mächtiger wird. Gegen eine derart heftige höhere Gewalt konnte ich natürlich nichts tun, ich muss- te mich der Brandung fügen, die mich in den engen Geburts- kanal presste, musste es hinnehmen, dass mein Kopf hierhin und dorthin gequetscht wurde. Und wozu die ganze Plage? Ich hatte meine Welt geliebt, ihre sorglose pulsierende Dunkelheit, ihre warmen, milden Wasser, die Schwerelosigkeit, die es mir er- laubte, mich ohne Anstrengung hin und her zu drehen. Wer brachte Licht in meine Welt? Wer brachte den Zweifel in mein Tun und Lassen, das bis dahin grundlos und absichtslos un- schuldig gewesen war? Wer? Wer schickte mich, der nie darum gebeten hatte, auf diese Reise? Wer?
Und warum fügte ich mich?
Aber wie kann ich etwas von alledem wissen? Es ist unmög- lich. Kein Zweifel, ich fantasiere bloß.
Und doch … und doch …
Die Hebamme entwirrte mit geübten Fingern flink die Nabelschnur, dann steckte sie den Daumen in die Fruchtblase – geradeso wie ein Kind, das Rosinen aus dem Kuchen pult – und riss sie von unten nach oben auf. Eine kleine Sintflut ergoss sich auf die staubigen Bodendielen jener Kammer in Triest und machte sie so schlüpfrig wie das Leben selbst. Ein Schreien war zu hören. Und Lachen.
Mama behielt die Fruchtblase. Später trocknete sie sie, denn sie gilt als Glücksbringer, wenn das Baby in ihr zur Welt kommt. Man sagt, ein solches Kind und auch jeder, der die „Glückshaut“ bei sich trägt, könne niemals ertrinken. Sie wollte sie eigentlich für mich aufbewahren, aber in meinem ersten Winter bekam ich eine böse Lungenentzündung, und so verkaufte sie die Mem- brane an einen Matrosen, damit sie mir ein bisschen frisches Obst kaufen konnte. Der Mann ließ die Haut in seine Jacke ein- nähen, jedenfalls sagte er Mama, dass er das vorhabe.
Nach meiner Geburt in jener längst vergangenen Nacht schaltete die Hebamme – sie war unter dem großartigen Namen Maria Magdalena Svevo bekannt, ihr wirklicher Name, den sie verabscheute, lautete Ettie Schmitz – das harsche elektrische Licht aus und öffnete nun, da keine Gefahr mehr bestand, dass wilde Schmerzensschreie einer Gebärenden an die Ohren von Passanten dringen würden, die Fensterläden. Die angenehme herbstliche Nachtluft und der Gestank der Adria strömten he- rein, jener eigenartig dumpfe europäische Geruch nach Tausen- den von Jahren Krieg und Trauer und Überleben, und dieser Geruch traf auf den unverhohlen blutigen Geburtsgeruch, der in dem kahlen kleinen Zimmer hing, einem Raum mit einem im- provisierten Vorhang, der die Tür ersetzte, an den bröckelnden Wänden einsam ein mit Silberfischchen übersätes Bild der Ma- donna, die mit den ausgestreckten Fingern ihrer rechten Hand ein blutendes Herz berührte. Ah, diese Finger! So vollkommen schlank und weich und seidig. So ganz anders als die abgearbei- teten kräftigen Hände von Maria Magdalena.
Maria Magdalena Svevo kniete nieder und begann mit diesen rauen Waschfrauenhänden und einem Putzlumpen das Blut und das Fruchtwasser, das noch nicht in den Bodendielen versickert war, abzuschrubben. All die Flecken auf dem Holz, so dachte sie versonnen, waren Zeugnisse menschlichen Lebens, verblichene Krakel, geschrieben mit Wein und Sperma, Urin und Kot, die den Lauf des Lebens dokumentierten, von der Geburt zur Ju- gend, zur Liebe, zur Krankheit und zum Tod. Meine Mutter sah Maria Magdalena Svevo bei der Arbeit zu, beobachtete, wie der große runde Rücken vor und zurück ging, ein Halbmond, ver- silbert vom Licht des Vollmonds, der die Kammer, in der ich ge- boren worden war, mit seinem ruhigen Schimmer erfüllte.
Woher ich das alles weiß? Maria Magdalena Svevo, die mei- nen Hals aus der Schlinge der Nabelschnur befreit und gelacht hatte und später immer wieder, wenn sie mich sah, lachen muss- te, hat mir nur wenig erzählt; von ihr kann ich es also nicht ha- ben. Und Mama hat mir fast gar nichts erzählt. Sie hielt es lange nicht einmal für nötig, mir zu sagen, dass ich in Triest geboren wurde – ich erfuhr es erst, als ich zehn war und wir davon hör- ten, dass Maria Magdalena Svevo bei einem Besuch in ihrer alten Heimat unter etwas komischen Umständen beinahe ums Leben gekommen wäre. Zwei betrunkene Studenten hatten sie auf dem Markt von Triest mit dem Moped über den Haufen gefahren. Das war typisch Maria, fanden alle, die ihre robuste und dick- köpfige Natur kannten: während die beiden jungen Burschen innerhalb von vierundzwanzig Stunden starben, kehrte die Acht- zigjährige nach drei Monaten im Krankenhaus gesünder denn je nach Australien zurück. Aber sie war ja schon immer, wie mein Vater Harry es ausdrückte, hart im Nehmen gewesen.
Meine Mutter zahlte ihr für ihre Dienste bei meiner Geburt den üblichen Lohn, aber Maria fand das zu wenig und ließ des- wegen eine Flasche kostbaren Whiskey mitgehen, die einzige Flasche Whiskey, die im Haus war – mein Vater hatte sie nach einer Liebesnacht mit meiner Mutter dagelassen. Der Whiskey und ich, ihr unerwünschtes Kind, waren bis dahin alles, was sie von meinem Vater bekommen hatte, der damals gerade in einem nahe gelegenen Gefängnis einsaß. Meine Mutter klagte oft da- rüber, dass Maria Magdalena Svevo nicht mich statt des Whis- keys mitgenommen hatte. Auch das brachte Maria Magdalena Svevo zum Lachen.
„Ihr Cosinis seid doch alle gleich“, sagte sie dann immer. „Da wird euch neues Leben geschenkt, und was macht ihr? Ihr wollt es wegwerfen! Deine Mutter will dich loswerden, und du selber wolltest nicht auf die Welt und hast, kaum am Ende des Tunnels im Licht angekommen, versucht, dich zu strangulieren.“ Und dann paffte sie weiter ihre Zigarre; dieses Laster hatte sie mit meiner Mutter gemeinsam, und sie war nicht darüber erhaben, den einen oder anderen Glimmstängel von ihr zu stibitzen.
„Sie verkürzt damit nur ihr eigenes Leben und verlängert das meine“, pflegte meine Mama zu sagen, wenn die Rede auf diese kleinen Diebereien kam, „und dafür, dass ich weniger Zeit in ihrer Gesellschaft verbringen muss, bin ich ihr von Herzen dankbar.“
Hier war sie nicht ganz ehrlich: in Wahrheit genossen beide die gemeinsamen Stunden in vollen Zügen, hätten es aber nie und nimmer zugegeben. Wenn Maria Magdalena Svevo selbst Geld für Zigarren ausgab, was selten vorkam, kaufte sie eine ob- skure österreichische Marke; auf der Pappschachtel, in der die Zigarren verpackt waren, prangte ein geprägter Doppeladler. „Das letzte Aufglimmen der Monarchie“, sagte sie immer, wenn sie den letzten köstlich fruchtigen Zug nahm, bevor sie den Stumpen ausdrückte. Ihr Lieblingsthema waren die Freuden der letzten Zigarre. „Wie viele Menschen lernen nie das Vergnügen kennen, ein letztes Mal zu rauchen? Zigarren, Zigaretten, im Prinzip ist es dasselbe. Sag mir, wie viele, Aljaz?“ So wie sie mei- nen Namen aussprach, klang er weich und schön. Manchmal stellte ich mir sogar vor, dass es ihr eine Art von Lust bereitete, dem Gefühl nachzuspüren, wie mein Name durch ihre zer- furchte, geteerte Kehle holperte, um dann langsam in Rauch- wölkchen eingehüllt von ihren ausgestülpten Lippen zu fließen. „Ali-asch, Ali-asch, Ali-asch“, deklamierte sie wie einen Kin- derreim vor sich hin, und dann schaute ich auf und lächelte, und manchmal erwiderte sie meinen Blick und lächelte zurück, be- vor sie ihren Monolog über das Rauchen wieder aufnahm.
„Dann, auf dem Sterbebett, rauchen sie eine und dann noch eine und noch eine, und so wissen sie nicht, welche die letzte ist vor dem Tod, und können niemals jenen letzten köstlichen Mo- ment des Schmeckens genießen.“ Und sie unterstrich ihre Aus- führungen, indem sie mit ihrer dicken Zigarre auf mich zeigte und damit herumfuchtelte wie ein Dirigent mit seinem Takt- stock. „Und darum, Aljaz Cosini, musst du das Rauchen min- destens einmal pro Jahr aufgeben, denn dann ist es ein seltenes Vergnügen, auf das man sich lange freuen und an das man lange zurückdenken kann. So ähnlich wie eine Kur.“ Dabei tätschelte sie die Schachtel mit dem Doppeladler, zwinkerte wissend und lachte. „So wie die Großen der Welt dem Krieg abschwören.“ Ich verstand fast gar nichts von dem, was sie redete, aber ich habe offenbar alles behalten, es hat sich meinem Hirn eingeprägt wie der Doppeladler auf dem Karton jener Zigarrenschachtel, lebhaft, bedeutungsvoll, wenn man nur verstehen könnte, was damit gemeint ist.
Maria Magdalena Svevo hatte zahllose Geschichten von ihren letzten Zigarren auf Lager. Manchmal schilderte sie zärt- lich große, denkwürdige Momente voller Romantik oder Tra- gik, andere dieser letzten Erfahrungen erschienen eher als kleine Freuden, leichten Herzens genossen und erinnert. Es gab die melancholischen letzten Zigarren, darunter jene, die sie an dem Tag rauchte, als sie Triest verließ, um nach Australien zu gehen; sie rauchte sie auf dem Balkon der Pension ihres verachteten Schwiegersohns Enrico Mruele, während sie ein letztes Mal die Sonne über ihrer geliebten Heimatstadt aufgehen sah. Sie er- zählte in tief bewegenden Worten, wie Tränen auf ihre Hand fie- len und auf die Zigarre rannen, weswegen dieser letzte Rauch- genuss einen bitter salzigen Nachgeschmack hatte. Es gab die amüsante letzte Zigarre, die sie sich gönnte, als sie und Mama in der Marmeladenfabrik am Hafen von Hobart arbeiteten, wo sie Etiketten auf die Dosen kleben mussten. Der Stumpen kam in eine Dose mit Ananas-Melonen-Marmelade. Maria Magdalena Svevo war eine Frau, der Qualität über alles ging, und sie führte oft und gern die australische Devise „Sydney oder der Busch“ im Mund, die ihre eigene Lebenseinstellung genau auf den Punkt brachte. Warum hatte sie den Zigarrenstumpen in eine Marmeladenbüchse getan, die von irgendeiner armen Hausfrau irgendwo in der neuen hektischen Vorstadtwelt Australiens ge- öffnet werden würde? „Sydney oder der Busch“, hätte sie da- rauf geantwortet, und ihre Stimme hätte die Phrase mit dunklem Rauch brüniert. „Die Marmelade, die da hergestellt wurde, war der letzte Dreck. Die Leute sollten nicht so blöd sein, so etwas zu kaufen. Entweder macht man gute Marmelade, oder man isst einfach keine. Diese letzte Zigarre war eine Warnung an alle gu- ten Australier in dieser Sache.“ Sie ballte die rechte Hand zur Faust und ließ sie, die glimmende Zigarre, von der Asche nieder- rieselte, zwischen den Fingern eingeklemmt, immer wieder mit Wucht nach vorn schießen, um ihren Schlussworten dramatisch Nachdruck zu verleihen. „Gute Marmelade (zack) oder gar keine. (zack) Aber nicht diesen Scheißdreck. (zack) Sydney oder der Busch.“
Und es gab die tragischen letzten Zigarren, so wie die, die sie bei Mamas Beerdigung rauchte, wobei sie die Asche ins Grab schnippte, als der Priester „Asche zu Asche, Staub zu Staub“ an- stimmte. Dies ist eine letzte Zigarre, die ich selbst miterlebt habe. Der Priester hielt inne und sah angewidert auf. Alle wand- ten den Blick vom offenen Grab ab und drehten sich nach Maria Magdalena Svevo um. Sie trug ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Hut in einem Stil, der vielleicht in den Jahren nach 1930 in Triest als schick gegolten hatte. In Hobart, Tasmanien, war er 1968 gewiss nicht in Mode. Eine andere Frau hätte mit diesem Hut auf dem Kopf vielleicht lächerlich gewirkt. Maria Magdalena Svevo sah großartig aus. Ihre verschatteten Augen unter der weit geschwungenen Krempe – diese großen dunkel- braunen Augen, so tief zwischen lauter Runzeln versteckt, dass sie an die eingeweichten Muskatellersultaninen erinnerten, die Mama für ihre Rosinenstriezel verwendete –, diese außerge- wöhnlichen Augen, die einem das Gefühl gaben, dass man nie wieder an die Oberfläche gelangen würde, wenn man darin ein- tauchte, starrten den Priester mit einem Blick an, in dem alle Wildheit lag, deren Maria Magdalena Svevo fähig war. Und für eine kleine dicke Frau konnte sie mörderisch dreinschauen. In solchen Momenten hatte sie das, was man nicht anders als „Prä- senz“ nennen kann. In dem singenden Tonfall, den sie aus Triest mitgebracht hatte, die Stimme selbstbewusst erhoben, sagte sie:
„›Eitelkeit über Eitelkeit! spricht der Prediger. Alles ist eitel!‹“ Und sie schnippte den Zigarrenstumpen fort. „›Ein Geschlecht vergeht, und ein anderes kommt, die Erde aber dauert ewig.‹“ Der glimmende Stumpen stieg empor und fiel auf wunderbar gezirkelter Bahn vor unser aller Augen, eine Spirale aus schwe- lender Glut und Rauch sank nieder ins Grab. Und als wir, die Trauergemeinde, alle zugleich den Blick wieder von der Grube abwandten, sahen wir Maria Magdalena Svevos hohe Absätze (sie hatte die Schuhe eigens für diesen Auftritt gekauft) herum- wirbeln und Maria Magdalena Svevo davonschreiten.
Ach, Maria Magdalena Svevo, wenn du jetzt nur hier wärst, hier im Franklin River, ausgerechnet hier, wo ich ertrinke, den Blick nach oben gerichtet durch sprudelndes Wasser in dem Spalt zwischen den Felsen, durch den ich Tageslicht schimmern sehe. Es ist nicht sehr weit weg, dieses Tageslicht, und ich würde dir, wenn du hier wärst, sagen, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte dorthin gelangen. Sydney oder der Busch. Leben oder Tod. Andere Alternativen gibt es nicht.
Ich muss lachen, wenn ich daran denke, dass ich an Lungen- versagen sterbe und nicht du, obwohl du so viel geraucht hast. Meine Lungen fühlen sich jetzt nicht mehr an wie riesige Bal- lons, in denen ein wildes Feuer brennt. Na ja, genau genommen fühlen sie sich immer noch so an, aber es macht mir nichts mehr aus, ja, mein Denken hat sich von dem Schmerz vollständig ge- löst und treibt in sonderbar fahrigen Bewegungen umher, so ähnlich wie die Luftblasen, die ich über mir sehe: sie schießen so dahin, aber dann, wie von einer starken magnetischen Strö- mung erfasst, kommen sie plötzlich ins Taumeln und trudeln in die entgegengesetzte Richtung. Wie diese Luftblasen scheinen meine Gedanken keine spezifische Richtung zu haben, sosehr ich mich auch bemühe, einen bestimmten Punkt anzuvisieren und sie auf gerader Bahn dahin zu dirigieren. Das Feuer in mei- nen Lungen beobachte ich wie ein Lagerfeuer irgendwo in der Ferne, meine Gedanken gehen darüber hinweg und beschäfti- gen sich mit Dingen von ganz unmittelbarer Bedeutung, Ereig- nissen, die zwar nach wie vor bruchstückhaft bleiben, die ich immer noch nicht vollständig erfassen kann, die ich aber jetzt in einer Klarheit sehe, wie sie mir zu der Zeit, da sie geschahen, nie zu Gebote stand.
Und dann, bevor ich es denken kann, weiß ich es.
Mir sind Visionen geschenkt worden.
Plötzlich ist klar, was mit mir geschieht.
Ich, Aljaz Cosini, Flussführer, habe Visionen.
Und sofort kommen Zweifel über mich. Ich sage mir, das ist doch gar nicht möglich, ich befinde mich in einem Reich der Fantasie, das sind bloße Halluzinationen, es ist völlig ausge- schlossen, dass ein Ertrinkender solche Erfahrungen machen könnte. Aber meinem rational argumentierenden Verstand wi- derspricht ein Wissen, das ich niemals zuvor wahrgenommen habe. Und der Verstand kann lediglich räsonieren gegen diese Gewissheit, dass der Geist des Schlafenden und der eines Men- schen, der im Regenwald stirbt, frei umherstreifen, alles sehen kann, dass wir sehr viel mehr über uns selbst wissen, als wir uns normalerweise eingestehen, Dinge, die nur in den großen Mo- menten der Wahrheit in unserem Leben zu Tage treten, in der Liebe und im Hass, bei der Geburt, im Sterben. Jenseits dieser Momente scheint unser Leben nichts anderes zu sein als eine einzige große Reise fort von den Wahrheiten, die wir alle in uns tragen, unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, was wir wa- ren und was wir wieder sein werden. Und auf dieser Reise ist der Verstand unser Führer, unser Mentor. Aber das ist vorbei. Der Verstand lässt sich nicht vom Wissen – von meinem Wissen – überzeugen, dass alles, was ich sehe, wahr ist, dass das alles wirklich geschehen ist. Egal. Das mögen keine Zeitungsfakten sein, aber Wahrheiten sind es gleichwohl. Ein Geschlecht ver- geht, und ein anderes kommt. Aber was verbindet die zwei? Was bleibt? Was bleibt ewig bestehen auf der Erde?
Ich habe Visionen – großartige, wunderbare, wilde, überwältigende Visionen. Mir schwirrt der Kopf davon, wenn sie über mich kommen.
Und ich muss sie mitteilen, sonst wird ihr Zauber zu einer Last.


Zwei

Ehrlich gesagt, überrascht mich diese Sache mit den Visionen nicht. Überhaupt nicht. Soviel ich weiß, liegt das in der Familie. Harry hatte andauernd Visionen, vor allem an den Wochenenden, nachdem er werktags zusammen mit dem alten Slimy Ted, seinem Skipper auf dem Krabbenkutter, Unmengen von Cidre und billigem Riesling in sich hineingeschüttet hatte. Bei seinem wöchentlich stattfindenden Barbecue, an dem immer weniger von uns teilnahmen, weil uns seine Sauferei und sein zunehmend unberechenbares Benehmen abschreckten, redete Harry oft mit allen möglichen Tieren, die niemand außer ihm sehen konnte – höchstens einmal ein paar streunende Katzen oder räu- dige Hunde –, die aber, wie Harry versicherte, das gesellige Beisammensein sehr genossen; einmal behauptete er, sie seien mit ihm blutsverwandt. Unser Vetter Dan Bevan, den manche in der Verwandtschaft für verrückt erklärten, der aber gleichwohl ohne Zweifel zur Familie gehörte, ein Mann, der Warzen durch bloßes Anschauen vertreiben konnte und die Verschlüsse von Whiskeyflaschen abbiss, bevor er diese in wenigen Zügen leerte, sah ebenfalls Dinge, aber er sah sie nicht nur auf dem Boden der Flasche, sondern auch in der Form von Warzen. Er sah alle mög- lichen Sachen, schlechte wie gute, und die Leute im vierten Be- zirk, wo er wohnte, nahmen seine Warzen- und Furunkeldeute- rei durchaus ernst. Was Mamas Verwandtschaft angeht, so hatte ihre Mutter das zweite Gesicht und las im türkischen Kaffee- satz. Sie fand darin die Prophezeiung, dass Würmer aus Mamas Magen kriechen würden, und mehr oder weniger geschah das auch tatsächlich. Über mein Schicksal konnte meine staramama weit weniger präzise Auskunft geben; sie sah lediglich einen Vogel am Himmel kreisen.
Ich kann also sagen, dass mich die Sache mit den Visionen nicht überrascht. Allerdings bin ich nicht sicher, ob diese Gabe überhaupt für etwas gut ist – ich meine: was habe ich davon, wenn mir so ein verdammter Vogel erscheint? Hilft mir das he- rauszukriegen, ob es mir bestimmt ist, am Leben zu bleiben oder nicht, und ob ich folglich um mein Leben kämpfen soll oder nicht? Nein, ganz bestimmt nicht. Eine Vision sollte einem doch Antworten liefern, oder nicht? Aber was ich sehe, wirft nur immer noch mehr Fragen auf. Das ist nicht in Ordnung, das kann ich Ihnen sagen, das ist krumm und falsch. Allerdings überrascht mich auch das nicht. Das ganze Leben war mir im- mer schon ein einziges verwirrendes Rätsel, warum sollte ich er- warten, dass der Tod nun plötzlich besonders viel Sinn macht?
Und ich kann auch sagen, dass nicht einmal die Tatsache, dass ich im Begriff bin zu ertrinken, mich überrascht. Ich wusste von Anfang an, schon als das Stinkmaul anrief und mir diesen Job anbot, dass es nur böse enden konnte. Selbst der Kakerlak wusste, dass es böse enden würde. Warum habe ich mich über- haupt darauf eingelassen? Madonna santa, wie Maria Magdalena Svevo gern sagte, wenn sie gereizt war. Madonna santa. Die har- ten Kerle nach vorn! Was soll ich darauf antworten? Die Dinge sind bei mir nie richtig gut gelaufen. Es ist alles in dem großen Buch da oben aufgeschrieben, sagt man – was also interessiert es mich, warum ich den Job angenommen habe, der mich dahin geführt hat, wo ich jetzt bin, da ich doch genauso gut irgend- was anderes dafür verantwortlich machen kann? Mein Zug war längst abgefahren, bevor diese Sache aufs Tapet kam. Hören Sie zu. Na ja, womit fange ich am besten an? Mit der Familie? Mit der Kirche, deren Mauern Blut weinten? Mit der Schule, wo sie einem rückwärts laufen beibrachten? Mit meinem Vater, der Barbecues für Gespenster und Leute, die überhaupt nie existiert hatten, veranstaltete? Mit dem Baby und der ganzen schreck- lichen Geschichte? Dem Laken mit dem Tränenfleck, der sich nicht rauswaschen ließ? Couta Hos blödsinnigen Signalflaggen? Diesem Bastard Stinkmaul? Diesem Idioten Gaia-Head? Ich kriege sonst immer Bauchgrimmen, wenn ich nur an das alles denke, aber im Moment stürmen so viele andere Schmerzen auf meinen Körper ein, dass es mir egal ist. Mir ist überhaupt nie et- was wirklich wichtig gewesen, ich meine: seit Jemmas Tod. Die Leute machen sich Gedanken über ihre Frisuren oder darüber, ob den Nachbarn wohl die Farbe, in der sie ihr Haus gestrichen haben, gefällt oder – das hat mich tatsächlich mal eine Frau ge- fragt – ob sie besser das kleine oder das größere Zierdeckchen auf die Waschmaschine legen sollen. Aber Sie werden mich schon verstehen, wenn ich sage, dass einem alle diese Dinge nicht über- mäßig wichtig erscheinen, wenn man gerade dabei ist zu ertrin- ken. Und ich bin dabei zu ertrinken. Es kümmert mich nicht, ob Sie gut gekämmt sind oder nicht, ob Ihr Haus gestrichen ist oder nicht und ob Sie überhaupt ein Haus besitzen oder auch eine Waschmaschine, auf die Sie Zierdeckchen legen können. Zuge- geben, es sollte mich kümmern. Ich will es nicht bestreiten, aber ich war immer schon ein Typ, der die Dinge so nimmt, wie sie sind. Träge, würden vielleicht manche sagen, aber das stimmt nicht. Oder vielleicht doch. Alles, was die Leute, die mich für träge halten, mir vorwerfen – dass ich mich treiben lasse, dass ich keine Zukunft habe, dass ich nicht weiß, was ich vom Leben will –, ist vielleicht doch wahr.
Vielleicht war ich mein Leben lang am Ertrinken.
Der einzige Unterschied zu jetzt ist, dass ich mich nicht mehr mit all den Dreckskerlen herumschlagen muss, die wollen, dass ich verschwinde, abhaue, mich verpisse, wie man so sagt. Ich könnte mich sogar an meinen jetzigen Zustand gewöhnen, so eingehüllt in rauschendes weißes Wasser, wenn es nur nicht so schmerzhaft wäre. Wo soll ich anfangen? Am besten viel- leicht mit dem, was ich in diesem Moment gerade sehe. Denn mir ist ganz komisch zu Mute bei diesem Anblick. Ich habe so etwas ja noch nie gesehen, jedenfalls nicht in der Weise, wie ich es jetzt sehe. Wissen Sie, es ist wie ein Film, nur eben, dass ich diese eine Vision habe, die so bleibt, wie sie ist, während drum herum all diese anderen Dinge passieren. Und was just in diesem Moment passiert, stellt sich so dar.
Zuerst: ein Geruch. Es riecht nach Flut – nach Erde, die fort- gespült wird, nach weggeschwemmtem Torf, nach Regenwald, ganz gesättigt von Regen. Genauer – denn wenn ich auch eine träge Natur sein mag, so habe ich doch immer Präzision sehr bewundert –, genauer: der kraftstrotzende Gestank von Verfall. Dann: ein Geräusch. Das Tosen, ein Tumult von Geräuschen, eines Flusses, der seine Ufer sprengt, durch das niedrige Busch- werk bricht, große Stromschnellen bildet, wo es vorher keine gab, von Regenschauern, die wie Axthiebe in die Tiefen der Schlucht schlagen.
Dann bricht ein Lichtstrahl durch, er fällt in einem bizarr flachen Winkel in die Schlucht ein und erhellt eine Welt, die sonst von den schwarzen Regenwolken in Dunkel gehüllt ist. Das Wasser spiegelt weißes glitzerndes Licht. An dem Punkt, von wo ich es sehe, ist das Weiß so gleißend, dass es mich zuerst blendet. Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an die Hel- ligkeit gewöhnt haben und ich den Fluss erkennen kann. Es ist der Franklin River. Eine Welt, die rein ist und heil und in sich vollkommen. Keine Kondome, keine Autoreifen, keine Blech- büchsen, keine Dioxine, keine verbeulten, rostigen Chromteile, die einst irgendwelche Autos zierten, und auch kein anderer Abfall unserer Welt scheint hier zu existieren. Das ist eine ganz andere Welt. Das ist der Fluss. Er entspringt in der Cheyne- Kette. Stürzt vom Mount Gell herunter. Windet sich wie eine Schlange in der Wildnis zu Füßen des mächtig aufragenden Massivs von Frenchmans Cap. Schreibt seine Vergangenheit und die Prophezeiung seiner Zukunft ein in gewaltige Schluch- ten, die sich durch Berge und Felsen schneiden, oft so stark unterhöhlt, dass man sie „Balkone“ nennt, in erodierte Felsblö- cke und wunderschön golden schillernde Steinbuckel, in Kies- bänke, die von Jahr zu Jahr mit jedem Hochwasser wandern, in den Kies, der einst abgeschliffenes Geröll war, das einst ausge- waschener Fels war, der einst unterhöhlte Klippe war, die einst Berg war, in jenen Kies, der wieder Berg sein wird. Und dann sehe ich sie. Auf dem gleißenden Weiß zwei rote Schlauchboote, darauf Menschen, die ernst die Köpfe recken über dem reißen- den Wasser der Stromschnelle, die sie gleich hinabstürzen wer- den.

Richard Flanagan

Über Richard Flanagan

Biografie

Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman „Goulds Buch der Fische“, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine insgesamt sechs Romane sind seither in 41 Ländern erschienen. Für „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ erhielt Richard Flanagan den...

Pressestimmen
buch-haltung.com

„Wie Flanagan Bilder im Kopf des Lesers erzeugt, das ist nur meisterlich zu nennen.“

Kommentare zum Buch
Kommentieren Sie diesen Beitrag:
(* Pflichtfeld)

Richard Flanagan - NEWS

Erhalten Sie Updates zu Neuerscheinungen und individuelle Empfehlungen.

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Richard Flanagan - NEWS

Sind Sie sicher, dass Sie Richard Flanagan nicht mehr folgen möchten?

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Abbrechen