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Das Siegel von Rapgar

Das Siegel von Rapgar

Alexey Pehov
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Roman

„Die Mischung aus Elementen wie Steampunk und Krimi inmitten eigenartiger Völker lädt zum Entdecken ein und glänzt mit dichter Atmosphäre sowie schönen Formulierungen.“ - captain-fantastic.de

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Das Siegel von Rapgar — Inhalt

In der altehrwürdigen Stadt Rapgar geschehen rätselhafte Morde, die die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen. Als Till er'Cartya, Nachfahr einer alten Magierfamilie, zu Unrecht beschuldigt wird, ein Mitglied der Herrscherfamilie umgebracht zu haben, begibt er sich auf die Suche nach dem wahren Täter. Dabei begegnet er der geheimnisvollen Erin, die von finsteren Gestalten gejagt wird. Doch durch ihre Nachforschungen ziehen Till und Erin die Aufmerksamkeit der falschen Personen auf sich und stoßen zudem auf Hinweise, dass hinter den Morden eine Verschwörung steckt, die ganz Rapgar ins Verderben stürzen könnte ...

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.03.2018
Übersetzt von: Christiane Pöhlmann
592 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97965-8
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Leseprobe zu „Das Siegel von Rapgar“

 

„Mein Junge! Hättest du vielleicht die Güte, mir zu erklären, was du dir dabei nun schon wieder gedacht hast?“, meckerte Stephan los, kaum dass ich die Kutsche verlassen und dem Mann oben auf dem Bock zum Abschied ein kleines Trinkgeld zugesteckt hatte.

„Was ich mir wobei gedacht habe?“, stellte ich mich voller Genuss dumm, während ich dem Wagen nachsah, der über die malerische Lindenallee zurück in Richtung des hinter Hügeln verborgenen Autumnhill davonfuhr. „Etwa dabei, dem Kutscher eine Anerkennung in klingender Münze zukommen zu lassen?“

»Nein! [...]

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„Mein Junge! Hättest du vielleicht die Güte, mir zu erklären, was du dir dabei nun schon wieder gedacht hast?“, meckerte Stephan los, kaum dass ich die Kutsche verlassen und dem Mann oben auf dem Bock zum Abschied ein kleines Trinkgeld zugesteckt hatte.

„Was ich mir wobei gedacht habe?“, stellte ich mich voller Genuss dumm, während ich dem Wagen nachsah, der über die malerische Lindenallee zurück in Richtung des hinter Hügeln verborgenen Autumnhill davonfuhr. „Etwa dabei, dem Kutscher eine Anerkennung in klingender Münze zukommen zu lassen?“

„Nein! Dabei, dass wir uns jetzt eine Viertelmeile lang die Hacken wundlaufen dürfen! Beim Alleinzigen! Das überstehen meine armen Füße niemals!“

„Darf ich dich daran erinnern, dass du überhaupt keine Füße hast“, flötete ich. „Und gegebenenfalls auch gar nichts mit ihnen anzufangen wüsstest.“

„Was bist du nur für ein Banause, so eine Meinung von mir und meinen Fähigkeiten zu haben!“, brauste Stephan auf. „Was aber deine Frage angeht, ob dieser sogenannte Kutscher eine Anerkennung in klingender Münze verdient – der Bursche ist ein Dieb. In gehobenen Kreisen drückt man einem Dieb keine Münze in die Hand, sondern jagt ihn mit einem Tritt in den Allerwertesten davon.“

„Du, mein alter Freund und Gefährte, solltest doch wohl am besten wissen, dass es in gehobenen Kreisen von Dieben nur so wimmelt!“

Mit einem unzufriedenen Murren erkannte er mir diesen Treffer zu.

„Dieser Kutscher“, fuhr er dann aber beharrlich fort, „hat gestern Abend, während ihr betrunkenen Stiesel in dem jungen Eichenwäldchen auf Waldschnepfenjagd gewesen seid, einen Roséschaumwein stibitzt.“

„Meine Güte, der arme Bursche wollte sich die Kehle ebenfalls ein wenig anfeuchten“, entgegnete ich. „Sei doch nicht derart kleinkariert und knauserig!“

Während ich meinen Weg fortsetzte, sog ich die frische Luft ein. Man sollte wirklich öfter hinaus ins Grüne. Die Natur bot dem Auge nun einmal mehr als die Straßen Rapgars.

„Wenn der arme Bursche tatsächlich nur etwas hätte trinken wollen, hätte ich ihn mit Freuden auf den Fluss in seiner Nähe hingewiesen“, giftete Stephan. „Du kannst einem dreckigen Dorfbengel doch nicht durchgehen lassen, dass er seinen Durst mit Schaumwein aus den besten Provinzen Chevilles stillt. Eine einzige Flasche davon kostet vierzig Farteigns! Vierzig Farteigns, das sind viertausend Zelinen! Wo kommen wir denn da hin?! Zu Zeiten deines seligen Urgroßvaters – möge er seinen Frieden in der Urlohe gefunden haben! – hat man solche Filous ordentlich verdroschen …“

„Und ihnen bei der Gelegenheit gleich auch noch die Haut vom Leibe abgezogen“, murmelte ich. Meine aufgeräumte Stimmung war wie weggeblasen. „Wir können von Glück sagen, dass wir nicht mehr in ganz so wüsten Zeiten leben. Die Welt braucht Frieden und Eintracht, Stephan.“

„Die Welt braucht Feuer und Eisenstangen“, ereiferte sich mein guter alter Spazierstock. „Ohne diese beiden Utensilien ist es nämlich schon bald aus mit deiner Welt.“

„Da spricht mal wieder die blutdürstige Dämonenseele aus dir“, tadelte ich ihn.

Was ich schon in der nächsten Sekunde bereute.

„Wir Amnes haben keine Seele. Im Übrigen habe ich dich schon wiederholt gebeten, mich nicht Dämon zu nennen. Das ist bestenfalls beleidigend, schlimmstenfalls noch mehr!“

„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich sofort, wollte ich es mir doch ersparen, mir die nächsten zwei Stunden weitschweifige Vorträge über den Charakter von Wesen aus der Urlohe anzuhören, die vermittels Magie in einen Gegenstand gezwängt worden waren.

„Wenn du erst einmal mein Alter erreicht hast, mein Junge …“

„Keine Sorge, das werde ich bestimmt nicht“, unterbrach ich ihn.

Nun war es an Stephan, sich auf die nicht vorhandene Zunge zu beißen.

„Ich frage mich immer noch“, wechselte er denn auch rasch das Thema, „ob es wirklich klug war, unsere ursprünglichen Pläne über Bord zu werfen. Wolltest du nicht eigentlich bis Ende der Woche in Autumnhill bleiben? Stattdessen haben wir kaum einen Tag dort verbracht und sind …“

„Die Sintreens werden das schon verstehen, obendrein habe ich mich bei ihnen für meinen überstürzten Aufbruch entschuldigt.“

„Ja – schriftlich! Der Anstand hätte jedoch verlangt, dass du das persönlich tust. So hat dein Aufbruch einer Flucht geglichen.“

Was sollte ich dazu sagen? Stephan hatte ja recht. Doch nachdem Clarissa mit ihren vermaledeiten Brüdern eingetroffen war, hatte ich es nicht eine Sekunde länger bei den Sintreens ausgehalten. Daran traf Clarissa im Grunde keine Schuld. Oder zumindest nicht die alleinige.

Die letzten anderthalb Jahre war ich dem falschen Glanz dieser höchsten Kreise Rapgars weitgehend ferngeblieben, hatte ich mir das ganze leere Geschwätz über das Wetter, Polo, Pferderennen und neu eröffnete Heilbäder erspart. Zur Strafe bedachten all die schönen Damen in ihren schwarzen Abendkleidern und die eleganten Herren in Smoking oder Frack meine bescheidene Person nun bestenfalls mit neugierigen Blicken, schlimmstenfalls jedoch mit Mitleid, Angst oder echter Verachtung. Auf Ersteres konnte ich getrost verzichten, Mittleres amüsierte mich ein wenig, Letzteres ließ mich völlig kalt. Dennoch mied ich die Zusammenkünfte dieser Herrschaften.

Mein alter Freund Dante begriff das beim besten Willen nicht, weshalb er ständig verlangte, ich solle mir Satisfaktion vom Leben holen, mich aber nicht wie ein Einsiedler zurückziehen.

„Genieße dein Leben, Till! Genieße es“, riet er mir gern, wenn er selbst in melancholischer Stimmung war.

Bei solchen Gelegenheiten verkniff ich mir stets grinsend die Bemerkung, Dante selbst verlasse seine vier Wände ja auch nicht gerade häufig und halte obendrein die Hälfte der adligen Herrschaften Rapgars für ausgemachte Grobiane. Ein echter Luxer wie er, so tönte mein Freund gern, würde in Anwesenheit dieser Pinsel unweigerlich aus der Haut fahren.

„Und ich“, hatte ich ihm einmal gestanden, „schlafe ein, wenn ich mir sämtliche Einzelheiten über den Kauf eines neuen Trabers anhören muss. Das Geschwätz über bevorstehende Bälle, die jüngsten Entwürfe der Schneider Chevilles oder den werten Herrn N., der die holde Dame N. in den Armen des elenden A. erwischt habe, weshalb am nächsten Freitag ein Duell anberaumt sei, ermüdet mich. Für sechs Jahre habe ich die Rapgarer Bühne gegen meinen Willen verlassen müssen – aber an diesen ach so geselligen Zusammenkünften hat sich nicht das Geringste geändert!“

Dante hatte daraufhin bloß geschnaubt, und unser Gespräch war damals erloschen wie die Flamme des Glaubens an den Alleinzigen im Herzen eines schwarzhäutigen Ogano …

Auf dem Weg zum Bahnhof sog ich die klare Landluft ein. Sie roch nach Herbstlaub, frischer Milch, gerösteten Kastanien und Nebel, der erst vor Kurzem in die bunten Wälder abgezogen war.

Schon als kleiner Junge hatte ich den Herbst gemocht. Trotz des Regens gab es für mich keine herrlichere Jahreszeit. Der Winter war mir zu kalt, der Frühling fegte mir zu heftig mit seiner steifen, vom Meer kommenden Brise durchs Land, der Sommer brachte mich mit seiner beklemmenden Hitze um. Im Herbst dagegen zeigte sich die Welt von ihrer schönsten Seite, wartete mit einem kristallklaren Himmel und einer atemberaubenden Farbenpracht aus Feuerrot, Gold, Orange, Gelb, Ocker und Zartblau auf.

Möglicherweise hielte diese Begeisterung keiner soliden Prüfung stand, möglicherweise hatten es mir leuchtende Farben auch erst angetan, seitdem mich die Burschen aus Squagen Chause in einer unglücklichen Frühlingsnacht vor nunmehr siebeneinhalb Jahren in ein recht graues Gemäuer verfrachtet hatten.

„Wir kommen zu spät“, nörgelte Stephan schon wieder.

Ohne innezuhalten, zog ich die an einer goldenen Kette befestigte Uhr aus der Tasche meiner Weste und ließ den mit einer aparten Gravur verzierten Deckel aufspringen.

„Falsch“, antwortete ich nach einem Blick auf die wie aus Feuer, Wasser und Luft geformten Zeiger. „Wir treffen sogar überpünktlich ein.“

„O nein, wir kommen zu spät. Wenn du nicht endlich einen Zahn zulegst, verpassen wir den Zug und müssen uns wieder in irgendeinem Wirtshaus die Zeit um die Ohren schlagen. Darf ich dich an das höchst fragwürdige Gebräu erinnern, das man in solchen Einrichtungen als Kaffee bezeichnet? Im Zug müssen wir uns dann mit allerlei Gesindel in einen Wagen zweiter Klasse zwängen, dessen Fenster nicht schließen, sodass in einem fort ekelhafter Qualm hereinweht!“

„Wir sind erst ein einziges Mal in einer solchen Situation gewesen, und das war vor zehn Jahren!“

„Dennoch erinnere ich mich daran nur zu gut, mein junger Freund, ich habe nämlich ein vorzügliches Gedächtnis! In dem ist jeder einzelne Tag der letzten fünfhundert Jahre aufbewahrt! Solange stehe ich nun nämlich schon im Dienste deiner Familie, erst bei deinem Urgroßvater, dann bei deinem Großvater und deinem Vater und nun bei dir.“

„Es werden wohl noch einige Tage hinzukommen“, murmelte ich, „denn ich habe nicht die Absicht, dich auf der Stelle in die Freiheit zu entlassen.“

„Darum habe ich ja auch gar nicht gebeten.“

Vermutlich war das nicht einmal gelogen. Einerseits konnte Stephan es gar nicht abwarten, in die Urlohe einzugehen und dort seinesgleichen, aber auch meine Vorfahren wiederzusehen, andererseits lauerte er nicht unbedingt auf meinen Tod –und nur er würde den Amnis aus dem Spazierstock freisetzen.

„Hast du gehört, wovon man gestern im Sommerhäuschen beim Fünfuhrtee gesprochen hat?“, erkundigte sich Stephan, der ein Thema jederzeit so schnell wechseln konnte wie ich meine Handschuhe.

„Hilf mir auf die Sprünge!“, verlangte ich. „Waren es Pferderennen, ein drohender Krieg, die Geschäfte in den Kolonien oder Spekulationen an der Börse? Oder ging es darum, wie man endlich Frieden zwischen den Yenalssöhnen und den Malosanniern stiftet? Denkbar wäre natürlich auch, dass man die Frage erörtert hat, wie man die Skangher ein für alle Mal aus Einöd verjagt. Oder nein – das Einbürgerungskomitee gedenkt, fortan von seinem eigenen Kopf Gebrauch zu machen und sich nicht länger vom Bürgermeister auf der Nase herumtanzen zu lassen. Hat der letzte Aufstand in Jockjump, bei dem ganze Straßenzüge verheert wurden, die Stadtherren also endlich zur Besinnung gebracht? Zeit wurde es, denn die Kagas und Mamwrase verlieren allmählich die Geduld, weil Rapgar es wieder und wieder aufschiebt, ihnen volle Bürgerrechte einzuräumen. Der Stadtrat täte mithin gut daran, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Nicht, dass Schmauch und Asch am Ende dem Erdboden gleichgemacht werden und Rapgar ohne seine Fabriken dasteht!“

„Nichts von alledem trifft auch nur annähernd zu! Nein, Thema des Tages war ein Prophet, der kürzlich in Andersartlerend aufgetaucht ist.“

„In unseren wirren Zeiten tauchen Propheten doch noch schneller auf als Mitmaker, die ein tüchtiger Regenguss aus ihrem Grab holt und von Totreich aus durch die halbe Stadt jagt.“

„Dieser Prophet, o mein weiser Freund, unterscheidet sich ein wenig von den Heerscharen der üblichen Scharlatane.“

„Und wodurch, o mein wortgewandter Amnis? Kündigt er etwa nicht die Allumfassende Finsternis an, die eintritt, sobald wir Luxer die Macht an uns gerissen haben? Unkt er etwa nicht von einem Blutregen, mordlustigen Kröten, dem Tod von Jungfrauen oder der Rückkehr aller Yenalssöhne in ihre angestammte Heimat? Verzichtet er gar auf einen Skangher, der aus irgendeinem Müllhaufen heraushuscht und dann den Stadtfürsten meuchelt?“

„Bist du jetzt fertig?“, stöhnte Stephan. „Clarissas Ankunft in Autumnhill muss dich ja ernsthaft aus der Bahn geworfen haben …“

„Eher die ihrer kreuzdämlichen Brüder. Wenn ich meinem Herzen freien Lauf gelassen hätte, dann hätten sie diesen Besuch nicht überlebt“, brummte ich, lüftete gleichzeitig aber den Hut, da eine Dame von Stand in einer offenen Kutsche in Richtung Autumnhill an mir vorbeifuhr. „Verrätst du mir nun, was es mit diesem Propheten auf sich hat?“

„Angeblich hat er die Morde in Grub bereits vor einer Woche angekündigt.“

„Spielst du auf den Tod der beiden Herren an, die dem Geviert der Wunscherfüllung einen Besuch abgestattet haben? Die Zeitungen behaupten, die Opfer seien regelrecht gemetzelt worden. Hat sich Squagen Chause eigentlich schon dieses Propheten angenommen? Was, wenn seine Unkerei gar keine ist? Was, wenn er diese Morde gar nicht im Kaffeesatz gelesen hat – sondern selbst die grausamen Taten verübt hat?“

„Denkbar wäre es“, bemerkte Stephan leichthin. „Andererseits gibt es in Rapgar viel zu viele irrsinnige Menschen, denen höchst grausame Verbrechen zuzutrauen sind. Denk nur an die ganzen Sekten und Geheimgesellschaften, die in der Stadt ihr Unwesen treiben, dazu noch das Pack aus Vierteln wie Grub und Verrost, von den Herrschaften in Einöd ganz zu schweigen.“

„Was hat dein Prophet über unsere ruhmreiche Stadt denn sonst noch so zu sagen gewusst?“

„Dass diese Morde erst der Anfang sind. Aber bevor ich mehr erfahren konnte, ist Clarissa aufgetaucht – und du bist Hals über Kopf aus dem Teepavillon gestürzt.“

„Zu dumm“, murmelte ich, während ich vom Hauptweg auf einen schmaleren Pfad einbog, eine Abkürzung zum Bahnhof.

Bis zur Abfahrt des Eilzugs № 9 blieb nun wirklich nicht mehr viel Zeit.

„Aber wenn ich alldem trauen darf, was ich bis dahin belauscht habe, müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen. Denn es wird weitere Morde geben.“

„Wenn du es sagst.“

Mein Herz bestand beileibe nicht aus Stein, aber es beunruhigte mich in der Tat kaum, ob irgendein Geisteskranker, der sich an dem aus der Mondbaumwurzel gewonnenen Pulver überfressen hatte, noch ein paar Herren abschlachtete, die ihrerseits tüchtig in den sündigen Apfel der Verworfenheit gebissen hatten. Grub war und blieb nun einmal Grub. Wer sich dorthin begab, wusste, dass er Gefahr lief nicht zurückzukehren.

Sicher, in Einöd, Nichteinnichtausstadt und Stätt ging es noch weit grausamer zu, doch auch in Grub waren Mord und Totschlag an der Tagesordnung. Verwunderlich war das nicht, lebten dort doch einfach viel zu viele Wesen auf engstem Raum zusammen.

Die Schmierfinken von den Zeitungen hatten sich jedoch allesamt auf die beiden letzten Morde gestürzt, welche die gleiche Handschrift aufwiesen: Beide Male waren zwei ehrbare Bürger ins Jenseits befördert worden. Fast konnte man meinen, ein Tru Tru oder sonst irgendein Menschenfresser hätte nach einer bitteren Hungersnot zugeschlagen. Die Aufmerksamkeit der Journaille würde sich also noch ein Weilchen auf Grub konzentrieren. Bis dann die nächste Sensation zu vermelden war …

Wer freilich in Grub lebte, dürfte kaum darüber entzückt sein, dass es in den Straßen mit einem Mal von den blauen Uniformen aus Squagen Chause nur so wimmelte. Gendarmen sah man in diesem Viertel nämlich nicht besonders gern.

Mit dem Spazierstock schob ich einen Zweig zur Seite, der vor meiner Nase hing.

Die Sonne stand bereits über den malerischen Hügeln, ihre Strahlen bohrten sich hartnäckig durch das Flechtwerk der Lindenäste. Auf dem verdorrten Gras und an den Spinnennetzen schimmerten jedoch noch einzelne Tautropfen. Rechter Hand verlief eine Steinmauer, welche die dahinterliegenden Felder gegen den Pfad abschirmte. Dort hatte ein Tier, vermutlich ein streunender Hund, halbherzig versucht, einen Gang zu graben. Hinter den Ebereschen, deren Beeren bereits orange und feuerrot leuchteten, ragte die Turmspitze einer Kirche des Alleinzigen auf.

Meine Reise nach Autumnhill hatte ich in der felsenfesten Überzeugung angetreten, es würde mir guttun, das wuselige Rapgar ein Weilchen hinter mir zu lassen und die Zeit bis zum Winter auf dem Lande zu verbringen, um mich dort an der herrlichen Umgebung zu erfreuen. Doch schon beim Aufbruch hatte meine innere Stimme geunkt, dass der Plan bestimmt in die Binsen gehen würde. Rapgar war wie ein Krake, der mit seinen Tentakeln nach der Seele eines jeden grapschte. Und wen sich diese Ausgeburt der Urlohe erst einmal geschnappt hatte, den gab sie nicht wieder frei.

Rapgar war meine Heimatstadt. Ich liebte und ich hasste sie gleichermaßen. Und ich entkam ihr nicht. Gelegentlich aber, so wie eben bei diesem kleinen Ausflug, gönnte ich mir die Illusion, die Stadt besäße keine Macht über mich. Wie sagt Stephan doch immer? Um glücklich zu sein, brauchen wir ein paar Illusionen. Von Erfolg im Leben abgesehen, versteht sich.

Der leicht ansteigende Pfad brachte mich zu der Straße, die von Landswigg, einer kleinen Imkerei zwei Meilen von Autumnhill entfernt, zur Stadt führte, eine Abkürzung zum Bahnhof. Wenn ich sie nahm, würde ich den Zug auf alle Fälle erreichen. Würde ich ihn nämlich verpassen, läge mir Stephan den ganzen Tag in den Ohren, dass wir die Kutsche nicht hätten verlassen sollen.

„Wir kommen zu spät“, maulte mein Spazierstock denn auch schon wieder.

Ob er meine Gedanken gelesen hatte?

„Ein Luxer kommt nie zu spät“, hielt ich dagegen. „Eine derartige Unhöflichkeit würde er sich selbst niemals verzeihen. Deshalb ist es, wenn er am Ziel eintrifft, stets die exakt angemessene Zeit.“

Das waren Stephans Worte. Er hatte sie mir an den Kopf geknallt, als ich ein Junge von acht oder neun Jahren gewesen war. Mit seinen eigenen Waffen geschlagen, gab er vorerst Ruhe.

Auf der Straße begegnete mir niemand, sodass ich mich nicht am Rand halten musste, damit etwaige Reiter oder Wagen an mir vorbeiziehen konnten. Allerdings waren in dieser Ödnis elegante Fortbewegungsmittel wie ein Reitpferd oder eine Schlafkutsche ohnehin eine Seltenheit. Eher lief einem noch eine Kuh oder eine Ziege, vielleicht auch ein Vertreter des Kleinen Volks über den Weg …

Irgendwann sah ich vor mir abermals eine Kirche, einen düsteren Bau aus schlecht behauenem, grauem Stein mit schwarzen Dachpfannen und dreckigen Buntglasfenstern. Die siebenseitige Kirchturmspitze wurde von einem feuerroten, Tag wie Nacht brennenden Zeichen der Urlohe des Alleinzigen bekrönt.

An die Kirche schloss ein kleiner Friedhof mit auffällig gepflegten Gräbern und weißen Statuen an. Auf drei Gräbern am hinteren Ende leuchteten zwei schwarze und ein bernsteinfarbenes Licht. Hier waren Luxer gestorben, die schwarze beziehungsweise bernsteinfarbene Augen gehabt hatten. Auch rote, aschgraue, indigoblaue oder grüne Lichter wären bei uns Luxern noch denkbar, denn bei diesen Flammen handelte es sich nicht um gewöhnliche Grablichter, sondern um den Atem der Urlohe – die wiederum der Ort war, an den tote Luxer eingingen.

Gedankenversunken blieb ich kurz stehen. Dieses warme Grablicht auf einem Friedhof war das Einzige, was von Wesen wie mir nach dem Tod blieb. Nach ein paar Jahrhunderten würde auch diese Flamme erlöschen und sich wie Nebel auflösen.

„Früher hat hier ein Mitmaker gelebt“, durchbrach Stephan mein Schweigen. „Gelegentlich ist er aus dem Grab da drüben, dem bei der alten Eberesche, herausgekommen und dann, umschwirrt von zahllosen Fliegen, durch die Gegend gestreift. Er hat sich leidenschaftlich gern am Straßenrand versteckt und abends einsame Reisende erschreckt.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen daraufhin gleich scharenweise das Zeitliche gesegnet haben“, erwiderte ich grinsend. Ein Mitmaker ist eigentlich ein völlig harmloser Untoter. Doch in dieser Ödnis dürfte sein Auftritt recht effektvoll gewesen sein …

„Das haben sie, ganz recht.“

„Haben die purpurnen Uniformen aus Squagen Chause dem Treiben des Herrn Mitmaker denn kein Ende gesetzt?“

„Die hatten damals in Rapgar auch so schon alle Hände voll zu tun. Der Mitmaker ist allerdings eines Tages einem Pickler in die Arme gelaufen. Der hat den Burschen dann mit seinem elektrischen Blitz geröstet.“

„Na, da hat sich der Herr ja mit dem Richtigen angelegt. Wusste er nicht, dass Pickler nicht den geringsten Sinn für Humor haben?“

„Was verlangst du von denen auch noch Humor, wo sie doch schon über den Saft des Lebens, die Quelle des Fortschritts und der Aufklärung …“

„… mit einem Wort über Elektrizität verfügen“, fuhr ich Stephan in seine fantasievollen Umschreibungen. „Und die ist der neue Gott in Rapgar, mögen diese Worte auch noch so frevelhaft in deinen Ohren klingen.“

Schweigend setzte ich meinen Weg fort. Erst als ich die Stadt erreichte, wandte ich mich wieder an meinen Amnis: „Die Tropaeoler sind doch wirklich pfiffige Burschen“, nahm ich unser Gespräch wieder auf. „Wer sonst hätte die Talente der Pickler so für sich zu nutzen gewusst? Wenn wir in Rapgar geborene Erfinder haben, dann sie.“

„Dafür musst du dem Ururgroßvater des gegenwärtigen Stadtfürsten danken“, erwiderte Stephan, „denn er hat es diesen oberschlauen Pflanzen erlaubt, sich in der Stadt anzusiedeln. Anfangs hatte Rapgar nicht mal einen Vorteil davon, aber in den letzten einhundert Jahren hat sich das geändert, da wurden dank der Kresseköpfe enorme Fortschritte erzielt.“

„Nur geht die Welt leider dennoch den Bach runter“, konterte ich. „Deshalb werden immer mehr Stimmen laut, die verlangen, man müsse die Tropaeoler mit Stumpf und Stiel ausrotten, bevor sie womöglich eine Waffe entwickeln, mit der man die ganze Welt vernichten könnte.“

„Lass die Kinder der Reinheit ruhig krakeelen!“, ereiferte sich Stephan. „Dieser lächerlichen Sekte fehlt der Mumm, mit Hacke und Beil gegen die Tropaeoler vorzugehen!“

Dem konnte ich nicht widersprechen. Diese Kindsköpfe wollten zurück in die dunklen Jahrhunderte, in denen von Fortschritt keine Rede sein konnte und die Menschen im Einklang mit der Natur lebten, will heißen in finsteren Wäldern hausten, in dreckigen Höhlen und ohne warmes Wasser aus dem Hahn. Zum Glück zählte die Sekte aber nur wenige Mitglieder, sodass sie zwar allen mit ihrer Idee, die Tropaeoler zu vernichten, in den Ohren lag, jedoch nicht zur Tat schritt. In Sicherheit durfte man sich deswegen allerdings nicht wiegen, nicht bei uns in Rapgar. Hier fand sich irgendwann immer ein Narr, der zur Axt griff oder die Lunte an ein Pulverfass legte – und dann würden sowohl Späne als auch Köpfe durch die Luft fliegen.

Rapgar brodelte. Dem einen passten die Menschen nicht, dem anderen missfielen die Kagas, irgendjemand konnte Zavyre oder Fosissen nicht ausstehen, wieder andere hassten uns Luxer. Jeder musste ständig auf der Hut vor jedem sein und konnte nur darauf hoffen, dass der Alleinzige uns davor bewahrte aufeinander loszugehen. Denn weder die Zivilisation noch der enorme Fortschritt in den letzten Jahren hatten den Rassenhass in unserer Stadt auslöschen können. Bräche er ungehemmt aus, würde ganz Rapgar in den Abgrund stürzen.

 

Obwohl von den Eisenbahnschwellen der Geruch von schwarzem Teer herüberwehte, war der kleine Bahnhof ebenso in Wohlgeruch gehüllt wie eine Dame von Welt in die Duftwolke teurer Parfüms aus Cheville. An der hiesigen Uhr wanderten über ein weißes Zifferblatt lanzenartige Zeiger, welche die Zeit allerdings rückwärts maßen. Die Kagas bildeten sich enorm viel auf die Pünktlichkeit ihrer Züge ein. Tatsächlich war in der Geschichte der Dampfloks bisher keine einzige Verspätung zu vermelden gewesen.

Bis zur Abfahrt des Eilzugs № 9 blieben noch knapp zehn Minuten.

Ich lief den mit Holzbalken ausgelegten Bahnsteig zur Kasse hinunter. Zum Glück gab es keine Schlange. Am Schalter saß eine grauhaarige, in ein flauschiges weißes Schultertuch gehüllte Frau, die mir das Billett für die erste Klasse samt den besten Wünschen für eine gute Reise aushändigte.

Auf dem Bahnsteig warteten außer mir nur wenige Fahrgäste. Sie hatten sich weit vorn aufgebaut, wo die Wagen dritter Klasse anhalten würden. Bei ihnen handelte es sich ausnahmslos um Menschen.

Als der Bahnhofsvorsteher, ein Mann, der schon in die Jahre gekommen war, an mir vorbeitrottete, funkelten mich die goldenen Knöpfe seines Uniformrocks an. Kaum hatte er an der Farbe meiner Augen erkannt, dass hier ein Luxer den nächsten Zug zu besteigen gedachte, legte er zum Gruß die Hand an den lackierten Schirm seiner flachen Mütze.

Ein Schuhputzer saß, gegen den Pfahl einer Gaslaterne gelehnt, auf dem Boden und langweilte sich ganz offenkundig. Bei meinem Anblick kam jedoch Leben in ihn. Für nur wenige Zelinen säuberte er meine spitz zulaufenden Schuhe, die auf dem Weg zum Bahnhof ordentlich eingestaubt worden waren. Nach der Prozedur glänzten sie wieder derart, dass man sich in ihnen hätte spiegeln können. Anschließend erwarb ich bei einem Zeitungsjungen noch die neueste Ausgabe der Rapgarer Zeiten. Ich rollte sie zusammen und trat, von aufgeregtem Gefiepe angezogen, an den Rand des Bahnsteigs.

Auf den gusseisernen Schienen herrschte ein furchtbares Gewusel. Dort hatten sich Vertreter des Kleinen Volks versammelt, um den einfahrenden Zug zu begrüßen. Diese Wesen vergötterten den Fortschritt, auch wenn er ihnen bereits enormen Schaden zugefügt hatte. Die Dampflokomotive der Kagas hielten sie für eine Art Gottheit, der es zu huldigen galt. Noch während der Lobpreisung des donnernden Monstrums starben Dutzende der Winzlinge, wurden von dem tonnenschweren, Dampf speienden Ungeheuer schlicht platt gewalzt. Doch auf die Idee zu bremsen kam niemand …

Die männlichen Winzlinge hatten anlässlich der Dampfzughuldigung ihre Festgewänder angelegt, die aus Blumen und Kräutern geflochten waren, die weiblichen waren in ihre schönsten Kleider geschlüpft, gewebt aus Spinnennetzen und den Fetzen einer Jacke, die offenbar aus dem Besitz einer Vogelscheuche stammte. Ein lockenköpfiger Dreikäsehoch hatte in einen Tabakkarton der Sorte Magarischvanille kleine Löchlein gebohrt, durch die er nun Arme und Beine schob, um mit stolzer Miene bunte Fähnchen zu schwenken.

„Mächtiger Rauchrarauch! Schnaufender Dampfadampf!“, quiekten die Kleinen und sprangen wie wild herum. „Bebender Schienengänger! Donnernder Pffpffpff! Großer Tututu!“

„He! Ihr da!“, rief ich mit der schauerlichsten und wütendsten Stimme, die mir zu Gebote stand. „Verschwindet da! Aber ruck, zuck!“

Sofort gaben die Winzlinge Ruhe. Eine der Frauen, ein Wesen mit purpurroten Libellenflügeln, stieß einen spitzen Schrei aus und fiel von den Schienen. Die übrigen senkten sofort ihre Fähnchen, Blumen und silbernen Bonbonpapiere. Alle starrten mich mit offenem Mund an. Wie Kaninchen eine Schlange.

„Fort mit euch!“, verlangte ich abermals und funkelte sie sogar wütend an, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Ein paar dieser Däumlinge stapften wild mit den Beinen auf, ein Frauchen mit einem Rock aus gelber Birkenrinde heulte lauthals los.

„Also gut!“, lenkte der Lockenkopf im Tabakkarton schließlich ein. Offenbar hatte er hier das Sagen.

Er nieste bekräftigend, wischte sich die Stupsnase mit der Faust ab und kraxelte mühevoll von den Schienen herunter. Zeternd folgte ihm der Rest der Bande.

„Und wehe, ich erwische euch noch einmal auf den Schienen!“, brüllte ich ihnen hinterher. „Dann werdet ihr euer blaues Wunder erleben!“

Eingeschüchtert huschten die Winzlinge ins trockene Gras.

„Warum kümmerst du dich denn um dieses Kleinvieh?“, erkundigte sich Stephan leicht befremdet.

„Weil ich nicht mit ansehen möchte, wie mehr als dreißig Seelen ins Nichts befördert werden.“

„Schöne Seelen sind das“, grummelte Stephan. „Diese Flöhe! Können die sich nicht mal eine anständigere Art des Selbstmords einfallen lassen und endlich damit aufhören, sich vor einen Zug zu werfen oder auf den elektrischen Leitungen der Pickler herumzuhüpfen?!“

„Sie verstehen in ihrer Treuherzigkeit einfach nicht, welches Risiko sie mit ihren Huldigungen eingehen“, erklärte ich seufzend und trat von der Bahnsteigkante zurück.

Irgendwie hatte ich das Kleine Volk in mein Herz geschlossen. Zumindest die meisten seiner Angehörigen. Daher wollte ich mir den Anblick ersparen, wie diese Geschöpfe des Alleinzigen einen lausigen Tod starben. In den letzten Jahren war ihre Zahl schon dramatisch gesunken, was die meisten Rapgarer jedoch völlig ungerührt hinnahmen, da sie ja alle ihren ach so wichtigen Geschäften nachgehen mussten und für die Winzlinge zu ihren Füßen kaum einen Blick übrighatten.

Vor siebeneinhalb Jahren war ich nicht anders gewesen, doch nach sechs Jahren, in denen ich Tag und Nacht das Siegel der Urlohe angestiert hatte, blickte ich heute mit anderen Augen in die Welt. Meine Lektion hatte ich gelernt: In unserem Universum kam auch noch dem kleinsten Element Bedeutung zu, denn selbst ein winziger Kiesel vermochte einen riesigen Felsbrocken hinter sich her in den Abgrund zu ziehen – und damit einen Steinschlag auszulösen, der alle das Leben kostete.

Das ist ein allzu platter Vergleich? Gut möglich, das will ich gar nicht abstreiten. Aber in meinem Leben haben die Felsbrocken längst ihre Bedeutung verloren, während die Kiesel eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Und wenn ich je einen von ihnen den Hang hinunterwerfen sollte, dann will ich doch hoffen, dass der nachfolgende Steinschlag all diejenigen unter sich begräbt, die mir mein Leben kaputt gemacht haben.

Endlich tauchte der Zug auf, eine schwarze Dampflokomotive mit vier Zylindern. Ihre Seiten zierten aufgemalte purpurne Blitze. Auch die Räder waren feuerrot. Die Lok zog, schnaufend und schwarzen Kohlenrauch in die glasklare Luft ausspeiend, eine endlose Kette von Wagen hinter sich her, die je nach Klasse gelb, blau oder grün gehalten waren.

„Und er stieg herab vom Himmel, gehüllt in Dampf und Rauch“, deklamierte Stephan, „Funken sprühend und heulend, gleich einem Inferioren, welcher der Urlohe entflieht.“

„Zitierst du da gerade etwa ein verbotenes Buch?“

„Ich zitiere, mein junger Freund, die Rede des Stadtfürsten anlässlich der vorletzten Militärparade. In selbiger hat er verkündet, dass Rapgar keineswegs die Absicht habe, vor dem Scheich Malosannes zu katzbuckeln, und ihm daher ganz gewiss nicht unsere Kolonien in Übersee überlasse.“

„Aha“, murmelte ich nur, denn ich hatte schlagartig das Interesse an dem Zitat verloren.

Der Zug tuckerte inzwischen am Bahnhof ein. An den vorderen Türen las ich: Nordrapgarer Eisenbahngesellschaft. Eilzug № 9.

Schließlich hielt der Zug quietschend an. Das vordere Ende des Bahnsteigs lag in weiße Dampfwolken gehüllt. Die Menschen traten etwas zurück, damit der Mamwras aus dem Kohlenwagen klettern konnte. Der Riese war vom Scheitel bis zur Sohle mit schwarzem Staub bedeckt und stapfte schnaubend auf ein Pferdefuhrwerk zu, das mit Holzkisten beladen war. Begriffsstutzig glotzte er sie an, mahlte unentschlossen mit seinen breiten Kiefern, kratzte sich einen seiner beiden behörnten Köpfe und sah zur Lok zurück, offenbar in der Hoffnung, von dort Antwort auf seine unausgesprochene Frage zu erhalten.

Tatsächlich schob ein Kaga seine lange, an eine verfaulte, behaarte Mohrrübe erinnernde Nase aus dem Fenster des Führerhäuschens heraus, dies allerdings nur, um den Mamwras in einer Weise zusammenzustauchen, die sich gewaschen hatte. Seinem Wortschwall entnahm ich nur, dass er wohl der Ansicht war, sie müssten längst weiterfahren. Dann verschwand der Kopf des Lokführers auch schon wieder im Innern des Zugs. Der Mamwras stieß einen weiteren schweren Seufzer aus, zuckte mit sämtlichen Schultern, schnappte sich mit seinem ersten Armpaar die eine, mit dem zweiten die andere Hälfte der Fracht und stapfte, unter seiner Last ächzend, zurück zum Zug, wobei die Holzbohlen des Bahnsteigs bei jedem seiner Schritte kläglich aufheulten.

Ich begab mich zu meinem Waggon, einem der beiden gelben für die erste Klasse. An diesem Halt war ich der Einzige, der sich diese angenehme Form des Reisens spendierte.

Als mich der Schaffner, ein Murzer mit grauem Schnauzbart, sah, riss er sich sofort die Mütze vom Kopf und verbeugte sich tief.

„Xerrr!“, schnurrte er, mich mit der uns Luxern vorbehaltenen Anrede begrüßend. „Wenn Sie mirrr bitte folgen wollen, ich bringe Sie zu Ihrem Coupé.“

Als ich ihm hinterherging, bemerkte ich, dass er seinen Schwanz eingebüßt hatte. Ein Mittägler. So hießen bei den Murzern diejenigen, die aus dem Rudel geworfen worden waren. Beispielsweise weil sie einer ehrenrührigen Arbeit wie der des Schaffners nachgingen …

Im Wagen gab es sechs Coupés, meines war das mit der № 4. Der Mittägler hielt mir beflissentlich die Tür aus Nussbaum auf.

„Erlaubt derrr Xerrr, dass ich einen Blick auf sein Billett werfe?“

Nachdem ich auf der Lederbank Platz genommen hatte, hielt ich ihm schweigend den rosafarbenen Abschnitt hin, auf dem in Gold eine Neun mit Flügeln zu beiden Seiten aufgeprägt war. Daraufhin entnahm der Murzer einem an seinem Gürtel hängenden Lederetui eine silberne Zange und entwertete die Fahrkarte.

„Besten Dank, Xerrr! Wirrr erreichen den Hauptbahnhof um Viertel vorrr elf. Sollten Sie noch etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.“

Alexey Pehov

Über Alexey Pehov

Biografie

Alexey Pehov, geboren 1978 in Moskau, studierte Medizin. Seine wahre Leidenschaft gilt jedoch dem Schreiben von Fantasy- und Science-Fiction-Romanen. Er ist neben Sergej Lukianenko der erfolgreichste phantastische Schriftsteller Russlands. „Die Chroniken von Siala“ wurden zu millionenfach...

Pressestimmen
captain-fantastic.de

„Die Mischung aus Elementen wie Steampunk und Krimi inmitten eigenartiger Völker lädt zum Entdecken ein und glänzt mit dichter Atmosphäre sowie schönen Formulierungen.“

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