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Bis wir frei sind

Bis wir frei sind

Shirin Ebadi
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Mein Kampf für Menschenrechte im Iran

„Das vorliegende Buch ist ein spannendes Zeugnis einer beeindruckenden Frau, die trotz vieler Rückschläge ihren Mut nicht verloren hat, auf die problematische Menschenrechtslage in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. (...) Shirin Ebadis Memoiren sind ausgesprochen lesenswert.“ - Deutschlandfunk Andruck

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Bis wir frei sind — Inhalt

Shirin Ebadi, die erste muslimische Friedensnobelpreisträgerin, wurde wegen ihres Engagements für Menschenrechte in ihrem Heimatland jahrelang von der iranischen Regierung bedroht und schikaniert – und verlor dabei alles: ihren Ehemann, ihr Zuhause, ihre Freunde, ihr Hab und Gut. Nur eines konnte man der Menschenrechtsaktivistin nicht nehmen: den Glauben an eine bessere Zukunft und den Willen, für ihre Überzeugungen zu kämpfen. Nun erzählt sie auf bewegende und erschütternde Weise von ihrem unablässigen Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit, den sie trotz aller Widrigkeiten auch im Exil unerschrocken fortführt. Nach dem großen Erfolg von „Mein Iran“ ist dies der zweite Teil ihrer beeindruckenden Geschichte.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 04.10.2016
Übersetzt von: Ursula Pesch
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97481-3
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Leseprobe zu „Bis wir frei sind“

PROLOG

Morddrohung


Ich war unruhig. Es war ein Abend wie jeder andere – wir aßen gemeinsam im Haus meines Bruders –, doch ich spürte eine Beklommenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Der Raum war stickig, die Lampen waren zu hell, die Kinder lauter als gewöhnlich. Ich trat auf den Balkon hinaus, um frische Luft zu schnappen, und beobachtete, wie Wolken den Himmel verdunkelten. Plötzlich gab es einen lauten Knall; dann begann der so dringend benötigte Regen den giftigen Smog aus der Luft zu waschen. Obwohl es April war und der Wind den Wintersmog aus [...]

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PROLOG

Morddrohung


Ich war unruhig. Es war ein Abend wie jeder andere – wir aßen gemeinsam im Haus meines Bruders –, doch ich spürte eine Beklommenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Der Raum war stickig, die Lampen waren zu hell, die Kinder lauter als gewöhnlich. Ich trat auf den Balkon hinaus, um frische Luft zu schnappen, und beobachtete, wie Wolken den Himmel verdunkelten. Plötzlich gab es einen lauten Knall; dann begann der so dringend benötigte Regen den giftigen Smog aus der Luft zu waschen. Obwohl es April war und der Wind den Wintersmog aus Teheran hätte vertreiben sollen, war mir das Atmen draußen schwergefallen. Ein Regierungsvertreter hatte vor Kurzem gesagt, dass es einem „Massenselbstmord“ gleiche, in einer Stadt mit einer derart verpesteten Luft zu leben.

Seit Wochen arbeitete ich bereits an einem Bericht über die Hinrichtung von Kindern durch die Regierung. Fast jede andere Nation der Welt hatte die Todesstrafe für Minderjährige abgeschafft, doch der Iran verhängte sie regelmäßig für eine Reihe von Straftaten, von Mord bis zu Tötung in Notwehr. 2004 war ein sechzehnjähriges Mädchen wegen vorehelichem Sex beziehungsweise „Verbrechen gegen die Keuschheit“ zum Tode verurteilt worden. Der Richter selbst fungierte angeblich als Henker, führte die Schülerin zur Schlinge, verband ihr die Augen und gab dem Kranführer das Zeichen, sie vom Boden hochzuziehen. Ihr Körper hing fast eine Stunde lang von diesem Kran herab, ihr schwarzer Tschador flatterte im Wind. Der Staat wollte verhindern, dass die Aufmerksamkeit, vor allem die des Auslands, auf diese Hinrichtungen gelenkt wurde, doch meine Kollegen und ich hatten hart daran gearbeitet, ein Muster dieser Strafen aufzuzeigen. Es war der vielleicht mutigste Bericht, den wir je verfasst hatten, und wir wollten ihn bald den Vereinten Nationen vorlegen, wo man die Islamische Republik zweifellos scharf verurteilen würde. Sicher war das der Grund für meine Beklommenheit, sagte ich mir. Wenn ich später wieder zu Hause wäre, den Bericht in der Hand hätte, ihn bei einer Tasse Tee sprachlich überarbeiten und die Einzelheiten überprüfen könnte, würde diese Unruhe bestimmt nachlassen.

Ich beschloss, früh nach Hause zu fahren, und verabschiedete mich von meinem Bruder und seiner Familie. Die Straßen waren weitgehend leer, und die Luft roch nach Abgasen, verfaulten Blättern und Regenwasser, als ich in mein Auto stieg. Beim Losfahren fiel mir an der Seitenmauer eines Gebäudes ein Graffiti ins Auge. Es wurde von einer Straßenlaterne beleuchtet und verhöhnte die USA und den Westen: „Verhängt ruhig eure Sanktionen; wir werden schon damit fertig.“

Auf den Straßen war es sehr still; das einzige Geräusch verursachte der Regen unter meinen Reifen. Ich bog in meine Straße ein, ein ruhiges Gässchen. Bei diesem Wolkenbruch war niemand draußen, und der Bürgersteig wirkte noch verlassener als sonst. Mein Mann, Javad, war nicht zu Hause, und die Fenster waren dunkel. Ich dachte an den Bericht, der drinnen auf meinem Schreibtisch auf mich wartete, an die entsetzlichen Schilderungen, wie Kinder von Kränen herabhingen. Voller Angst tastete ich nach den Schlüsseln in meiner Tasche. Ich wich den Pfützen aus und schaute nervös über die Schulter, sodass ich den Zettel erst sah, als ich direkt davor stand. An meine Haustür geheftet war eine Botschaft auf weißem Papier von jemandem, der mich beobachtet hatte:


Wenn Sie so weitermachen wie bisher, werden wir gezwungen sein, Ihr Leben zu beenden. Wenn Sie am Leben hängen, dann hören Sie auf, die Islamische Republik zu verleumden. Hören Sie auf, im Ausland für Wirbel zu sorgen. Sie umzubringen wäre für uns ein Leichtes.



KAPITEL 1

Einschüchterung


Die Geschichte des Irans ist die Geschichte meines Lebens. Manchmal frage ich mich, warum ich so stark an meinem Land hänge, warum die Silhouette von Teherans Elburs-Gebirge mir so vertraut und so kostbar für mich ist wie der Umriss des Gesichts meiner Tochter, und warum mein Pflichtgefühl gegenüber meinem Land stärker ist als alles andere. Ich erinnere mich an die 1980er-Jahre, als so viele meiner Freunde und Verwandten das Land verließen, entmutigt von dem Bombenregen, der während des Kriegs mit dem Irak über uns niederging, und den Kontrollstellen der Moralpolizei, die von der neuen islamischen Regierung errichtet wurden. Ich verurteilte zwar niemanden, der gehen wollte, konnte diesen Drang jedoch nicht verstehen. Verließ man die Stadt, in der man seine Kinder zur Welt gebracht hatte? Ließ man die Bäume in dem Garten zurück, den man jedes Jahr bepflanzte, noch bevor sie Granatäpfel und Walnüsse und duftende Äpfel trugen?

Für mich war das undenkbar. Als ich das höchste Gericht des Landes betrat und das Säuberungskomitee mir mitteilte, Frauen könnten nicht länger Richterinnen sein, blieb ich. Ich blieb, als man mich in eben dem Gericht, dem ich vorgesessen hatte, zur Büroangestellten degradierte. Ich verschloss die Ohren, als die Revolutionäre, die die Leitung des Strafjustizsystems übernommen hatten, sich in meiner Anwesenheit darüber ausließen, dass Frauen launenhaft, entscheidungsschwach und ungeeignet seien, Recht zu sprechen, was nun die Arbeit von Männern sein würde. Ich blieb, als die irakischen Kampfflugzeuge Häuser in unserer Straße in Schutt und Asche bombten. Ich blieb, als die neuen Machthaber erklärten, dass der Islam eine hart durchgreifende Rechtsprechung verlange, dass er es erlaube, junge Männer und Frauen auf Hausdächern hinzurichten, sie wegen ihrer politischen Überzeugungen an Kränen aufzuhängen und ihre Leichen in Massengräber zu werfen.

So wie ich den Iran nicht verließ, so wendete ich mich auch nicht vom Islam ab. Wenn wir alle unsere Koffer packten und in Flugzeuge stiegen, was würde dann von unserem Land noch übrig bleiben? Wenn wir uns fügten, still zu Hause blieben und es zuließen, dass sie verkündeten, der Islam erlaube die Ermordung von Schriftstellern und die Hinrichtung von Teenagern, was bliebe dann noch von unserem Glauben?

Auf dem dünnen, transparenten Papier, das wir damals für Luftpost verwendeten, schrieb ich lange Briefe an Freunde, die ausgewandert waren, und berichtete ihnen, dass ich trotz allem mit dem Leben hier zurechtkam. Mitte der 1980er-Jahre hörte ich ganz auf zu arbeiten. Ich entfloh der brutalen politischen Realität, die das neue Regime geschaffen hatte, und zog mich in mich selbst zurück. Trotz der Bomben und der Kontrollstellen der Moralpolizei zogen mein Mann und ich unsere beiden Töchter groß, die mit Zöpfen zur Schule gingen und lesen lernten. Jeden Abend aßen wir zusammen. Javad arbeitete weiterhin als Ingenieur, und ich kümmerte mich um die Mädchen und überlegte, wie ich mich jetzt, wo das Gerichtswesen das Reich von Männern geworden war, neu erfinden könnte.

Nach dem Ende des Kriegs, Anfang der 1990er-Jahre, waren die Mädchen älter und brauchten mich nicht mehr so sehr. Ich versuchte kurz, Familienrecht zu praktizieren, erkannte jedoch schnell, dass die Gerichte der Islamischen Republik völlig anders operierten, als es unter dem Schah der Fall gewesen war. Frauen durften zwar als Anwältinnen tätig sein, doch das System und all seine neuen Verfahren waren so dysfunktional, dass es unmöglich war, einen Fall zügig zu bearbeiten. Mehrmals hatte ich Schwierigkeiten, einfach nur an Gerichtsakten heranzukommen, die ich noch einmal überprüfen wollte. Als der Gerichtsbedienstete erkannte, dass ich ihm kein „Trinkgeld“ dafür geben würde, mir eine bestimmte Akte herauszusuchen (korrupte Länder haben eine Vielzahl von Euphemismen für Bestechung), sagte er: „Tut mir leid, die Akte fehlt. Kommen Sie morgen wieder.“ Wenn ich am nächsten Tag wiederkam, sagte er: „Tut mir leid, ich hatte noch keine Gelegenheit, nach Ihrer Akte zu suchen.“ Am dritten oder vierten Tag holte er dann endlich die Akte, weil er wusste, dass ich nicht lockerlassen würde. Da ich jedoch nicht bereit gewesen war, Schmiergeld zu bezahlen, hatte ich zwei oder drei Arbeitstage verloren.

In den Gerichten ging es noch viel schlimmer zu. Dort hatte derjenige recht, der gewillt war, mehr zu bezahlen. Gerechtigkeit wurde erkauft, nicht erkämpft oder verhandelt. Aus Protest hängte ich schließlich ein großes Schild vor mein Anwaltsbüro: „Aufgrund der derzeitigen unzumutbaren Verhältnisse bei Gericht werde ich keine Mandate mehr akzeptieren, sondern kann nur noch Rechtsberatung anbieten.“ Dies kam mir damals nicht sonderlich riskant vor. Ich war einfach nur ehrlich in Bezug auf das rechtliche Klima des Landes und versuchte nicht bewusst, den Staat herauszufordern. Heute weiß ich jedoch, dass friedlicher Ungehorsam eine machtvolle Trotzreaktion sein kann – etwas, was ich im Lauf der Zeit lernte. Nach einer Weile kamen Menschen zu mir, die es sich nicht leisten konnten, einen Anwalt zu engagieren – unter ihnen viele, die eines politischen Verbrechens beschuldigt worden waren.

Nach der Revolution von 1979 war der Zustand des Strafrechts besonders besorgniserregend. Die Islamische Republik hatte das säkulare Strafrecht, das unter dem Schah gegolten hatte, durch ein System des islamischen Rechts ersetzt, das auf Auslegungen der Scharia aus dem 7. Jahrhundert basierte. Ich erinnere mich noch lebhaft an jenen Fall, der mir das ganze Ausmaß der Dysfunktionalität und Grausamkeit des Systems deutlich machte.

Meine Freundin Shahla Sherkat, die führende feministische Redakteurin und Verlegerin des Landes, rief an, um zu fragen, ob ich die Familie eines elfjährigen Mädchens namens Leila juristisch beraten könne. Als Leila eines Tages in den Bergen hinter ihrem Dorf wild wachsende Blumen pflückte, schlichen sich drei Männer an und fielen über sie her. Die Männer vergewaltigten sie, schlugen sie wiederholt auf den Kopf und warfen sie dann einen nahe gelegenen felsigen Abhang hinab in den Tod. Die örtliche Polizei nahm die Männer fest. Einer von ihnen erhängte sich unter mysteriösen Umständen im Gefängnis, die beiden anderen wurden vom Gericht der Vergewaltigung und des Mords für schuldig befunden. Da die damaligen Gesetze dem Leben eines wegen Mordes verurteilten Mannes mehr Wert beimaßen als dem Leben eines vergewaltigten und einen Abhang hinabgeworfenen Mädchens, sollte Leilas Familie für die Hinrichtung der Männer bezahlen. Sie konnte das Geld jedoch nicht aufbringen, und die Männer wurden aus dem Gefängnis entlassen.

Die Islamische Republik behauptete, diese Gesetze würden auf den sogenannten „Blutgeld“-Regelungen in der islamischen Scharia basieren, aber meiner Ansicht nach waren sie nicht nur ungerecht, sondern stellten auch eine Verzerrung der wahren islamischen Rechtsgrundsätze dar.

Die Suche nach Gerechtigkeit vor Gericht machte Leilas Familie bettelarm. Leilas Mutter hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Tag für Tag in einem weißen Leichentuch vor dem Gerichtsgebäude zu sitzen und ein Plakat hochzuhalten, auf dem der Überfall auf ihre Tochter beschrieben wurde. Wie in Mein Iran ausführlicher beschrieben, übernahm ich ihren Fall, und obwohl es mir nicht gelang, auch nur annähernd so etwas wie Gerechtigkeit zu erwirken, gab ihre Leidensgeschichte den Ausschlag dafür, dass ich beruflich einen neuen Weg einschlug, nämlich den als Menschenrechtsanwältin. Der für Leilas Fall verantwortliche Richter beschuldigte mich zwar, mit meiner Verteidigung den Islam zu kritisieren, doch ich bot ihm die Stirn, indem ich mich auf das islamische Recht und die islamischen Grundsätze berief. Ich stellte fest, dass viele Richter der Islamischen Republik wenig oder gar keine Kenntnis von islamischen Rechtsgrundsätzen hatten, aber auch, dass viele iranische Frauen völlig ahnungslos waren, auf welch ungeheuerliche Weise das Gesetz sie diskriminierte. Erst wenn sie in ihrem Leben an einen dunklen Scheideweg gelangten – durch eine Scheidung, den Tod eines Kindes, den Kampf um ein Erbe –, erkannten sie, wie gering ihr Status vor dem Gesetz war.

Ich ging mit Leilas Fall an die Öffentlichkeit und schrieb Artikel darüber. Die ausführliche Berichterstattung in der iranischen Presse führte bald zu einem öffentlichen Aufschrei. In einem meiner Artikel legte ich dar, dass das Strafgesetzbuch laut den „Blutgeld“-Regelungen einem Mann, der eine Verletzung der Hoden erleidet, eine Entschädigung zuspricht, die dem Wert des Lebens einer Frau gleichgesetzt wird. Ich formulierte dies so: Wenn eine Frau mit einem Doktortitel von einem Auto überfahren wird und stirbt und ein ungebildeter Rowdy sich bei einer Schlägerei einen seiner Hoden verletzt, dann entspricht der Wert ihres Lebens dem seines verletzten Hoden, und stellte dann die Frage: Ist das die Art, wie die Islamische Republik ihre Frauen betrachtet?

Zum ersten Mal seit der Revolution wurde die Ungleichheit von Frauen vor dem Gesetz ins nationale Rampenlicht gerückt. Die Reaktion der Menschen zeigte, wie betroffen die iranische Gesellschaft von dieser Ungerechtigkeit war und welche Wirkung ein öffentlicher Aufschrei haben konnte. Doch mehr als alles andere ließ sie die Obrigkeit aufhorchen. Das war der Moment, in dem ich den Kurs einschlug, den ich bis heute verfolge: Gerechtigkeit vor dem Gesetz zu erwirken, indem ich für die Rechte der Schwächsten kämpfe – Frauen, Kinder, Dissidenten und Minderheiten – und mir die öffentliche Stimmung zunutze mache, um auf gesetzliche Änderungen zu drängen.

In der Islamischen Republik gibt es eine Unzahl von Missständen. Sie verleiht einem nicht gewählten obersten Führer absolute Macht, schikaniert eigenständig denkende Geistliche, die die religiöse Basis ihrer strengen islamischen Herrschaft infrage stellen, und verfolgt eine Politik, die ideologisch radikal und von den nationalen Interessen des iranischen Volkes losgelöst ist. Doch wie jedes Regime, das danach strebt, seine Macht aufrechtzuerhalten, zeigte es zuweilen eine gewisse Sensibilität angesichts der Verurteilung durch die internationale Gemeinschaft und der gärenden Unzufriedenheit in der eigenen Bevölkerung.

Eben dieses Regime hat vor allem in den 1990er-Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts mehrere zögerliche Korrekturen seiner inhumansten Gesetze und Regeln vorgenommen, und zwar als Reaktion auf den Aktivismus, den viele meiner Kollegen und ich im Bereich Menschenrechte und Frauenbewegung betrieben. Dieser Kurs schien für uns, abgesehen von Kofferpacken und Auswandern, der einzig gangbare Weg zu sein. Obwohl in dieser Zeit Tausende von Iranern das Land verließen, waren sie nicht weniger stolz auf den Iran als Nation als diejenigen, die blieben. Wir waren von Autokraten und Königen regiert worden und wurden nun von Geistlichen regiert. Unsere Geschichte reichte Jahrtausende zurück bis hin zu Kyros dem Großen, dem persischen König, der die ersten Menschenrechte der Zivilisation in einen Tonzylinder eingravieren ließ. Ich betrachtete mich als Erbin dieser Geschichte, der großen Tradition persischer Dichtung, die ich meinen Mädchen jeden Abend vor dem Schlafengehen vorgelesen hatte. Wie die meisten Iraner war ich gerade wegen der Liebe und Bewunderung, die ich für die Vergangenheit des Irans empfand, bitterlich enttäuscht von seiner Gegenwart.


Im Oktober 2003 erhielt ich den Friedensnobelpreis für meine Bemühungen um Demokratie und Menschenrechte. Man sollte meinen, dies hätte meine Arbeit im Iran vorangetrieben und die Regierung hätte mir, wenn auch widerwillig, einen gewissen Respekt entgegengebracht, doch sie übte nur noch größeren Druck auf mich aus und ließ mich noch strenger überwachen. Der iranische Staat tat alles, um die Nachricht von dieser Auszeichnung zu unterdrücken. Er verbot es dem staatlichen Radio und Fernsehen, sie auch nur zu erwähnen, und verpasste auch mir einen Maulkorb. Als ein Reporter den damaligen Präsidenten Mohammed Chatami, einen Reformer, fragte, warum er mir nicht gratuliert habe, erwiderte dieser: „Dies ist kein so wichtiger Preis. Das Einzige, was wirklich zählt, ist der Nobelpreis für Literatur.“

Doch im Iran gibt es immer Möglichkeiten, die offizielle Zensur zu umgehen. Nachrichten, die von Bedeutung sind, finden ihren Weg zu denen, die sie erfahren sollen. Ich lud eine kurdische Musikgruppe dazu ein, bei der Nobelpreisverleihung aufzutreten. Das iranische Regime diskriminiert seine kurdische Minderheit seit Jahren, verweigert ihr das Recht, in ihrer eigenen Sprache zu studieren und sich ihre kurdische Identität im öffentlichen Leben zu bewahren. Iranische Kurden im ganzen Land sahen die Aufführung der kurdischen Gruppe über Satellitenfernsehen und weinten vor Stolz. Es war ein kleiner, aber symbolischer Akt, und unter iranischen Kurden verbreitete sich das Gerücht, ich müsse kurdischer Abstammung sein. Während die iranische Regierung bestrebt war, meinen Nobelpreis zu ignorieren – mit dem letztlich die Arbeit von Menschenrechtsaktivisten geehrt wurde, die versuchten, das Land auf friedliche Weise zu verändern –, waren wir in einem Zeitalter angelangt, in dem es dank Satellitenfernsehen und digitaler Medien nicht länger möglich war, eine Nation im Dunkeln zu lassen.


Auch andere nahmen Notiz von dem Preis, allen voran die iranischen Frauen, die sich seit Langem für Gleichberechtigung und Anerkennung eingesetzt hatten. Sie empfanden die Entscheidung des Nobelkomitees als globale Unterstützung und Wahrnehmung ihres Kampfes. Die Rektorin der Frauenuniversität Alzahra, Zahra Rahnaward, lud mich ein, eine öffentliche Vorlesung zum rechtlichen Status von Frauen zu halten. Rahnaward, die erste Frau, die nach der Islamischen Revolution an der Spitze einer Universität stand, war eine angesehene Gelehrte und Aktivistin. Der Weltöffentlichkeit wurde sie 2009 bekannt, als sie als Ehefrau des Oppositionsführers Mir Hossein Mussawi, der die „Grüne Bewegung“ anführte, auf den Titelseiten von Zeitungen erschien. An jenem Tag im Jahr 2003 hieß Rahnaward mich im Hörsaal des Campus willkommen, in einem hohen Gebäude aus gelbem Ziegelstein, umgeben von weitläufigen Rasenflächen, auf denen junge Frauen unter Ahornbäumen saßen und lasen. Hunderte von Studentinnen standen draußen Schlange, obwohl der Saal, in dem ein großes Stimmengewirr herrschte, bereits bis auf den letzten Platz besetzt war. Wir beratschlagten gerade, wo wir das Rednerpult hinstellen sollten, als die Türen am hinteren Ende des Auditoriums aufflogen und ein Mob von rund dreißig in schwarze Tschadors gehüllten Frauen hereinströmte und wütend schrie.

„Wenn heute Ebadi hier eine Vorlesung hält, werdet ihr morgen nach George Bush rufen!“, brüllten sie und drängten zur Bühne, vor der Rahnaward und ich standen. „Diese Vorlesung fällt aus!“ Sie waren eindeutig keine Studentinnen, sondern vom Staat unterstützte Ordnungshüterinnen. Die Studentinnen, die vorne saßen, standen auf, bewegten sich auf mich zu und bildeten einen Schutzring. Rahnaward trat ein paar Schritte nach vorn, das Gesicht vor Wut verzerrt.

„Diese Vorlesung wird mit der offiziellen Erlaubnis der Universität gehalten. Ihr habt kein Recht, sie zu stören“, sagte sie. „Verschwindet sofort von hier.“

Eine der zum Mob gehörenden Frauen ging auf Rahnaward los und griff nach ihrem Tschador. „Du verdienst es nicht einmal, diesen Tschador auf dem Kopf zu tragen“, sagte sie und zog heftig an dem Stoff, dessen Enden an Rahnawards Mantel befestigt waren.

Ihre Komplizinnen preschten voran. Die kleine Schar von Studentinnen, die einen Kreis um mich gebildet hatte, begann sich auf die Rückseite des Hörsaals zuzubewegen. „Khanum Ebadi“, drängten sie, „wir müssen Sie hier rausbringen – folgen Sie uns.“ Sie lotsten die Rektorin und mich aus einer Nebentür hinaus und einen langen Flur entlang. Dann führten sie uns in einen kleinen Unterrichtsraum, verschlossen die Tür und verbarrikadierten sie mit Stühlen und Tischen. Schon bald hörten wir Geschrei, schnelle Schritte und Rufe: „Sie sind hier, sie verstecken sich in diesem Raum!“ Fäuste hämmerten gegen die Tür und versuchten, sie aufzudrücken. Rahnaward rief über Handy die Polizei.

„Diese Frauen zwingen mich, etwas zu tun, was ich nie tun wollte. Ich glaube nicht, dass die Polizei ein Universitätsgelände betreten sollte, aber ich habe keine andere Wahl“, sagte sie zu mir.

Die Polizei traf ein und geleitete den Mob gewaltsam hinaus. Wir kamen überein, dass es das Sicherste wäre, die Vorlesung ausfallen zu lassen, und ich dankte der Rektorin und ihren Kolleginnen für die Einladung und ihre Geistesgegenwart, als wir angegriffen wurden. Wir schüttelten uns herzlich die Hand, und dann führten mich zwei Polizeibeamte, die zurückgeblieben waren, sicher vom Universitätsgelände. Der Vorfall hatte keinerlei Nachspiel. Es gab keine Festnahmen, und wir fanden nie heraus, wer die Frauen an jenem Tag losgeschickt hatte, um meine Vorlesung zu stören. Rahnaward drohte zurückzutreten, falls die Behörden die Verantwortlichen nicht ausfindig machten und verfolgten. Doch das taten sie nie, und nach der Wahl von Mahmud Ahmadinedschad legte sie ihr Amt schließlich nieder oder wurde gefeuert – bis heute weiß man es nicht genau. Obwohl es schon immer schwierig war, im Iran über Frauenrechte zu diskutieren, schien das, was an jenem Tag geschah, der Beginn einer völlig neuen Art von Schikane und Einschüchterung zu sein.

Shirin Ebadi

Über Shirin Ebadi

Biografie

Shirin Ebadi, geboren 1947, war eine der ersten Richterinnen im Iran und arbeitete als Vorsitzende des Teheraner Gerichts, bis sie 1979 im Zuge der islamischen Revolution ihres Amtes enthoben wurde. Sie hat in ihrem Heimatland viele politische Gefangene als Anwältin verteidigt und setzt sich seit...

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„Das vorliegende Buch ist ein spannendes Zeugnis einer beeindruckenden Frau, die trotz vieler Rückschläge ihren Mut nicht verloren hat, auf die problematische Menschenrechtslage in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. (...) Shirin Ebadis Memoiren sind ausgesprochen lesenswert.“

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