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Pageturner, die süchtig machen

Eine schicksalshafte Begegnung. Eine dunkle Bedrohung. Eine unsterbliche Liebe.

Blick ins Buch
Uns bleibt immer New YorkUns bleibt immer New York

Roman

Eine Kunstsammlerin in Paris, ein Kunstfälscher in New York, eine schicksalshafte Begegnung und eine unsterbliche Liebe

Lorraine leitet eine renommierte Pariser Werbeagentur, ihre Leidenschaft aber gehört der Kunst. Als sie zur Versteigerung eines berühmten Gemäldes nach New York reist, wird sie im Central Park von einem Unbekannten überfallen. Nur das mutige Einschreiten des Malers Leo verhindert Schlimmeres. Zwischen den beiden funkt es sofort, doch sie sind in Gefahr: Lorraine wird von einem Stalker verfolgt, der alles über sie weiß und sie in anonymen Nachrichten bedroht. Und Leo, der bis vor Kurzem als Kunstfälscher im Gefängnis saß, wird von seiner Vergangenheit heimgesucht. Schließlich macht er eine schreckliche Entdeckung, die ihre Liebe zerstören könnte.

Eine einzigartige Liebe, eine einmalige Story, ein besonderes Debüt – perfekt für alle Leser:innen, die Guillaume Mussos Roman „Nacht im Central Park“, „Das Atelier in Paris“ und „Das Mädchen aus Brooklyn“ geliebt haben.

Wer ist Mark Miller? Die Verlagswelt, die Presse und die Leser:innen rätseln, welcher französischsprachige Autor hinter dem englisch klingenden Pseudonym stecken könnte. Nur eines ist sicher: Alle sind begeistert von dem mysteriösen Autor und seinem mitreißenden Debütroman! 

„Spannung, Action und Emotionen machen aus diesem Roman das Buch des Sommers!“ Gala

„Ein echter Favorit! Eine Liebes- und Spannungsgeschichte, die Sie noch lange verfolgen wird.“ Nice Matin

„Zwischen Abrechnungen, Verdächtigungen und Familiengeheimnissen nimmt Mark Miller uns mit in eine faszinierende Geschichte.“ Femme Actuelle

„Ein großer Liebes- und Spannungsroman aus der Feder eines mysteriösen Autors.“ Ici Paris

„Ein origineller Roman mit einem unvorhersehbaren Ende, voller Kunst, Liebe und Spannung.“ Version Femina

„Dieser Roman hat alle Zutaten, um ein Bestseller zu werden.“ Ouest France

„Über den Autor, Mark Miller, ist bislang nichts bekannt. Das spielt aber keine Rolle, denn Sie werden von seinem Sinn für Intrigen und seiner Meisterschaft in Sachen Spannung komplett in Atem gehalten.“ La Dépêche du midi

„Ein Blockbuster!“ La Voix du Nord

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„Ein echter Favorit! Eine Liebes- und Spannungsgeschichte, die Sie noch lange verfolgen wird.“ 


Nice Matin

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„Exzellent gemachte Spannungsliteratur, ein Pageturner à l'américaine.“ Der Freitag

Blick ins Buch
Die Wahrheit über den Fall Harry QuebertDie Wahrheit über den Fall Harry QuebertDie Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Roman

„Spannend und vielschichtig, dabei klar und klug konstruiert. Eine packende Geschichte.“ NDR
Ein Skandal erschüttert das Städtchen Aurora an der Ostküste der USA: Dreiunddreißig Jahre nachdem die ebenso schöne wie geheimnisumwitterte Nola dort spurlos verschwand, taucht sie wieder auf. Als Skelett im Garten ihres einstigen Geliebten. Der berühmte, zurückgezogen lebende Schriftsteller Harry Quebert steht plötzlich unter dringendem Mordverdacht.

Der einzige, der noch zu ihm hält, ist sein ehemaliger Schüler und Freund Marcus Goldman, inzwischen selbst ein erfolgreicher Schriftsteller. Überzeugt von der Unschuld seines Mentors - und auf der Suche nach einer Inspiration für seinen nächsten Roman - fährt Goldman nach Aurora und beginnt auf eigene Faust im Fall Nola zu ermitteln ...

„Ein Buch im Buch, ein Krimi, eine Liebesgeschichte. Groß!“ Cosmopolitan

Schriftsteller Marcus Goldman wird in einen neuen Mordfall hineingezogen - in „Die Affäre Alaska Sanders“

Der Tag des Verschwindens

Samstag, 30. August 1975

„Polizeizentrale! Sie möchten einen Notfall melden?“

„Hallo? Mein Name ist Deborah Cooper. Ich wohne in der Side Creek Lane. Ich glaube, ich habe gerade gesehen, wie ein Mädchen im Wald von einem Mann verfolgt wurde.“

„Was genau ist passiert?“

„Ich weiß es nicht! Ich habe am Fenster gestanden und in den Wald geschaut, und da habe ich dieses Mädchen gesehen, das zwischen den Bäumen entlanglief … Ein Mann war hinter der Kleinen her … Ich glaube, sie hat versucht, ihm zu entkommen.“

„Wo sind die beiden jetzt?“

„Ich … Ich kann sie nicht mehr sehen. Sie sind im Wald.“

„Ich schicke sofort einen Streifenwagen zu Ihnen, Madam.“

Dieser Anruf war der Auftakt zu den Geschehnissen, die das Städtchen Aurora im Bundesstaat New Hampshire erschüttern sollten. Nola Kellergan, ein fünfzehnjähriges Mädchen aus der Gegend, verschwand an diesem Tag spurlos.

VORWORT

Oktober 2008

Dreiunddreißig Jahre nach dem Verschwinden

Das Buch war in aller Munde. Ich konnte in New York nicht mehr in Ruhe durch die Straßen schlendern oder durch den Central Park joggen, ohne dass Spaziergänger mich erkannten und ausriefen: „He, das ist Goldman! Der Schriftsteller!“ Manche hefteten sich mir sogar im Laufschritt an die Fersen, um mir die Fragen zu stellen, die sie so beschäftigten: „Was Sie da in Ihrem Buch schreiben, ist das wahr? Hat Harry Quebert das wirklich getan?“ In meinem Stammcafé im West Village schreckten manche Gäste nicht einmal davor zurück, sich an meinen Tisch zu setzen und mir ein Gespräch aufzudrängen: „Ich lese gerade Ihr Buch, Mr Goldman. Ich kann es einfach nicht aus der Hand legen! Das erste war ja schon gut, aber das hier …! Hat man wirklich eine Million Dollar abgedrückt, damit Sie es schreiben? Wie alt sind Sie denn? Knapp dreißig? Dreißig Jahre und haben schon so viel Kohle gescheffelt!“ Sogar meinen Doorman hatte ich dabei ertappt, wie er immer dann, wenn er nicht gerade die Tür aufhalten musste, die Nase in das Buch steckte, und kaum hatte er es ausgelesen, nagelte er mich vor dem Fahrstuhl fest, um mir sein Herz auszuschütten: „Das ist also mit Nola Kellergan passiert! Wie grauenhaft! Wie kann man nur so etwas tun? Sagen Sie, Mr Goldman, wie ist so etwas möglich?“

Die New Yorker Society schwärmte von meinem Buch. Es war kaum zwei Wochen zuvor erschienen und versprach bereits der größte Verkaufserfolg des Jahres auf dem gesamten amerikanischen Kontinent zu werden. Alle wollten wissen, was sich im Jahr 1975 in Aurora zugetragen hatte. Überall wurde darüber berichtet: im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen. Ich war noch nicht einmal dreißig und durch dieses Buch, erst das zweite meines Lebens, zum gefragtesten Autor des Landes avanciert.

Dieser Fall, der Amerika so in Aufregung versetzte und der den Kern meiner Erzählung bildet, war einige Monate zuvor im Frühsommer wiederaufgerollt worden, nachdem man die Überreste eines seit dreiunddreißig Jahren verschollenen Mädchens entdeckt hatte. Damit begannen die Ereignisse in New Hampshire, von denen hier die Rede sein wird und ohne die das Städtchen Aurora im restlichen Amerika mit Sicherheit unbekannt geblieben wäre.

ERSTER TEIL

Die Schriftstellerkrankheit

Acht Monate vor Erscheinen des Buchs

31.

In den Abgründen des Gedächtnisses

„Das erste Kapitel, Marcus, ist entscheidend. Gefällt es den Lesern nicht, werden sie Ihr Buch nicht weiterlesen. Was für ein Einstieg schwebt Ihnen vor?“

„Keine Ahnung, Harry. Glauben Sie, ich schaffe es irgendwann?“

„Was?“

„Ein Buch zu schreiben.“

„Da bin ich mir sicher.“

Zu Beginn des Jahres 2008, also rund anderthalb Jahre nachdem ich dank meines ersten Romans zum neuen Hätschelkind der amerikanischen Literaturszene geworden war, ereilte mich eine fürchterliche Schaffenskrise, ein Syndrom, das bei Schriftstellern, die einen sofortigen, durchschlagenden Erfolg erlebt haben, offenbar nicht selten vorkommt. Die Krankheit befiel mich allerdings nicht schlagartig, sondern nistete sich ganz langsam ein. Es war, als würde mein Gehirn, einmal befallen, nach und nach einfrieren. Den ersten Symptomen schenkte ich noch keine Beachtung: Ich redete mir ein, meine Inspiration werde schon am nächsten Tag oder am übernächsten oder am überübernächsten wiederkommen. Aber die Tage, Wochen und Monate vergingen, und die Inspiration kehrte nicht zurück.

Mein Abstieg in die Hölle gliederte sich in drei Phasen. Die erste – unabdingbare Voraussetzung für jeden anständigen schwindelerregenden Fall – bestand in einem fulminanten Aufstieg: Mein erster Roman hatte sich zwei Millionen Mal verkauft und mich im Alter von achtundzwanzig Jahren auf den Rang eines Erfolgsautors katapultiert. Das war im Herbst 2006, und innerhalb weniger Wochen war ich wer. Überall war ich zu sehen: im Fernsehen, in den Zeitungen, auf den Titelseiten der Magazine. Mein Gesicht prangte in den U-Bahn-Stationen von riesigen Werbeplakaten. Selbst die gestrengsten Kritiker der großen Tageszeitungen der Ostküste waren sich einig: Der junge Marcus Goldman hatte das Zeug zum großen Schriftsteller.

Ein Buch nur, ein einziges Buch, und mir öffneten sich die Türen zu einem neuen Leben: dem der millionenschweren Jungstars. Ich zog bei meinen Eltern in Montclair, New Jersey, aus und richtete mich in einem schicken Apartment im Village ein. Ich tauschte meinen Ford aus dritter Hand gegen einen nagelneuen schwarzen Range Rover mit getönten Scheiben. Ich verkehrte fortan in feinen Restaurants und nahm die Dienste eines Literaturagenten in Anspruch, der sich um mein Zeitmanagement kümmerte und mit mir in meiner neuen Bleibe auf einem riesigen Flachbildschirm Baseball schaute. Außerdem mietete ich einen Steinwurf vom Central Park entfernt ein Büro an, in dem eine Sekretärin, die ein bisschen in mich verliebt war und auf den Vornamen Denise hörte, meine Post sichtete, mir Kaffee machte und alle wichtigen Unterlagen ablegte.

In den ersten sechs Monaten nach der Veröffentlichung des Buchs genügte es mir vollauf, die angenehmen Seiten meines neuen Daseins auszukosten. Ich schaute morgens im Büro vorbei, um die jüngsten Artikel über mich zu überfliegen und die Fanbriefe zu lesen, die täglich zu Dutzenden ins Haus flatterten und die Denise danach in dicken Ordnern abheftete. Anschließend bummelte ich selbstzufrieden und in dem Gefühl, bereits genug gearbeitet zu haben, durch die Straßen von Manhattan, in denen die Passanten zu tuscheln anfingen, wenn ich an ihnen vorbeiging. Die restliche Zeit des Tages nutzte ich, um die neuen Rechte zu genießen, die der Ruhm mir gewährte: das Recht, mir alles zu kaufen, worauf ich Lust hatte; das Recht auf eine VIP-Loge im Madison Square Garden, wenn ich mir ein Spiel der Rangers ansehen wollte; das Recht, mit Musikstars, von denen ich in jüngeren Jahren sämtliche Platten gekauft hatte, über den roten Teppich zu schreiten; das Recht, mit Lydia Gloor, der umschwärmten Hauptdarstellerin aus der derzeit angesagtesten Fernsehserie, auszugehen. Ich war ein berühmter Schriftsteller und hatte das Gefühl, den schönsten Beruf der Welt auszuüben. In der Gewissheit, dass mein Erfolg ewig währte, hatte ich die ersten Warnungen meines Agenten und meines Verlegers in den Wind geschlagen, die mich drängten, mich wieder an die Arbeit zu machen und mit meinem zweiten Roman zu beginnen.

In den nächsten sechs Monaten merkte ich, dass sich der Wind zu drehen begann: Die Fanbriefe wurden immer spärlicher, auf der Straße wurde ich immer seltener angesprochen. Schon bald konfrontierten mich die wenigen Passanten, die mich überhaupt noch erkannten, mit Fragen wie: „Mr Goldman, worum geht es in Ihrem nächsten Buch? Und wann erscheint es?“ Mir wurde klar, dass ich loslegen musste, und das tat ich. Ich hatte bereits Ideen auf lose Blätter notiert und Exposés in den Computer getippt, aber sie taugten nichts. Ich brachte neue Ideen hervor und verfasste neue Exposés. Wieder ohne Erfolg. Schließlich legte ich mir einen neuen Computer zu in der Hoffnung, dass er zusammen mit guten Ideen und hervorragenden Exposés verkauft würde. Fehlanzeige. Also änderte ich die Methode: Ich nahm Denise bis spätnachts in Beschlag, um ihr zu diktieren, was ich für große Sätze, Bonmots und Vorstöße zu außergewöhnlichen Romanen hielt. Doch am nächsten Tag kamen mir die Wörter abgeschmackt, die Sätze holprig und meine Vorstöße wie Rückschläge vor. Phase zwei der Krankheit hatte begonnen.

Im Herbst 2007 war seit der Herausgabe meines ersten Buchs ein Jahr vergangen, und ich hatte noch keine einzige Zeile des nächsten zu Papier gebracht. Als es keine Briefe mehr abzulegen gab, man mich in der Öffentlichkeit nicht mehr erkannte und die Plakate mit meinem Konterfei aus den großen Buchhandlungen verschwunden waren, begriff ich, dass Ruhm vergänglich ist. Er ist eine ausgehungerte Gorgo, und wer sie nicht füttert, wird rasch ersetzt: Angesagte Politiker, das Sternchen aus der jüngsten Reality-Show, eine Rockband, der gerade der Durchbruch gelungen war – sie beanspruchten nun meine Portion des öffentlichen Interesses. Dabei waren seit Erscheinen meines Buchs erst zwölf Monate vergangen, eine in meinen Augen lächerlich kurze Zeitspanne, für den Rest der Menschheit jedoch eine Ewigkeit. Im selben Jahr war allein in den USA eine Million Kinder geboren worden, eine Million Menschen war gestorben, auf gut zehntausend war geschossen worden, eine halbe Million waren drogensüchtig, eine Million zu Millionären geworden, siebzehn Millionen hatten sich ein neues Handy angeschafft, fünfzigtausend waren bei Autounfällen ums Leben gekommen und zwei Millionen bei selbigen mehr oder weniger schwer verletzt worden. Und ich, ich hatte nur ein Buch geschrieben.

Schmid & Hanson, der einflussreiche New Yorker Verlag, der mir für den ersten Roman ein hübsches Sümmchen offeriert hatte und große Hoffnungen in mich setzte, machte meinem Agenten Douglas Claren Druck, und der wiederum lag mir in den Ohren. Er sagte, die Zeit dränge, ich müsse unbedingt ein neues Manuskript vorlegen. Ich bemühte mich, ihn und damit auch mich selbst zu beruhigen, und beteuerte, dass es mit dem zweiten Roman gut voranginge und er sich keine Sorgen zu machen brauche. Doch trotz der vielen Stunden, die ich mich in meinem Büro verkroch, blieben die Seiten leer: Meine Inspiration hatte sich sang- und klanglos davongemacht, und ich fand sie beim besten Willen nicht wieder. Wenn ich abends schlaflos im Bett lag, überlegte ich mir, dass es den großen Marcus Goldman schon bald, noch vor seinem dreißigsten Geburtstag, nicht mehr geben würde. Diese Vorstellung erschreckte mich dermaßen, dass ich, um auf andere Gedanken zu kommen, Urlaub zu machen beschloss: Ich gönnte mir einen Monat in einem Luxushotel in Miami, sozusagen, um wiederaufzutanken, weil ich zutiefst davon überzeugt war, dass mir die Entspannung unter Palmen zur Wiedererlangung meines vollen kreativen Potenzials verhelfen würde. Doch Florida war natürlich nur ein herrlicher Fluchtversuch, und schon zweitausend Jahre vor mir hatte der Philosoph Seneca dieselbe leidvolle Erfahrung gemacht: Wohin man auch flieht – die Probleme mogeln sich ins Gepäck und folgen einem überallhin. Es war, als wäre mir nach der Landung in Miami ein freundlicher kubanischer Gepäckträger zum Ausgang nachgelaufen und hätte zu mir gesagt: „Sind Sie Mr Goldman?“

„Ja.“

„Dann gehört das hier Ihnen.“

Und er hätte mir einen Umschlag mit einem Papierstoß darin hingehalten.

„Sind das meine leeren Seiten?“

„Ja, Mr Goldman. Sie wollten New York doch wohl nicht ohne sie verlassen?“

Ich verbrachte also einen Monat allein, elend und verdrossen mit meinen Dämonen in einer Hotelsuite in Florida. Das mit „NeuerRoman.doc“ benannte Dokument auf meinem Computer, der Tag und Nacht lief, blieb zu meiner Verzweiflung blank. Dass ich mir eine in Künstlerkreisen weitverbreitete Krankheit eingefangen hatte, wurde mir an dem Abend klar, an dem ich den Pianisten der Hotelbar auf eine Margarita einlud. Er erzählte mir an der Theke, dass er in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Song geschrieben habe, aber der war ein Bombenhit gewesen. Er war damit so erfolgreich gewesen, dass er nie wieder etwas hatte schreiben können, und jetzt war er total abgebrannt und unglücklich und hielt sich über Wasser, indem er für die Hotelgäste die Hits von anderen auf dem Klavier klimperte. „Früher habe ich Mordstourneen gemacht und bin in den größten Sälen des Landes aufgetreten“, erzählte er und packte mich am Hemdkragen. „Zehntausend Menschen haben meinen Namen geschrien, die Puppen sind reihenweise in Ohnmacht gefallen, und ein paar haben mir sogar ihr Höschen zugeworfen. Das war was!“ Nachdem er wie ein kleiner Hund das Salz rund um sein Glas abgeleckt hatte, fügte er hinzu: „Ich schwör dir, das ist die Wahrheit.“ Und das war ja gerade das Schlimme: Ich wusste, dass es stimmte.

Phase drei meines Unglücks begann mit meiner Rückkehr nach New York. Auf dem Heimflug von Miami las ich an Bord einen Artikel über einen Nachwuchsautor, von dem soeben ein von der Kritik beweihräucherter Roman erschienen war, und bei meiner Ankunft am Flughafen LaGuardia starrte mir in der Gepäckhalle von großen Plakaten sein Gesicht entgegen. Das Leben verhöhnte mich: Man vergaß mich nicht nur, sondern, schlimmer noch, man war dabei, mich zu ersetzen. Douglas, der mich am Flughafen abholte, war außer sich: Bei Schmid & Hanson war man am Ende der Geduld, man wollte einen Beweis, dass ich vorankam und imstande war, ihnen bald das fertige Manuskript zu präsentieren.

„Es sieht schlecht aus für uns“, sagte er im Auto auf der Fahrt nach Manhattan. „Sag mir, dass du in Florida Kraft getankt hast und mit deinem Buch ein gutes Stück vorangekommen bist! Da ist dieser Kerl, von dem jetzt alle reden … Sein Buch wird der große Weihnachtsknaller. Und du, Marcus? Was hast du für Weihnachten zu bieten?“

„Ich knie mich rein!“, rief ich in Panik. „Ich krieg das hin! Wir starten eine große Werbekampagne, dann klappt das schon! Die Leute haben mein erstes Buch gemocht, dann werden sie auch das nächste mögen!“

„Marc, du begreifst es nicht: Vor ein paar Monaten hätten wir das noch tun können. Das war ja gerade unsere Strategie: auf der Welle deines Erfolgs reiten, das Publikum bei Laune halten und ihm geben, was es will. Das Publikum wollte Marcus Goldman, aber da Marcus Goldman sich in Florida auf die faule Haut gelegt hat, haben die Leser sich das Buch von einem anderen gekauft. Verstehst du was von Wirtschaft, Marc? Bücher sind ein austauschbares Produkt geworden. Die Leute wollen ein Buch, das ihnen gefällt, sie ablenkt und unterhält. Und wenn du ihnen das nicht lieferst, tut es dein Nachbar, und du bist abgemeldet.“

Douglas’ Orakelsprüche hatten mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, und ich stürzte mich in die Arbeit: Ich fing um sechs Uhr morgens an und hörte nicht vor neun oder zehn Uhr abends auf. Im Rausch der Verzweiflung verbrachte ich ganze Tage in meinem Büro, schrieb ohne Unterlass, saugte mir Wörter aus den Fingern, reihte Satz um Satz aneinander und sammelte Einfälle für meinen Roman. Doch zu meinem größten Leidwesen kam nichts Brauchbares dabei heraus. Denise verbrachte ihrerseits die Tage damit, sich Sorgen um meinen Zustand zu machen. Da sie nichts mehr zu tun hatte – kein Diktat, das sie aufnehmen, keine Post, die sie durchsehen, keinen Kaffee, den sie kochen musste –, tigerte sie im Gang auf und ab, und wenn sie es nicht mehr aushielt, trommelte sie an meine Tür.

„Ich flehe Sie an, Marcus, machen Sie auf!“, jammerte sie. „Kommen Sie aus Ihrem Büro, und gehen Sie ein bisschen im Park spazieren. Sie haben heute noch nichts gegessen!“

Ich schrie zurück: „Ich habe keinen Hunger! Kein Buch, kein Essen!“

Sie fing fast an zu schluchzen. „Sagen Sie nicht so schreckliche Sachen, Marcus. Ich gehe zum Deli an der Ecke und hole Ihnen Roastbeefsandwiches, die mögen Sie doch. Ich beeile mich! Bin gleich wieder da!“

Ich hörte, wie sie sich ihre Handtasche schnappte, zur Wohnungstür lief und gleich darauf die Treppe hinunterstürmte, als könnte ihre Eile etwas an meiner Situation ändern. Ich hatte endlich erkannt, woran ich so litt: Aus dem Nichts heraus ein Buch zu schreiben war mir leichtgefallen. Aber jetzt, wo ich mich auf dem Gipfel des Ruhms befand, jetzt, wo ich meinem Talent gerecht werden und noch einmal den beschwerlichen Marsch zum Erfolg antreten sollte – denn nichts anderes ist das Verfassen eines guten Romans –, fühlte ich mich der Sache nicht mehr gewachsen. Die Schriftstellerkrankheit hatte mich erwischt, und niemand konnte mir helfen: Alle, mit denen ich darüber redete, meinten, das sei Kinderkram und bestimmt normal, und wenn ich mein Buch nicht heute schriebe, dann eben morgen. Ich versuchte, bei meinen Eltern in Montclair zwei Tage am Stück in meinem alten Zimmer zu arbeiten, in demselben Zimmer, in dem ich zu meinem ersten Roman inspiriert worden war. Aber dieser Versuch scheiterte kläglich, woran meine Mutter vielleicht nicht unschuldig war, denn sie saß beide Tage neben mir und wiederholte, den Blick fest auf den Bildschirm meines Notebooks geheftet, immer wieder: „Das ist sehr gut, Markie.“

„Mama, ich habe nicht eine Zeile geschrieben“, sagte ich irgendwann.

„Aber ich spüre, dass es gut wird.“

„Mama, wenn du mich eine Weile allein lassen könntest …“

„Allein lassen? Warum? Hast du Blähungen? Musst du furzen? Du kannst in meiner Gegenwart furzen, mein Schatz. Ich bin deine Mutter.“

„Nein, ich muss nicht furzen, Mama.“

„Bist du hungrig? Hast du Lust auf Pancakes? Waffeln? Etwas Herzhaftes? Eier vielleicht?“

„Nein, ich bin nicht hungrig.“

„Warum soll ich dich dann allein lassen? Willst du damit sagen, dass dich die Anwesenheit der Frau stört, die dir das Leben geschenkt hat?“

„Nein, du störst mich nicht, aber …“

„Aber was?“

„Nichts, Mama.“

„Was du brauchst, ist eine Freundin, Markie. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, dass du dich von dieser Schauspielerin aus dem Fernsehen getrennt hast? Wie hieß sie noch?“

„Lydia Gloor. Wir waren nicht richtig zusammen, Mama. Ich meine, es war nur eine Affäre.“

Nur eine Affäre, nur eine Affäre! So halten das die jungen Leute heutzutage: immer nur Affären, und mit fünfzig haben sie eine Glatze und stehen ohne Familie da!“

„Was hat die Glatze damit zu tun, Mama?“

„Gar nichts. Aber findest du es richtig, dass ich aus einer Zeitschrift von deiner Beziehung mit diesem Mädchen erfahre? Welcher Sohn tut seiner Mutter so etwas an, sag? Stell dir vor, da gehe ich kurz vor deiner Abreise nach Florida zu Scheingetz – dem Friseur, nicht dem Metzger –, und dort sehen mich alle so komisch an. Ich frage, was los ist, und da hält mir Mrs Berg mit der Trockenhaube auf dem Kopf die Zeitschrift, die sie gerade liest, unter die Nase. Darin ist ein Foto von dir und dieser Lydia Gloor. Es zeigt euch zusammen auf der Straße, und in der Überschrift steht, dass ihr euch getrennt habt. Der ganze Friseursalon wusste über eure Trennung Bescheid, und ich, ich wusste nicht einmal, dass du was mit diesem Mädchen hattest! Natürlich wollte ich nicht als die Dumme dastehen, und deshalb habe ich gesagt, dass die Kleine bezaubernd ist und oft zum Abendessen bei uns war.“

„Mama, ich habe dir nichts davon erzählt, weil es nichts Ernstes war. Sie war nicht die Richtige, weißt du.“

„Es ist nie die Richtige! Du lässt dich immer mit den falschen Frauen ein, Markie! Das ist das Problem. Oder glaubst du, eine Fernsehschauspielerin könnte dir den Haushalt führen? Stell dir vor, gestern habe ich im Supermarkt Mrs Emerson getroffen. Ihre Tochter ist auch noch ledig. Sie wäre perfekt für dich. Außerdem hat sie sehr schöne Zähne. Soll ich ihr sagen, dass sie uns mal besuchen soll?“

„Nein, Mama. Ich versuche zu arbeiten.“

In diesem Augenblick klingelte es an der Tür.

„Ich glaube, das sind sie“, sagte meine Mutter.

„Wer sind sie?“

„Mrs Emerson und ihre Tochter. Ich habe sie für sechzehn Uhr zum Tee eingeladen, und jetzt ist es Punkt sechzehn Uhr. Eine gute Frau ist eine pünktliche Frau. Liebst du sie nicht jetzt schon?“

„Du hast sie zum Tee eingeladen? Wirf sie raus, Mama! Ich will sie nicht sehen! Ich muss ein Buch schreiben, verdammt! Ich bin nicht hier, um Kaffeekränzchen abzuhalten, ich muss einen Roman schreiben!“

„Oh, Markie, du bräuchtest wirklich eine Freundin, ein Mädchen, mit dem du dich verlobst und das du heiratest. Du denkst viel zu viel an deine Bücher und vergisst darüber das Heiraten …“

Niemand begriff, was auf dem Spiel stand: Ein neues Buch musste her, und sei es nur, um die Klauseln des Vertrags zu erfüllen, der mich an den Verlag band. Im Januar 2008 bestellte mich Roy Barnaski, der allmächtige Direktor von Schmid & Hanson, in sein Büro im einundfünfzigsten Stock eines Hochhauses in der Lexington Avenue, um mir ernsthaft ins Gewissen zu reden: „Also, Goldman, wann kriege ich Ihr neues Manuskript?“, polterte er. „Wir haben einen Vertrag über fünf Bücher. Sie müssen sich an die Arbeit machen, und zwar dalli! Wir wollen Ergebnisse sehen! Wir müssen Umsatz machen! Sie sind mit der Abgabe in Verzug! Sie sind mit allem im Verzug! Sie haben ja gesehen, wie dieser Bursche, der vor Weihnachten sein Buch rausgebracht hat, Sie in der Gunst des Publikums verdrängt hat! Sein Agent sagt, dass sein nächster Roman schon fast fertig ist. Und Sie? Durch Sie verlieren wir nur Geld! Also, reißen Sie sich am Riemen, und bringen Sie die Sache in Ordnung. Landen Sie einen großen Coup, schreiben Sie mir ein gutes Buch, und retten Sie Ihre Haut. Ich gebe Ihnen sechs Monate. Bis Juni.“

Sechs Monate, um ein Buch zu schreiben! Dabei war ich seit fast anderthalb Jahren blockiert. Aussichtslos. Aber es kam noch schlimmer: Barnaski hatte mir zwar eine Frist gesetzt, mich aber nicht über die Konsequenzen aufgeklärt, die ich würde tragen müssen, wenn ich es nicht schaffte. Das übernahm Douglas zwei Wochen später bei seiner x-ten Unterredung mit mir. Er sagte: „Du musst das Buch schreiben, Junge, du kannst dich nicht länger verkriechen. Du hast für fünf Bücher unterschrieben! Fünf Bücher! Barnaski ist stinksauer und mit seiner Geduld am Ende. Er hat mir erzählt, dass er dir eine Gnadenfrist bis Juni gesetzt hat. Ist dir klar, was passiert, wenn du es verbockst? Sie lösen deinen Vertrag auf, verklagen dich und saugen dich bis aufs Mark aus. Sie nehmen dir deine ganze Kohle weg, und dann ist Schluss mit dem schönen Leben, dem schicken Apartment, den italienischen Slippern und dem dicken Auto: Dann hast du nichts mehr. Sie werden dich bluten lassen.“

Noch vor einem Jahr war ich als neuer Stern am Literaturhimmel gefeiert worden, und nun galt ich als größte Enttäuschung, als schlimmster Bummelant der nordamerikanischen Verlagsszene. Lektion zwei: Ruhm ist nicht nur vergänglich, sondern hat auch Konsequenzen. Am Abend nach Douglas’ Standpauke griff ich zum Telefon und wählte die Nummer des einzigen Menschen, von dem ich annahm, dass er mir aus dieser Notlage heraushelfen konnte: Harry Quebert, mein ehemaliger Professor und zudem einer der meistgelesenen und angesehensten Autoren Amerikas, mit dem ich seit gut zehn Jahren, seit ich am Burrows College in Massachusetts bei ihm studiert hatte, eng verbunden war.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen und fast genauso lange nicht mehr mit ihm telefoniert. Ich rief ihn zu Hause in Aurora, New Hampshire, an.

Als er meine Stimme hörte, meinte er spöttisch: „Ah, Marcus! Sind Sie es wirklich? Kaum zu glauben! Seit Sie ein Star sind, lassen Sie nichts mehr von sich hören. Vor einem Monat habe ich versucht, Sie zu erreichen, aber Ihre Sekretärin hat mich wissen lassen, dass Sie für niemanden zu sprechen sind.“

Ich erwiderte unumwunden: „Mir geht’s schlecht, Harry. Ich glaube, ich kann nicht mehr schreiben.“

Er wurde schlagartig ernst. „Was reden Sie da, Marcus?“

„Ich weiß nicht mehr, was ich schreiben soll. Ich bin erledigt. Schreibhemmung … seit Monaten … vielleicht einem Jahr.“

Er stimmte ein warmes, beruhigendes Lachen an. „Eine geistige Blockade, das ist es, Marcus! Schreibhemmung klingt genauso albern wie Ladehemmung beim Sex. Das Genie kriegt die Panik, genau wie Ihr Schwanz schlapp macht, wenn Sie gerade mit einer Ihrer Verehrerinnen Schubkarre spielen wollen und zu sehr daran denken, wie Sie ihr einen Orgasmus verschaffen, den man auf der Richterskala messen kann. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Genialität, reihen Sie einfach nur ein Wort ans andere. Die Genialität kommt dann von ganz allein.“

„Meinen Sie?“

„Da bin ich mir sicher. Allerdings sollten Sie Ihr mondänes Leben mit den Cocktailpartys ein wenig zurückfahren. Schreiben ist eine ernste Angelegenheit. Ich dachte, das hätte ich Ihnen eingebläut.“

„Aber ich arbeite hart! Ich tue nichts anderes mehr! Und trotzdem kommt nichts dabei heraus!“

„Vielleicht fehlt Ihnen ja nur die richtige Umgebung? New York ist schön und gut, aber viel zu laut. Warum kommen Sie nicht hierher, so wie damals, als Sie noch bei mir studiert haben?“

Raus aus New York und ein Tapetenwechsel! Noch nie war mir eine Einladung ins Exil sinnvoller erschienen. Mich in der amerikanischen Provinz in Gesellschaft meines alten Meisters auf die Suche nach der Inspiration für ein neues Buch machen – das war genau das, was ich brauchte. Und so brach ich eine Woche später, Mitte Februar 2008, nach Aurora in New Hampshire auf, nur wenige Monate vor den dramatischen Ereignissen, von denen ich Ihnen hier berichten werde.

Vor diesem Fall, der im Sommer 2008 ganz Amerika erregte, hatte noch nie jemand von Aurora gehört. Es ist eine Kleinstadt am Meer, mit dem Auto etwa eine Viertelstunde von der Grenze nach Massachusetts entfernt. In der Hauptstraße gibt es ein Kino, dessen Programm im Vergleich zum Rest des Landes stets hinterherhinkt, ein paar Läden, ein Postamt, ein Polizeirevier und eine Handvoll Restaurants, darunter das Clark’s, das historische Diner der Stadt. Drumherum friedliche Wohnviertel aus bunt gestrichenen Holzhäusern mit einladenden Veranden, Schieferdächern und tadellos gepflegten Rasen. Es ist ein Stück Amerika, dessen Bewohner ihre Haustüren nicht abschließen, einer von diesen Orten, wie es sie nur in Neuengland gibt, und so beschaulich, dass man meint, hier könnte nichts Böses geschehen.

Ich kannte Aurora gut, weil ich Harry in der Zeit, als ich noch sein Student war, oft besucht hatte. Er wohnte in einem herrlichen Haus aus Stein und massiven Kiefernbohlen außerhalb der Stadt an der Route 1 in Richtung Maine, am Ufer eines Meeresarms, der in den Landkarten als Goose Cove verzeichnet ist. Es war eine wahre Schriftstellervilla, die mit ihrer Sonnenterrasse, von der eine Treppe direkt zum Strand hinunterführte, über dem Ozean thronte. Die Umgebung war wilde Beschaulichkeit pur: der Küstenwald, die Uferstreifen mit ihren Kieseln und riesigen Steinen, die feuchten, farn- und moosbewachsenen Wäldchen, ein paar Spazierwege, die am Strand entlangführten. Man hätte sich am Ende der Welt wähnen können, hätte man nicht gewusst, dass einen nur wenige Meilen von der Zivilisation trennten. Und man konnte sich lebhaft vorstellen, wie der in die Jahre gekommene Autor, von den Gezeiten und Sonnenuntergängen inspiriert, auf der Terrasse seine Meisterwerke verfasste.

Am 10. Februar 2008 verließ ich New York auf dem Höhepunkt meiner Schaffenskrise. Im Land ging es hoch her, denn die Präsidentschaftswahlen standen vor der Tür: Am Super Tuesday (der ausnahmsweise im Februar und nicht im März stattgefunden hatte – ein Beweis dafür, dass dies ein außergewöhnliches Jahr werden sollte) hatte bei den Republikanern einige Tage zuvor Senator McCain das Rennen gemacht, während bei den Demokraten noch immer der Kampf zwischen Hillary Clinton und Barack Obama tobte. Ich fuhr ohne Pause bis Aurora durch. Der Winter war schneereich, und unterwegs zogen tiefweiße Landschaften an mir vorbei. Ich liebte New Hampshire.

Ich liebte die Ruhe dort, die riesigen Wälder, die von Seerosen bedeckten Teiche, in denen man im Sommer schwimmen und auf denen man im Winter Schlittschuh laufen konnte, und ich mochte die Vorstellung, dass man hier weder Mehrwert- noch Einkommenssteuer zahlte. In meinen Augen war New Hampshire ein libertärer Staat, und sein in die Kennzeichen der mich auf der Autobahn überholenden Fahrzeuge eingeprägtes Motto FREI LEBEN ODER STERBEN umriss sehr gut das starke Freiheitsgefühl, das mich bei jedem meiner Aufenthalte in Aurora durchdrungen hatte. Und ich erinnere mich noch gut, wie mich bei meiner Ankunft in Goose Cove an diesem kalten, nebligen Nachmittag plötzlich ein Gefühl tiefen inneren Friedens überkam. Harry erwartete mich, in eine dicke Winterjacke gehüllt, unter dem Portalvorbau seines Hauses. Als ich aus dem Wagen stieg, kam er mir entgegen, legte mir die Hände auf die Schultern und schenkte mir ein breites, ermutigendes Lächeln.

„Was ist los mit Ihnen, Marcus?“

„Ich weiß es nicht, Harry …“

„Na, na, Sie waren schon immer ein viel zu sensibler junger Mann.“

Noch bevor ich meine Sachen auspackte, machten wir es uns im Wohnzimmer bequem, um uns ein wenig zu unterhalten. Er schenkte uns Kaffee ein. Im Kamin knisterte ein Feuer. Im Inneren des Hauses war es gemütlich, während ich durch die riesige Panoramascheibe den von eisigen Winden aufgepeitschten Ozean sah und den nassen Schnee, der auf die Felsen fiel.

„Ich hatte vergessen, wie schön es hier ist“, murmelte ich.

Er nickte. „Ich werde mich gut um Sie kümmern, mein junger Freund, Sie werden sehen. Sie werden uns hier einen Mordsroman zusammenschreiben. Machen Sie sich keinen Kopf, alle guten Schriftsteller durchlaufen mal solche schwierigen Phasen.“

Er hatte diese gelassene, zuversichtliche Art, wie ich sie seit jeher von ihm kannte. Ich hatte diesen Mann noch nie zweifeln sehen. Charismatisch und selbstsicher, strahlte er eine natürliche Autorität aus. Obwohl er auf die siebenundsechzig zuging, war er mit seiner vollen, silbergrauen, stets gepflegten Mähne, den breiten Schultern und dem kräftigen Körper, dem man das jahrelange Boxen ansah, eine eindrucksvolle Erscheinung. Harry war Boxer, und durch diese Sportart, die ich selbst fleißig praktizierte, hatten wir uns am Burrows College angefreundet.

Meine Verbundenheit mit Harry, auf die ich in diesem Buch noch eingehen werde, war sehr tief. Er war im Jahr 1998 in mein Leben getreten, als ich ein Studium am Burrows College in Massachusetts aufgenommen hatte. Damals war ich zwanzig, er siebenundfünfzig gewesen. Seit nunmehr fünfzehn Jahren hatte er damals der literarischen Fakultät dieser bescheidenen Provinzhochschule mit ihrer gemütlichen Atmosphäre und netten, höflichen Studentenschar goldene Zeiten beschert. Bis dahin hatte ich den großen Schriftsteller Harry Quebert nur dem Namen nach gekannt. In Burrows begegnete ich „Harry“, kurz und knapp. Trotz des Altersunterschieds sollte er einer meiner engsten Freunde werden und mir das Schreiben beibringen. Er selbst hatte die höheren Weihen Mitte der 1970er-Jahre empfangen, als sich sein zweites Buch, Der Ursprung des Übels, fünfzehn Millionen Mal verkaufte und ihm sowohl den National Book Award als auch den National Literary Award, die beiden angesehensten Literaturpreise des Landes, einbrachte. Seither publizierte er in regelmäßigen Abständen und schrieb eine viel beachtete monatliche Kolumne im Boston Globe. Er zählte zu den Galionsfiguren der amerikanischen Intelligenzija, hielt zahlreiche Vorträge und war ein gefragter Gast bei den wichtigeren kulturellen Veranstaltungen. Seine Meinung in politischen Fragen hatte Gewicht. Er genoss hohes Ansehen, war der Stolz seines Landes und zählte zum Besten, was Amerika hervorzubringen imstande war. In den Wochen, die ich bei ihm verbringen wollte, würde es ihm hoffentlich gelingen, wieder einen Schriftsteller aus mir zu machen und mir zu zeigen, wie ich mich aus dieser kreativen Sackgasse herausmanövrieren konnte. Ich musste allerdings feststellen, dass Harry meine Lage zwar schwierig, aber nicht ungewöhnlich fand. „Autoren haben manchmal einen Blackout, das gehört zum Berufsrisiko“, klärte er mich auf. „Machen Sie sich an die Arbeit, Sie werden sehen, das Problem löst sich von ganz allein.“ Er stellte mir sein Arbeitszimmer im Erdgeschoss zur Verfügung, wo er selbst all seine Bücher geschrieben hatte, auch den Ursprung des Übels. Dort brachte ich lange Stunden mit dem Versuch zu, ebenfalls etwas zu Papier zu bringen, doch ich war zu sehr in die Betrachtung des Ozeans und Schnees auf der anderen Seite der Fensterscheibe versunken. Wenn Harry mir Kaffee oder etwas zu essen brachte und meine verzweifelte Miene sah, versuchte er mich aufzumuntern.

Eines Morgens sagte er schließlich zu mir: „Machen Sie nicht so ein Gesicht, Marcus. Man könnte meinen, Sie müssten sterben.“

„Ich bin nah dran …“

„Aber, aber … Zermartern Sie sich von mir aus den Kopf über den Gang der Welt oder den Krieg im Irak, aber doch nicht wegen einem lausigen Buch … Dafür ist es noch zu früh. Sie sind wirklich rührend, wissen Sie das? Sie machen ein Riesentheater, weil es Ihnen schwerfällt, auch nur drei Zeilen zu schreiben. Sehen Sie doch mal den Tatsachen ins Auge: Sie haben ein großartiges Buch geschrieben, Sie sind reich und berühmt geworden, und Ihr zweites Buch hat ein bisschen Mühe, aus Ihrem Kopf herauszukommen. An dieser Situation ist überhaupt nichts Merkwürdiges oder Beunruhigendes …“

„Was ist mit Ihnen? Haben Sie dieses Problem nie gehabt?“

Er lachte schallend. „Eine Schreibblockade? Soll das ein Scherz sein? Mein armer Freund: öfter, als Sie sich vorstellen können!“

„Mein Verleger sagt, wenn ich nicht jetzt sofort ein neues Buch schreibe, bin ich erledigt.“

„Wissen Sie, was ein Verleger ist? Ein gescheiterter Schriftsteller, dessen Papa reichlich Kohle hatte und es ihm ermöglichen konnte, sich das Talent anderer anzueignen. Sie werden sehen, Marcus, alles kommt ganz schnell wieder in Ordnung. Vor Ihnen liegt eine steile Karriere. Ihr erstes Buch war bemerkenswert, Ihr zweites wird noch besser. Kopf hoch, ich helfe Ihnen.“

Ich kann zwar nicht behaupten, dass mir mein Rückzug nach Aurora die Inspiration zurückgab, aber er tat mir unbestreitbar gut. Harry auch, denn er war oft einsam, das wusste ich: Er hatte keine Familie und nicht viel Ablenkung. Wir verlebten glückliche Tage. Genau genommen waren es die letzten glücklichen Tage, die wir gemeinsam verbrachten. Wir machten ausgedehnte Spaziergänge am Meer, hörten uns wieder einmal die großen Opernklassiker an, zogen auf den Langlaufloipen unsere Bahnen, klapperten die kulturellen Veranstaltungen der Gegend ab und unternahmen Ausflüge in die umliegenden Supermärkte, um nach den kleinen Cocktailwürstchen Ausschau zu halten, deren Verkaufserlös der amerikanischen Armee zugutekam, denn Harry war ganz wild auf sie und meinte, allein diese Würstchen rechtfertigten die militärische Intervention im Irak. Wir aßen auch oft im Clark’s zu Mittag und verbrachten ganze Nachmittage dort, tranken Kaffee und philosophierten über das Leben wie zu der Zeit, als ich noch sein Student gewesen war. Jeder in Aurora kannte und respektierte Harry, und auch mich kannten die Leute von früher. Von allen am meisten lagen mir Jenny Dawn, die Besitzerin des Clark’s, und Erne Pinkas, der ehrenamtliche Gemeindebibliothekar. Er stand Harry sehr nahe und kam abends manchmal auf ein Gläschen Scotch in Goose Cove vorbei. Ich selbst suchte die Bücherei jeden Morgen auf, um die New York Times zu lesen. Am ersten Tag war mir aufgefallen, dass Erne Pinkas ein Exemplar meines Buchs in einem gut sichtbaren Aufsteller platziert hatte. Stolz hatte er es mir gezeigt und gesagt: „Siehst du, Marcus, dein Buch steht in vorderster Reihe. Es ist seit einem Jahr das am häufigsten ausgeliehene Buch. Wann erscheint dein nächstes?“ – „Ehrlich gesagt komme ich nicht so richtig in die Gänge. Deshalb bin ich hier.“ – „Mach dir nichts draus. Du hast bestimmt bald eine zündende Idee, da bin ich mir sicher.“ – „Zum Beispiel?“ – „Davon verstehe ich nicht viel, du bist der Schriftsteller. Aber man muss ein Thema finden, das die Leute begeistert.“

Harry saß im Clark’s seit dreißig Jahren am selben Tisch, nämlich an dem mit der Nummer 17, an den Jenny eine Metallplakette hatte schrauben lassen. Sie trug die Aufschrift:

An diesem Tisch verfasste der Schriftsteller Harry

Quebert im Sommer 1975 seinen berühmten

Roman Der Ursprung des Übels.

Ich kannte diese Plakette seit jeher, hatte ihr aber nie wirklich Beachtung geschenkt. Erst bei diesem Aufenthalt begann ich mich näher für sie zu interessieren und betrachtete sie lange. Schon bald gingen mir die ins Metall gravierten Worte nicht mehr aus dem Kopf: An diesem armseligen, von Fett und Ahornsirup klebrigen Tisch im Diner einer Kleinstadt von New Hampshire hatte Harry also gesessen und sein gewaltiges Meisterwerk verfasst, das ihn zu einer literarischen Legende gemacht hatte. Woher hatte er die Inspiration genommen? Auch ich wollte mich an diesen Tisch setzen, schreiben und darauf warten, dass mich ein Geistesblitz traf. Also ließ ich mich zwei Nachmittage in Folge mit Papier und Stift daran nieder – doch vergebens. Schließlich fragte ich Jenny: „Er hat sich also hier an diesen Tisch gesetzt und geschrieben?“

Sie nickte. „Den ganzen Tag, Marcus, den lieben langen Tag. Pausenlos. Das war im Sommer 1975, daran erinnere ich mich noch gut.“

„Und wie alt war er damals?“

„So alt wie du. Um die dreißig. Vielleicht ein paar Jahre älter.“

In mir wallte ein grimmiger Wunsch auf: Auch ich wollte ein Meisterwerk verfassen, auch ich wollte ein Buch schreiben, das Maßstäbe setzte. Harry begriff das, als er feststellte, dass ich nach fast einmonatigem Aufenthalt bei ihm keine Zeile zu Papier gebracht hatte. Die folgende Szene spielte sich Anfang März in seinem Arbeitszimmer in Goose Cove ab, in dem ich immer noch auf die göttliche Erleuchtung wartete, als er, mit einer Schürze um den Bauch, hereinkam und mir ein paar eigenhändig frittierte Donuts brachte.

„Geht’s voran?“, erkundigte er sich.

„Das wird der ganz große Wurf“, behauptete ich und reichte ihm den Papierstapel, den mir der kubanische Gepäckträger drei Monate zuvor hinterhergetragen hatte.

Er stellte das Tablett ab, um einen Blick darauf zu werfen: „Sie haben nichts geschrieben? Sie sind seit drei Wochen hier und haben nichts geschrieben?“

Ich fuhr aus der Haut: „Nein, nichts! Jedenfalls nichts Brauchbares! Nur Ideen für einen schlechten Roman.“

„Herrgott, Marcus! Wollen Sie einen Roman schreiben oder nicht?“

Ich erwiderte, ohne nachzudenken: „Ein Meisterwerk! Ich will ein Meisterwerk schreiben!“

„Ein Meisterwerk?“

„Ja. Ich will einen großartigen Roman mit großartigen Ideen schreiben! Ich will ein Buch schreiben, das Eindruck macht.“

Harry musterte mich kurz und brach dann in Gelächter aus. „Ihr übertriebener Ehrgeiz geht mir auf die Nerven, Marcus, das sage ich Ihnen schon seit einer Ewigkeit. Sie werden ein ganz großer Schriftsteller, davon bin ich überzeugt. Aber wollen Sie wissen, was Ihr Problem ist? Sie haben es viel zu eilig! Wie alt sind Sie jetzt?“

„Dreißig.“

„Dreißig! Und Sie wollen schon jetzt eine Kreuzung aus Saul Bellow und Arthur Miller sein? Der Ruhm wird schon kommen, immer schön mit der Ruhe. Ich bin jetzt siebenundsechzig, und manchmal wird mir angst und bange, weil die Zeit so schnell vergeht. Jedes Jahr, das vergeht, ist ein Jahr weniger, und ich kann es nicht zurückholen. Was haben Sie geglaubt, Marcus? Dass Sie Ihr zweites Buch einfach so raushauen können? Eine Schriftstellerlaufbahn braucht ihre Zeit, mein Freund. Und um einen großen Roman zu schreiben, braucht man keine großartigen Ideen. Seien Sie einfach nur Sie selbst, dann schaffen Sie es bestimmt, da mache ich mir bei Ihnen keine Sorgen. Ich unterrichte seit fünfundzwanzig Jahren Literatur, seit fünfundzwanzig langen Jahren, und Sie sind der klügste Kopf, der mir dabei untergekommen ist.“

„Danke.“

„Danken Sie mir nicht, es ist schlicht und einfach die Wahrheit. Aber jammern Sie nicht wie ein altes Waschweib, weil Sie den Nobelpreis noch nicht bekommen haben. Himmel noch mal, mit dreißig! Also, wirklich! Schlagen Sie sich das mit dem großen Roman aus dem Kopf. Einen Nobelpreis für den größten Schwachsinn haben Sie verdient!“

„Aber wie haben Sie es angestellt, Harry? Ihr Buch Der Ursprung des Übels aus dem Jahr 1976 ist ein Meisterwerk! Dabei war es erst Ihr zweites Buch … Wie haben Sie das gemacht? Wie schreibt man ein Meisterwerk?“

Er lächelte traurig.

„Marcus, Meisterwerke schreibt man nicht, sie entstehen einfach. Außerdem existiert für viele Menschen nur dieses eine Buch von mir. Damit will ich sagen, dass keines von denen, die darauf gefolgt sind, auch nur annähernd so erfolgreich war. Im Zusammenhang mit mir denken die Leute sofort und nahezu ausschließlich an Der Ursprung des Übels. Das ist traurig, denn wenn man mir mit dreißig gesagt hätte, dass ich den Zenit bereits erreicht habe, hätte ich mich wahrscheinlich ins Meer gestürzt. Also immer schön mit der Ruhe.“

„Bereuen Sie es, dass Sie dieses Buch geschrieben haben?“

„Ein bisschen vielleicht … Ich weiß es nicht. Reue ist ein Begriff, den ich nicht mag: Er bedeutet nämlich, dass wir nicht zu dem stehen, was wir getan haben.“

„Was soll ich denn jetzt machen?“

„Was Sie schon immer am besten gekonnt haben: schreiben. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Marcus: Machen Sie es nicht wie ich. Wir beide sind uns ausgesprochen ähnlich, wissen Sie, und deshalb beschwöre ich Sie: Wiederholen Sie nicht die Fehler, die ich begangen habe.“

„Welche Fehler?“

„Als ich im Sommer 1975 hierherkam, wollte ich auch unbedingt ein Meisterwerk schreiben. Ich war von der Idee und dem Wunsch besessen, ein berühmter Schriftsteller zu werden.“

„Und Sie haben es geschafft …“

„Sie verstehen nicht: Gewiss, heute bin ich ein ›großer Schriftsteller‹, wie Sie es nennen, aber ich lebe allein in diesem riesigen Haus. Mein Leben ist leer, Marcus. Lassen Sie nicht zu, dass der Ehrgeiz Sie auffrisst. Sonst wird Ihr Herz einsam und Ihre Feder traurig. Warum haben Sie eigentlich keine Freundin?“

„Weil ich keine finde, die mir wirklich gefällt.“

„Ich glaube eher, dass Sie es mit dem Vögeln genauso halten wie mit dem Schreiben: entweder Ekstase oder nichts. Suchen Sie sich ein anständiges Mädchen, und geben Sie der Kleinen eine Chance. Und mit Ihrem Buch machen Sie es genauso. Geben Sie sich selbst eine Chance! Geben Sie Ihrem Leben eine Chance! Wissen Sie, was meine Hauptbeschäftigung ist? Möwen füttern. Ich sammle trockenes Brot in der Blechschachtel, der aus der Küche mit der Aufschrift Souvenir aus Rockland, Maine, und das werfe ich den Möwen hin. Sie sollten nicht immer nur schreiben …“

Trotz der Ratschläge, die Harry mir erteilte, ließ mir ein Gedanke keine Ruhe: Was war bei ihm, als er in meinem Alter gewesen war, der Auslöser gewesen? Welcher Geistesblitz hatte es ihm erlaubt, Der Ursprung des Übels zu schreiben? Ich war wie besessen von dieser Frage, und da Harry mir sein Arbeitszimmer überlassen hatte, nahm ich mir die Freiheit, ein wenig darin herumzustöbern. Nie hätte ich mir vorstellen können, was ich entdecken würde! Alles begann damit, dass ich auf der Suche nach einem Stift eine Schublade aufzog und darin ein handgeschriebenes Heft und ein paar lose Blätter fand: Originale von Harry. Wie aufregend! Hier bot sich mir die unverhoffte Gelegenheit herauszufinden, wie Harry arbeitete, ob es in seinem Heft von Streichungen wimmelte oder ob er einfach wirklich ein Genie war. Begierig machte ich mich in seiner Bibliothek auf die Suche nach weiteren Manuskripten. Um freie Bahn zu haben, musste ich jedoch warten, bis Harry außer Haus war; also auf den Donnerstag, da unterrichtete er in Burrows: Er brach frühmorgens auf und kehrte in der Regel erst am späten Abend zurück. So kam es am Nachmittag des 6. März 2008 zu einer Begebenheit, die ich augenblicklich wieder zu vergessen beschloss: Ich fand heraus, dass Harry im Alter von vierunddreißig Jahren eine Affäre mit einem fünfzehnjährigen Mädchen gehabt hatte. Das war im Jahr 1975 gewesen.

Ich kam seinem Geheimnis auf die Spur, als ich hemmungslos die Regale in seinem Arbeitszimmer durchforstete und dabei hinter ein paar Büchern auf eine große Lackschachtel mit Klappdeckel stieß. Ich witterte Beute, vielleicht sogar das Manuskript von Der Ursprung des Übels. Also nahm ich die Schachtel und öffnete sie, doch zu meinem großen Verdruss enthielt sie kein Manuskript, sondern lediglich ein paar Fotos und Zeitungsartikel. Die Fotos zeigten einen jungen Harry, einen flotten Dreißiger: elegant, stolz, neben sich ein junges Ding. Vier oder fünf Fotos waren es insgesamt, und auf allen war dieses Mädchen zu sehen. Auf einem posierte Harry mit nacktem Oberkörper, braun gebrannt und muskulös am Strand: Er drückte das lächelnde Mädchen an sich; die Kleine hatte sich die Sonnenbrille in ihr langes, blondes Haar geschoben, um es zurückzuhalten, und küsste ihn auf die Wange. Auf der Rückseite des Fotos stand: Nola und ich, Martha’s Vineyard, Ende Juli 1975. Vor lauter Aufregung über meinen Fund merkte ich nicht, dass Harry viel früher als erwartet vom College zurückkam. Ich hörte weder die knirschenden Autoreifen seiner Corvette auf der Kiesauffahrt von Goose Cove noch seine Stimme, als er das Haus betrat. Nichts hörte ich, denn ich entdeckte in der Schachtel unter den Fotos einen undatierten Brief. Auf dem hübschen Papier stand in kindlicher Handschrift:

Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Harry, ich schaffe es schon irgendwie zu unserem Treffpunkt. Warten Sie in Zimmer acht auf mich. Ich liebe diese Zahl, das ist meine Lieblingszahl. Warten Sie dort um neunzehn Uhr auf mich. Und dann gehen wir für immer fort.

Ich liebe Sie so!

In Zärtlichkeit,

Nola

Wer war diese Nola? Mit klopfendem Herzen nahm ich mir die Zeitungsausschnitte vor: In allen Artikeln war vom rätselhaften Verschwinden einer gewissen Nola Kellergan an einem Augustabend des Jahres 1975 die Rede, und die Nola auf den Zeitungsfotos sah exakt so aus wie die Nola auf Harrys Aufnahmen. In diesem Augenblick betrat Harry, die Tür mit dem Fuß aufstoßend, das Arbeitszimmer, in den Händen ein Tablett mit Kaffeetassen und einem Teller Kekse, das er fallen ließ, als er mich, den Inhalt seiner geheimen Schachtel vor mir ausgebreitet, auf dem Teppich hocken sah.

„Was … Was machen Sie da?“, brüllte er. „Sie schnüffeln herum, Marcus? Ich lade Sie in mein Haus ein, und Sie schnüffeln in meinen Sachen herum? Was sind Sie denn für ein Freund?“

Ich stammelte ein paar ungelenke Erklärungsversuche: „Ich bin zufällig auf die Schachtel gestoßen, Harry. Ich hätte sie nicht öffnen dürfen … Es tut mir leid.“

„Das hätten Sie tatsächlich nicht! Wer gibt Ihnen das Recht? Wer gibt Ihnen, verdammt noch mal, das Recht?“

Er riss mir die Fotos aus den Händen, raffte hastig die Zeitungsartikel zusammen, stopfte alles mit fliegenden Händen in die Schachtel, verschwand damit in seinem Schlafzimmer und schloss sich ein. So hatte ich ihn noch nie erlebt, und mir war nicht klar, ob es sich um Schrecken oder Wut handelte. Vor seiner Tür stehend, erging ich mich in Entschuldigungen. Ich erklärte immer wieder, dass es nicht meine Absicht gewesen sei, ihn zu kränken, dass ich die Schachtel zufällig entdeckt hätte, doch es half nichts. Erst zwei Stunden später kam er wieder heraus und ging schnurstracks hinunter ins Wohnzimmer, um sich ein paar Gläser Whisky zu genehmigen.

Als ich das Gefühl hatte, dass er sich ein wenig beruhigt hatte, ging ich zu ihm. „Harry, wer ist dieses Mädchen?“, fragte ich leise.

Er senkte den Blick. „Nola.“

„Wer ist Nola?“

„Fragen Sie nicht, wer Nola ist. Bitte!“

„Harry, wer ist Nola?“, beharrte ich.

Er nickte. „Ich habe sie geliebt, Marcus. Ich habe sie so geliebt!“

„Warum haben Sie mir nie davon erzählt?“

„Das ist kompliziert …“

„Unter Freunden ist nichts kompliziert.“

Er zuckte mit den Schultern. „Da Sie ja nun die Fotos gefunden haben, kann ich es Ihnen eigentlich auch erzählen … Als ich 1975 nach Aurora gekommen bin, habe ich mich in dieses Mädchen verliebt. Sie war damals erst fünfzehn, hieß Nola und war die Frau meines Lebens.“

Es folgte ein kurzes Schweigen, dann fragte ich aufgewühlt: „Was ist aus Nola geworden?“

„Das ist eine schlimme Geschichte, Marcus. Sie ist verschwunden. Eines Abends Ende August 1975 ist sie verschwunden. Eine Nachbarin hatte sie zuletzt blutend gesehen. Nachdem Sie die Schachtel geöffnet haben, haben Sie sicher auch die Zeitungsartikel gesehen. Sie wurde nie gefunden. Keiner weiß, was ihr zugestoßen ist.“

„Wie schrecklich!“, stieß ich leise hervor.

Er nickte mehrmals.

„Wissen Sie“, sagte er, „Nola hat mein Leben verändert. Mir hätte es nichts bedeutet, der große Harry Quebert, der bedeutende Schriftsteller zu werden, mir hätten mein Ruhm, mein Geld und mein Erfolg nichts bedeutet, wenn ich nur Nola hätte behalten können. Nichts von all dem, was ich seither zustande gebracht habe, hat meinem Leben so viel Sinn gegeben wie der Sommer, den ich mit ihr verbringen durfte.“

Noch nie, seit ich Harry kannte, hatte ich ihn so erschüttert gesehen. Er blickte mich prüfend an und fügte dann hinzu: „Marcus, niemand hat je von dieser Geschichte erfahren. Sie sind jetzt der Einzige, der es weiß, und Sie müssen dieses Geheimnis für sich behalten.“

„Selbstverständlich.“

„Versprechen Sie es mir!“

„Ich verspreche es Ihnen, Harry. Das ist unser Geheimnis.“

„Wenn in Aurora jemand erfährt, dass ich eine Liebesbeziehung mit Nola Kellergan hatte, wäre das vermutlich mein Untergang …“

„Sie können sich auf mich verlassen, Harry.“

Das war alles, was ich über Nola Kellergan erfuhr. Wir sprachen nie wieder über sie, auch nicht über die Schachtel, und ich beschloss, diesen Vorfall für immer in den Tiefen meines Gedächtnisses zu vergraben, nicht ahnend, dass uns Nolas Geist wenige Monate später durch eine seltsame Fügung abermals erscheinen sollte.

Ende März kehrte ich nach New York zurück, nachdem ich es auch in den sechs Wochen in Aurora nicht geschafft hatte, meinen nächsten großen Roman aus der Taufe zu heben. Nur noch drei Monate bis zum Ende der Frist, die Barnaski mir gesetzt hatte, und mir war klar, dass ich keine Chance mehr hatte, die Sache zu retten. Ich hatte mir die Flügel verbrannt, mein Untergang war besiegelt, ich war der unseligste und unproduktivste aller New Yorker Paradeautoren. Während die Wochen vergingen, arbeitete ich mit Feuereifer daran, meine Niederlage vorzubereiten: Ich verschaffte Denise eine neue Anstellung, nahm Kontakt zu Anwälten auf, falls Schmid & Hanson tatsächlich gegen mich vor Gericht zog, und erstellte eine Liste der Dinge, an denen ich am meisten hing und die ich bei meinen Eltern verstecken musste, bevor die Gerichtsvollzieher an meine Tür klopften. Als der Juni anbrach, der Schicksalsmonat, der Monat des Schafotts, begann ich die Tage bis zu meinem Tod als Künstler zu zählen: dreißig kurze Tage noch, dann eine Einbestellung in Barnaskis Büro und schließlich die Exekution. Der Countdown hatte begonnen. Ich konnte nicht ahnen, dass ein dramatisches Ereignis das Blatt wenden sollte.

„Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen mag.“ Hamburger Morgenpost

Vielleicht morgenVielleicht morgen

Roman

Emma lebt in New York und hat ihre letzte Trennung noch immer nicht verwunden. Matthew kümmert sich in Boston allein um seine Tochter, seit seine Frau bei einem Autounfall ums Leben kam. Beiden hat das Schicksal übel mitgespielt. Doch dann macht Matthew auf einem Flohmarkt eine Entdeckung, die die Leben der beiden verbindet – und grundlegend verändert ...

Universität Harvard

Cambridge

19.Dezember 2011


Der Hörsaal war überfüllt, doch es herrschte Ruhe. Die Zeiger des Bronze-Zifferblatts der alten Wanduhr zeigten auf 14:55. Die von Matthew Shapiro gehaltene Philosophie-Vorlesung neigte sich dem Ende zu.

Erika Stewart, zweiundzwanzig Jahre alt, saß in der ersten Reihe und fixierte ihren Professor. Seit einer Stunde versuchte sie erfolglos, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hing geradezu an seinen Lippen und nickte bei jedem Satz. Trotz der Gleichgültigkeit, auf die ihre Bemühungen stießen, übte der Professor eine täglich größer werdende Faszination auf sie aus.

Seine jugendlichen Züge, sein kurzes Haar und sein Dreitagebart verliehen ihm einen beträchtlichen Charme, der unter den Studentinnen für Aufruhr sorgte. Mit seiner verwaschenen Jeans, seinen abgenutzten Lederstiefeln und seinem Rollkragenpullover ähnelte Matthew eher einem Doktoranden als seinen, zumeist streng und nüchtern wirkenden, Kollegen. Mehr noch als sein markantes Gesicht betörte jedoch seine Redegewandtheit.

Matthew Shapiro war einer der beliebtesten Professoren auf dem Campus. Seit fünf Jahren lehrte er in Cambridge, und seine Vorlesungen begeisterten die Neulinge. So hatte Mundpropaganda dafür gesorgt, dass sich in diesem Quartal über achthundert Studenten für seine Kurse eingeschrieben hatten. Seine Vorlesung fand derzeit im größten Hörsaal von Sever Hall statt.


LEER IST DIE REDE JENES PHILOSOPHEN, DURCH DIE KEIN EINZIGES LEIDEN EINES MENSCHEN GEHEILT WIRD.


Auf diesem Satz von Epikur, der aus einer Auswahl von Schriften mit dem Titel Von der Überwindung der Angst stammte und den er an die Tafel geschrieben hatte, basierte Matthews Lehre.

Seine Philosophie-Vorlesungen sollten verständlich sein und nicht überfrachtet von abstrusen Fachbegriffen. Seine Überlegungen und Schlussfolgerungen waren immer realitätsbezogen. Shapiro ging bei seinen Ausführungen stets vom Alltag der Studenten aus, von konkreten Problemen, mit denen sie konfrontiert waren: Der Angst, in einer Prüfung zu versagen, dem Bruch einer Liebesbeziehung, der Tyrannei der Blicke anderer, dem Sinn des Studiums ... Auf dieser Grundlage zitierte der Professor Plato, Seneca, Nietzsche oder Schopenhauer. Dank seiner lebhaften Darstellung schienen diese eminenten Persönlichkeiten eine Zeit lang die Lehrbücher zu verlassen, um vertraute und verständliche Freunde zu werden, die nützliche und tröstliche Ratschläge zu erteilen vermochten.

Mit Intelligenz und Humor verstand es Matthew, auch Populärkultur in seine Vorlesungen zu integrieren. Filme, Songs, Comics: Über alles konnte man philosophieren. Sogar Fernsehserien fanden ihren Platz in seinem Unterricht. Dr. House wurde als Beispiel für experimentelles Argumentieren herangezogen, die Schiffbrüchigen aus Lost boten Gelegenheit, Überlegungen zum Gesellschaftsvertrag anzustellen, während die machohaften Werbeleute aus Mad Men dazu dienten, die Entwicklung der Beziehungen zwischen Mann und Frau zu studieren.

Obwohl diese pragmatische Philosophie dazu beigetragen hatte, ihn auf dem Campus zu einem „Star“ zu machen, hatte sie auch viel Neid und Verärgerung unter seinen Kollegen hervorgerufen, die Matthews Vorlesungen für oberflächlich hielten. Zum Glück hatten die guten Ergebnisse von seinen Studenten bei Prüfungen und in Auswahlverfahren bisher zu seinen Gunsten gesprochen.

Eine Gruppe von Studenten hatte seine Vorlesungen sogar gefilmt und auf YouTube online gestellt. Diese Initiative hatte die Neugier eines Journalisten vom Boston Globe geweckt, dessen Artikel auch von der New York Times übernommen wurde. Danach hatte man Shapiro aufgefordert, eine Art „Antibuch“ der Philosophie zu schreiben. Obgleich sich der Titel gut verkaufte, war dem jungen Professor die beginnende Popularität nicht zu Kopf gestiegen, er war weiterhin für seine Studenten da und sorgte sich um ihren Erfolg. Die schöne Geschichte hatte jedoch eine tragische Wendung genommen. Im letzten Winter hatte Matthew Shapiro seine Frau bei einem Autounfall verloren. Ein plötzlicher, unerwarteter Tod, der ihn hilflos zurückgelassen hatte. Er hielt weiter seine Vorlesungen, aber der faszinierende und begeisterte Lehrer hatte den Enthusiasmus verloren, der ihn zuvor ausgezeichnet hatte.

Erika kniff die Augen zusammen, um ihren Professor genauer zu mustern. Seit dem Drama war in Matthew etwas zerbrochen. Seine Züge waren härter geworden, sein Blick hatte das Feuer verloren; Trauer und Kummer verliehen ihm jedoch eine düstere und melancholische Ausstrahlung, die ihn für die junge Frau noch unwiderstehlicher machte.

Die Studentin senkte den Blick und ließ sich von der sonoren Stimme tragen, die den Hörsaal erfüllte. Eine Stimme, die etwas von ihrem Charisma verloren hatte, aber immer noch angenehm war. Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster, heizten den großen Raum auf und blendeten die Studenten in den mittleren Reihen. Erika fühlte sich wohl, umfangen von diesem beruhigenden Tonfall. Doch dieser wunderbare Augenblick hielt nicht an. Sie zuckte zusammen, als die Glocke das Ende der Vorlesung ankündigte. Ohne Eile packte sie ihre Sachen ein und wartete, bis der Hörsaal sich geleert hatte, um sich Shapiro schüchtern zu nähern.

„Was tun Sie denn hier, Erika?“, fragte Matthew erstaunt, als er sie bemerkte. „Sie haben diesen Schein doch bereits letztes Jahr gemacht. Sie müssen die Vorlesung nicht mehr belegen.“

„Ich bin wegen des Satzes von Helen Rowland hier, den Sie so oft zitieren.“

Matthew runzelte verständnislos die Stirn.

„Die Dummheiten, die ein Mensch in seinem Leben am meisten bereut, sind jene, die er nicht begangen hat, als er die Möglichkeit dazu hatte.“

Dann nahm sie allen Mut zusammen und erklärte: „Um in diesem Sinne nichts bereuen zu müssen, möchte ich eine Dummheit begehen. Also, ich habe nächsten Samstag Geburtstag und würde gerne ... ich würde Sie gerne zum Essen einladen.“

Matthew sah sie überrascht an und versuchte sofort, seine Studentin zur Vernunft zu bringen:

„Erika, Sie sind doch eine intelligente junge Frau. Also wissen Sie sehr wohl, dass es tausend Gründe gibt, warum ich Ihre Einladung ablehnen werde.“

„Aber Sie hätten Lust dazu, nicht wahr?“

„Lassen wir das, bitte“, unterbrach er sie.

Erika spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg. Sie stammelte noch einige Worte der Entschuldigung, bevor sie den Hörsaal verließ.

Matthew zog seufzend seinen Mantel an, band sich seinen Schal um und ging hinaus auf den Campus.



Mit seinen ausgedehnten Rasenflächen, den imposanten braunen Backsteingebäuden und den lateinischen Sinnsprüchen auf den Giebeln strahlte Harvard den Stil und die Zeitlosigkeit eines britischen College aus.

Sobald Matthew draußen war, drehte er sich eine Zigarette, zündete sie an und verließ dann rasch die Sever Hall. Die Ledertasche umgehängt, überquerte er den Yard, den großen, von Rasen bedeckten Innenhof, der von einem Gewirr an Wegen durchzogen war, die über mehrere Kilometer weit zu den Vorlesungssälen, Bibliotheken und Unterkünften führten.

Der Park lag in einem schönen herbstlichen Licht. Die Temperaturen waren für die Jahreszeit ausgesprochen mild, und der Sonnenschein schenkte den Bewohnern Neuenglands einen angenehmen, späten Altweibersommer.

„Mister Shapiro! Achtung!“

Matthew drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Ein American Football sauste auf ihn zu. Er konnte ihn gerade noch auffangen und spielte ihn sofort zurück zum Quarterback, von dem er gekommen war.

Die Studenten besetzten, ihre geöffneten Laptops auf den Knien, alle Bänke im Hof. Auf dem Rasen ertönte immer wieder Gelächter, und es waren hitzige Debatten im Gang. Hier vermischten sich die Nationalitäten harmonischer als andernorts, und die kulturelle Vielfalt wurde als Bereicherung empfunden. Bordeauxrot und Grau, die Kultfarben der berühmten Universität, wurden voller Stolz auf Blousons, Sweatshirts und Sporttaschen zur Schau gestellt: In Harvard ließ das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft alle Unterschiede verblassen.

Matthew zog an seiner Zigarette, während er an der monumentalen Massachusetts Hall, im georgianischen Stil erbaut, vorbeiging, in der sich sowohl die Büroräume der Direktion als auch die Unterkünfte der Studenten des ersten Studienjahrs befanden. Oben auf den Stufen stand Miss Moore, die Assistentin des Rektors, die ihm einen wütenden Blick zuwarf, gefolgt von einer Abmahnung („Mister Shapiro, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass es verboten ist, auf dem Campusgelände zu rauchen ...“) und einer wortreichen Moralpredigt über die schädlichen Wirkungen des Tabaks.

Mit starrem Blick und undurchdringlicher Miene ignorierte Matthew sie ganz einfach. Einen kurzen Moment war er versucht, ihr zu antworten, dass sterben zu müssen nun wirklich seine geringste Sorge sei, aber er besann sich eines Besseren und verließ das Universitätsgelände durch das riesige Tor, das auf den Harvard Square führte.


Der Square, auf dem es zuging wie in einem Bienenstock, war ein großer Platz, gesäumt von Geschäften, Buchhandlungen, kleinen Restaurants und Terrassencafés, in denen Studenten und Professoren die Welt neu erfanden oder ihre Vorlesungen weiterführten. Matthew suchte in seiner Tasche und zog sein U-Bahn-Ticket heraus. Er hatte soeben den Fußgängerüberweg zur Station der Red Line betreten, die in einer knappen Viertelstunde das Zentrum von Boston erreichte, als ein alter, blubbernder Chevrolet Camaro an der Ecke Massachusetts Avenue und Peabody Street auftauchte. Der junge Professor zuckte zusammen und wich zurück, um nicht von dem knallroten Coupé angefahren zu werden, das mit quietschenden Reifen vor ihm anhielt.

Das Fenster an der Fahrerseite wurde geöffnet, und zum Vorschein kam die rote Haarpracht von April Ferguson, die seit dem Tod seiner Frau mit in seinem Haus wohnte.

„Hallo, schöner Mann, soll ich dich mitnehmen?“

Das Dröhnen des V8-Motors fiel in dieser Ökoenklave aus dem Rahmen, wo man ganz auf das Fahrrad und Hybridfahrzeuge eingeschworen war.

„Ich nehme lieber die öffentlichen Verkehrsmittel“, lehnte Matthew ab. „Bei dir hat man das Gefühl, in einem Fahrsimulator zu sitzen!“

„Na komm schon, sei kein Angsthase. Ich fahre sehr gut, und das weißt du genau!“

„Vergiss es. Meine Tochter hat bereits ihre Mutter verloren. Ich möchte es ihr ersparen, mit viereinhalb Jahren Vollwaise zu werden.“

„Schon gut! Nun übertreib mal nicht! Komm, Hasenfuß, beeil dich! Ich halte den ganzen Verkehr auf!“

Von dem Hupen gedrängt, ergab sich Matthew seufzend in sein Schicksal und stieg in den Chevrolet.

Kaum hatte er den Sicherheitsgurt angelegt, als der Camaro, unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln, auch schon eine gefährliche Kehrtwende machte, um gen Norden zu brausen.

„Boston liegt aber in der anderen Richtung!“, protestierte Matthew und klammerte sich am Haltegriff fest.

„Ich mache nur einen kleinen Umweg über Belmont. Gerade mal zehn Minuten. Und keine Sorge wegen Emily. Ich habe ihren Babysitter gebeten, eine Stunde länger zu bleiben.“

„Ohne mit mir darüber zu sprechen? Also ehrlich, ich ...“

Die junge Frau drückte das Gaspedal durch und beschleunigte so plötzlich, dass es Matthew die Sprache verschlug. Nachdem sie einen Lastwagen überholt hatte, wandte sie sich ihm zu und reichte ihm eine große Mappe.

„Stell dir vor, ich habe vielleicht einen Kunden für den Farbholzschnitt von Utamaro“, sagte April.

April Ferguson leitete eine Galerie im South End, die auf erotische Kunst spezialisiert war. Sie hatte ein echtes Talent, unbekannte Künstler aufzuspüren und deren Arbeiten zu verkaufen, wobei sie hübsche Gewinne einstrich.

Matthew öffnete den Verschluss der Mappe und schlug die Seidenhülle zurück, die einen japanischen Farbholzschnitt schützte. Es war eine Shunga, ein erotischer Holzschnitt, aus dem späten achtzehnten Jahrhundert, auf der eine Kurtisane mit einem Kunden zu sehen war, die sich einem ebenso sinnlichen wie akrobatischen Liebesakt hingaben. Die Unverblümtheit der Szene wurde durch die anmutige Linienführung und den Motivreichtum der Kleidung gemildert. Das Gesicht der Geisha war von faszinierender Feinheit und Eleganz. Kein Wunder, dass solche Werke später sowohl Klimt als auch Picasso beeinflusst hatten.

„Bist du sicher, dass du dich davon trennen willst?“

„Ich habe ein Angebot bekommen, das man einfach nicht ablehnen kann“, antwortete April und imitierte dabei Marlon Brandos Stimme aus dem Film Der Pate.

„Von wem?“

„Von einem bedeutenden asiatischen Sammler, der zu Besuch bei seiner Tochter in Boston weilt. Er ist offenbar zum Kauf bereit, bleibt aber nur einen Tag in der Stadt. Eine solche Gelegenheit wird sich so bald nicht wieder bieten ...“

Der Chevrolet hatte das Universitätsviertel verlassen. Sie fuhren nun einige Kilometer auf einer Schnellstraße am Fresh Pond – dem größten See von Cambridge – entlang, bevor sie Belmont erreichten, eine kleine Stadt westlich von Boston. April gab eine Adresse in ihr Navi ein und ließ sich zu einem schicken Wohnviertel leiten, in dem eine von Bäumen umgebene Schule direkt neben einem Park und mehreren Sportplätzen stand. Sie sahen sogar einen Eisverkäufer, der direkt aus den 1950er-Jahren zu stammen schien. Obgleich es ausdrücklich verboten war, überholte der Camaro einen Schulbus und parkte in einer ruhigen, von Villen gesäumten Allee.

„Kommst du mit?“, fragte April und griff nach der Kunstmappe.

Matthew schüttelte den Kopf.

„Ich warte lieber im Auto.“

„Ich beeile mich, so gut es geht“, versprach sie, blickte in den Rückspiegel und zupfte sich eine gelockte Haarsträhne à la Veronica Lake über das rechte Auge.

Dann nahm sie einen Lippenstift aus ihrer Tasche und zog sich rasch die Lippen nach, bevor sie ihr Outfit als Femme fatale perfektionierte, indem sie in einen hautengen roten Lederblouson schlüpfte.

„Übertreibst du nicht ein bisschen?“, fragte Matthew ein wenig provozierend.

„Ich bin nicht schlecht, ich bin nur so gezeichnet“, erwiderte sie kokettierend im Tonfall von Jessica Rabbit.

Schließlich öffnete sie die Wagentür und schwang ihre endlos langen Beine, die in Leggings steckten, aus dem Wagen.

Matthew blickte ihr nach und sah sie an der Haustür der größten Villa in der Straße klingeln. Auf der Skala der Sinnlichkeit war April nicht weit von der höchsten Stufe entfernt – perfekte Maße, Wespentaille, Traumbusen –, aber diese Inkarnation männlicher Phantasien liebte ausschließlich Frauen und tat ihre Homosexualität auch offen kund.

Das war übrigens einer der Gründe, warum Matthew sie als Mitbewohnerin akzeptiert hatte, wusste er doch, dass es zwischen ihnen nie die geringste Zweideutigkeit geben würde. Zudem war April witzig, intelligent und schlagfertig. Sicher, sie hatte einen problematischen Charakter, ihre Ausdrucksweise war blumig, und sie war zu homerischen Wutausbrüchen fähig, aber sie verstand es wie sonst niemand, seine Tochter wieder zum Lachen zu bringen, und das war für Matthew unbezahlbar.

Er warf einen Blick auf die andere Straßenseite. Eine Mutter und ihre beiden kleinen Kinder dekorierten den Garten. Ihm wurde klar, dass in knapp einer Woche Weihnachten war, und diese Feststellung versetzte ihn in einen Zustand des Kummers und der Panik. Er sah mit Entsetzen den ersten Jahrestag von Kates Tod auf sich zukommen ... diesen verhängnisvollen 24.Dezember 2010, der sein Leben mit Trauer und Schwermut erfüllt hatte.

In den ersten drei Monaten nach dem Unfall hatte der Schmerz ihm keine Atempause gelassen und jede Sekunde vergiftet – eine offene Wunde, der Biss eines Vampirs, der jegliches Leben aus ihm gesaugt hatte. Um diesem Martyrium ein Ende zu bereiten, war er mehrfach versucht gewesen, zu einer radikalen Lösung zu greifen: aus dem Fenster zu springen, sich aufzuhängen, einen Medikamentencocktail zu trinken, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen ... Aber jedes Mal hatte ihn der Gedanke an den Kummer, den er Emily damit zufügen würde, zurückgehalten. Er hatte einfach nicht das Recht, seiner Tochter den Vater zu rauben und ihr Leben zu zerstören.

Die Auflehnung der ersten Wochen war einer langen Phase der Trauer gewichen. Das Leben war erstarrt in Überdruss, eingefroren in einer anhaltenden Verzweiflung. Matthew befand sich nicht mehr im Kriegszustand, er war einfach am Boden zerstört, von der Trauer erdrückt, dem Leben gegenüber verschlossen. Der Verlust war und blieb inakzeptabel. Es gab keine Zukunft mehr.

Auf Aprils Rat hin hatte er sich jedoch überwunden und bei einer Selbsthilfegruppe angemeldet. Er hatte an einer Sitzung teilgenommen und versucht, seinen Schmerz in Worte zu fassen, ihn mit anderen zu teilen, war dann aber nie wieder hingegangen. Um falschem Mitgefühl, abgedroschenen Phrasen oder dümmlichen Lebensweisheiten zu entgehen, hatte er sich isoliert, sich monatelang willenlos treiben lassen und war ohne jeden Plan wie ein Gespenst durch sein Leben geirrt.

Seit einigen Wochen jedoch kam es ihm so vor, als würde der Schmerz langsam nachlassen, auch wenn er nicht hätte sagen können, dass er sich wieder „lebendig“ fühlte. Das Aufwachen war und blieb schwierig, aber sobald er in Harvard eintraf, konzentrierte er sich, hielt seine Vorlesungen und nahm mit seinen Kollegen an den Konferenzen teil, wenn auch mit weniger Elan als früher.

Es war nicht so, dass er schon wieder auf die Beine gekommen wäre, vielmehr akzeptierte er nach und nach seinen Zustand und half sich selbst mit bestimmten Leitsätzen aus seinem Lehrstoff. Zwischen dem stoischen Fatalismus und der buddhistischen Wandelbarkeit nahm er das Leben nun als das an, was es war: Etwas äußerst Prekäres und Labiles, ein Prozess in ständiger Entwicklung. Nichts war unveränderlich, schon gar nicht das Glück. Es war zerbrechlich wie Glas und durfte nicht als gesichert betrachtet werden, da es doch nur einen Augenblick dauern konnte.

Durch Kleinigkeiten gewann er wieder Freude am Leben: einen Spaziergang in der Sonne mit Emily, ein Football-Match mit seinen Studenten, einen besonders gelungenen Scherz von April. Tröstliche Anzeichen, die ihm behilflich waren, die Trauer auf Distanz zu halten und einen Damm zu errichten, hinter dem er seinen Kummer verbergen konnte.

Doch diese Erholung stand auf tönernen Füßen. Der Schmerz lag auf der Lauer, jederzeit bereit, Matthew zu überwältigen. Eine Kleinigkeit genügte, um sich zu entfesseln und grausame Erinnerungen in Matthew zu wecken: Eine Frau, der er zufällig auf der Straße begegnete und die Kates Parfum oder den gleichen Regenmantel trug; ein Lied, das er im Radio hörte und das ihn an glückliche Zeiten erinnerte; ein Foto, das er in einem Buch fand ...

Die letzten Tage waren beschwerlich gewesen, hatten einen Rückfall angekündigt. Der nahende Todestag von Kate, die Dekorationen und der Trubel bei den Vorbereitungen für Weihnachten und Silvester, all das erinnerte ihn an seine Frau.

Seit einer Woche schreckte er jede Nacht mit heftigem Herzklopfen aus dem Schlaf hoch, war in Schweiß gebadet und wurde immer wieder von derselben Erinnerung heimgesucht: den albtraumhaften Bildern von den letzten Lebensmomenten seiner Frau. Matthew war bereits vor Ort, als Kate ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wo ihre Kollegen – sie war Ärztin – sie nicht hatten retten können. Er hatte zugesehen, wie ihm der Tod brutal die Frau entriss, die er liebte. Ihnen waren nur fünf Jahre des perfekten Glücks beschieden gewesen. Fünf Jahre innigsten Einvernehmens, kaum die Zeit, den Weg für eine Geschichte zu bereiten, die sie nicht leben durften. Eine Begegnung, wie man sie nur ein Mal im Leben hat, das glaubte er, sicher zu wissen. Und dieser Gedanke war ihm unerträglich.

Matthew bemerkte, dass er dabei war, den Ehering zu drehen, den er noch immer am Ringfinger trug. Er hatte zu schwitzen begonnen, und sein Herz klopfte heftig. Er ließ das Fenster des Camaro herunter, suchte in seiner Jeanstasche nach seinem angstlösenden Medikament und schob eine der Tabletten unter seine Zunge. Diese Pillen verschafften ihm einen künstlichen Trost, der seiner Unruhe innerhalb von Minuten ein Ende bereitete. Er schloss die Augen, massierte sich die Schläfen und atmete tief durch. Um sich gänzlich zu beruhigen, musste er rauchen. Er stieg aus, verriegelte die Tür und entfernte sich einige Schritte auf dem Bürgersteig, bevor er sich eine Zigarette anzündete und einen tiefen Zug nahm.

Sein Herzschlag normalisierte sich, und er fühlte sich sofort besser. Mit geschlossenen Augen, das Gesicht der herbstlichen Brise zugewandt, genoss er die Zigarette. Das Sonnenlicht fiel zwischen den Zweigen hindurch. Die Luft war fast schon verdächtig mild. Einige Augenblicke verharrte er reglos, bevor er die Augen wieder öffnete. Am Ende der Straße vor einer der Villen hatte sich eine Menschenansammlung gebildet. Neugierig näherte er sich dem charakteristischen neuenglischen, mit Holz verkleideten Haus. Auf dem Rasen davor wurde eine Art Trödelmarkt abgehalten – typisch für dieses Land, wo die Menschen mindestens fünfzehn Mal im Leben umzogen.

Matthew mischte sich unter die zahlreichen Neugierigen, die auf über hundert Quadratmetern in den angebotenen Sachen stöberten. Den Verkauf leitete ein Mann seines Alters mit Glatze und kleiner eckiger Brille, verdrießlichem Gesichtsausdruck und unstetem Blick. Er war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und hatte die nüchterne Strenge eines Quäkers. Neben ihm nagte ein Shar-Pei an einem Hundeknochen aus Latex.

Jetzt nach Schulschluss und bei dem milden Wetter hatten sich viele Menschen eingefunden, die nach Schnäppchen Ausschau hielten. Die Stände quollen über von bunt zusammengewürfelten Gegenständen: Holzruder, Baseballschläger und -handschuhe, eine Golftasche, eine alte Gibson-Gitarre. An einen Zaun gelehnt standen ein BMX-Rad, das unvermeidliche Weihnachtsgeschenk der frühen 1980er-Jahre, ein Stück weiter Inlineskates und ein Skateboard. Einige Minuten lang spazierte Matthew zwischen den Ständen umher, wobei er Spielsachen entdeckte, die ihn an seine eigene Kindheit erinnerten: ein Jo-Jo aus hellem Holz, ein Zauberwürfel, Spiele wie Memory, Mastermind, Frisbee, E.T., der Außerirdische, als Riesen-Plüschtier, eine Figur aus Der Krieg der Sterne ... Die Preise waren niedrig; der Verkäufer wollte offensichtlich möglichst schnell möglichst viel loswerden.

Matthew war drauf und dran, das Gelände des Flohmarkts zu verlassen, als er einen Computer entdeckte. Es war ein Laptop, ein MacBook Pro mit Fünfzehn-Zoll-Bildschirm. Nicht das neueste Modell, aber eines aus der letzten oder vorletzten Serie. Matthew ging zu dem Gerät und prüfte es von allen Seiten. Das Aluminiumgehäuse war durch einen Vinylaufkleber außen auf dem Deckel personalisiert. Der Sticker zeigte eine Figur à la Tim Burton: Eine stilisierte Eva, sehr sexy, die zwischen ihren Händen das Apfel-Logo der bekannten Computerfirma zu halten schien. Unterhalb der Illustration war die Signatur „Emma L.“ zu lesen, ohne dass man wirklich wusste, ob es sich um die Künstlerin handelte, die diese Figur gezeichnet hatte, oder um die frühere Eigentümerin des Laptops.

Warum nicht?, dachte er, während er das Etikett betrachtete. Sein altes Powerbook hatte Ende des Sommers den Geist aufgegeben. Zwar hatte er einen PC zu Hause, aber er benötigte wieder einen Laptop. Seit drei Monaten verschob er diese Ausgabe ständig auf später.

Das Gerät wurde für vierhundert Dollar angeboten. Ein Betrag, der ihm angemessen erschien. Das traf sich gut, denn er schwamm derzeit nicht gerade im Geld. Sein Professorengehalt in Harvard war zwar nicht schlecht, aber nach Kates Tod hatte er um jeden Preis ihr gemeinsames Haus in Beacon Hill halten wollen, obwohl er dafür eigentlich nicht mehr die nötigen Mittel besaß. Also hatte er sich entschlossen, eine Mieterin ins Haus zu nehmen, doch auch mit dem, was April ihm zahlte, verschlangen die Raten drei Viertel seines Einkommens und ließen ihm wenig Spielraum. Er hatte sogar sein Motorrad verkaufen müssen, ein Liebhaberstück, eine Triumph von 1957, die sein ganzer Stolz gewesen war.

Er ging zu dem Verkäufer und deutete auf den Mac.

„Der Computer funktioniert doch, oder?“

„Nein, der ist nur Deko ... natürlich funktioniert er, sonst würde ich ihn nicht zu diesem Preis anbieten! Es ist der ehemalige Laptop meiner Schwester, ich habe die Festplatte selbst formatiert und das Betriebssystem neu installiert. Der ist wie neu.“

„Einverstanden, ich nehme ihn“, erklärte Matthew nach kurzem Zögern.

Er kramte in seinem Geldbeutel. Er hatte nur dreihundertzehn Dollar dabei. Verlegen versuchte er zu handeln, aber der Mann lehnte sehr entschlossen ab. Verärgert zuckte Matthew die Schultern. Er wollte gerade gehen, als er Aprils fröhliche Stimme hinter sich hörte.

„Lass mich ihn dir schenken!“, sagte sie und bedeutete dem Verkäufer, zu warten.

„Das kommt gar nicht infrage!“

„Zur Feier des Verkaufs meines japanischen Farbholzschnitts!“

„Hast du den erhofften Preis dafür bekommen?“

„Ja, aber nicht ohne Mühe. Der Typ dachte, für diesen Preis hätte er zusätzlich noch Anrecht auf einige Kamasutra-Übungen!“

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

„Woody Allen?“

„Nein, Blaise Pascal.“

Der Verkäufer reichte ihm den Laptop, den er in den Originalkarton gepackt hatte. Matthew dankte ihm mit einem Kopfnicken, während April bezahlte. Dann beeilten sie sich, wieder zum Auto zu kommen.

Matthew bestand darauf, zu fahren. Als sie Boston erreichten, konnte er, während sie im Stau standen, noch nicht ahnen, dass der Kauf, den er soeben getätigt hatte, sein Leben für immer verändern würde.



Kapitel 2


Miss Lovenstein


Ich werde nie von Hunden gebissen, nur von Menschen.

Marilyn Monroe




Bar des Restaurants Imperator

Rockefeller Center, New York

18:45 Uhr


Die Bar des Restaurants Imperator oben im Rockefeller Center beherrschte die Stadt und bot einen Panoramablick über Manhattan. Ihre Einrichtung war das Ergebnis einer geschickten Mischung aus Tradition und neuem Design. Bei der Renovierung des Lokals hatte man darauf geachtet, die Holzvertäfelungen, Art-déco-Tische und Lederclubsessel beizubehalten. Dieses Interieur verlieh dem Ort die behagliche Atmosphäre eines alten englischen Clubs, verbunden mit modernen Elementen wie etwa der langen, gut beleuchteten Theke aus Mattglas, die quer durch den Raum verlief.

Die zierliche Gestalt schlängelte sich leichtfüßig zwischen den Tischen hindurch, servierte Weine, lud zur Verkostung ein und erklärte mit pädagogischem Talent Herkunft und Geschichte der verschiedenen edlen Tropfen. Die junge Sommelière Emma Lovenstein verstand es trefflich, andere mit ihrer Begeisterung anzustecken. Ihre graziösen Handbewegungen, die Präzision ihrer Gesten, ihr offenes Lächeln – alles an ihrer äußeren Erscheinung spiegelte ihre Leidenschaft und den Wunsch wider, diese mit anderen zu teilen.

Eine Gruppe von Kellnern brachte das vorletzte Gericht.

„Crostini mit Schweinefuß-Rillettes überbacken mit Parmesan“, verkündete Emma, während sich beifälliges Gemurmel erhob, sobald die Gäste ihren Teller vor sich stehen hatten.

Sie goss jedem ein Glas Rotwein ein, hielt das Etikett der Flasche dabei verdeckt, beantwortete Fragen der Gäste und gab ihnen Hinweise, um ihnen beim Erkennen des Weins zu helfen.

„Es ist ein Morgon, Côte du Py, Cru du Beaujolais“, verriet sie schließlich. „Ein Wein mit langem Abgang, aromatisch, rassig, nervös mit einer samtigen Note und mit Erdbeer-Sauerkirscharomen. Er bildet einen wunderbaren Gegensatz zum rustikalen Charakter der Schweinefüße.“

Es war ihre Idee gewesen, wöchentlich diese Weinproben zu veranstalten, die dank entsprechender Mundpropaganda immer beliebter wurden. Das Konzept war einfach: Emma bot vier Weine zur Verkostung an, begleitet von vier Gerichten, die der Chefkoch des Feinschmeckerrestaurants, Jonathan Lempereur, dazu erdachte. Jede Degustation dauerte eine Stunde, war um ein spezielles Thema arrangiert, eine Rebsorte oder ein Herkunftsgebiet, und bot Gelegenheit zu einer spielerischen Einführung in die Weinkunde.

Emma trat hinter die Theke und gab den Kellnern ein Zeichen, das letzte Gericht zu servieren. Sie nutzte diese kurze Pause, um unauffällig einen Blick auf ihr Handy zu werfen, das blinkte. Als sie die SMS gelesen hatte, empfand sie einen Moment lang Panik.


Ich bin diese Woche auf der Durchreise in New York.

Essen wir heute Abend zusammen?

Du fehlst mir.

François


„Emma?“

Die Stimme ihres Assistenten riss sie aus der Betrachtung ihres Displays. Sie fasste sich sofort wieder und verkündete den Gästen im Speisesaal:

„Zum Abschluss dieser Verkostung bieten wir Ihnen eine Ananas in Magnolienblättern an Marshmallow-Eis, karamellisiert im Holzfeuer.“

Sie öffnete zwei neue Weinflaschen und schenkte den Gästen ein. Nach dem kleinen Ratespiel sagte sie schließlich:

„Ein italienischer Wein aus dem Piemont, ein Moscato d’Asti. Eine schmeichelnde Rebsorte, aromatisch und luftig, leicht prickelnd und süß. In der Nase überzeugt er mit Rose, die feinen Perlen unterstreichen elegant die Frische der Ananas.“

Der Abend endete mit den Fragen der Gäste. Einige davon betrafen Emmas berufliche Laufbahn. Sie beantwortete sie gerne, ohne sich etwas von ihrer Unruhe anmerken zu lassen.

Sie stammte aus einer einfachen Familie in West Virginia. Als sie vierzehn Jahre alt war, hatte ihr Vater, ein Fernfahrer, seine Familie im Sommer zu einem Besuch der Weinberge Kaliforniens mitgenommen. Für den Teenager war das eine wahre Entdeckung, die in ihr das Interesse und die Leidenschaft für Wein geweckt und sich als spätere Berufung entpuppt hatte.

Sie hatte die Hotelfachschule in Charleston besucht, die eine solide Ausbildung in Önologie anbot. Mit dem Diplom in der Tasche hatte sie ohne Bedauern ihr Provinznest verlassen. Auf nach New York! Anfangs arbeitete sie als Kellnerin in einem beliebten Restaurant in West Village. Bis zu sechzehn Stunden am Tag servierte sie, beriet bei der Weinauswahl und kümmerte sich um die Bar. Eines Tages hatte sie einen merkwürdigen Gast entdeckt. Es war jemand, dessen Gesicht sie sofort erkannt hatte: ihr Idol, Jonathan Lempereur, den die Restaurantkritiker als den „Mozart der Gastronomie“ bezeichneten. Der Sternekoch leitete ein hervorragendes Restaurant in Manhattan: das berühmte Imperator, das so mancher für die „beste Tafel der Welt“ hielt. Das Imperator war wirklich absolute Spitzenklasse und empfing Jahr für Jahr Tausende von Gästen aus aller Welt. Oft musste man über ein Jahr im Voraus reservieren. An diesem Tag aß Lempereur hier zusammen mit seiner Frau. Inkognito. Er besaß damals bereits Restaurants in verschiedenen Ländern und war unglaublich jung, um an der Spitze eines solchen Unternehmens zu stehen!

Emma hatte allen Mut zusammengenommen und es gewagt, ihr „Idol“ anzusprechen. Jonathan hatte ihr interessiert zugehört, und sehr schnell hatte sich das Essen in ein Vorstellungsgespräch verwandelt. Der Erfolg war Lempereur nicht zu Kopf gestiegen. Er war anspruchsvoll, aber bescheiden, stets auf der Suche nach neuen Talenten. Beim Bezahlen der Rechnung hatte er ihr seine Karte gereicht und gesagt:

„Sie fangen morgen an.“

Am nächsten Tag hatte sie einen Vertrag als Zweite Chef-Sommelière im Imperator unterschrieben. Drei Jahre lang hatte sie sich mit Jonathan wunderbar verstanden. Lempereur war von überschäumender Kreativität, und die Suche nach Harmonie zwischen den Speisen und dem Wein fand in seiner Küche viel Raum. Beruflich hatte sich ihr Traum erfüllt. Letztes Jahr hatte der französische Starkoch nach der Trennung von seiner Frau die Schürze an den Nagel gehängt. Das Restaurant war übernommen worden, doch obwohl Jonathan Lempereur nicht mehr am Herd stand, war sein Geist hier noch immer präsent, und die Gerichte, die er erfunden hatte, standen weiterhin auf der Speisekarte.

„Ich danke Ihnen für Ihr Kommen und hoffe, dass Sie einen angenehmen Abend verbracht haben“, sagte sie, um die Veranstaltung zu beenden.

Emma verabschiedete sich von den Gästen, hielt eine kurze Nachbesprechung mit ihrem Assistenten ab und packte ihre Sachen zusammen, um sich auf den Heimweg zu machen.



Emma nahm den Aufzug und befand sich bald darauf am Fuß des Rockefeller Center. Es war schon lange dunkel. In der Kälte bildete ihr Atem kleine weiße Wolken. Der eisige Wind, der über den Vorplatz fegte, hatte die zahlreichen Schaulustigen nicht entmutigen können, die sich an der Absperrung der Kunsteisbahn drängten, um den riesigen Weihnachtsbaum zu fotografieren. Die Äste des rund dreißig Meter hohen Baums bogen sich unter den elektrischen Lichterketten und dem üppigen Schmuck. Ein eindrucksvolles Schauspiel, das Emma jedoch trübsinnig stimmte. Es mochte ein Klischee sein, aber die Last der Einsamkeit wog während der Festtage am Jahresende noch schwerer. Sie trat an den Bordstein, zog die Mütze tiefer ins Gesicht und den Schal fester um den Hals, während sie prüfend auf die Lichtanzeigen an den Taxidächern blickte und ohne große Hoffnung nach einem freien Wagen Ausschau hielt. Es war leider gerade Stoßzeit, und alle yellow cabs, die an ihr vorbeifuhren, waren bereits mit Fahrgästen besetzt. Resigniert bahnte sie sich einen Weg durch die Menschenmenge und lief eiligen Schrittes zur Ecke Lexington Avenue/53th Street. Sie verschwand in der U-Bahn-Station und nahm die Linie E Richtung downtown. Wie vorherzusehen, war der Wagon überfüllt, und sie musste, eingezwängt zwischen anderen Fahrgästen, stehen.

Trotz der unruhigen Fahrt zog sie ihr Handy heraus und las erneut die SMS.


Ich bin diese Woche auf der Durchreise in New York.

Essen wir heute Abend zusammen?

Du fehlst mir.

François


Leck mich doch, du Mistkerl. Ich stehe nicht zu deiner Verfügung!, schimpfte sie in Gedanken, ohne das Display aus den Augen zu lassen.

François war der Erbe eines großen Weinbergs im Bordelais. Sie hatte ihn vor zwei Jahren auf einer Entdeckungsreise zu französischen Rebsorten kennengelernt. Er hatte ihr nicht verheimlicht, dass er verheiratet und Vater von zwei Kindern war, dennoch war sie auf seine Annäherungsversuche eingegangen. Emma hatte ihre Frankreichreise verlängert, und sie hatten eine traumhafte Woche verbracht, in der sie die Weinstraßen der Region erkundet hatten: die berühmte „Route du Médoc“ auf den Spuren der Grands Crus Classés und der Châteaux, die „Route des Coteaux“ mit ihren romanischen Kirchen und archäologischen Stätten, den Landhäusern und den Abteien des Entre-deux-Mers, das mittelalterliche Dorf Saint-Émilion ... In der Folgezeit hatten sie sich in New York wiedergesehen, wenn François dort beruflich zu tun hatte. Sie hatten sogar eine weitere Urlaubswoche auf Hawaii verbracht. Zwei Jahre einer sporadischen, leidenschaftlichen und zerstörerischen Beziehung. Zwei Jahre des enttäuschten Wartens. Jedes Mal, wenn sie sich wiedersahen, versprach François, er stünde kurz davor, seine Frau zu verlassen. Sie glaubte das natürlich nicht wirklich, aber sie war ihm regelrecht verfallen, also ...

Und dann, eines Tages, als sie über ein Wochenende verreisen wollten, hatte François ihr eine SMS geschickt, um ihr mitzuteilen, dass er seine Frau noch liebe und die Beziehung zu ihr beenden wolle. Bereits mehrmals in ihrem Leben hatte sich Emma gefährlichen Grenzen genähert – Bulimie, Magersucht, Autoaggression –, und die Ankündigung dieses Bruchs öffnete erneut Abgründe in ihr.

Ein unendliches Gefühl von Leere hatte sie vernichtet. Das Dasein hatte ihr plötzlich nichts mehr zu bieten, und das Leben war ihr nur noch als ein großer Schmerz erschienen. Die einzige Lösung, allem zu entfliehen, hatte sie darin gesehen, sich in ihre Badewanne zu legen und die Pulsadern aufzuschneiden. Zwei tiefe Schnitte in jedes Handgelenk. Es war kein Hilferuf gewesen, kein Theater. Diese heftige Lebenskrise war durch die enttäuschte Liebe ausgelöst worden, aber das Übel saß tiefer. Emma wollte ihrem Leben ein Ende bereiten, und es wäre ihr auch gelungen, wenn sich ihr idiotischer Bruder nicht ausgerechnet diesen Moment dafür ausgesucht hätte, bei ihr hereinzuschneien und ihr vorzuwerfen, sie habe in diesem Monat das Altersheim für ihren Vater nicht bezahlt.

Als sie an diese Episode zurückdachte, spürte Emma, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Die U-Bahn erreichte die Station der 42th Street, wo sich ein Busterminal befand. Dort leerte sich der Wagen, und sie fand endlich einen Sitzplatz. Sie hatte sich gerade gesetzt, als ihr Handy vibrierte. François ließ nicht locker.


Ich flehe dich an, Darling, antworte mir.

Gib uns eine neue Chance. Gib mir ein Zeichen.

Ich bitte dich. Du fehlst mir so sehr.

Dein François


Emma schloss die Augen und atmete tief durch. Ihr ehemaliger Liebhaber war ein egoistischer und wankelmütiger Manipulator. Er verstand es, seine Verführungskünste einzusetzen, um sich als großherziger Held darzustellen und sie in seinen Bann zu ziehen. Es gelang ihm, ihre Selbstkontrolle vollständig auszuschalten. Er wusste genau, wie er ihre Schwächen und ihr mangelndes Selbstvertrauen grausam ausnutzen konnte. Er stürzte sich auf ihre Schwachstellen, riss alte Wunden auf. Vor allem beherrschte er die Kunst, die Dinge zu verdrehen und zu seinem Vorteil zu präsentieren, um Emmas Glaubwürdigkeit zu erschüttern.

Um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, ihm zu antworten, schaltete sie ihr Handy aus. Sie hatte zu viel Mühe aufgewandt, sich seinem Einfluss zu entziehen. Und sie wollte ihm auf keinen Fall wieder auf den Leim gehen, nur weil sie sich so kurz vor Weihnachten einsam fühlte.

Denn ihr schlimmster Feind war nicht François. Ihr schlimmster Feind war sie selbst. Sie konnte einfach nicht ohne Leidenschaft leben. Hinter ihrer umgänglichen und lustigen Art lauerten ihre Impulsivität und ihre emotionale Labilität, die, wenn sie die Oberhand gewannen, sie abwechselnd in tiefe Depression und unkontrollierbare Euphorie stürzten.

Sie war auf der Hut vor ihrer schrecklichen Angst, verlassen zu werden, die sie jederzeit ins Straucheln bringen und in die Selbstzerstörung treiben konnte. Ihr Gefühlsleben war voller schmerzlicher Beziehungen. In der Liebe hatte sie Menschen zu viel gegeben, die es nicht verdient hatten. Dreckskerlen wie François. Aber sie hatte etwas in sich, das sie nicht verstand und nicht unter Kontrolle bekam. Eine dunkle Kraft, eine Sucht, die sie Männern in die Arme trieb, die gebunden waren. Sie suchte wahllos nach einer Art von Symbiose, wohl wissend, dass ihr diese Beziehungen im Grunde weder die Sicherheit noch die Stabilität geben würden, die sie sich so sehr wünschte. Und doch machte sie weiter, wenn auch voller Abscheu, wurde zur Komplizin ihrer Untreue, zerstörte Ehen, obgleich dies im Gegensatz zu ihren Wertvorstellungen und ihrem Streben stand.

Die Psychotherapeutin, zu der sie seit ein paar Monaten ging, hatte ihr zum Glück geholfen, Abstand zu gewinnen und vor ihren Emotionen auf der Hut zu sein. Inzwischen wusste sie, dass sie daran arbeiten musste, sich zu schützen und sich von verhängnisvollen Beziehungen fernzuhalten.

Sie erreichte die Endstation: das World Trade Center. Dieses Viertel im Süden der Stadt war bei den Attentaten vollständig zerstört worden. Heute war es noch immer eine Baustelle, aber bald würden wieder mehrere Türme aus Glas und Stahl die Skyline New Yorks beherrschen. Ein Symbol für die Fähigkeit Manhattans, aus den Prüfungen gestärkt hervorzugehen, dachte Emma, während sie die Treppen zur Greenwich Street hinaufstieg.

Ein Beispiel, über das es sich nachzudenken lohnt ...

Schnellen Schrittes ging sie bis zur Kreuzung Harrison Street und betrat den Vorplatz eines Wohnkomplexes, der aus hohen Brownstone-Gebäuden bestand, die Anfang der 1970er-Jahre errichtet worden waren, als TriBeCa noch ein Gewerbegebiet voller Lagerhäuser war. Sie gab den Zutrittscode ein und stieß mit beiden Händen eine schwere Gusseisentür auf.

Lange Zeit hatte der Komplex 50 North Plaza in seinen drei Türmen mit vierzig Etagen Hunderte von Apartments zu moderaten Mietpreisen beherbergt. Heute waren die Preise im Viertel explodiert, und der Komplex würde bald renoviert werden. Inzwischen sah die Eingangshalle ziemlich trist und heruntergekommen aus: Bröckelnder Putz, trübe Beleuchtung, und die Sauberkeit ließ zu wünschen übrig. Emma holte die Post aus ihrem Briefkasten und nahm einen der Aufzüge, um in die vorletzte Etage hinaufzufahren, wo sich ihr Apartment befand.

„Clovis!“

Sie hatte kaum den Fuß über die Schwelle gesetzt, als ihr Hund schon an ihr hochsprang und sie stürmisch begrüßte.

„Lass mich wenigstens die Tür schließen!“, rief sie, während sie das Fell des Shar-Pei streichelte, das sich in festen Falten wellte.

Sie stellte ihre Tasche ab und spielte ein paar Minuten mit dem Hund. Sie mochte seine kräftige Statur, seine kompakte Schnauze, seine offenherzig blickenden Augen, seine freundlich schmollende Miene.

„Wenigstens du wirst mir immer treu bleiben!“

Als wolle sie ihm dafür danken, stellte sie ihm eine große Schüssel mit Trockenfutter hin.

Die Wohnung war klein – knapp vierzig Quadratmeter –, aber sie hatte Charme: helles, rohes Holzparkett, Wände mit Sichtmauerwerk, großes Glasfenster. Die offene Küche war um eine Theke aus schwarzem Sandstein und drei Hocker aus gebürstetem Metall angeordnet. Das „Wohnzimmer“ wurde von vollgestellten Bücherregalen gesäumt. Amerikanische und europäische Romane, Essays über Filme, Bücher über Wein und Gastronomie. Das Haus hatte viele Mängel: alte Leitungen, immer wiederkehrende Wasserschäden, eine von Mäusen heimgesuchte Waschküche, Aufzüge, die ständig defekt waren, eine kaputte Klimaanlage, Mauern, die so dünn waren, dass sie bei Sturm zitterten und über das Intimleben der Nachbarschaft keine Unklarheiten ließen. Die Aussicht war jedoch bezaubernd, reichte über den Fluss und bot einen atemberaubenden Blick auf Lower Manhattan. Hintereinander sah man eine Abfolge erleuchteter Gebäude, die Hudson-Quais und Schiffe, die über den Fluss glitten.

Emma zog Mantel und Schal aus, hängte ihr Kostüm an einem Kleiderständer auf, schlüpfte in eine alte Jeans und ein zu großes T-Shirt der Yankees, bevor sie ins Bad ging, um sich abzuschminken.

Der Spiegel zeigte ihr das Bild einer jungen Frau von dreiunddreißig Jahren mit leicht gewelltem, braunem Haar, hellgrünen Augen und einer schmalen Nase, auf der einige Sommersprossen zu sehen waren. An ihren sehr, sehr guten Tagen konnte man eine Ähnlichkeit mit Kate Beckinsale oder Evangeline Lilly feststellen, aber heute war kein guter Tag. Als letzte Anstrengung, um sich nicht von Traurigkeit überwältigen zu lassen, zog sie ihrem Spiegelbild eine spöttische Grimasse. Sie nahm die Kontaktlinsen heraus, die ihre Augen reizten, setzte ihre Brille gegen die Kurzsichtigkeit auf und ging in die Küche, um sich einen Tee zu kochen.

Brrr, hier kann man sich echt einen abfrieren, dachte sie fröstelnd, hüllte sich in eine Wolldecke und drehte die Heizung höher. Bis das Wasser kochte, setzte sie sich auf einen der Barhocker und öffnete ihren Laptop, der auf der Theke stand.

Sie kam um vor Hunger. Sie ging auf die Website eines japanischen Restaurants mit Heimservice und bestellte sich eine Miso-Suppe sowie eine gemischte Platte mit Sushi, Maki und Sashimi.

Sie erhielt eine Bestätigungsmail, überprüfte ihre Bestellung und den Lieferzeitpunkt und nutzte die Gelegenheit, ihre anderen Mails zu lesen, wobei sie befürchtete, Post von ihrem ehemaligen Liebhaber vorzufinden.

Zum Glück war nichts von François dabei.

Aber eine andere, rätselhafte Mail war da, geschrieben von einem gewissen Matthew Shapiro.

Ein Mann, von dem sie noch nie zuvor gehört hatte.

Und der ihr Leben auf den Kopf stellen sollte ...

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