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Totenfänger

Totenfänger

Marc Lepson
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Thriller

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Totenfänger — Inhalt

Ein Groupie wurde während eines Rockkonzerts ermordet – und Jack Temple wird das Gefühl nicht los, dass der Fall mit dem Verschwinden seiner Tochter in Verbindung stehen könnte. Der psychisch labile Kriminalreporter der Seattle Sun verbeißt sich krampfhaft in die Vorstellung, sein Kind eines Tages wiederzusehen, und beginnt allen polizeilichen Untersuchungen zum Trotz, selbst zu ermitteln. Doch je näher er der Lösung des Verbrechens kommt, desto mehr Menschen um ihn herum werden getötet. Die Taten tragen eine ungewöhnliche Handschrift – und das wichtigste Puzzlestück hat Temple bisher übersehen ...

Marc Lespsons Debütroman steht für perfekte Cliffhanger, temporeiche Schnitte und unablässig zunehmenden Thrill. „Totenfänger“ ist so nervenzerreißend spannend wie David Finchers Blockbuster „Sieben“.

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 13.01.2020
Übersetzt von: Christiane Winkler
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99495-8
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Leseprobe zu „Totenfänger“

Prolog

Nur an ihrem rauen Hals merkt sie, dass sie schreit. Ihr Herz hämmert wie wild, die Menge drängelt so heftig, dass sie kaum Luft bekommt, sie fährt mit den Fingern durch das schweißnasse Haar, die Hitze staut sich unter ihrer Jeansjacke; dann wühlt sie sich weiter in die Menschenmenge hinein, alle lechzen nach mehr. Ein Scheinwerfer geht wieder an, die Menge tobt, sie will mehr, Lichtkegel fahren über die verschmutzten Fenster, es wirkt wie ein Feuerwerk. Sie sucht in der Menge nach Lupe. Als das Licht ausgegangen war, war ihr ihre Hand [...]

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Prolog

Nur an ihrem rauen Hals merkt sie, dass sie schreit. Ihr Herz hämmert wie wild, die Menge drängelt so heftig, dass sie kaum Luft bekommt, sie fährt mit den Fingern durch das schweißnasse Haar, die Hitze staut sich unter ihrer Jeansjacke; dann wühlt sie sich weiter in die Menschenmenge hinein, alle lechzen nach mehr. Ein Scheinwerfer geht wieder an, die Menge tobt, sie will mehr, Lichtkegel fahren über die verschmutzten Fenster, es wirkt wie ein Feuerwerk. Sie sucht in der Menge nach Lupe. Als das Licht ausgegangen war, war ihr ihre Hand entglitten. Alle hatten ihre Handys herausgeholt, um den Augenblick einzufangen, und sie hatte ihres hochgehalten, um die Menge zu knipsen.

Der Kampf hatte sich gelohnt. Sie hatte ihre Mutter zum Teufel gewünscht, war durch die Hintertür entwischt und im Regen bis zur Fremont Abbey geradelt. Vielleicht würde sie danach ja nie mehr nach Hause zurückkehren und die grauen Tage hinter sich lassen. Vielleicht ging sie auch nur kurz nach Hause, um ihre Geige zu holen. Danach würde sie sich wie neugeboren fühlen. Er streckt die Arme in die Menge hinunter, die Ringe an seinen Fingern glitzern im Scheinwerferlicht, auf seiner Haut glänzt der Schweiß. Er streicht einem Mädchen in der ersten Reihe über die Wange, es greift nach seiner Hand und küsst sie. Die Menge hinter ihr drängt nach vorn. Sie spürt eine starke Hand im Rücken, wendet sich um, versucht zu entkommen und sich der Bühne zu nähern, schwelgt in seiner Wärme und spürt das vertraute Gefühl in sich aufsteigen. Nun steht sie im dichten Gewühl ganz vorn. Von allen Seiten drängen sich die Körper um sie. Ein Mädchen mit glattem schwarzem Haar, das nicht Lupe ist, lehnt sich mit geschlossenen Augen an sie und wiegt sich im Takt. Der Schweiß des Mädchens hinterlässt einen feuchten Fleck, ein prickelndes Gefühl durchfährt sie. Neben ihr steht ein Mann in schwarzem T-Shirt, er riecht süßlich, sie sieht zu ihm auf, in sein Gesicht, er ist älter. Sie lächelt, sie wiegen die Köpfe zum Rhythmus der Musik, sein Blick wirkt entrückt, hingebungsvoll, vertraut. In ihrer Tasche liegt etwas Schweres, Glattes. Sie spürt einen stechenden Schmerz, auch der ist ihr vertraut; wie ein alter Freund. Dann überkommt sie ein warmes Gefühl, es wärmt den ganzen Körper, sie schwankt, das Licht scheint gedämpfter, sie geht wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt wurden, zu Boden. Jetzt ist er weg. Die Menge skandiert, verlangt nach mehr, schwappt wie ein Ozean über sie hinweg und zieht sie in sanften Wellen zu Boden. Und Mercers Stimme singt nur für sie allein.

Singt sie zurück in die tiefschwarze Nacht.

 

1 – Jack Temple öffnete …

Jack Temple öffnete die Augen. Sein Körper zuckte und tauchte beim Klingelton des Aufzugs wieder aus der inneren Dämmerung auf. Sein Gesicht war feucht. Er trank den letzten Schluck Kaffee, warf den Becher in den Mülleimer neben der Sicherheitsschleuse. Als sich die silbernen Türen öffneten, trat er ein und sah auf die Uhr. Sein langer Reporterblock lugte aus der Tasche seines Ledermantels hervor. Er hatte keine Tasche dabei; Schlüssel, Brieftasche und Dienstbuch steckten in seiner Jacke. Temple trug nie einen Aktenkoffer oder sonst etwas bei sich, das seine Beweglichkeit eingeschränkt hätte, und immer Schuhe, mit denen er rennen konnte. Für manche war der Reporterberuf ein Schreibtischjob, für Jack war es wie Speed, und zwar in jeder Hinsicht. Er machte süchtig. Er wollte bei einer Story der Erste sein und sichergehen, dass er gut darüber berichtete. Er wollte das erfahren, was andere nicht wussten. Und das zahlte sich aus. Dafür war ihm der George Polk Award verliehen worden. Hohe Auszeichnung. Preis für Enthüllungsjournalismus. Er hob sich jeden Tag von der Masse ab. Hatte die meisten Klicks auf der Website.

Der Aufzug hielt im zweiten Stock, eine Frau stieg ein.

Sie hatte dunkle Augen, trug einen maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug und flache Schuhe. Ihr braunes Haar war kurz, adrett geschnitten und aus der Stirn gekämmt. Eine schlichte Silberkette, an deren Ende sich ein nicht identifizierbarer kleiner Anhänger befand, hing zwischen ihren Brüsten unter der weißen Seidenbluse. Sie lächelte ihm kaum merklich, fast anerkennend zu, wandte sich dann ab und sah geradeaus. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, ging er hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Die Sicherheitsschleuse am Ende des Flurs piepste, er ging unter dem grellen Licht in die Nachrichtenzentrale der Sun, die großen Fenster hinter den Schreibtischen gaben den Blick über Seattle frei. Berge und dunkelgrüne Wälder begrenzten die Stadt, dahinter lugte weißes Sonnenlicht durch die Wolken und fiel auf die Bucht des Puget Sound.

Er warf Dienstbuch und Notizblock auf den Schreibtisch, im Großraumbüro gab es keinerlei Privatsphäre. Der Raum war lang und nach allen Seiten offen, die Tische waren zusammengerückt. Einige Meter weiter tippte Lindsey Mathews ihre Kolumne über ganzheitliche Gesundheit herunter, sie hatte sich eine Zigarette hinters Ohr gesteckt, ihr Schreibtisch war mit Imbissboxen und Papierstapeln übersät. Catherine Liberatore saß neben seinem Platz, sie durchwühlte gerade mit einer Hand seinen Schreibtisch, tippte mit der anderen etwas ein und hielt dabei das Telefon zwischen Schulter und Ohr. Sie trug Jeans, ein weißes Leinenhemd und hatte ihre schwarzen Locken mit einem Stift hochgesteckt. Ihre vollen Lippen waren rot geschminkt, hinter ihrer Brille mit schwarzer Fassung wirkten ihre grünen Augen heller als sonst, an ihrer rechten Hand steckte ein Ring mit einem Amethyst.

Jack setzte sich und zog den großen Aktenschrank neben ihr auf. Sie formte mit den Lippen ein Dankeschön und kramte darin, bis sie den Stapel Notizblöcke fand, zwei herauszog und ihm den Daumen hoch zeigte.

Andy Ciezalgos am Tisch gegenüber sah auf und nickte zur Ecke hinüber, wo der Teamfotograf Walter Ellis saß und auf sein Telefon starrte. Ciezalgos verdrehte die Augen. Ellis wirkte ruppiger als sonst. Er war achtundzwanzig, groß und trug meist schwarze Jeans und ein zerknittertes Flanellhemd. Er hatte beide Ohren gepierct. Etwas an dem jungen Kerl war attraktiv und schmuddelig zugleich. Er sieht aus, als hätte er sich seit Tagen nicht rasiert, und wirkt verkatert, dachte Jack. Vielleicht war er aber auch gleich nach einem One-Night-Stand zur Arbeit gekommen. Der Lärm des Scanners, Finger, die auf Tastaturen hämmerten, klingelnde Telefone, ernste, neugierige, schnelle Stimmen der Reporter erfüllten den Raum mit einem wohligen Geräusch, das Jack inzwischen schätzte. Das würde ein guter Tag werden. Er würde sich beschäftigen, in der Arbeit aufgehen und keinen zweiten Gedanken daran verschwenden, welcher Tag heute war.

Er hatte gerade den Beitrag aufgerufen, an dem er zurzeit arbeitete, als Danny Conlan, Verleger der Sun, aus seinem verglasten Büro trat.

„Temple, gut. Du bist da. Genau der Mann, den ich sehen wollte“, sagte er.

Conlan war groß und schlank, langbeinig und bereits etwas älter, er hatte dichtes weißes Haar und haselnussbraune Augen.

Conlan reichte Jack einen klebrigen gelben Notizzettel, auf dem eine Adresse stand.

„Was ist das?“

„Unser Vorspann, Schätzchen. Was steht im Bericht über die Fremont Abbey Show gestern Abend?“

„Überdosis, Micaela Crawford, sechzehn, kam tot im Cherry Hill an. Vielleicht fünfzehn Spalten, könnte daraus aber eine Serie über Drogenhandel und Drogentote machen.“

„Bist du sicher, dass es eine Überdosis war?“

Jack zuckte die Achseln. „Bisher gibt es keine Autopsie. Aber ja, schon. Also eine Jugendliche bei einem Rockkonzert? Der Rettungsdienst hat von einer Überdosis Heroin und ein paar Kratzern vom Moshpit gesprochen.“ Er betrachtete den klebrigen Zettel. „Was ist das für eine Adresse?“

„Die von Micaela Crawford. Habe gerade mit ihrer Mutter Valerie Crawford telefoniert. Sie behauptet, die Polizei lügt.“

Jack holte Luft. Es war nicht ungewöhnlich, dass Familien von Selbstmördern oder Drogentoten anderswo die Schuld suchten, besonders in den ersten Tagen nach dem Verlust. Das war Jack so vertraut wie sein eigenes Gesicht im Spiegel. Plötzlich fühlte sich der Raum kalt an.

Conlan musterte ihn durchdringend, sein Blick enthielt eine stumme Frage, dann nickte er wie zu sich selbst, als hätte er den richtigen Anruf getätigt. „Okay“, sagte er. „Ich habe ihr gesagt, dass du und Ellis in der kommenden Stunde bei ihr vorbeischaut und mit ihr redet.“

Catherine hatte inzwischen aufgelegt und tippte. Sie blickte weder auf, noch sah sie sich um, sondern sagte nur: „Ich gehe, Danny.“ Dann suchte sie ihre Sachen zusammen.

„Das ist mein Gebiet, Cat“, sagte Jack.

Catherine drehte sich zu ihm und sah ihm in die Augen.

„Bist du sicher, Jack?“, fragte sie.

Er nickte kurz.

„Wenn Valerie Crawford mit jemandem reden sollte, dann mit mir“, erklärte er.

2 – »Zum Glück ist …

„Zum Glück ist es kein Unfall“, sagte Ellis geistesabwesend, wischte mit dem Finger über sein Handy und tippte etwas mit dem Daumen ein. Ellis war die Standleitung der Sun zur nationalen Nachrichtenagentur. Fast jedes Foto, das der Kerl schoss, wurde landesweit aufgenommen. Er war ununterbrochen in eigener Sache unterwegs und postete jeden Augenblick seines Lebens. Für Jack wirkte Ellis sogar noch aufgekratzter als sonst. Seit sie sich ins Auto gesetzt hatten, redete er wie ein Wasserfall. Jack musste so ziemlich alles ausblenden, was er sagte. Nun nahm das Riesenbaby den Deckel von seinem Kameraobjektiv und steckte ihn wieder an, das Klicken machte Jack wahnsinnig.

„Ich hasse es, zu Unfällen zu fahren“, sagte Ellis.

„Geht mir genauso“, stimmte Jack zu.

„Ich hasse es, wenn man da ankommt, das Auto in Flammen steht und noch irgendwer drinnen steckt und ans Fenster hämmert. Das mag zwar super für die Titelseite sein, aber irgendwie hasse ich das echt.“

„Irgendwie“, kommentierte Jack trocken und versuchte krampfhaft, nicht hinzuhören.

„Oder Unfälle mit Sattelschleppern. Die sind einfach nur …“ Seine Stimme verebbte, und er ging die Fotos auf seinem Smartphone durch. Dann beugte er sich vor und hielt Jack das Handy unter die Nase. „Schau, hab ich dir das schon gezeigt?“

Jack stieß Ellis’ Hand weg. „Ich fahre gerade“, sagte er, konnte es sich aber nicht verkneifen, kurz draufzusehen. „Was ist das?“

„Brianna. Sie ist praktisch das kleinste Mädchen, das ich je getroffen habe. Ich will jemanden finden, der klein ist, weißt du, weil …“

Falls Ellis noch irgendetwas sagte – Jack hörte ihm nicht mehr zu. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Geräusch, das der Regen und die Scheibenwischer verursachten, obwohl irgendetwas in ihm heute auf blauen Himmel gehofft hatte, nicht unbedingt auf ein Wunder, einfach nur auf blauen Himmel. Er linste in den Rückspiegel, ärgerte sich, dass er keine Sicht hatte und es weiterregnete. Ein paar Autos hinter ihm scherte ein weißer Lieferwagen auf die rechte Spur aus.

„Was?“, fragte Ellis und drehte sich auch um. „Bullen?“

Jack schüttelte den Kopf.

Sie hielten vor einer Doppelhaushälfte am Fuß des Tukwila Hill. Die Häuser auf den zaunlosen Parzellen waren alle kittfarben gestrichen, die Hecken ordentlich gestutzt, einfache kleine Mittelklassewagen in der Farbe der Häuser standen vor den Einfahrten. Der Garten vor dem Haus der Crawfords wirkte ungepflegt verwildert und wurde durch einen Maschendrahtzaun eingegrenzt, überall wuchsen Gänseblümchen und Sonnenhut.

„Ich kann im Auto warten“, sagte Ellis. „Draußen ein paar Aufnahmen machen, Respekt der Privatsphäre und so.“

Jack starrte ihn an. „Mann, Ellis, sie hat angerufen und uns beide zu sich gebeten.“ Der Gedanke, Ellis Walter könne ängstlich sein oder sogar moralische Bedenken bei einem Auftrag haben, war unvorstellbar. Er arbeitete seit Teenagerzeiten bei der Zeitung und hatte dann ein Praktikum absolviert. Mit zweiundzwanzig begleitete er die Spurensuche der Polizei auf der Suche nach Leichenschauplätzen des Green River Killers und hatte Fotos gemacht, die einen erfahren Kriegsfotografen das Fürchten gelehrt hätten, als er noch nicht einmal richtig erwachsen war. Nie im Leben ging es Ellis um den Respekt der Privatsphäre.

„Du bist im Dienst“, erinnerte ihn Jack.

Sie rannten im Regen zur Treppe. Jack drückte die Klingel, und kurz bevor sich die Tür öffnete, versuchte er nicht mehr daran zu denken, wo er gerade war. Die Frau in der Tür war ungefähr in seinem Alter, trug ausgewaschene Jeans, dazu ein weißes Oberteil mit U-Boot-Ausschnitt und einen braunen Ledergürtel mit großer Silberschnalle. Ihr ovales, kantiges, pferdeähnliches Gesicht wirkte aufgedunsen, ihre Augen waren schmal und zugeschwollen. Sie hatte sich nur flüchtig das Haar gekämmt.

„Jack Temple, Seattle Sun“, sagte er reflexartig. „Dies ist Walter Ellis.“

Sie nickte, dann fiel ihm wieder ihr Name ein.

„Missis Crawford“, sagte er. „Es tut uns leid.“

Ellis zappelte neben ihm und senkte den Kopf.

„Mein Verleger hat mir von Ihrem Anruf heute Morgen erzählt. Ich hoffe, es passt gerade“, sagte Jack.

Die Frau nickte kurz. „Bitte nennen Sie mich Valerie“, sagte sie. Sie trat zur Seite und bedeutete den beiden hereinzukommen.

Jack sah sich um; er befand sich in einer typischen Vorstadtwohnung, in der es nach Raumspray und sauberen Fußböden roch. Es gab einen großen Fernseher und Bücherregale, in denen nur Familienfotos standen. Kopien von Bildern von Andrew Wyeth hingen an den Wänden. Jack hatte gelernt, innerhalb weniger Augenblicke alle Einzelheiten eines Raums in sich aufzunehmen. Um Menschen zu verstehen, musste man auch wissen, womit sie sich umgaben. Als Jack einen Notenständer neben dem Fenster sah, fing sein Herz wie wild an zu pochen. Er vermied es, einen Blick auf den Geigenkoffer zu werfen, der daneben auf dem Boden stand. Ellis hatte ihnen bereits den Rücken zugewandt und fotografierte die Wohnung. Die Sachen, die das Mädchen zurückgelassen hatte. Das Gefühl von Verlust und Trauer war überwältigend.

„Dürfen wir ein paar Fotos machen?“, fragte Jack.

Valerie nickte schnell. Ihr Blick wirkte glasig und niedergeschlagen.

„Danke, dass Sie gekommen sind“, sagte sie. „Ich wollte mit jemandem reden, bevor Micaela durch den Schmutz gezogen wird.“

Jack hörte aufmerksam zu. „Erzählen Sie uns, was passiert ist!“, bat er.

Ihre Stimme klang heiser, als sie die beiden durch das Haus führte. „Es ist einfach nicht möglich, dass mein Kindchen sich gestern Abend eine Überdosis verabreicht hat“, sagte sie. „Unmöglich. Das sage ich Ihnen. Ich weiß genau, was alle sagen, und trotzdem … es ist nicht möglich.“ Er wusste, was sie tat, sie redete, um ihre Gefühle zu unterdrücken, der Redeschwall diente dazu, dass weder Stille noch Gedanken sich ausbreiten konnten.

In der Küche stand eine Kanne Kaffee, sie holte eine Tasse für Jack, ohne ihn zu fragen, ob er Kaffee wollte. Der Autopilot ist eingeschaltet, dachte Jack. Die Küche wirkte so sauber und ordentlich, dass sie vermutlich die ganze Nacht das Haus geputzt hatte. Ellis gesellte sich nicht zu ihnen, Jack hörte aber im Nebenzimmer das Klicken seiner Kamera.

„Ich halte mich nicht für eine dieser überfürsorglichen Mütter, die denken, dass ihr Kind nie etwas anstellt …“ Valerie Crawford errötete. „Nie etwas angestellt hat. Micaela hat Drogen genommen, sie hatte in der Vergangenheit Probleme damit, doch in letzter Zeit war sie nur nach Snapchat und Facebook süchtig.“ Sie lachte bitter und unterdrückte einen Seufzer. „Sie war seit über einem Jahr clean. Hatte alle zwölf Schritte gemacht, war bei den Narcotics Anonymous. Nie im Leben wäre sie rückfällig geworden … Das hier hat nichts mit Drogen zu tun, hier steckt was anderes dahinter.“

Jack hatte seinen Block herausgezogen und schrieb schnell mit. „Und was könnte das Ihrer Meinung nach sein?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie hilflos. „Ich … ich glaube, es hat mit Mercer zu tun. Sie war schon richtig besessen, würde ich sagen.“ Ihre Stimme klang dumpf. Erstaunen und Trauer schwappten mit einem giftigen Unterton zu ihm herüber.

„Wie meinen Sie das?“, fragte er. Den Tod der eigenen Tochter der Besessenheit durch Dämonen zuzuschreiben war nicht unbedingt etwas für die Öffentlichkeit.

„Besessen“, flüsterte sie.

Jack dachte an die Geige im Wohnzimmer, hörte auf zu schreiben und versuchte, das Gespräch wieder in konkretere Bahnen zu lenken. „Hat Micaela musiziert?“

Bei der Frage rannen Valerie die ersten Tränen über die Wangen. Sie zog ein Taschentuch heraus und wischte sie fort.

„Ja, hat sie“, sagte Valerie. „Seit ihrem vierten Lebensjahr. Sie hat bei der Jr. Philharmonic Geige gespielt und sollte bald bei der USC Thornton School vorspielen, ein vorgezogener Eintritt. Wir haben uns deswegen gestritten … aber …“

Jack wurde schwindelig, er hörte das Blut in den Adern rauschen. Valeries Stimme wurde immer leiser, bis es fast nur noch ein Flüstern war. Er holte tief Luft und schüttelte den Gedanken ab. Heute, an genau diesem Tag. Wie konnte ausgerechnet das die Geschichte sein, über die er an diesem Tag berichtete?

„Ich weiß, dass sie keine Überdosis genommen hat“, bekräftigte Valerie. „Sie hat geübt und sich monatelang auf das Vorspielen vorbereitet, das hätte sie nicht einfach so sausen lassen.“

Jack suchte nach tröstenden Worten, doch in Valeries Trauer spiegelte sich seine eigene Wehmut wider. Er wusste, wie kalt Worte klingen konnten und dass Schicksal, Glück und falsche Entscheidungen keinen Unterschied machten. Übung spielte keine Rolle. Gut zu sein spielte keine Rolle. Träume zu haben spielte keine Rolle. Kinder starben bei Konzerten, ehemalige Liebhaber drückten während eines Streits auf den Abzug. Menschen mit glorreicher Zukunft verschwanden und verblassten wie weit entfernte Sterne in der Erinnerung.

Ellis stand in der Tür und sah die beiden an. „Ich wusste nicht, dass sie Musikerin war“, sagte er ruhig.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas“, schlug Valerie vor und blickte Ellis diesmal unverwandt an. Im fahlen Licht, das durch die Fenster fiel, beobachtete Jack, wie der junge Mann plötzlich erblasste.

3 – Jack erwartete ein …

Jack erwartete ein typisches Teenagerzimmer, doch als er von der Tür aus hineinspähte, verschwamm plötzlich alles vor seinen Augen, er konnte kaum mehr erkennen, wo der eine Gegenstand begann und der andere aufhörte. Als er wieder klar sehen konnte, fiel ihm auf, dass das Zimmer überall mit Fotos und Worten übersät war. Sie klebten wie eine riesige Collage an den Wänden oder waren daran festgenagelt worden. Und nicht nur die Wände, auch die Decke, der Schreibtisch, das Bücherregal, das Bettgestell – alles war mit Postern, Zeitungsausschnitten, Fotos aus Zeitschriften und Schnappschüssen von Mercer aus dem Internet bedeckt. Alle sorgfältig geglättet und aneinandergereiht. In der Mitte des Zimmers hing das Poster von Sonic Cathedral, Mercers bekanntestem Album. Micaela hatte sogar die Fenster mit Bildern beklebt, sodass sie wie Kirchenfenster aussahen.

Ellis drückte sich an ihm vorbei und knipste systematisch alles, er wirkte wie gelähmt.

Jacks Blick fiel auf etwas an der Wand neben ihm, das ihm bekannt vorkam. Der Titel der Sonntagsausgabe der Sun aus der Moderubrik mit einem Foto von Mercer in Lebensgröße, strahlend blaue Augen und dunkellila Schmalztolle, darunter Jacks Signatur. Er hatte den Beitrag vor zwei Jahren verfasst. Nicht gerade das Gebiet, mit dem er sich sonst befasste. Er war für Catherine eingesprungen, die auf Reha war. Auch Ellis war mitgekommen und hatte ganz vorn ein paar Fotos gemacht – von der Band, vom Publikum, Mercer auf der Bühne auf dem Rücken liegend, während die Fans ihm Blumen und Unterwäsche zuwarfen. Jack fragte sich, ob sein Artikel Micaela Crawford für Musik begeistert hatte.

„Sind Sie gläubig?“, fragte Valerie.

„Ich war schon seit Jahren nicht mehr in der Kirche“, gestand Jack. „Sind Sie gläubig, Valerie?“

„Nicht immer ist die Kirche der geeignete Ort, um Gott zu begegnen“, sagte sie. „Ich bin Mitglied eines Bibelkreises. Ich dachte, ich hätte Sie in der Kirche gesehen“, sagte sie. „In der Heavenly Rest. Sie kommen mir so bekannt vor.“

Jack nickte, antwortete aber nicht.

„Ich wollte Micaela mit in die Kirche … und zum Bibelkreis mitnehmen, aber sie war dagegen. Weil Mercer dagegen war! Seine ganzen Songs über Gott ist Musik und Gott ist Freiheit. Sie sagte immer, dass das ihre höhere Macht sei.“

„War sie mit Freunden beim Konzert?“, fragte Jack und brachte Valerie zum Thema zurück.

Valerie nickte „Mit Lupe.“

„Lupe?“

„Lupe Barnat. Sie waren seit Jahren befreundet und beide Studenten am Northeast Konservatorium.“

Diese Worte waren zu viel für Jack. Einen Moment lang schien die Zeit ohne ihn weiterzulaufen. Als sie zurückkehrte, saß er auf Micaelas Bettkante, und auch das Licht im Raum schien sich verändert zu haben, der Regen draußen hatte nachgelassen. Er sah auf seinen Notizblock – wenigstens hatte er weitergeschrieben, während sie geredet hatte.

„… verschlüsselte Botschaften in Mercers Songs und in den Interviews, die sie sammelte“, erwiderte Valerie auf eine Frage, an die er sich nicht mehr erinnerte. „Mercer hat Micaela das angetan. Er hat sie reingezogen und umgebracht! Oder irgendwas hat sie umgebracht. Sie hätte sich niemals mit Drogen das Leben genommen, nicht einmal versehentlich. Ich weiß nicht genau, wie er das angestellt hat oder weshalb. Aber ich bin sicher, dass bei der Autopsie herauskommen wird, dass etwas ganz gewaltig nicht stimmt.“

„Sie haben eine vollständige Autopsie beantragt?“

„Ja. Natürlich.“

Valerie saß in der Mitte des Zimmers ihrer Tochter, umgeben von Postern und Zeitungsausschnitten. Ellis hockte vor ihr, sein Fotoapparat klickte leise.

Marc Lepson

Über Marc Lepson

Biografie

Marc Lepson, Jahrgang 1970, hat Kunst, Literaturwissenschaft und Theologie in Florenz studiert. Heute lebt er als Künstler, Taxifahrer und Dozent in Chinatown und unterrichtet an der New School in New York. Totenfänger ist sein Romandebüt.

Marc Lepson im Interview

Was genau lieben Sie am Lesen und Schreiben von Romanen?

Zuhause hatte ich ein Bücherregal vollgepackt mit sämtlichen Fällen der Hardy Boys. Ich habe sie geliebt für dieses Gefühl von Abenteuer, das sie in mir auslösten. Diese Bücher haben bei mir wirklich das Interesse fürs Lesen geweckt. Seither genieße ich es, komplett in die Welt eines Romans einzutauchen. Beim Schreiben erschaffe ich selbst Welten, in der die Figuren in von mir erdachten Landschaften leben und interagieren.

Warum war es Ihnen wichtig, einen Roman zu schreiben?

Den plötzlichen Drang, einen Roman schreiben zu wollen, verspürte ich während des Taxifahrens. Die Leute steigen den ganzen Tag in mein Auto ein und aus – und für ein paar Minuten bekomme ich einen intimen Einblick in deren Leben. Liebespaare, die sich streiten, junge Geschäftsmänner, die mit ihren Eltern telefonieren, Drogendealer, die tief in die Sitze rutschen, um nicht von der Polizei gesehen zu werden. Ein Roman ist das perfekte Format, um diese Erlebnisse mit Inhalten zu füllen und in Geschichten zu verwandeln.

Und welches Erlebnis hat sie zu Totenfänger inspiriert?

Ich fuhr gerade Taxi und hatte einen Fahrgast am New Yorker Kennedy Airport abgeholt. Als wir in die Nähe der Brücke über dem East River kamen, bat er mich plötzlich, einen Umweg zu fahren. Er erzählte mir von einer Nahtoderfahrung als Kind, und dass er seither panische Angst davor hat, Gewässer zu überqueren. Natürlich haben wir dann den Tunnel genommen. Dieser Mensch hat mich zu Jack Temples Kindheitstrauma und seiner Angst vor Wasser inspiriert.

Was für ein Typ Mensch ist Jack? Ist er Ihnen ähnlich?

Jack Temple ist Journalist. Fakten und rationale Erklärungen sind ihm wichtig. Wenn also alles drunter und drüber geht und unerklärliche Dinge passieren, verwirrt ihn das wahnsinnig. Diesen Teil seiner Persönlichkeit habe ich nicht mit ihm gemeinsam. Jack ist besessen. Dasselbe trifft auf mich zu, wenn ich in meinem Atelier arbeite. Und auch Jack ist neugierig und obsessiv, was das Arbeiten betrifft.

Wie lange haben Sie an Ihrem Buch geschrieben?

Der erste Entwurf war sehr schnell fertiggestellt und hat mich nur drei oder vier Wochen gekostet. Ich war fasziniert von der Idee, dass um Jack herum all diese schrecklichen Dinge passieren. An den Tagen, an denen ich Taxi gefahren bin, habe ich in Etappen am Manuskript geschrieben. Nach jedem Fahrgast habe ich in meinem Notizbuch weitergeschrieben, und die Notizen schließlich an meinen freien Tagen abgetippt und dann in zwölfstündigen Sitzungen ausgearbeitet. Das Schreiben war für mich wie ein Fiebertraum. Das Überarbeiten hat noch mal ein ganzes Jahr gedauert.

Wo schreiben Sie am liebsten?

Ich mache mir immer und überall Notizen zu Ideen und Szenen, die mir in meinem Alltag einfallen. Aber was das Schreiben an sich angeht, sitze ich am liebsten an meinem Schreibtisch vor dem Atelierfenster. Dort habe ich einen Rückzugsort, um in Ruhe und konzentriert malen und schreiben zu können. Und das Licht ist großartig.

Medien zu „Totenfänger“
Kommentare zum Buch
Langweilig.
Franci Becker am 22.02.2020

Ich durfte Totenfänger aus dem Piper Verlag dank Netgalley vor der offiziellen Veröffentlichung am 13. Januar 2020 lesen & war sehr gespannt auf den Debütroman von Marc Lepson, welcher u.A. in den Genres Mystery & Thriller eingeordnet wird.   Mit "Totenfänger" kreierte der Autor einen bizarren Fall, dessen Ursprung bereits vierzig Jahre zurückliegt. Die Gemeinsamkeiten verschiedener Morde wird erst durch ein neues Todesopfer, Micaela, von dem Polizeireporter Jack Temple entdeckt, aus dessen Sicht die gesamte Story auch geschildert wird. Jack ist ein leidenschaftlicher Reporter, der gleichermaßen an Flashbacks sowie Blackouts leidet. Wer vor dem Einstieg in diesen Polizeiroman den Klappentext gelesen hat, ahnt, dass dieser selbst schmerzhafte Verluste erlitten hat - die Parallelen & starken Emotionen, die Jack mit dem jüngsten Fall verbindet, lassen jene Leser ohne die Kenntnis der Kurzbeschreibung nur vage durch kurze Andeutungen vermuten. Außer Jack gibt es weitere Redaktions - sowie Polizeimitarbeiter, von denen zwar einige öfter einbezogen werden, ein genaueres Kennenlernen wird jedoch nicht ermöglicht; auch Emily, seine Exfrau & sein Sohn Dean sind Teil des Falls & mehr, als nur Zuschauer. Neben den beruflich engagierten & erfolgreichen Reporter erschuf Marc Lepson einen gottesfürchtigen, fanatischen Serienmörder, der Jahrzehnte im verborgenen Leichen hinterließ, deren winzige Gemeinsamkeit jedoch nicht entdeckt wurde - bis ein Teenager einen Rockstar zu sehr vergötterte, zu stark anhimmelte & sich eine vermeintliche Überdosis spritzt. Doch was, wenn das Offensichtliche, nur weil es die einfachste Erklärung ist, nicht der Tatsache entspricht & etwas Komplizierteres, weitreichenderes dahintersteckt?   Was befindet sich hinter dem nach Tod & Spannung klingenden Titel & dem vielversprechenden Cover? 269 Seiten die in 47, mehr oder weniger, kurze Kapitel eingeteilt wurden & deren Überschriften lediglich den jeweiligen Satzanfang wiederholten, was meiner Meinung nach nicht hätte sein müssen. Der lockere, unkomplizierte Schreibstil verhalf mir das Buch in kurzer Zeit zu lesen, jedoch bringt auch die leichteste Art der Formulierung nichts, wenn die Geschichte den Leser nicht packen kann - & so war es leider bei mir. Für mich besitzt der "Totenfänger" keinerlei Spannung, weder eine fesselnde noch schlüssige Handlung. Mit dem Täter & einen Hauch aktiven Mord kommen wir erst auf den letzten Seiten in Berührung - doch auch diese Szene wird, wie alles in diesem Debüt, rasch abgewickelt. Während der Ermittlung nach dem Täter scheint Jack immer wieder Verknüpfungen zu anderen ehemaligen Opfern zu sehen & zu finden, doch für den Leser ergeben die neuen Schlussfolgerungen wenig Sinn bzw. lassen sich nicht nachvollziehen. Mitraten & vermuten, wie ich das im Thriller - & auch Krimigenre unterbewusst mache, konnte ich in "Totenfänger" nicht, da es weder dem Leser bekannte potenzielle Täter noch greifbare Hintergrundinformationen oder Anhaltspunkte gab. Eine schnelle Story, die meiner Meinung nach nicht ausgearbeitet ist, jedoch hätte der Kern eines derartigen, vom Glauben getriebenen Ritualmörders, sicher potenzial.

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