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Ströme der Macht (Gezeiten der Macht 2)

Ströme der Macht (Gezeiten der Macht 2)

Robert Corvus
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Roman

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Ströme der Macht (Gezeiten der Macht 2) — Inhalt

Graf. Niemals hätte der Maler Quilûn vermutet, einmal diesen Titel zu führen. Und doch zählt er nun zu den bedeutendsten Männern auf dem Berg der Macht. Unverhofft ist er zum Oberhaupt des Tiefen Hauses Schneegrund geworden, aber niemand hat ihn auf die Intrigen innerhalb der Adelsfamilien vorbereitet. Quilûn braucht die Hilfe der Grafentochter – doch die fühlt sich durch seine Ernennung um ihr Geburtsrecht betrogen. Soll er sich an die unheimliche Magierin wenden, die das Mündel des verstorbenen Grafen war? Quilûn ist entschlossen, den Willen des Toten zu ehren. Bald begreift er, dass er dafür die Ströme der Macht ändern und das Leben auf dem Berg in den Grundfesten erschüttern muss.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 05.08.2019
432 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99388-3
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Leseprobe zu „Ströme der Macht (Gezeiten der Macht 2)“

Eins
Stärke

„Glaubt Ihr wirklich, diese Narretei sei weise?“, murrte Fürst Doryam von Schneegrund.

Selbst in dem Umhang aus derbem grauem Stoff war er ein ansehnlicher Mann. Kein Wunder. Als Lichtmeister des Tiefen Hauses Schneegrund verfügte er über beträchtliche Mittel, und Semire wusste, dass er einen erheblichen Teil davon auf seine Eitelkeit verwendete. Sie glaubte den Gerüchten, dass er seine Nase hatte brechen und aufschneiden lassen, um einen Zauber aus Quarz einzusetzen, der ihr die schmale, gerade Form gab. Die breiten Schultern dagegen waren [...]

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Eins
Stärke

„Glaubt Ihr wirklich, diese Narretei sei weise?“, murrte Fürst Doryam von Schneegrund.

Selbst in dem Umhang aus derbem grauem Stoff war er ein ansehnlicher Mann. Kein Wunder. Als Lichtmeister des Tiefen Hauses Schneegrund verfügte er über beträchtliche Mittel, und Semire wusste, dass er einen erheblichen Teil davon auf seine Eitelkeit verwendete. Sie glaubte den Gerüchten, dass er seine Nase hatte brechen und aufschneiden lassen, um einen Zauber aus Quarz einzusetzen, der ihr die schmale, gerade Form gab. Die breiten Schultern dagegen waren wohl das Erbe der väterlichen Linie, auch Semires Großonkel hatte sie gehabt. Augentropfen sorgten für ein feuriges Glänzen, das im Schatten der Kapuze brannte.

Doryam saß auf einem Thron, den er trotz der Eile über einen der Flaschenzüge der Schneegrunds hatte herunterschaffen lassen, dreihundert Höhenschritt von der Stadt bis hierher, wo die aus den Ebenen heraufführenden Straßen endeten. Das Sonnengelb der Schnitzereien in der Rückenlehne schien gegen das Grau des verregneten Morgens anzukämpfen, so wie der Fürst mit seinem gesamten Habitus dagegen protestierte, sich hier in der Wildnis dem nassen Wetter auszusetzen, statt die Annehmlichkeiten seines Palastes zu genießen.

Eines Palastes, den der von Semire geführte Ausfall dem Griff von Haus Schwertgrat entrissen hatte. Immerhin war Doryam klug genug, um zu begreifen, dass er in den Kämpfen des vergangenen Tages keinen Ruhm erworben hatte. Semire vermutete, dass er auf Verhandlungen gehofft hatte, während sie die Truppen zur Sonnenbrücke geführt hatte. Doch die Einsicht, dass er nicht noch einmal hintanstehen durfte, wenn er den Respekt im Tiefen Haus nicht verlieren wollte, führte nicht dazu, dass er es schätzte, nun selbst in den Kampf zu ziehen. Dass die meisten Krieger, die hier am Ufer des Almahn darauf warteten, in die Kähne zu steigen, Verbände über frischen Wunden trugen, beeinträchtigte seine Laune sicher zusätzlich.

Ein Axtschwinger schien unentschlossen, ob er seine Waffe weiterhin mit der Rechten führen sollte, da ihm nun an dieser Hand zwei Finger fehlten. Er wechselte den Schaft in die Linke, aber den Schild rechts zu halten, war ihm wohl doch zu ungewohnt. Ein Bruder vom milden Orden des heiligen Clerron setzte Maden auf eine Beinwunde, um diese vor Entzündung zu schützen, bevor er einen sauberen Verband anlegte. Ein Speerträger mit struppigem Haar benutzte einen Gürtel, den er einem Toten abgenommen haben mochte, um einen aufgeschlitzten Stiefelschaft zusammenzuhalten.

„Unsere Truppen sind erschöpft“, raunte Doryam.

„Ihre sind es auch“, entgegnete Semire von Schneegrund, die Tochter des verstorbenen Grafen Golar. „Die Schwertgrats werden vermuten, dass wir das gestern eroberte Gebiet in der Stadt sichern. Hier unten werden sie keinen Angriff erwarten, erst recht nicht so schnell.“

„Vielleicht, weil niemand mit klarem Verstand einen solchen Angriff befehlen würde.“ Doryams Thron knarrte, als er versuchte, mehr Stoff von dem unscheinbaren Umhang unter seinem Hintern hervorzuziehen, um sich vollständig einwickeln zu können.

Semire legte den Kopf in den Nacken. Es regnete beständig aus einem grauen Himmel, aber ein Wolkenbruch war es nicht. Nach dem stickigen Qualm an der Sonnenbrücke genoss sie die kühlen Tropfen auf dem Gesicht ebenso wie die Brise, die in den Kiefern rauschte.

Die Bäume boten in dieser Flussschleife einen guten Sichtschutz. So hatten sie die Schiffer überraschen können, die nun mit Sorge die Fässer und Säcke betrachteten, die sie in das Kastell der Schwertgrats hatten bringen wollen. Jetzt lagen die Waren aufgestapelt im Wald, ohne Planen, die sie vor dem Regen schützten.

„Der Krieg ist eine Kunst des Verbergens“, sagte Semire. „Wer siegreich sein will, sucht ein Bündnis mit der Überraschung. So lehrt es Palion.“

„Schreibt der nicht auch irgendwo, dass der Krieg nur ein Mittel ist, um der Macht zu dienen?“, fragte Doryam. „Dass man nicht unentwegt kämpfen kann, ohne alles zu verlieren, für das man in den Kampf gezogen ist?“

„Diese Fehde geht gerade mal in den zweiten Tag“, erinnerte Semire. „Haus Schwertgrat hat sie uns erklärt, es hat unseren Hauptpalast belagert, wir haben die Belagerung durchbrochen und unsere Feinde über die Sonnenbrücke zurückgetrieben, die wir dann zum Einsturz gebracht haben.“

„Das hört sich für mich danach an, dass wir unsere Gewinne von den anderen Häusern anerkennen lassen sollten.“

„Und wieso sollten sich die Schwertgrats damit abfinden?“ Semire benutzte die rechte Hand, um den Umhang über den linken Arm zu ziehen. Sicher wäre es schlecht, wenn der Verband durchnässte. Die Clerroniten hatten die tiefe Stichwunde nicht grundlos mit dem Sud aus Heilkräutern bestrichen. Die Verletzung schmerzte bei jedem Pulsschlag. „Unsere Feinde haben ein ganzes Stadtviertel verloren“, fuhr sie fort. „Hinter der Sonnenschlucht sind sie jedoch sicher. Wir müssen sie hier unten treffen, um ihnen zu zeigen, dass sie dennoch verwundbar sind. Wenn wir das Kastell nehmen, büßen sie die Möglichkeit ein, Nachschub aus ihren Ländereien den Berg hinaufzuschaffen. Das werden sie spüren, und zwar stärker mit jedem Tag, den die Fehde andauert. Ja, Palion schreibt, dass man den rechten Zeitpunkt für Friedensverhandlungen nicht verpassen darf. Aber der ist erst gekommen, wenn man sich in einer Position der Stärke befindet.“

Die Nässe tropfte von Doryams Kapuze und lief den Stoff hinab. Der Thron gab ihm eine würdevolle Erscheinung, vor allem wegen des Gegensatzes zum umgebenden Wald, aber inzwischen saß er in einer Pfütze. „Oben in der Stadt, bei unseren Palästen, sind wir nun schwach wie nie, nachdem Ihr so viele Krieger hier heruntergeführt habt.“

„Nur drei Hundertschaften“, wiegelte Semire ab. „General Esgur organisiert die Verteidigung unserer Besitzungen, und drei von unseren vier Magiern stehen ihm bei.“

Der Schatten seiner Kapuze verbarg Doryams Gesicht beinahe vollständig, aber Semire sah, dass er den Blick senkte. Die Erkenntnis, dass sie vom Hauptteil der Truppen ihres Tiefen Hauses isoliert waren, sickerte wohl langsam ein. Es hatte drei Stunden gedauert, die Krieger über die Flaschenzüge bis hierher abzulassen, eine weitere, um den Almahn zu erreichen. Dann hatten sie Glück gehabt: Nur eine halbe Stunde später waren ihnen die drei Lastkähne ins Netz gegangen, und die Kapitäne hatten sie kampflos übergeben. Aber selbst einem in der Kriegskunst Unkundigen wie Doryam musste klar sein, dass sich das Schlachtenglück jederzeit wenden konnte.

Das Kastell der Schwertgrats war das einzige, das direkt am Ufer des Flusses lag, der durch die magischen Figuren in seinem Bett bergauf floss und damit die Versorgung der Stadt erheblich erleichterte. Entsprechend gut befestigt war der feindliche Stützpunkt. Wenn sie ihn nicht im Handstreich nähmen, müssten sie sich entweder ungeschützt im Gelände einem massiven Gegenangriff stellen oder in die Wildnis fliehen. Weder ein Rückzug in die Stadt noch das Heranführen von nennenswerten Verstärkungen wäre in der Schnelligkeit möglich, die ein Gefecht erforderte.

Ein Krieger, von dessen Schild eine Ecke abgesplittert war, verharrte fünf Schritt von ihnen entfernt und verbeugte sich mit der Faust am Schwertgriff. Dadurch schob er den grauen Umhang weit genug zur Seite, damit man seinen Eisenharnisch sah. Die Panzerung hatte Schrammen abbekommen, der mit weißer Farbe aufgemalte Schneekristall war nur noch mit viel gutem Willen zu erkennen.

Semire winkte den Mann heran, aber er wandte sich an Doryam, um Meldung zu machen. „Die Magierin ist so weit, Fürst. Sie hat die Imagolems in Stellung gebracht.“

Semire presste die Zähne aufeinander. Am vorigen Tag hatte sie gemeinsam mit diesem Krieger gekämpft, sogar geblutet. Ihre Armwunde pochte. Keiner Gefahr war sie ausgewichen, sie war den Truppen vorangestürmt. Ohne sie wäre der Sieg an der Sonnenbrücke unmöglich gewesen. Und doch zollte der Mann Fürst Doryam den Respekt, nicht ihr. War es denn wirklich so unvorstellbar, dass eine Frau auch eine Anführerin sein konnte?

Und das, obwohl Doryam ein jämmerlicher Feigling war! Er blickte dem Krieger noch nicht einmal ins Gesicht.

Semire schluckte ihren Ärger hinunter. Jetzt musste sie zum Wohle ihres Hauses handeln. „Wir sollten rasch angreifen“, riet sie. „Bevor man uns entdeckt.“

Doryam nickte, aber den Befehl gab er dennoch nicht. Der Regen knisterte auf den Zweigen und auf dem Stoff der Umhänge.

„Kyrins Wache kommt eine besondere Bedeutung zu“, behauptete Semire. „Wir können uns nicht erlauben, unsere beste Magierin zu verlieren. Vielleicht wollt Ihr ihre Garde anführen?“

Wenn Doryam diesen Vorschlag annähme, bliebe ihm die unmittelbare Gefahr der Schlacht erspart. Kyrin würde aus dem Wald heraus die Imagolems lenken, während Semire mit so vielen Kriegern, wie auf die drei Boote passten, in das Kastell einfahren würde. Der Großteil der Schneegrunds würde über Land vorrücken und hoffentlich das Haupttor von Semires Trupp geöffnet vorfinden.

„Es bleibt bei unserer Absprache.“ Doryam stand auf. Er war eine durchaus imposante Gestalt. Es lag wohl an den breiten Schultern. „Ich führe die Hauptstreitmacht.“

Semire wandte sich an den Krieger. „Du hast den Lichtmeister gehört. Macht euch abmarschbereit.“

Bestätigend schlug der Mann eine Faust gegen die Brust und kehrte zur Truppe zurück.

Doryam sah ihm nach und beobachtete, wie die Männer aufstanden, ein letztes Mal Waffen und Rüstungen prüften und sich in ihren Einheiten sammelten.

Er räusperte sich. „Ich nehme an, die Berichte, dass Ihr unseren Truppen vorangestürmt seid, sind übertrieben.“

„Das einfache Volk braucht Anführer, die seinen Geist heben. Es richtet sich nach den Offizieren und die richten sich nach ihrer Feldherrin. Wer einen Angriff führen will, muss das von vorn tun.“

„Dann werdet Ihr im vordersten Boot fahren?“, fragte er mit Spott in der Stimme.

„Selbstverständlich“, versetzte Semire.

Prüfend sah er sie an. „Falls die Schwertgrats unseren Plan durchschauen, werden sie auf die Boote schießen. Das vorderste werden sie am leichtesten treffen.“

Sie zuckte die rechte Achsel. „Ein Boot ist immer das vorderste.“

Er lachte auf. „Aber nicht in jedem sitzt eine Tochter unseres Grafen.“

„Im Sterben sind wir alle gleich, aber nicht im Leben. Die Handlungen einiger wiegen mehr als die von anderen. Es gibt den Männern Mut, wenn sie sehen, dass sich ihre Anführer der größten Gefahr stellen.“

„Steht das auch bei Palion?“

„Nein, das ist meine Erfahrung.“ Fest sah Semire ihm in die Augen. Sie brauchte nicht auszusprechen, dass sie – im Gegensatz zu Doryam – bereits Klinge an Klinge auf Leben und Tod gefochten hatte.

Er wandte den Blick ab und beobachtete wieder die Männer. Semires Trupp drängte sich in den Booten. Die Planen, die vorher die Waren vor Nässe geschützt hatten, sollten nun die Krieger vor ihren Feinden verbergen. Wenn sie ruhig saßen, ähnelten ihre Konturen denen von Getreidesäcken.

„Führen von vorn …“, murmelte Doryam. „Ist das eine Frage des Mutes oder des Leichtsinns?“

„Eines weiß ich gewiss“, sagte Semire. „Wenn ich morgen aufwache, werde ich den Respekt aller Männer in Haus Schneegrund haben.“

„Auch wenn der Angriff misslingt?“, fragte Doryam herausfordernd.

„Wenn der Angriff misslingt“, sie nahm das Zweihandschwert auf, das an einem Baum lehnte, „werde ich morgen nicht aufwachen.“

* * *

Mit flatternden Lidern schlug Kyrin die Augen auf. Sie öffnete ihre Wahrnehmung ein Stück weit für die eigenen Sinne, blieb aber vorsichtig. Sie durfte die Konzentration nicht verlieren.

In ihrer rechten Hand fühlte sie den porösen Stein der Leitfigur. Ihr Daumen lag nicht länger auf der Rune, die in den kantigen Schädel geprägt war; sie hatte den Imagolem an seine Position gelenkt. Er sah ebenso aus wie die Statuette, mit vier Beinen, von denen eines gebrochen war, sodass er es nur noch nachziehen konnte, und vier kräftigen Armen, zwei davon als Scheren ausgeformt. Der Leib war gekerbt. Der untere Teil, an dem die Beine und ein gebogener Stachel saßen, verlief parallel zum Boden. Der Oberkörper mit Kopf und Armen stand senkrecht darauf.

Behutsam stellte Kyrin die Figur in den Halbkreis vor sich, zu den vier anderen. Jede davon erlaubte ihr die Verbindung zu einem der Imagolems, die sie auf dem Grund des Flusses bergauf geschickt hatte. Sie sollten im Verbund marschieren, aber dieser war wegen des gebrochenen Beines zurückgefallen. Kyrin hatte unterschätzt, wie sehr es ihn unter Wasser behinderte.

Die anderen Figuren waren zweibeinig. Bei einem der Imagolems ersetzten steinerne Schwertklingen Unterarme und Hände. Ein weiterer hatte einen kugelförmigen Rumpf, nur kurze Arme und einen Kopf, der nicht mehr war als eine Halbkugel, die halslos auf dem Hauptkörper saß. Für Kyrin war eine solche Körperform eine seltene Arbeit. Die beiden letzten waren von den Proportionen her sehr nah an athletischen Menschen.

Sie gestattete sich einen Blick zum Fluss. Die drei Boote legten ab. Auf einem davon musste sich Semire von Schneegrund befinden.

Der größere Teil der Truppe sammelte sich in Gruppen zu zehn Kriegern. Eine nach der anderen verließ den Sammelplatz in der Flussschleife nach Norden.

Ein Dutzend Kämpfer blieb bei Kyrin zurück. Die Hälfte davon kauerte neben ihr unter der zwischen Zweigen gespannten Plane, die den Regen abhielt, solange keine Bö die Tropfen unter den Stoff wehte. Die anderen sicherten die Umgebung mit einem Wachkreis.

Kyrin ließ den Blick schweifen, ohne zu verharren. Ein Teil ihrer Konzentration war noch immer bei den Imagolems, obwohl sie gerade nicht die Sinne mit einem von ihnen teilte. Aber sie hätte gespürt, wenn etwas Bedeutsames vorgefallen wäre. Wenn sich einer der Steinkrieger alarmiert gefühlt hätte, zum Beispiel, oder wenn einer verletzt worden wäre.

Kyrin genoss den Wind auf der Haut. Ihre Schürze knirschte, während sie sich vor und zurück wiegte. Sie sollte das blaue Leder fetten, wenn die Fehde ihr die Zeit dazu ließe.

Die Fehde – und ihre eigenen Forschungen. Die Gezeiten der Macht … Sie hatte den versteinerten Kopf eines Gravioners aus dem Dunkelsee geborgen. Wenn zutraf, was der zurückgezogen lebende Magier Abuliar erzählt hatte, waren die Gravioner vor Jahrtausenden die Herren des Bergs gewesen. In der Zeit, bevor die Tiefen Häuser die Macht übernommen hatten, sollen sie in Eintracht mit der Magie des Bergs gelebt haben.

Kyrin würde einen Weg finden müssen, mit dem versteinerten Kopf zu sprechen. Immerhin war sie bereits sicher, dass er außerhalb des Wassers überleben konnte und auch den Transport unbeschadet überstanden hatte, denn das Gesicht in dem Steinkopf, der einen guten Schritt durchmaß, bewegte sich.

Das war jetzt unwichtig. Sie musste bei der Sache bleiben, durfte in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachlassen, obwohl sie schon so lange wach war. Der Marsch zum Dunkelsee und zurück, der Kampf an der Sonnenbrücke, dann der Weg hierher …

Sie zog den Korken aus dem Glas mit den aufputschenden Kräutern, griff hinein und schob sich eine Handvoll in den Mund. Eigentlich brühte man sie mit heißem Wasser auf, aber auf diese Art wirkten sie noch stärker. Der Preis dafür war ein ekliger Geschmack, als hätte sie getrocknete und zerstoßene Fischhäute im Mund.

Sie nahm die filigranste Figur zur Hand. Auch dieser Imagolem war, verglichen mit einem Menschen, ein muskulöser Riese, aber ohne die übertriebenen Proportionen seiner Kameraden. Er hieß Asmodel und war eine von Kyrins frühen Kreationen, bevor Graf Golar sie angewiesen hatte, der Kampftauglichkeit unbedingte Priorität einzuräumen.

Kyrin hob die Figur vor ihr Gesicht, drückte den Daumen auf die in die Stirn gekerbte Rune und schloss die Lider.

Sie sah durch die Augen des Imagolems. Das Wasser trübte die Sicht, es führte gelben Sand mit sich, und durch die Regentropfen, die die Oberfläche unruhig machten, drang nur wenig Licht herab. Aber Asmodels Sinne waren feiner als die eines Menschen, und als Kundschafter war ihm eine gewisse Neugier eingegeben. Er hatte etwas gefunden.

Eine kleine Skulptur stand auf dem Grund. Sie bildete eine Flagge nach, die in einem Sturmwind zu schlagen schien, der den Berg hinauf wehte.

Solche Figuren gab es überall im Flussbett des Almahn. Die Zauberer erneuerten sie fortwährend, damit das Wasser beständig bergauf floss. Auch Kyrin hatte diese Flaggen gemeißelt, es war eine gängige Aufgabe für die niedrigen Ausbildungsgrade der Magier.

Sie brachte Asmodel dazu, sich aufzurichten. Die anderen vier Imagolems standen vor ihm, näher am Kai. So war es vorgesehen, sie waren kampfstärker als er.

Asmodel wandte den Kopf. Obwohl sie noch hundert Schritt entfernt waren, sah er die Schatten der Bootsrümpfe, die sich auf dem Fluss näherten. Der Riemenschlag war ungleichmäßig, die Ruderer waren nur dürftig aufeinander abgestimmt. Kein Wunder, saßen doch Krieger anstelle von echten Flussschiffern in den Booten.

Dennoch würden sie nicht mehr lange brauchen. Kyrin tauschte die Figuren aus und griff den zweiten Imagolem, der voll ausmodellierte Hände hatte. Er sollte den Angriff beginnen.

* * *

Der Almahn sammelte sich in einem weiten Becken, einer Art See, bevor er wie in einem umgekehrten Wasserfall mehrere Hundert Schritt den Steilhang hinaufsprang. In diesem Bereich schwächte die Strömung ab, die Boote ließen sich leicht steuern.

Semire von Schneegrund hockte nicht unter der Plane, sondern neben dem Kapitän im Bug des vordersten Kahns. Ein Krieger drückte dem Schiffer einen Dolch in den Rücken, damit er nicht im letzten Moment die Parole vergaß, die ihnen die Zufahrt in das Kastell der Schwertgrats öffnen würde.

Die Befestigungsanlage erhob sich am linken Ufer. Bis auf eine Höhe von zwei Schritt war sie gemauert, darüber bestand sie aus einer Holzpalisade. An manchen Stellen waren die Pfähle angespitzt, aber auf dem Großteil der Länge schlossen nach außen gebogene Eisenkrallen nach oben hin ab. Eine dornenbewehrte Kette verschloss die Einfahrt zu den Anlegern. Auf den Kais standen Kräne, die Galgen ähnelten.

Der Bidenhänder lag neben Semire auf dem Boden des Bootes, verborgen von einer Decke. Sie öffnete die Kiste daneben. Darin lag ein aus Sandstein geschlagener Zauber, dessen Form an eine Spindel erinnerte. Er war so groß wie zwei Fäuste und Rillen zogen sich längs darüber, beinahe parallel zueinander. An den Spitzen waren Lederriemen befestigt.

„Heda!“, rief die Wache von einem der Türme, zwischen denen die Kette gespannt war. „Wer seid ihr?“

„Pettr aus Weizmühl!“ Die Stimme des Kapitäns schwankte, aber das mochte man der Anstrengung der nächtlichen Fahrt zuschreiben. „Ich bringe das Getreide.“

Der Krieger drückte den Dolch fester in den Rücken des Mannes.

„Die Sonne hat die Ähren golden gefärbt!“, fuhr er fort.

Der Wächter gab ein Handzeichen. Rasselnd senkte sich die Kette ins Wasser.

Es wurde Zeit, Semires Arm wieder einsatzfähig zu machen. Unter dem Umhang löste sie den Verband. Protestierend wurde das Pochen intensiver. Sie musste jedoch ein wenig quetschen, damit Blut aus der Stichwunde sickerte. Es war wichtig, dass der Zauber damit in Berührung kam, hatte der Magier ihr eingeschärft.

Sie hob den spindelförmigen Stein auf. Er bildete wohl einen Muskel nach, wobei ein Muskel dieser Größe in Semires Oberarm keinen Platz gefunden hätte. Aber sobald die Magie wirkte, würde er sich zersetzen, also war es gut, wenn er zu Beginn viel Masse besaß. Mit zwei Lederbändern befestigte sie den Stein ober- und unterhalb der Wunde und zog die Schnallen zu – die untere fester als die obere, damit immer ein wenig Blut austreten konnte.

Sie spürte den Schmerz, aber auch die versprochene Kraft erfüllte das Glied. Semire hatte das Gefühl, dass sie den Bidenhänder allein mit der Linken hätte schwingen können.

Ihr Boot glitt als erstes in das Hafenbecken. Es hielt auf den hintersten Anleger zu.

„He, du Trottel!“, rief ein Vorarbeiter mit klobigen Handschuhen, der auf dem mittleren Kai stand. „Hierher! Wir wollen deine Säcke nicht spazieren schleppen!“

„Winke ihm“, forderte Semire den Kapitän auf.

Er tat es.

„Langsam jetzt“, wies Semire ihn an.

Unter der Decke fasste sie den Schwertgriff. Mit dem Daumen fühlte sie über die Parierstange. Sie bestand aus geschmolzenem und wieder erstarrtem Granitsand, und sie trug einen Zauber, der die Schärfe von gebrochenem Glas auf die Klinge legte.

Sie gestattete sich einen Blick über die Schulter. Die Kapuze behinderte Semires Sicht, sie musste sich beinahe ganz umdrehen, um zu erkennen, dass auch das zweite Boot durch die Einfahrt kam. Der Steuermann sah verkniffen aus.

In ihrem eigenen Boot zogen die als Flussschiffer getarnten Krieger die Riemen ein. Der Rumpf stieß an den Kai.

Missmutige Arbeiter kamen herbei. „Nun werft schon die Leinen hoch!“

Das zweite Boot steuerte denselben Kai an, aber auf der anderen Seite.

Der Vorarbeiter mit den großen Handschuhen sah zu ihnen herunter und musterte die Plane, unter der sich die meisten Kämpfer verbargen. „Sehr voll können eure Säcke aber nicht sein“, murrte er.

Ein metallisches Krachen ertönte vom entferntesten Kai. Semire konnte nicht sehen, was dort vor sich ging, aber sie hörte Alarmrufe.

Es war so weit.

Sie sprang auf und riss ihr Schwert in die Höhe. „Schneegrund!“, schrie sie.

Die Männer an den Riemen waren als Erste kampfbereit. Sie brauchten nur ihre Waffen zu greifen. Die anderen mussten erst die Plane loswerden.

Semire nutzte die drei Schritte Anlauf, die ihr die Breite des Kahns gewährte, und sprang am Kai hoch. Trotz des Schmerzes, der durch ihren linken Arm jagte, vertraute sie dem Zauber und fasste mit der freien Hand die Mauerkante.

Sie wurde nicht enttäuscht. Ihr Griff war fest, und mühelos zog sie ihr Gewicht nach oben. Am gestreckten Bein brachte sie den linken Fuß auf die Mauer, drückte sich mit der Ferse ab und rollte sich längs nach oben.

Wären ihre Gegner auf sie vorbereitet gewesen, hätten sie die zu ihren Füßen liegende Semire einfach abstechen können. Aber Palion behielt recht: Die Überraschung war eine kaum zu bezwingende Verbündete.

Semire sprang auf und schlug ihr Zweihandschwert in einem hohen Halbkreis, während ihre ersten Krieger gerade auf den Kai kletterten. Ihr Hieb tötete niemanden, verletzte aber drei Männer an Brust und Schulter. Blut spritzte. Sie schrie unartikuliert.

Ihre Gegner taumelten zurück, den Kameraden entgegen, die gerade aus dem zweiten Boot stiegen.

Semire stieß einen Mann zur Seite, der eine für seine sonstige Erscheinung viel zu vornehm gefertigte Lederkappe trug, um den Vorarbeiter angreifen zu können. Es war wichtig, den Feind seiner Anführer zu berauben. Das brach die Koordination in seiner Kampflinie und schwächte die Moral stärker als der Verlust eines gewöhnlichen Kriegers.

Sie legte das Schwert an wie eine Lanze und trieb es mittig durch den Körper ihres Gegners.

Er versuchte, sie mit seinen prankenartigen Händen abzufangen, aber das führte nur dazu, dass die scharfe Schneide ihm einen Daumen abtrennte. Gurgelnd rutschte er von der Klinge. Sein Blut besudelte den Boden, vermischte sich mit dem Matsch, den der Regen geschaffen hatte.

Der Krieg war unglaublich schmutzig. Semire fragte sich, wie man die getragenen Balladen darüber dichten konnte, wie die Barden sie in den Palästen vortrugen. Ein Schwert mit seinen klaren Formen hatte eine ganz eigene Schönheit, aber das Blut verdarb den Glanz des Stahls.

Auch am Sterben war nichts Heroisches. Der kräftige Mann vor ihr krümmte und erbrach sich, während er die Hände auf die Wunde presste. Aber Semires Klinge war durchgedrungen. Wenn er seinen Bauch auch schützen mochte – am Rücken trat das Blut aus wie Wein aus einem zerschnittenen Schlauch.

„Schneegrund!“ Wieder reckte Semire ihr Schwert in die Höhe.

Ihre Krieger hatten die Arbeiter bereits niedergemacht und nahmen ihren Ruf auf. Klang bei ihr selbst auch solche Begeisterung, solcher Blutdurst darin?

Sie hoffte es. Genau diese Gefühle musste sie bei ihren Männern anstacheln.

„Vorwärts!“, rief sie. „Für Haus Schneegrund!“

„Schneegrund!“, brüllten die Krieger.

Sie stürmte mit ihnen den Kai entlang. Ein wenig fiel sie zurück, weil sie sich einen Blick nach rechts gestattete.

Das zweite Boot leerte sich, obwohl die Kämpfer ein Problem mit der Plane hatten, die irgendwo festhing. Sie zerschnitten sie mit ihren Schwertern.

Wichtiger war, was sich am entferntesten Kai zutrug. Dort, wo er in den Platz vor den Speicherhäusern überging, ragte eine mit Eisenbändern verstärkte Rampe aus dem Wasser, auf die Querhölzer genagelt waren, um dem Tritt Halt zu geben. Ein Imagolem mit kugelförmigem Rumpf stapfte sie herauf. Er war so schwer, dass Semire bei jedem Schritt erwartete, dass die Konstruktion brechen könnte. Sie hoffte, dass Kyrin wusste, was sie tat. Für die beiden Imagolems, die das Ufer bereits erreicht hatten, galt das auf jeden Fall. Ein menschenähnlicher Titan und ein Steinmann, dessen Unterarme riesige Schwertklingen waren, metzelten sich durch die herbeieilenden Kämpfer des Feindes. Es war ein schrecklicher Anblick, und zugleich machte er Semire Mut.

Den würde sie auch brauchen. Ihre ersten Gegner waren Arbeiter gewesen, keine Krieger, und sie hatte die Überraschung auf ihrer Seite gehabt. Das galt nicht für die mit Harnischen gepanzerten und Spießen bewaffneten Männer, die sie nun erwarteten. Irgendwo mussten auch Fernkämpfer stecken. Ein Armbrustbolzen schlug dumpf in das Gesicht des Kameraden neben ihr. Er brach zusammen, als sei er gegen eine Wand gerannt.

Beim Laufen war die Kapuze von Semires Kopf gerutscht. Wäre sie eine einfache Kämpferin gewesen, hätte sie ihr Haar zu einem Zopf gebunden, damit es nicht in ihr Gesicht wehen konnte. Da sie jedoch die Anführerin war, trug sie ihre rote Mähne offen. Sie wirkte wie eine Flagge. Die Männer sollten sehen, wie sie in vorderster Linie focht. Das weckte den Beschützerinstinkt der Krieger und forderte ihren Mut heraus.

Ein Kamerad vor ihr schlug eine Lanze zur Seite, aber eine zweite spießte ihn auf. Zitternd glitt er von der blutigen Spitze.

Semire tat einen weiten Schritt über ihn und teilte kurze Schläge nach rechts und nach links aus, um eine Öffnung zwischen den Stangenwaffen zu schaffen.

Die Schnelligkeit des Überfalls wirkte für sie: Hätten die Schwertgrats in Ruhe Aufstellung nehmen können, hätten sich die Schneegrunds wohl einer drei oder gar vier Reihen tiefen Formation gegenübergesehen. Dann hätten Lanzenträger aus den hinteren Gliedern Semire angegriffen.

So aber hatte sich lediglich eine einzige Reihe geformt, und bei der befand sich Semire nun jenseits der gefährlichen Lanzenspitzen. Vier Schritt trennten sie noch von ihren Feinden, aber auf diesen vier Schritt hatte sie von den Stangenwaffen nichts mehr zu befürchten.

Das erkannten auch ihre Gegner. Einer von ihnen zog sich rückwärtsgehend zurück, wodurch er die Front in Unordnung brachte. Ein anderer ließ seine Hauptwaffe sogar fallen und zog einen unterarmlangen Dolch.

Damit konnte er gegen Semires Bidenhänder nicht bestehen. Ihre Klinge maß beinahe zwei Schritt.

Sie deutete an, über dem Kopf auszuholen, kippte die Waffe jedoch ab und zog von unten hoch. Der Stahl schnitt durch den linken Oberschenkel des Mannes.

Kreischend brach er zusammen.

Wieder war überall Blut.

Semire musste ihren Vorteil nutzen, weiter vorwärtsstürmen, wenn sie überleben wollte. Sie machte einen großen Schritt und stach ihr Schwert in den Hals des Mannes.

Robert Corvus

Über Robert Corvus

Biografie

Robert Corvus, 1972 geboren, lebt in Köln. Der Diplom-Wirtschaftsinformatiker war in verschiedenen internationalen Konzernen als Strategieberater und Projektleiter tätig. Corvus ist Metalhead, Kinofan und Tänzer. Er veröffentlichte zahlreiche Romane in den Reihen „Das schwarze Auge“ und „Battletech“...

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