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Opferstille

Sandrone Dazieri
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Thriller

„Sandrone Dazieri ist der unbestrittene Meister des italienischen Spannungsromans. Dies beweist er einmal mehr mit seinem aktuellen Band.“ - krimi-couch.de

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Opferstille — Inhalt

Ein fesselnder Thriller über die Tiefen menschlicher Abgründe

Der junge Mann ist blutverschmiert, spricht kaum ein Wort und hat nur einen Zettel mit seinem Namen bei sich: Tommy. So findet Colomba Caselli ihn in ihrem Schuppen vor. Seit sie vor eineinhalb Jahren bei einem Einsatz fast ums Leben kam, lebt die ehemalige Polizistin zurückgezogen auf dem Land. Ihr genialer Partner Dante Torre wird seitdem vermisst. Doch der mysteriöse Tommy weckt ihr Interesse. Der Fall führt sie schnell zurück in die Vergangenheit und bringt sie auf die Spuren eines Kindesentführers, der „Der Vater“ genannt wird. Auch Dante war eines seiner Opfer – doch Colomba hat ihn eigentlich vor Jahren getötet …

„Ein Thriller voll Action und Adrenalin.“ La Lettura  

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 11.01.2021
Übersetzt von: Claudia Franz
528 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31580-7
Download Cover
€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 11.01.2021
Übersetzt von: Claudia Franz
560 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99685-3
Download Cover

Leseprobe zu „Opferstille“

I ALBTRÄUME

ZUVOR
Colomba beugte sich über Giltiné und stellte ihren Tod fest, während sich Dante aufgebracht an Leo wandte.
„Das war nicht nötig. Das war absolut nicht nötig, verdammt noch mal.“
Leo steckte ein neues Magazin in seine Waffe und trat zu Colomba. „Ist sie tot?“
„Ja.“ Herrgott, ist sie klein, dachte Colomba. Sie dürfte nicht mehr als vierzig Kilo wiegen. „Was war das für eine Explosion, Dante?“
„Ein alter Freund von Giltiné hat versucht, ihr einen Fluchtweg zu eröffnen.“
„Und das hätte er auch fast geschafft“, sagte Leo und nahm das Messer, das [...]

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I ALBTRÄUME

ZUVOR
Colomba beugte sich über Giltiné und stellte ihren Tod fest, während sich Dante aufgebracht an Leo wandte.
„Das war nicht nötig. Das war absolut nicht nötig, verdammt noch mal.“
Leo steckte ein neues Magazin in seine Waffe und trat zu Colomba. „Ist sie tot?“
„Ja.“ Herrgott, ist sie klein, dachte Colomba. Sie dürfte nicht mehr als vierzig Kilo wiegen. „Was war das für eine Explosion, Dante?“
„Ein alter Freund von Giltiné hat versucht, ihr einen Fluchtweg zu eröffnen.“
„Und das hätte er auch fast geschafft“, sagte Leo und nahm das Messer, das Giltiné fallen gelassen hatte.
„Leo, pass auf, du kontaminierst ein Beweismittel!“, rief Colomba.
„Wie gedankenlos von mir.“
Irgendetwas an der Art und Weise, wie er das sagte, jagte Dante einen Schauer über den Rücken. „Rühr sie nicht an!“, schrie er. Aber es war zu spät, denn Leo hatte Colomba das Messer schon in den Bauch gerammt und drehte es nun in der Wunde herum.
Colombas Magen schien zu Eis zu erstarren. Sie fiel auf die Knie und verlor die Pistole. Über ihre Hände strömte Blut. Sie sah, dass Leo Dante mit einem Faustschlag zu Boden beförderte, um sich dann über Belyy zu beugen. Der Alte starrte ihn entsetzt an, unfähig, sich zu rühren, weil sein Becken schmerzte.
„Wenn du mich leben lässt, mach ich dich reich“, sagte er.
„Do swidanija“, sagte Leo und trennte ihm so beiläufig die Kehle durch, als würde er ein Stück Torte abschneiden.
Dante schleppte sich zu Colomba, die zusammengekrümmt in einer Blutlache lag. „CC“, sagte er mit Tränen in den Augen.
„Bleib ganz ruhig liegen. Ich werde die Blutung sofort stillen. Ich stille sie …“
Leo packte Dante und zog ihn hoch. „Wir müssen gehen“, sagte er.
Dante fühlte, wie sein inneres Thermometer über den Höchstwert von zehn hinausschoss, auf hundert, auf tausend, und mit einem Mal verwandelte sich Leos Gesicht in einen dunklen Fleck am Rand eines Großbildschirms in Berlin und schließlich in das Gesicht des Passanten, der den psychotischen Anfall ausgelöst hatte, dem er seinen Aufenthalt in der Schweizer Klinik verdankte. „Du bist das“, murmelte er.
„Bravo, Brüderchen“, sagte Leo, dann drückte er ihm die Kehle zu, bis er das Bewusstsein verlor, und lud ihn sich auf die Schulter.
Das Letzte, was Colomba sah, war Dantes Hand, die sich über Leos Schulter nach ihr ausstreckte. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn retten würde, dass er mit allem recht hatte, dass sie sich nie wieder trennen würden. Aber das tat sie nur im Traum.
Als die Sanitäter eintrafen und sie mit Müh und Not retten konnten, waren Leo und Dante schon verschwunden, und niemand hatte sie davongehen sehen.
Eine Woche lang musste sie recherchieren, bis sie herausfand, dass Leo Bonaccorso nie existiert hatte.


Kapitel I

1 Dunkel.
Dante erstickt. Das Dunkel lastet wie Beton auf ihm, zerquetscht ihn, zermalmt ihm die Knochen. Es dringt in Mund und Lunge ein. Er kann nicht schreien. Er kann sich nicht bewegen, kann nicht einmal würgen. Wieder wird er bewusstlos, und der Schlaf der Erschöpfung ist ein schwarzer Bildschirm, auf dem seine Erinnerungen flackern. Er sieht eine Frau in Grün, die ihn anlächelt, blutüberströmt. Dann hört er das Geräusch einer Explosion. Schreie.
Die Schreie wecken ihn.
Dunkel. Dunkel. Dunkel. Dunkel. Dunkel. Dunkel. Dunkel. Dun…
Licht.
Nur einen Augenblick lang, einen zu kurzen Moment, um ihn messen zu können. Aber Dante klammert sich daran. Seine Augen saugen das Licht auf. Er kann wieder denken. Mühsam. Er riecht Holz und Staub. Denkt an die Explosion, die er vernommen hat … Ist ihm etwas auf den Kopf gefallen? Liegt er im Krankenhaus?
Die Anstrengung ist zu groß. Er wendet sich wieder dem schwarzen Bildschirm zu. Den Erinnerungen. Der blutüberströmten Frau mit dem seltsamen Namen an diesem merkwürdigen Ort, der an eine Diskothek erinnert. An die fünf Kugeln, die in ihre Richtung fliegen. Dante kann sehen, wie sie sich im Schneckentempo durch die Luft bewegen und in ihren Rücken eindringen. Das Fleisch der Frau wird schwammig, das Gesicht schlaff, das Lächeln bricht. Am linken Schlüsselbein und am Bauch entstehen zwei kleine Vulkane in der Haut. Sie bersten, und die beiden Projektile, die sich durch den Körper gefressen haben, treten wieder aus, Blut und Knochensplitter verspritzend. Die Frau sinkt langsam nach vorn. Hinter ihr …
Dunkel.
Dante ist wach, begeht aber nicht den Fehler, sofort die Augen zu öffnen. Zunächst versucht er, seinen Körper zu spüren und wieder in ihn hineinzuschlüpfen, trotz der Schmerzwellen, die ihn bei jeder Regung überrollen. Er merkt, dass er auf dem Rücken liegt und Handgelenke und Knöchel nicht bewegen kann. In seinem Mund steckt etwas Ledernes, und um seine Hüften ist etwas Weiches gewickelt. Ansonsten ist er nackt. Wird er künstlich beatmet? Ist es schlimm? Er erinnert sich an einen Dieselmotor, der in seinem Kopf dröhnte. Einen Schiffsmotor. Vielleicht hat man ihn mit einem Boot in ein Krankenhaus gebracht?
Als er versucht, die Hände zu bewegen, schwillt der Schmerz in den Handgelenken an. Womit auch immer sie festgebunden sind, es schneidet bei jeder Bewegung ins Fleisch.
Kabelbinder.
Das sind die billigsten Handschellen auf dem Markt, aber in Krankenhäusern kommen sie für gewöhnlich nicht zum Einsatz. Man hat ihn nicht in ein Krankenhaus eingeliefert. Er ist woanders.
In Gefangenschaft.
Das Entsetzen führt ihn ins Kino seiner Erinnerungen zurück. Der Film läuft an der Stelle weiter, an der die Frau in Grün stürzt und den Blick auf die Szenerie hinter sich freigibt. Dante sieht geborstene Glaswände, Plastikmöbel in schreienden Farben, Staub, Schutt. Und Leichen am Boden. Männer im Smoking und Damen im Abendkleid. Blutverschmiert. In seinem Wahnzustand wird Dante bewusst, dass er die Explosion mit eigenen Augen gesehen hat. Er war dort. Wie lange das her ist, weiß er nicht. Aber er weiß, dass sich die Szene in Venedig abgespielt hat.
Er hebt die Lider, jetzt wieder in der Gegenwart angelangt, und konzentriert sich auf den leuchtenden Fleck über ihm. Er betrachtet ihn aus dem Augenwinkel, lichtempfindlich, wie er nun ist. Wenn er den Kopf hin und her dreht, bewegt sich der helle Punkt, verschwindet und taucht wieder auf. Irgendetwas befindet sich zwischen ihm, Dante, und der Spiegelung, er schaut nicht direkt an die Decke der finsteren Kammer. Irgendetwas ist direkt über ihm, das wird ihm jetzt erst bewusst. Ein Holzgitter.
Luftlöcher.
Er steckt in einer Kiste.

2 Nach dem Schneesturm, der die Marken heimgesucht hatte, kam das Leben langsam wieder in Gang. Dennoch waren viele Dörfer zwischen den Monti Sibillini und den steilen Klippen des Monte Conero weiterhin eingeschlossen, und der Katastrophenschutz musste mit Hubschraubern Nahrungsmittel verteilen. In jenen Tagen erfroren Hunderte von Rindern in den Ställen, und in einem Fall starb ihr Besitzer gleich mit.
Obwohl sie vom Epizentrum des Unwetters weit entfernt war, lag auch die unbefestigte Straße, die den Ortsteil Mezzanotte mit der Provinzstraße verband, unter Schnee begraben. Für die Tankwagen mit dem Flüssiggas, welche die zwischen den Hügeln verstreuten Häuser belieferten, blieb sie unpassierbar. Eines dieser Gebäude, ein heruntergekommenes Bauernhaus aus grauem Stein, lag genau am Ende der unbefestigten Straße auf einem steilen, etwa zehn Meter hohen Hügel. Irgendein Bauer hatte es Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, dann wurde es mit jeder Generation vergrößert und umgebaut, meist ohne Rücksicht auf das Bestehende. Es gab Fenster jeder Form und Farbe, fünf verschiedene Eingangstüren und eine bunte Mischung von Materialien. Der neuere Teil bestand aus Beton und war ein Stockwerk höher als die anderen Teile, da man für den Bau das Erdreich nicht abgetragen hatte. Aus der Schneedecke im Garten sprossen dürre Büsche und wild wuchernde Pflanzen, die es gegen fremde Blicke abschirmten.
Der Heizkessel befand sich im Keller und war vollkommen verkratzt von den unzähligen Zangen, mit denen man die Rohre abgeschraubt hatte, um sie zu entkalken. Das Gas kam aus einer Leitung, die unter dem gesamten Garten entlang zu einem Tank führte, der in der Nähe des Zauns in die Erde eingelassen war. Es war einer der vielen, die der Tankwagen eigentlich auffüllen müsste.
Um zwei Uhr nachmittags sog der Heizkessel die letzten Gaspartikel aus dem Tank, röchelte wie ein asthmatischer Greis und erlosch.
Eine Frau mit unruhigen grünen Augen, breiten Schultern und prägnanten Wangenknochen blieb auf dem Bett liegen und lauschte dem Knacken der erkaltenden Heizkörper. Sie hieß Colomba Caselli, war fünfunddreißig Jahre alt und Vicequestore bei der Polizei. Seit ein Phantom ihr ein Messer in den Unterleib gejagt und Dante Torre, den Jungen aus dem Silo, entführt hatte, war sie beurlaubt.
Fünfzehn Monate sind seither vergangen.
Niemand hat seitdem etwas von Dante oder Colomba gehört.

3 Colomba stand auf, bereitete sich mithilfe des Wasserkochers und eines benutzten Teebeutels einen Tee zu, zog dann den alten Parka mit dem Zottelfell à la Chewbacca über den Hausanzug und trat auf die Türschwelle, wo ihr der Wind ins Gesicht schlug. Alles war weiß und gefroren. Die unbefestigte Straße schlängelte sich wie eine harmlose Schlange durch die Landschaft und verlor sich im milchigen Nichts. Die einzigen Geräusche waren der Wind und die Schreie der Krähen.
Colomba zog die Kapuze über die Stirn, um sich vor den Eissplittern in den Böen zu schützen, und kämpfte sich zu dem grauen Wellblechunterstand in der Nähe des Gartentors vor. In der Tasche hatte sie eine Schachtel Streichhölzer. Sie hatte den Kamin noch nie angezündet, aber sie wusste, dass sich in dem Unterstand ein Stapel Brennholz befand, vergraben unter dem Schrott und Plastikmüll vieler Jahre.
Doch noch bevor sie ihn erreichte, blieb sie wie angewurzelt stehen und versank dabei bis zu den Knien im Schnee. Hinter dem Holzstapel waren Fußspuren. Irgendjemand war auf den Zaun geklettert, hatte sich auf der Gartenseite wieder herabgelassen und war hinter dem Haus verschwunden.
Colomba erstarrte und vermochte es nicht einmal, den Kopf zu drehen und den Blick von der Spur zu lösen, die im frischen Schnee einen Halbkreis beschrieb, um sich dann dicht an der Hauswand entlangzuziehen.
Ihre Hand tastete nach der Pistole, aber erst als sie die Tasche leer vorfand, fiel Colomba wieder ein, dass sie ihre Waffe in der Schublade der kleinen Kommode verstaut hatte. In der ersten Zeit nach ihrem Krankenhausaufenthalt hatte sie sie sogar mit ins Bett genommen und war morgens mit dem Geschmack von Waffenöl auf der Zunge aufgewacht. Wieso war sie davon abgekommen? Verdammt!
Fühlst du dich plötzlich allzu sicher?, fragte eine vertraute Stimme in ihrem Kopf, so laut und deutlich, als würde jemand hinter ihr stehen. Ihre Lunge zog sich zusammen. Colomba verlor das Gleichgewicht und stürzte in die skelettartigen Zweige eines verwilderten Rosenstocks. Den Blick in den weißen Himmel gerichtet, hatte sie nur einen Gedanken: Das ist das Ende.
Sie wartete auf den Messerstich, wartete auf den Pistolenschuss.
Wartete auf den Schmerz.
Doch nichts geschah.

Allmählich kehrte der gesunde Menschenverstand zurück, und sie bekam das Zittern unter Kontrolle. Sie befreite sich aus dem Rosenstock und stand auf.
Leo Bonaccorso – das Phantom ihres vergangenen Lebens – würde niemals sichtbare Spuren hinterlassen. Sie würde ihn eines Tages plötzlich vor sich erblicken, wenn sie morgens die Augen aufschlug. Oder er würde sie leise im Schlaf töten.
Es sei denn, er hat etwas anderes im Sinn. Vielleicht will er mich irgendwohin locken, um …
„Hör auf damit“, murmelte sie, wütend auf sich selbst. „Du bist doch verrückt.“
Sie warf noch einen Blick auf die Fußspuren – die hatte sie sich immerhin nicht eingebildet – und lief ins Haus, um die Beretta zu holen. Die Waffe mit beiden Händen fest umschlungen, folgte sie den Spuren des Eindringlings bis zu dem Schuppen auf der Hausrückseite, der als Rumpelkammer diente. Der Riegel war zurückgeschoben, die Tür halb angelehnt, und im dunklen Inneren raschelte es. Colomba hob die Waffe. „Ich hab dich gesehen! Leg die Hände hinter den Kopf und komm raus.“
Keine Antwort. Das Rascheln hatte aufgehört.
„Ich zähle bis drei. Und pass auf, dass ich nicht wütend werde. Eins, zwei …“
Bevor sie bei drei anlangte, hatte Colomba die paar Meter, die sie vom Schuppen noch trennten, zurückgelegt und die Tür mit dem Stiefelabsatz aufgetreten. Im Tageslicht sah man die massigen Umrisse eines Mannes, der zwischen den mit Spinnweben überzogenen Möbeln stand. Da er halb von einem Kleiderschrank verdeckt war, konnte Colomba nur seinen Rücken erkennen.
„Ich hatte gesagt, dass du rauskommen sollst!“
Sie trat einen Schritt vor. Der Eindringling zog sich noch ein Stück hinter den Schrank zurück, aber jetzt konnte Colomba ihn besser erkennen. Der kräftige Körper bestand aus Muskeln, aber auch Fett, die blonden Haare wirkten strohig. Der junge Mann trug nichts als einen alten Trainingsanzug und Filzpantoffeln. Zitternd vor Angst lehnte er mit dem Kopf in der Ecke.
„Wer bist du? Dreh dich um und zeig dich.“
Als er sich immer noch nicht rührte, ging Colomba hin und schaute in ein rosiges, bartloses Gesicht. Er war noch recht jung, höchstens achtzehn Jahre alt. Ausdruckslos starrte er ins Leere. Colomba fragte sich, ob er immer so war oder unter Schock stand. Sie ließ die Pistole sinken. „Was machst du hier? Hast du dich verlaufen?“, fragte sie.
Er antwortete nicht. Unvermittelt wollte er in Richtung Ausgang rennen, ungelenk und steif. Unter seinen Filzpantoffeln spritzte schmutziger Schnee auf. Colomba bekam ihn zu fassen. Als er sie daraufhin in die Hand biss, stellte sie ihm ein Bein und ließ ihn mit dem Gesicht zuerst zu Boden gehen. „Hör auf mit dem Blödsinn!“, rief sie. „Ich tu dir doch nichts. Ich möchte nur wissen, wer du …“ Dann erstarben ihr die Worte in der Kehle.
Der Schnee um den Jungen herum färbte sich rot.

4 Colomba kämpfte gegen die Panik an und kniete neben dem Jungen nieder. Hatte er sich an etwas verletzt? War er auf einen Stein gefallen? Auf einen der vielen verrosteten Gegenstände hier?
„Wo hast du dich verletzt? Komm, zeig es mir.“
Der Junge drehte sich um und schaute sie mit großen, wirren Augen an.
Er steht unter Schock. Gleich wird er ohnmächtig, weil er so viel Blut verliert. Colomba öffnete den Reißverschluss seines Trainingsanzugs.
Darunter trug er ein blutverschmiertes T-Shirt, aber das Blut war schon leicht geronnen.
Den unartikulierten Protest des Jungen ignorierend, zog sie das T-Shirt hoch und legte die nackte Haut frei. Keine Wunde. Sie tastete ihn ab, um sicherzugehen. Der Junge wehrte sich, aber sie drehte ihn entschieden auf den Bauch und untersuchte seinen Rücken. Ebenfalls keine Wunde und an den Beinen auch nicht.
Colomba zog ihn wieder an. Es war nicht sein Blut. Gut.
Bist du sicher, dass das gut ist?
Sie half ihm auf. Unsicher stand er vor ihr. „Wenn du noch einmal abhaust, werde ich ungemütlich, verstanden?“, sagte sie. „Und jetzt komm ins Haus, bevor du mir noch erfrierst.“
Er rührte sich nicht.
„Ins Haus“, sagte Colomba. „Dort.“
Der Junge schaute nicht in die Richtung, in die sie zeigte. Colomba packte ihn am Arm, ignorierte seine Versuche, sich loszureißen, und zog ihn in die Küche, die auch als Esszimmer diente. Der Raum nahm die Hälfte des Erdgeschosses ein. Einst war dort der Stall, über dem das Schlafzimmer der Herrschaft lag, damit es von der Körperwärme des Viehs geheizt wurde. Die Wände waren fleckig, und auf den Möbeln, die noch aus den Zeiten vor Ikea stammten, lag eine Staubschicht. Auf einem Dreibeinhocker stand ein tragbarer Fernseher, der ohne Ton auf einen Nachrichtensender eingestellt war. Colomba schaltete ihn nie aus.
Sie wickelte den Jungen in eine Decke und nahm das schnurlose Telefon von der Anrichte, um bei der nächstgelegenen Polizeiwache anzurufen. Nicht allzu überrascht stellte sie fest, dass die Leitung tot war. Die Kabel zogen sich kilometerweit über das Land und durch Wäldchen hindurch, um schließlich bei einem Vorkriegsverteiler zu enden. Es musste nur einer draufspucken, um einen Kurzschluss auszulösen. Da brauchte es nicht einmal einen Schneesturm wie den gegenwärtigen. Die Menschen im Umkreis wussten sich mit Handys und Radios zu behelfen, aber Colomba hatte keines von beiden.
Missmutig betrachtete sie den Jungen.
Erneut fragte sie ihn nach seinem Namen, aber er schaute sie nicht einmal an. War er taub? Sie ließ einen Löffel fallen, und er zuckte zusammen. Okay, taub war er also nicht.
„Wenn du nicht mit mir sprichst, muss ich schauen, ob du einen Ausweis bei dir hast. Ist das für dich in Ordnung?“, fragte sie ihn. „Na gut, wer schweigt, stimmt zu.“
Der Junge ließ die Durchsuchung klaglos über sich ergehen und wehrte sich erst, als Colomba seine nackte Haut berührte. Er rieb sich die Stelle, als fühle er sich schmutzig. In den Taschen fanden sich weder ein Portemonnaie noch ein Ausweis, aber unter dem Ärmelbündchen der Trainingsjacke entdeckte Colomba ein grünes Plastikarmband.
Hallo, ich heiße Tommy und leide an Autismus. Ich rede nicht gern und mag es nicht, wenn man mich anfasst. Wenn ihr mich allein antrefft, meldet euch bitte unter dieser Nummer.
Colomba schalt sich eine Idiotin. „Hallo, Tommy. Sehr erfreut … Tut mir leid, dass ich das nicht selbst kapiert habe.“ Als sie das Armband umdrehte, sah sie dieselbe Botschaft noch einmal in Griechisch. Viele Ausländer haben ein Häuschen in den Hügeln der Marken erworben, wo die Preise wesentlich niedriger sind als in der benachbarten Toskana. Tommys Eltern mussten auch dazugehören. Unter der Nachricht standen die nutzlose Telefonnummer und die Adresse, eine Straße in Montenigro. Unter normalen Bedingungen war das ein Fußmarsch von einer Stunde. Schwer zu sagen, wie lange man brauchte, wenn man mit Filzpantoffeln durch den Schnee stapfte.
„Wie bist du bloß hierhergekommen? Warst du mit jemandem unterwegs, der sich verletzt hat?“, fragte Colomba, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie setzte sich ans andere Ende des Sofas und fühlte sich so erschöpft, als hätte die letzte Stunde einen ganzen Tag gedauert. Am liebsten wäre sie wieder ins Bett gegangen.
Aber da saß Tommy. Mit seinem Plastikarmband.
„Ich hätte dich besser abhauen lassen“, sagte sie. „Dann hätte jetzt jemand anders das Problem.“
Sie zog den Parka wieder an und verließ das Haus, um den alten Panda mit dem Allradantrieb in Gang zu setzen. Sie hatte ihn nicht mehr benutzt, seit sie vor drei Wochen zum Einkaufen gefahren war, aber sobald sie das Notfall-Ladegerät an die Batterie angeschlossen hatte, begann der Anlasser zu rotieren.
Während der Motor warm lief, holte Colomba die Schneeketten aus dem Kofferraum und fluchte, weil ihr die Finger einfroren. Immer wieder kehrte sie ins Haus zurück, um nach Tommy zu sehen, der zusammengesunken auf dem Sofa hockte. Er hatte die Decke abgeworfen und schien die Eiseskälte gar nicht zu spüren. Vage erinnerte sich Colomba, dass das eines der Symptome von Autismus war. Das hatte Dante ihr erzählt.

Nachdem sie die Schneeketten an den Reifen angebracht hatte, zog sie Tommy zum Wagen, schnallte ihn mit zwei Sicherheitsgurten auf dem Rücksitz fest und kroch dann im ersten Gang auf die Straße.
Ihre Hände schwitzten. Sie fuhr am Grundstück ihres nächsten „Nachbarn“ zwei Kilometer weiter vorbei. Der ruhige Mann lebte zurückgezogen und züchtete Bienen. Schließlich erreichten sie die Kreuzung zur Provinzstraße. Es herrschte keinerlei Verkehr, was ihr das Gefühl einflößte, sich auf einen Planeten aus Eis verirrt zu haben. Das Atmen fiel ihr schwer. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr brach der kalte Schweiß aus.
Sie zog die Handbremse an und stieg aus. Als sie im Schnee stand, zwang sie sich, ruhig durchzuatmen, den Blick auf einen stahlblauen Fetzen am Himmel gerichtet.
Nur noch ein paar Kilometer. Es wird nichts passieren, sagte sie sich.
Aber irgendetwas war schon passiert, das wusste sie selbst.

5 Tommy klopfte an die Fensterscheibe, und Colomba riss sich zusammen.
„Schon gut, schon gut, ich habe verstanden“, sagte sie, aber Tommy hörte nicht auf und tat es für den Rest der Fahrt auch nicht mehr. Colomba sog noch ein paarmal eiskalte Luft ein und kehrte ans Steuer zurück. Auf der Provinzstraße lag nur eine dünne Schneeschicht, sodass die Schneeketten wie ein Maschinengewehr zu knattern schienen. Am Abzweig nach Montenigro gerieten sie in eine Kontrolle der Carabinieri. Zwei Wagen flankierten die Straße, dazwischen standen Soldaten mit Maschinenpistolen und rot gefrorenen Gesichtern.
Colomba stieg auf die Bremse. Tommy stieß einen schrillen Schrei aus und kauerte sich zusammen.
Sie drehte sich zu ihm um. „Du musst keine Angst haben, Tommy. Es wird einen Unfall gegeben haben“, sagte sie, obwohl sie wusste, dass wenig dafür sprach. „Warte hier auf mich, ja?“
Sie schloss den Jungen im Wagen ein und ging zu den Carabinieri. Eine junge Frau mit roten Locken regelte mit einer Kelle den nicht vorhandenen Verkehr. „Sie müssen umdrehen, Signora. Die Straße ist gesperrt.“
Colomba schaute auf ihr Rangabzeichen. „Guten Tag, Appuntato. Was ist denn passiert?“
„Routineübung, Signora“, sagte die Rothaarige in einem Tonfall, als ginge Colomba das gar nichts an. „Sie müssen umdrehen.“
„Vielleicht können Sie mir ja helfen. Ich habe einen Jungen gefunden, der sich verlaufen hat. Er heißt Tommy Melas und ist Autist. Er muss so schnell wie möglich zu seinen Eltern zurück.“
„Warten Sie hier.“ Die Frau lief fort und kehrte ein paar Minuten später mit einem großen kahlköpfigen Mann um die fünfzig zurück. Er hatte einen grauen Kinnbart. Obwohl er einen abgewetzten Jagdanzug trug, war klar, dass er ebenfalls ein Carabiniere war. Nach einem kurzen Moment des Zögerns streckte er Colomba die Hand hin, und ihr war sofort klar, dass er sie erkannt hatte. „Ich bin Maresciallo Lupo, der Kommandant der Wache von Portico.“
„Colomba Caselli, aber das wissen Sie ja schon.“
„Wo ist Ihre Eskorte, Dottoressa?“
„Hab ich nicht“, sagte sie schnell. „Hören Sie, der Junge ist zu Fuß bis zu meinem Haus gelaufen. Er kann von Glück sagen, dass er nicht erfroren ist, aber er sollte besser von einem Arzt untersucht werden.“
„Und Ihr Haus liegt wo?“
„In Mezzanotte. Ich habe ihn im Auto eingesperrt, weil ich fürchte, er könnte sich wehtun. Außerdem sind seine Kleider blutverschmiert. Übel blutverschmiert.“
Colomba zeigte zum Wagen. Tommy klopfte immer noch im selben Rhythmus an die Fensterscheibe, ohne sich um irgendetwas zu kümmern.
Lupo strich sich missmutig über den Bart. „Hören Sie, Dottoressa, ich will es kurz machen: Tommys Eltern wurden heute Nacht ermordet.“
„Um Gottes willen“, sagte Colomba.
„Man hat uns vor zwei Stunden verständigt. Den Jungen haben wir gerade erst als vermisst gemeldet. Danke, dass Sie uns eine Menge Arbeit erspart haben.“
„Das war reiner Zufall.“
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, in der Bar dort auf mich zu warten, während ich mich um den Jungen kümmere?“, fragte er und zeigte auf einen alten Tabakladen mit angeschlossenem Café, wie es sie in den kleinen Zentren oft gab. „Trinken Sie einen Kaffee, und setzen Sie ihn auf meine Rechnung.“
„Das wird wohl auch nötig sein.“
„Das können Sie besser beurteilen.“
Colomba konnte es und tat, worum er sie gebeten hatte, nur dass sie statt des Kaffees einen Tee mit Zitrone bestellte. Sie setzte sich an das einzige Tischchen, das an dem kleinen Schaufenster stand. In dem Laden befanden sich drei Senioren, die im Dialekt der Gegend über die Ereignisse sprachen, während der Barbesitzer auf seinem Smartphone herumtippte.
Sie sah Tommy am Ende der Straße, umgeben von drei Carabinieri, die ihn sanft vorwärtsschoben. Für einen Moment konnte er der Gruppe entkommen, indem er die Frau vom Rang einer Gefreiten zu Boden stieß. Statt wegzulaufen, rannte er allerdings zum Krankenwagen und stürzte hinein. Nun konnte Colomba nichts mehr sehen, bis irgendwann Lupo mit einer großen Tüte mit den Sachen des Jungen aus dem Krankenwagen stieg. Sie schaute wieder in ihre Tasse.
Zehn Minuten später kam Lupo und setzte sich zu ihr. „Dem Jungen geht es gut“, sagte er.
„Hat er Verwandte in der Gegend?“
„Nicht dass wir wüssten. Jetzt bringen wir ihn erst einmal in einem Ferienquartier in einem Agriturismo in Cartoceto unter, bis wir etwas Besseres für ihn finden.“ Er bestellte einen Espresso, den der Barbesitzer zubereitete, ohne auch nur den Blick von seinem Smartphone zu wenden. „Er ist volljährig, aber er kann natürlich nicht allein bleiben.“
Colomba musste an die verschreckten Augen des Jungen denken. Sie verspürte Mitleid, ein Gefühl, das sie in letzter Zeit für sich selbst reserviert hatte. „Vermutlich war er zum Zeitpunkt des Mords zu Hause.“
„Das denke ich auch. Und dann ist er in Pantoffeln geflüchtet. Hat er etwas gesagt, als Sie ihn gefunden haben?“
„Nein, nicht einmal seinen Namen. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt sprechen kann.“
„Sind Sie ihm früher schon einmal begegnet? Kannten Sie seine Eltern?“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Sie haben sich nicht oft in der Stadt blicken lassen.“ Lupo setzte eine Halbbrille auf und öffnete seine Jacke. Darunter kam ein Pullover mit vielen kleinen Sombreros und Eseln zum Vorschein. Er zog einen Zettel aus der Innentasche. „Die Mutter hieß Teresa und kam aus Turin. Der Vater hieß Aristides und war Grieche“, sagte er mit einem Blick in seine Notizen. „Tommy ist Teresas Sohn aus erster Ehe und heißt Carabba mit Nachnamen. Sein Vater ist gestorben, als er fünf oder sechs Jahre alt war. Jetzt ist er neunzehn.“
Colomba hob die rechte Hand. „Danke, aber damit habe ich nichts zu tun.“
„Vielleicht ja doch.“ Lupo fummelte an einem alten iPhone herum und reichte es ihr dann. „Das ist Tommys Zimmer, so, wie wir es heute vorgefunden haben.“
Von dem Zimmer sah man nur das Kopfende des Betts und eine mit Fotos übersäte Wand. Colomba vergrößerte das Bild und stellte fest, dass die Fotos alle dieselbe Person zeigten.
Sie.

6 Colomba gab ihm das Handy wortlos zurück. Selbst hier, dachte sie. Sie kaute auf der vom Tee ausgelaugten Zitrone herum, die Miene noch finsterer als zuvor. Eigentlich hatte sie gedacht, die besessenen Bewunderer hinter sich gelassen zu haben.
Lupo musterte sie. „Besonders erstaunt wirken Sie nicht, Dottoressa.“
„Seit dem Massaker von Venedig ist mein Gesicht ein öffentliches. Und dann gibt es noch die Bewunderer von Dante, die mich für sein Verschwinden verantwortlich machen.“
„Ja, ich meine mich erinnern zu können, etwas in der Art gelesen zu haben. Die Welt wimmelt von Verrückten.“
„Laut Dante sind es siebzig Prozent der Bevölkerung. Und hundert Prozent der Uniformierten“, fügte sie mit einem traurigen Lächeln hinzu.
Lupos Miene spiegelte Mitleid. „Muss ein toller Typ gewesen sein, dieser Torre.“
„Ist er immer noch!“, fuhr Colomba auf, um dann ruhiger hinzuzufügen: „Ich weiß nicht, wo er ist, aber er lebt.“
„Natürlich, entschuldigen Sie bitte.“ Lupo lächelte nachsichtig. „Den Nachbarn zufolge spricht Tommy fast nie, aber wenn er will, kann er sich auf dem Niveau eines kleinen Kinds ausdrücken.“
„Dann brauchen Sie wohl einen Spezialisten. In Rom kenne ich jemanden, aber hier wüsste ich nicht, an wen Sie sich wenden könnten.“
Lupo lächelte verlegen. „Und wie wär’s, wenn Sie es in der Zwischenzeit versuchen?“
„Meine Pflicht bestand darin, ihn in jemandes Obhut zu geben, und das habe ich getan. Für mich ist die Sache damit abgeschlossen.“
„Der Junge bewundert Sie. Vielleicht öffnet er in Ihrer Gegenwart den Mund und kann uns ein paar zusätzliche Informationen liefern.“
Colomba klammerte sich an ihre Tasse. „Selbst wenn Tommy mir etwas erzählen würde, wäre das witzlos. Wenn der Autismus so stark ausgebildet ist, wie es scheint, ist der Junge gar nicht rechtsfähig.“
„Aber er könnte uns helfen, die Verantwortlichen für den Mord zu finden. Und da Sie selbst nicht mehr im Dienst sind, brauchen Sie im Gegensatz zu mir keine Genehmigung, um mit Tommy zu reden.“
Colomba dachte an die Fotos an den Wänden und seufzte. „War die Kriminaltechnik schon am Tatort?“
„Nein. Keine Ahnung, wann die bei diesem Wetter eintreffen.“
„Dann möchte ich erst einen Blick auf das Haus werfen, bevor ich mit dem Jungen spreche“, sagte sie in der Hoffnung, Lupo würde erklären, dass sie das vergessen könne.
Leider erfüllte sich ihre Hoffnung nicht.

7 Colomba folgte Lupo und fuhr zum ersten Mal seit ihrer Kindheit ins Zentrum von Montenigro. Mittlerweile standen viele Häuser in dem Städtchen aus römischer Zeit leer und waren baufällig. Hier wohnten nur noch Senioren, die ihre Pension aufbesserten, indem sie Trüffel suchten. Jetzt waren sie alle auf der Straße und glotzten, selbst auf die Gefahr hin, sich eine Unterkühlung zuzuziehen. Es gab auch ein paar neue Gebäude, wie man sie in der Peripherie von Mailand oft fand. Das Haus der Melas gehörte dazu: ockerfarben und mit einer großen Veranda, die auf geschmacklosen Säulen aus falschem Marmor ruhte.
Hinter dem gestreiften Absperrband standen ein paar Soldaten und hüpften auf und ab, um warme Füße zu bekommen. Ein älterer Brigadiere hob das Band, damit sie das Grundstück betreten konnten, und Colomba griff instinktiv in die Tasche, um ihre Dienstmarke vorzuzeigen. Da war sie natürlich nicht, da Colomba sie an ihrem letzten Diensttag in Rom an die Wand geschmissen und nur knapp den Kopf des Chefs der Squadra Mobile verfehlt hatte. Mittlerweile war sie vielleicht eingeschmolzen oder eingestampft. Colomba hatte keine Ahnung, was für ein Schicksal den Erkennungszeichen beurlaubter Kollegen blühte.
Sie zogen die Latexhandschuhe und die Überschuhe an, die sie aus der Pappschachtel auf der Eingangstreppe genommen hatten. „Gibt es Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen?“, erkundigte sie sich.
Lupo schüttelte den Kopf. „Ich habe keine gesehen.“
Inzwischen schneite es wieder heftig. In den Regenrinnen rumorte es, und die Fenster waren helle, blinde Flecken. Sie durchquerten einen Vorraum, in dem lauter Schuhe und Regenschirme standen, und betraten die Küche. Colomba erblickte eine Flasche Mineralwasser, die am Spülbecken lag. Am Glas haftete ein fast vollständiger Abdruck einer blutigen Hand. Auch am Kühlschrank fanden sich Abdrücke, und auf dem Boden hatten nackte, blutverschmierte Füße eine Spur hinterlassen. Colomba war sich sicher, dass sie von dem Jungen stammte. „Was für ein Desaster“, murmelte sie.
„In der Tat. Tommy hat großes Unheil angerichtet. Die Fingerabdrücke stammen von ihm, das haben wir schnell abgeglichen, als wir ihn vorhin umgezogen haben.“
Colomba folgte den purpurroten Fingerabdrücken durch einen Flur, dessen Wände mit Fotos von Greifvögeln bedeckt waren, und betrat dann das Wohnzimmer. Hier hingen an exponierter Stelle die Hochzeitsfotos der Melas. Die Frau versprühte eine unbändige Freude in ihrem weißen Kleid, das an den ausgestellten Hüften etwas spannte, während der Mann, athletisch und im schwarzen Anzug, in die Kamera lächelte.
Lupo zog einen Zettel aus der Hemdtasche und setzte wieder die Brille auf. „Laut Aufenthaltspapieren haben sie vor eineinhalb Jahren geheiratet. Aber wir haben erst einen kurzen Blick ins System geworfen, für mehr war noch keine Zeit.“ Mit dem Ellbogen stieß er die Tür zum Schlafzimmer auf. „Hier wurden sie ermordet, kein schöner Anblick“, sagte er. „Wenn Sie wollen, können Sie sich das gern ersparen.“
„Sicher habe ich schon Schlimmeres gesehen“, erwiderte Colomba.
Das stimmte zwar, aber die Szene war trotzdem widerlich. Die Melas schienen unter einen Lastwagen geraten zu sein, dessen Fahrer noch einmal den Rückwärtsgang eingelegt hat. Blutüberströmt lagen sie im Bett, er auf der Seite, die Beine um die Decke geschlungen, eine Hand halb vom Handgelenk abgetrennt. Sie lag auf dem Rücken, ihr rechtes Bein hing auf den Boden herab, als sei es bei einem Fluchtversuch dort festgewachsen. Der Schienbeinknochen ragte aus dem Fleisch hervor. Die Schläge waren so brutal, dass der rot gestreifte Schlafanzug des Manns und ihr Nachthemd mit dem Spitzenbesatz in Fetzen hingen. Colomba nahm an, dass es die Schläge auf den Kopf waren, die zum Tod geführt hatten. Der Nacken des Manns war platt, und seine Kopfhaut, die sich abgelöst hatte, fiel ihm in die Stirn. Der Kopf der Frau endete über den Augenbrauen und ging in eine graue, mit Haaren vermischte Masse über.
Colomba merkte, wie ihr die Zitrone wieder hochkam. „Haben Sie die Tatwaffe gefunden?“
„Noch nicht. Um was könnte es sich Ihrer Meinung nach gehandelt haben?“
„Den Abdrücken nach zu urteilen, vielleicht ein Hammer, ein schwerer, wie Zimmerleute ihn benutzen, mit quadratischem Kopf. Groß.“
„Und was denken Sie, wie viele Angreifer es waren?“
„Ich bin nicht von der Kriminaltechnik“, antwortete Colomba trocken.
„Sie waren aber bei der Mordkommission. Da haben Sie sicher mehr zu Gesicht bekommen als ich.“
„Ich würde vermuten, dass die Schläge mit einer einzigen Waffe ausgeführt wurden, mit der man die Opfer abwechselnd traktiert hat.“ Colomba zeigte an die Decke. Dort sah man blutige Streifen, die sich wie die tragenden Rippen eines Kreuzgratgewölbes überschnitten. „Die vertikalen Streifen hat der Angreifer hinterlassen, wenn er die Waffe nach einem Schlag wieder hochgerissen hat. Die horizontalen …“
„… wenn er das Ziel gewechselt hat. Immer vor und zurück“, sagte Lupo und bewies damit, dass er nicht so unerfahren war, wie er sich gab. „Es könnte sich also um einen einzigen Täter gehandelt haben.“
„Es könnten aber auch zehn gewesen sein, wenn sie die Waffe weitergereicht und ihre Position beibehalten haben.“
„Sie werden aber doch zugeben, dass das wenig wahrscheinlich ist.“
Colomba zögerte, unsicher, was sie darauf antworten sollte. Lupos Beharren gefiel ihr nicht. „Lassen Sie uns von hier verschwinden.“
Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück, zu den Fotos der Verstorbenen. Colomba stellte sie sich an den Grabsteinen vor.
„Denken Sie, es war ein Raubüberfall?“, fragte Lupo.
„Was denken Sie denn?“
„Für gewöhnlich beschäftige ich mich mit gestohlenen Kälbern und Nachbarschaftsquerelen“, sagte Lupo mit einem Achselzucken. „Meine Meinung zählt nicht viel.“
„Ich habe erfahrene Kollegen beim Anblick derart zugerichteter Leichen kotzen sehen. Sie hingegen wirken äußerst ruhig.“
„Auch Viehdiebstähle enden manchmal übel.“
Colomba schüttelte den Kopf. Wenn Lupo den ahnungslosen Hinterwäldler geben wollte, war das nicht ihr Problem. „Ein Dieb tötet aus Angst, um nicht erkannt zu werden. Oder als Strafe, weil seine Opfer nicht tun, was er von ihnen verlangt. Die Melas hingegen wurden im Schlaf umgebracht. Fast jedenfalls.“
„Da ein Hammer nicht gerade die Waffe eines Unterwelt-Killers ist, was sollen wir für Schlüsse daraus ziehen? Dass es eine Impulshandlung war? Mord aus Leidenschaft?“
Colombas Augen sprühten Feuer. „Hören Sie auf, um den heißen Brei herumzureden. Sie denken, dass es der Junge war, und hoffen, dass er sich bei mir ausheult und alles gesteht.“
Lupo lächelte. „Was soll ich sagen, Dottoressa? Ich bin für alles offen.“
„Was für ein Motiv hätte Tommy denn haben sollen?“
„Der Junge ist krank, da braucht er kein Motiv.“
„Autismus ist ein Syndrom, keine Krankheit“, sagte Colomba. „Schwere Fälle wie Tommy tun anderen Menschen manchmal weh, weil sie ihre eigenen Kräfte nicht einschätzen können oder weil sie einen Wutanfall erleiden. Die eigenen Eltern im Schlaf zu massakrieren, ist etwas ganz anderes.“
„Jeffrey Dahmer war Autist.“
„Eher Asperger“, antwortete Colomba. „Das ist etwas anderes als bei Tommy, der gar nicht selbstständig leben kann. Selbst wenn er seine Eltern im Schlaf überrascht hätte, wären seine Bewegungen nicht koordiniert genug, um beide umzubringen, bevor sie reagieren. Ich habe doch gesehen, wie er sich bewegt.“
„Vielleicht hatte er Glück.“
„Lassen Sie uns einen Blick in sein Zimmer werfen.“

Zunächst hatte Colomba den Eindruck, in einer Abstellkammer gelandet zu sein. Das einzige Fenster war mit Pappe zugeklebt, und es gab nur ein Bett, eine Truhe und einen offenen Schrank, in dem Tommys Kleider hingen. Das Bettzeug war mit Disney-Figuren bedruckt. Auf einem Tischchen stand ein alter Computer, daneben ein ebenso alter, aber gut erhaltener Tintenstrahldrucker. Was Colombas Aufmerksamkeit erregte, waren aber vor allem die Fotos. Mindestens hundert waren es, auf DIN-A4-Blättern ausgedruckt oder aus Zeitschriften ausgeschnitten. Tommy hatte sie so aufgehängt, dass fast die gesamten Wände und Teile der Decke dahinter verschwanden.
„Was für ein Anblick, was?“, sagte Lupo. „Glauben Sie, dass die Eltern ihn gezwungen haben, hier zu hausen?“
Colomba sah sich im Raum um. „Nein. Es gibt weder Ketten noch Fesseln. Vielleicht hat er sich hier wohlgefühlt.“
„Vielleicht hält er sich ja für einen Vampir.“
Colomba überhörte den Kommentar und betrachtete das Bett und den Fußboden. Zerwühlte Laken, kein Blut. Tommy ist nicht in sein Zimmer zurückgekehrt, nachdem er seine Eltern tot aufgefunden hat. Oder sie getötet hat. Er ist in den Sachen, in denen er geschlafen hat, fortgerannt, ohne sich etwas Warmes anzuziehen. „Würden Sie mich einen Moment allein lassen, Maresciallo?“
„Gibt es ein Problem?“
„Nein, aber ich brauche einen Moment, um nachzudenken und mir eine Vorstellung von den Ereignissen zu machen.“
„Lassen Sie sich bitte nicht allzu viel Zeit. Wenn jemand Sie sieht, muss ich gute Gründe für Ihre Anwesenheit hier vorbringen.“
„Keine Sorge.“
Lupo verließ das Zimmer. Colomba wartete, bis das Rascheln der Plastiküberschuhe verklungen war, dann schaltete sie Tommys Computer an und hoffte, dass er kein Passwort hatte. Er hatte keins. Der Ordner mit ihren Fotos war nicht schwer zu finden. Sie löschte ihn. Dann leerte sie den Papierkorb und startete das Programm zur Reinigung der Festplatte. Computerexperten würden sie wiederherstellen können, nicht aber der erstbeste Journalist, der sich mit Bestechungsgeld Zutritt zu diesem Raum erkaufte. Sie schaltete den Computer wieder aus und riss die Fotos von den Wänden, angefangen mit denen, auf denen sie die Uniform mit den Rangabzeichen der Kommissarin trug. Etliche Fotos waren auf Papier ausgedruckt, das den Briefkopf eines gewissen Dottor Pala trug, Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut. Die Adresse befand sich in einem Nachbarort. Auch diese Fotos landeten in dem großen Ball aus zusammengeknülltem Papier, den sie nun unter ihre Jacke steckte. Mit kahlen Wänden wirkte das Zimmer fast noch düsterer und unheimlicher. Dante käme in einem solchen Raum um. Bei Tommy war es vielleicht genau andersherum.
Er ist drei Kilometer zu Fuß gegangen, vergiss das nicht.
Als sie das Licht ausschaltete und den Raum verließ, musste sie feststellen, dass sie es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte, denn nun parkte ein Lieferwagen der Kriminaltechnik vor dem Tor. Die Techniker plauderten mit Lupo, während sie ihre Schutzkleidung anzogen. Colomba ignorierte ihn und trat um die Hausecke, wo sie mit den Streichhölzern, die sie noch in der Tasche hatte, ihren Papierball anzündete. Als Lupo herbeigeeilt kam, hatte er sich bereits in gestaltlose Asche und verglimmende Glut verwandelt.
Lupo schüttelte den Kopf. „Wunderbar! Meine herzlichsten Glückwünsche! Danke, dass Sie mich wie einen Volltrottel behandeln!“
„Die Fotos wären noch vor denen der Toten in der Zeitung gelandet“, sagte Colomba ernst. „In Rom sind Leute in meine Wohnung eingedrungen, um mir ihre Theorien zu unterbreiten. Ich möchte nicht, dass sie erfahren, wo ich jetzt wohne.“
„Ich zeige Sie nur deswegen nicht an, weil ich weiß, was Sie durchgemacht haben. Aber überspannen Sie den Bogen nicht, Heldin von Venedig.“
„Nennen Sie mich nicht so“, knurrte Colomba.
„Der Titel stammt nicht von mir. Hätten Sie jetzt die Güte, Ihr Versprechen einzulösen?“
„Ihnen zu helfen, Tommy den Mord anzuhängen?“
„Ich möchte niemandem etwas anhängen. Ich möchte nur vermeiden, dass wir ein Menge Zeit verschwenden.“
„Man wird sicher jemanden schicken, der Ihnen bei den Ermittlungen hilft.“
„Dies ist mein Fall, Dottoressa. Kommen Sie nun oder nicht?“
„Was auch immer der Junge mir erzählt, ich werde es nicht bezeugen. Er wird es an anderer Stelle freiwillig sagen müssen.“
„Weitere Bedingungen? Eine Limousine vielleicht?“
Colomba schüttelte den Kopf. „Nein, aber Sie sollten schnell wieder vergessen, wo ich wohne. Glauben Sie, Sie schaffen das?“
Lupo nickte. „Ich geh dann mal voraus.“

8 Der Agriturismo, in dem man Tommy untergebracht hatte, bis sich irgendwelche Verwandten oder die Sozialdienste seiner annehmen würden, hieß Il Nido – das Nest. Es war die elegante Version eines Bauernhauses, wie Colomba es bewohnte: dreimal so groß, mit Schwimmbad, Reitschule und einem großen Park, in dem zwei gescheckte Ponys sichtlich missmutig im Schnee herumstapften.
Tommy wohnte in einem Einzelzimmer und wurde von der rothaarigen Carabiniera und einer älteren Kollegin bewacht. Die Fensterläden waren geschlossen, die einzige Tischlampe brannte. Der Junge saß auf dem Bett und wirkte mit der Trainingshose und dem gelben Shirt, aus dem sein Bauch hervorquoll, noch massiger als zuvor. Er dürfte fast hundertfünfzig Kilo wiegen.
„Öffne die Fensterläden, Concio. Das ist ja wie ein Kellerloch.“
„Ihm gefällt es so, Signor Maresciallo“, antwortete die Rothaarige. „Er ist nicht gern im Freien. Die ganze Fahrt über hat er geschrien.“
„Er ist drei Kilometer zu Fuß gegangen“, sagte Lupo. „Da hat er eine Menge frische Luft geschnappt.“
„Er stand unter Schock. Sie haben doch gesehen, in was für einem Zimmer er lebt, oder?“, fragte Colomba.
„Also gut. Ihr beiden bewacht den Flur“, sagte Lupo zu seinen Kolleginnen. „Bis ich euch wieder hereinrufe.“
„Zu Befehl“, sagten die beiden und gingen.
„Sie auch, Maresciallo“, sagte Colomba.
„Ich werde keinen Mucks von mir geben.“
„Wenn Tommy mit Ihnen sprechen wollte, hätte er es längst getan. Raus mit Ihnen.“
„Ich werde hinter der Tür stehen bleiben.“
Colomba schlug sie ihm vor der Nase zu, dann nahm sie einen Stuhl und rückte ihn ans Bett. Tommy hatte einen Stapel italienischer Spielkarten in der Hand und legte eine Patience. Dabei rutschte er auf den Pobacken herum. Er schien die Karten ohne erkennbare Absicht abzulegen, obwohl sich seine Finger äußerst präzise bewegten.
Colomba verspürte wieder Mitleid mit ihm, und erneut war das so schmerzhaft, als würde sie nach langer Zeit einen Muskel reaktivieren. Trotz seiner Körpergröße wirkte er so wehrlos wie ein Bär in einem Zeichentrickfilm. „Hallo, Tommy“, sagte sie mit einem künstlichen Lächeln. „Wie geht es dir? Hat man dich gut behandelt?“
Tommy spielte weiter, langsamer allerdings, während er sie aus dem Augenwinkel musterte.
„Es tut mir leid, was deinen Eltern zugestoßen ist. Ich bin hier, weil ich dachte, dass du vielleicht mit mir darüber reden willst.“
Tommy ließ eine Karte in der Luft schweben. Als er sie dann langsam ablegte, murmelte er etwas. Colomba vernahm zum ersten Mal seine Baritonstimme.
„Willst du, dass ich dich beschütze? Oder wolltest du mir etwas mitteilen?“
Nun sang Tommy den Jingle einer Fernsehreklame vor sich hin. Musik und Tonfall stimmten, aber die Worte ergaben keinen Sinn.
Colomba spürte, dass sie die Geduld verlor, riss sich aber zusammen. „Versuchen wir es noch einmal, Tommy. Ich will dir auch etwas verraten. Es ist nicht so, dass ich gerne hier bin. Ich habe nicht die geringste Lust, mich mit etwas so Grauenhaftem wie dem Tod deiner Eltern zu beschäftigen. Wenn ich es trotzdem tue, dann nur, weil ich hoffe, dir helfen zu können.“
Der Junge sagte nichts, aber Colomba hatte das Gefühl, dass er sie verstand. „Hast du etwas Böses getan, Tommy?“
Er schüttelte den Kopf, so übertrieben wie ein kleines Kind.
„Hast du deinen Eltern wehgetan, weil du wütend warst?“
Nein.
„Stimmt das auch?“
Tommy nickte.
Colomba wollte ihm glauben. „Hast du gesehen, wer es getan hat? Kanntest du die Person?“
Tommy nahm sich ewig Zeit, bis er die Karte ablegte, aber er antwortete nicht.
„An deiner Stelle hätte ich auch Angst“, sagte Colomba. „Aber hier bist du in Sicherheit. Niemand kann dir etwas tun.“
Tommy saß reglos da, der Zweifel stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dann nahm er mit zitternden Fingern die Karten und legte sie nebeneinander auf die Bettdecke, sortiert nach Farben und Wert. Als er fertig war, hob er den Zeigefinger.
„Soll ich eine nehmen?“
Tommy nickte.
Colomba lächelte. „Es gibt Menschen, die unentwegt reden, ohne dass man begreift, was sie einem eigentlich mitteilen wollen … Du gehörst nicht dazu.“ Sie streckte die Hand nach einer beliebigen Karte aus, aber Tommy schlug einmal kurz auf die Decke. Colomba hielt inne. Offenbar wollte Tommy nicht, dass sie eine auswählte, sondern dass sie eine bestimmte nahm. „Also gut, die nicht. Weiter oben, weiter unten?“
Sie bewegte die Hand in konzentrischen Kreisen über den aufgereihten Karten … bis Tommy plötzlich heftig klopfte. Colomba hielt inne: Ihre Finger schwebten über dem König der Münzen. Als sie die Karte nahm, wandte der Junge den Blick ab, als habe er Angst davor. Der König der Farbe, die beim französischen Blatt dem Karo entsprach, war ein junger Mann im Profil, mit langen Haaren, Umhang und Krone. Er trug eine Kette mit einem großen Anhänger und hatte eine Axt in der Hand. Die kleine Sonne, die ihn beschien, war eine Goldmünze, aus der ein rotes Gesicht herauslachte. Colomba hatte es noch nie bemerkt und fand es eher bedrohlich als lustig. Die Axt könnte für die Tatwaffe stehen, aber warum ein König?
Sie drehte die Karte zu Tommy um, aber der schaute sie nicht an. „War es jemand mit langen Haaren, der in euer Haus eingedrungen ist? Oder hatte er eine komische Kappe auf?“
Tommy schüttelte den Kopf.
„War es ein Dieb, der Geld mitgenommen hat?“
Noch ein Nein.
Colomba zerbrach sich den Kopf, was sie sonst noch fragen könnte, als Lupo hereinplatzte. Zu seiner Ehrenrettung musste man sagen, dass er geklopft hatte, auch wenn er die Antwort nicht abwarten konnte. „Der Gerichtsmediziner möchte sich den Jungen anschauen. Denken Sie, ich könnte …“
Tommy reagierte, als habe man ihm einen Stromstoß verpasst. Er sprang auf, riss die Decke mit den Karten vom Bett und stieß das Nachtschränkchen um. Mit dem Gesicht an der Wand blieb er stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Augen halb geschlossen. Er zitterte heftig und keuchte.
Lupo schnipste mit dem Finger vor dem Gesicht der Rothaarigen, die mit offenem Mund auf der Schwelle stand. „Aufwachen. Holen Sie den Arzt. Der Junge hat einen Anfall.“
Colomba hatte das Gefühl, selbst einen Anfall zu erleiden. Sie zitterte ebenso heftig wie der Junge.
Das kann nicht sein, dachte sie.
Andererseits … hatte er nicht bereits in ihrem Schuppen diese Haltung eingenommen? Sie hatte sich nichts dabei gedacht, weil sie sein Gesicht nicht sehen konnte, aber jetzt …
Tommy stöhnte und presste sich an die Wand, als wolle er hindurchgehen. An seinem aufgerissenen Mund hing ein Speichelfaden. Colomba schleppte sich mühsam hin und nahm ihn von hinten in die Arme. Ein paar Sekunden verharrte sie so und atmete mit ihm. „Alles wird gut, Tommaso. Du bist in Sicherheit. Du bist ein guter Sohn“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Das Wort „Sohn“ hatte sie absichtlich benutzt, auch wenn es in ihrem Mund brannte. Unvermittelt entspannte sich Tommy und sackte fast in sich zusammen. Dann entwand er sich ihr und sammelte die verstreuten Karten auf, streng nach Farbe und Wert sortiert.
Inzwischen war die Rothaarige mit einem Mann mit grauem Bart und Dreiteiler zurückgekehrt. Wäre er nicht um die siebzig, würde er als Hipster durchgehen, aber es war der Gerichtsmediziner. „Bitte verlassen Sie alle den Raum“, herrschte er sie an. „Und das nächste Mal fragen Sie bitte einen Arzt, ob Sie mit dem Jungen reden können. Fragen Sie mich.“
Colomba hatte bereits beim „Bitte“ den Raum verlassen, und Lupo kam ihr auf dem Flur hinterhergelaufen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihm einen solchen Schrecken einjage. Zuvor hat er mich nicht einmal angeschaut.“
„Das war vermutlich die Überraschung, keine Ahnung. Fragen Sie am besten den Arzt“, sagte Colomba trocken und beschleunigte den Schritt.
„Wenn er sagt, dass es dem Jungen gut geht, können Sie es ja noch einmal versuchen. Weiterhin inoffiziell natürlich.“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ich Ihnen nicht weiterhelfen kann, Maresciallo. Falls Sie an einem Geständnis interessiert sind, das werde ich von ihm nicht bekommen. Nicht nur, weil er es vermutlich gar nicht artikulieren kann, sondern weil er meines Erachtens unschuldig ist.“
Sie wollte an Lupo vorbeigehen, aber der stellte sich ihr in den Weg. „Sie haben das Haus doch selbst gesehen, Dottoressa. Die Kleider, die Blutspuren …“
„Lassen Sie mich durch.“
„Dass der Junge Angst vor mir hat, kann ich ja verstehen. Aber Sie?“
„Ich habe keine Angst. Ich ärgere mich nur, weil ich wegen Ihnen meine Zeit verschwendet habe.“
„Sie sind keine gute Lügnerin, Dottoressa. Was hat der Junge Ihnen erzählt?“
Colomba ließ ihn stehen und flüchtete sich in ihr Auto. Sie rechnete damit, dass ihr Lupo vor den Wagen sprang, um sie aufzuhalten, aber das geschah nicht. Auf der Straße nach Mezzanotte hielt sie das Gaspedal durchgedrückt, und die Schneeketten ratterten über den Asphalt. Ein paarmal geriet sie ins Schleudern und wäre fast frontal in einen Lastwagen gerast, aber irgendwie konnte sie das Steuer immer wieder herumreißen. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie fuhr. Ihre Bewegungen hatten sich verselbstständigt und wurden nur von einem Funken ihres Bewusstseins gesteuert. Im Geiste war sie drei Jahre in der Zeit zurückgereist.
An jenem Tag stand eine jüngere Colomba vor zehn verrosteten Containern, die man auf dem Terrain eines verfallenen Bauernhofs vor den Toren von Rom aufgestellt hatte. Spezialeinsatzkräfte hatten das Gelände abgesperrt, und die Sprengstoffexperten hatten den Plastiksprengstoff entschärft, mit dem die Türen gesichert waren. Als man sie öffnete, blendete das Sonnenlicht die Personen, die darin eingeschlossen waren. Der Älteste war zwanzig, der Jüngste sechs, und fast alle waren sie in einem erbärmlichen Zustand. Einige von ihnen stolperten auf wackeligen Beinen ins Freie, die meisten blieben jedoch einfach in ihren Zellen sitzen. Ihr Wille war von einem Mann gebrochen worden, der sich für Gott hielt und dreißig Jahre lang ungestört sein Unwesen treiben konnte, der Kinder entführte und umbrachte, sie wie Hühner in einer Legebatterie hielt und in ihre Köpfe das wichtigste Gebot einpflanzte, dessen Verletzung mit dem Tode bestraft wurde.
Niemals hinausschauen.
Wenn sich die Tür öffnete, mussten sie sich umdrehen und die nächstgelegene Wand anblicken, die Hände im Rücken verschränkt.
So wie Tommy es getan hat.
Colomba wusste nicht, wie und wann das gewesen sein soll, aber Tommy musste, wie Dante, ein Gefangener des Vaters gewesen sein.

Sandrone Dazieri

Über Sandrone Dazieri

Biografie

Sandrone Dazieri, geboren 1964 in Cremona, ist einer der erfolgreichsten Krimi-Drehbuchautoren Italiens. Er arbeitete als Programmmacher im größten Verlagshaus Italiens und gründete einen eigenen Verlag für Kriminalromane. Mit den Ermittlern Dante Torre und Colomba Caselli eroberte er die...

Pressestimmen
krimi-couch.de

„Sandrone Dazieri ist der unbestrittene Meister des italienischen Spannungsromans. Dies beweist er einmal mehr mit seinem aktuellen Band.“

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