

Jahr um Jahr um Jahr um Jahr Jahr um Jahr um Jahr um Jahr - eBook-Ausgabe
Wie man gefunden wird, wenn niemand sucht
— Inspirierender und herzerwärmender Roman für alle Fans von „Die Mitternachtsbibliothek“Jahr um Jahr um Jahr um Jahr — Inhalt
Wie wollen Sie in Erinnerung bleiben?
An einem gewöhnlichen Morgen in einem gewöhnlichen Jahr haben Tommys Eltern über Nacht vergessen, dass das Kind im Kinderzimmer nebenan ihr Sohn ist. Ein Schicksal, mit dem Tommy fortan leben muss. Jahr um Jahr am selben Tag vergessen alle um ihn herum seine Existenz, und er erlebt seinen eigenen universellen Neustart, den Reset. Doch dann passiert etwas Außergewöhnliches: Tommy verliebt sich. Entschlossen, sein eigenes Leben zu gestalten und die Frau seiner Träume für immer für sich zu gewinnen, versucht er von nun an alles, um den Reset zu überlisten und in Erinnerung zu bleiben.
Sie haben Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig gelesen? Dann werden Sie auch Jahr um Jahr um Jahr um Jahr lieben!
„Originell, fesselnd, bezaubernd“ – Graeme Simsion, New York Times-Bestsellerautor von Das Rosie-Projekt
Leseprobe zu „Jahr um Jahr um Jahr um Jahr “
PROLOG
Tommy hatte nicht vorgehabt, in seiner letzten Nacht in dem alten Haus drei Hemden und vier Garnituren Unterwäsche durchzuschwitzen. Aber das lag daran, dass er nie zuvor einen Plan gehabt hatte … jedenfalls keinen wie diesen.
Er wünschte, sein Plan enthielte auch eine Methode, um sich abzukühlen. An seinem unteren Rücken sammelte sich der Schweiß, und er spürte, dass ihm das Geld dort bereits an der Haut klebte. Die restlichen Banknoten hatte er sich in dicken Bündeln in Socken, Hosentaschen und zwischen mehrere Lagen Unterhosen geschoben. Bei dem [...]
PROLOG
Tommy hatte nicht vorgehabt, in seiner letzten Nacht in dem alten Haus drei Hemden und vier Garnituren Unterwäsche durchzuschwitzen. Aber das lag daran, dass er nie zuvor einen Plan gehabt hatte … jedenfalls keinen wie diesen.
Er wünschte, sein Plan enthielte auch eine Methode, um sich abzukühlen. An seinem unteren Rücken sammelte sich der Schweiß, und er spürte, dass ihm das Geld dort bereits an der Haut klebte. Die restlichen Banknoten hatte er sich in dicken Bündeln in Socken, Hosentaschen und zwischen mehrere Lagen Unterhosen geschoben. Bei dem Gedanken, wie er wohl aussehen mochte, stieß er ein sarkastisches, lautloses Schnauben aus. Er war allein in dem kleinen Zimmer, aber die Wände waren dünn, und in der schwülen Hitze kam ihm alles irgendwie lauter vor. Auf keinen Fall sollte jemand anklopfen, weil sie ihn mitten in der Nacht lachen gehört hatten. Wie sollte er ihnen seinen Aufzug erklären?
Also verhielt sich Tommy ruhig und wartete auf den Schlaf. Wenn es funktionierte, würde er das verdiente Geld vielleicht behalten können, den Lohn für seine schwieligen Hände und schmerzenden Schultern. Und womöglich würde er sie dann endlich finden – und das war es, worauf es ankam. Tommy wusste, dass sie nach ihrer Abreise kein einziges Mal mehr an ihn gedacht hatte. Das war zwar nicht ihre Schuld, doch es erschwerte ihm deutlich, sie davon zu überzeugen, dass sie ihn früher geliebt hatte.
Tommy ließ den Blick durch den dunklen Raum schweifen, über die Einrichtung des Zimmers, in dem er fast siebzehn Jahre lang zu Hause gewesen war, und kam zu dem Schluss, dass es ihm nicht fehlen würde. Nicht, wenn sein Plan aufging. Noch vor Sonnenaufgang würde er spurlos verschwunden sein. Irgendwann würden sich die anderen aus den Betten quälen und ihrem Tagwerk nachgehen, ohne sich zu erinnern, dass er jemals hier gewesen war.
Und warum auch?
Schließlich hatten sie sich noch nie an ihn erinnert.
Kapitel 1
Leo Palmer kannte einen Partytrick, der allerdings, wie er selbst wusste, nicht gerade ein Knüller war. Unter Berücksichtigung der Verkehrslage, des Wetters und einer Reihe weiterer Komplikationen konnte er an jedem beliebigen Tag sekundengenau ausrechnen, wie lange der 457er-Bus von der Innenstadt bis zu seiner Haltestelle in Ingleby brauchen würde. Er konnte diese Berechnungen auch für weitere Buslinien anstellen, aber die interessierten ihn nicht und andere Leute noch viel weniger.
Er hatte den Trick einmal bei der Weihnachtsfeier im Büro vorgeführt in der Annahme, eine Gruppe von Buchhaltern würde diese Kunst zu würdigen wissen. Seine Kollegen hatten sich wenig begeistert gezeigt, was für Buchhalter sozusagen ein natürlicher Zustand ist. Leo störte sich nicht daran. Was ihn faszinierte, waren Zahlen; Menschen folgten abgeschlagen auf dem zweiten Platz.
Okay, das stimmte nicht ganz. Zwei Menschen waren ihm nämlich wichtiger als alle Zahlen der Welt, wichtiger als Bilanzen oder der Fahrplan der Linie 457. Die wichtigsten Posten in seinem Kassenbuch waren seine Frau und sein Sohn, und wenn es nach Leo Palmer ging, würde es auch so bleiben.
Zugegeben, all das war ziemlich normal. Ein Buchhalter mit einer Vorliebe für Zahlen war normal, und genauso normal war ein Familienvater, der seine Frau und seinen Sohn liebte. Tatsächlich verlief Leos Leben insgesamt recht gewöhnlich, und genau das ist der Punkt: Leo und Elise Palmer waren durchschnittlich. Sie hatten nichts getan, um für das, was da kommen würde, ausgewählt zu werden. Sie existierten einfach.
Wie bei jedem normalen Paar gab es bei ihnen hin und wieder Streit, und sie stritten sich auch an dem Tag, an dem sie den Mietvertrag für ihre Zweizimmerwohnung unterschrieben: Erdgeschoss, verwitterter Backstein und davor ein Weg aus rissigem Beton, auf dem kniehoch der Löwenzahn stand.
„Himmel, was bist du nur für ein Geizkragen, Leo!“, rief Elise halb scherzhaft, halb im Ernst, als sie das neue Zuhause inspizierte, und ihr Mann verdrehte die Augen.
„Das hast du doch gewusst, als du mich geheiratet hast“, versetzte er und zupfte mit beiden Händen an dem Unkraut. Endlich löste sich die Pflanze aus dem Boden, und er warf sie zufrieden lächelnd neben den Weg. „Es ist ja nicht für immer. Wir halten uns einfach an den PLAN, und alles wird gut.“
„Ach ja, der PLAN“, wiederholte Elise und musste ebenfalls lächeln. Sie hatten lange über den PLAN diskutiert, den Elise im Geist immer in Großbuchstaben vor sich sah, weil er ihrem Mann so viel bedeutete. Phase eins des PLANS bestand aus fünf Jahren in Ingleby, zwei Beförderungen für Leo, drei Gehaltserhöhungen und einem weiteren Umzug. Phase zwei würde sich ganz woanders abspielen, und zwar in einem Haus mit Garten, zwei Wagen in der Garage, zwei Bädern, drei Zimmern und zwei Kindern, die darin wohnten.
Der kleine Junge, der ein knappes Jahr nach ihrem Einzug auf die Welt kam, hatte von dem PLAN allerdings noch nie gehört. Daher nahm er auch keine Rücksicht auf die Tatsache, dass er den Ablauf von Phase eins störte. Aber zu Elises Erstaunen freute sich Leo Palmer über diese Abweichung, was sie mehr überraschte als die Schwangerschaft selbst. Manche Männer sind geborene Väter, und wie sich herausstellte, war Leo ein solcher Mann. Er änderte bereitwillig den PLAN, um den pausbäckigen blonden Jungen in ihrer Zweizimmerwohnung in Ingleby willkommen zu heißen. Außerdem verkürzte er Phase eins um zwei Jahre. Er war fest entschlossen, das Kinderbett aus dem Wohnzimmer zu verbannen und seinem Besitzer ein eigenes Zimmer zu verschaffen, einen Garten und all die anderen Dinge, die ein normales Familienleben eben so mit sich bringt. Denn genau das waren sie: normal.
Elise klopfte bei der Nachbarin an, lauter, als die Höflichkeit gebot, aber Mrs Morrison war über siebzig und hörte kaum ihren eigenen Fernseher. Elise hingegen hörte ihn jeden Abend. Es störte sie nicht, denn es erinnerte sie an ihre Großmutter.
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ein wässriges, von Falten gerahmtes graues Auge spähte heraus.
„Hi, Mrs Morrison“, sagte Elise fröhlich, woraufhin sich die Tür vollständig öffnete.
„Tut mir leid, Liebes“, sagte die Nachbarin. „Ich wusste nicht, dass Sie es sind. Kommen Sie herein.“ Sie verriegelte die Tür hinter ihnen und senkte den Blick auf den Jungen, der bequem auf Elises Hüfte saß.
„Und du auch, mein Schätzchen. Was bist du wieder gewachsen!“
Elise verzog das Gesicht. Der dumpfe Schmerz in ihrem Kreuz war der Beweis dafür.
Mrs Morrison bemerkte es und sagte: „Setzen Sie ihn doch ab, Liebes. Will er immer noch nicht laufen?“
Elise ließ ihren Sohn auf den sauberen Linoleumboden hinunter. „Noch nicht, aber hoffentlich bald. Alle anderen in seiner Spielgruppe können schon laufen.“
Die alte Frau beugte sich zu dem kleinen Jungen hinab und streckte eine Hand aus, als verstreue sie unsichtbares Vogelfutter, um ihn zu sich zu locken. Wie nicht anders zu erwarten, rührte er sich nicht vom Fleck. Wenn er sich Mummy und Daddy zuliebe noch nicht auf die stämmigen Beinchen erhoben hatte, würde er es für die alte Dame von nebenan erst recht nicht tun.
Kopfschüttelnd richtete sich Mrs Morrison wieder auf. „Lassen Sie ihm ruhig ein bisschen Zeit. Mein Mark war schon zwei, als er endlich laufen konnte. Und der Kleine ist ja noch nicht mal ein Jahr alt, oder?“
„Fast! Morgen hat er Geburtstag“, sagte Elise. „Und darum bin ich hier. Ich würde mich freuen, wenn Sie am Nachmittag auf ein Stück Kuchen bei uns vorbeischauen, falls Sie nicht anderweitig beschäftigt sind. So gegen drei vielleicht? Aber natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.“
Mrs Morrison lächelte. Sie fand es wunderbar, dass nebenan eine junge Familie wohnte, vor allem eine, die sie gern in ihr Leben mit einbezog. Vor dem Einzug der drei war sie sich vorgekommen wie die Letzte ihrer Art – eine hartnäckige Erinnerung daran, wie es früher einmal in Ingleby gewesen war. Ihr Lächeln verblasste, als sie an ihren eigenen Sohn dachte. Auch Mark war ein lieber Junge und später ein reizender Mann gewesen, und er war nicht schuld daran, wie sich die Dinge letztlich entwickelt hatten. Es lag an diesen Freunden. Und an der Wohngegend. Immer wenn es klingelte, rechnete sie inzwischen damit, dass es die Polizei war, die ihr wieder einmal schlechte Nachrichten überbringen musste.
„Sie schließen doch nachts immer schön die Türen ab, Liebes?“, fragte sie.
„Aber natürlich, Mrs Morrison.“
„Wenn Sie nur wüssten, wie es hier vor vierzig Jahren gewesen ist“, murmelte die alte Dame fast entschuldigend, und Elise brauchte keine weiteren Erklärungen. Ihre Nachbarin sagte diesen Satz bei jedem Gespräch, und sie wusste, was als Nächstes kommen würde. Elise musste das Thema wechseln, bevor Tränen in die blass gewordenen grauen Augen traten.
„Dann also morgen um drei. Nur Sie und wir drei. Leo wird sich einfach krankmelden.“ Das war eine große Sache für ihn und hatte ursprünglich keineswegs zu dem PLAN gehört.
Mrs Morrison kehrte in die Gegenwart zurück. „Ach, der Kuchen“, sagte sie. „Ist Ihr Ofen noch kaputt? Wenn Sie wollen, können Sie meinen benutzen.“
„Oh, kein Problem, ich habe bereits gebacken“, erklärte Elise. „Die Temperaturanzeige ist kaputt, das ist alles. An den Rändern ist der Kuchen ein bisschen verbrannt, aber er hat eine dicke Glasur. Man wird es gar nicht merken.“
Zu ihren Füßen spielte der Junge mit einem Türstopper Rakete. Elise hob den Kleinen hoch, und er winkte der freundlichen Dame von nebenan mit einer pummeligen kleinen Hand zum Abschied. Mrs Morrison winkte zurück, und ihr hüpfte das Herz vor Stolz, eine adoptierte Großmutter zu sein. Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um und fragte sich, was sie einpacken und dem Jungen zum Geburtstag schenken könnte.
Die Gedanken darüber hätte sie sich sparen können. Mrs Morrison würde an keinem Nachmittagstee teilnehmen wie übrigens auch Leo und Elise Palmer nicht. Was allerdings keiner von ihnen wusste.
Es war längst dunkel, als erst ein Schlüssel in das eine, dann ein zweiter in das andere Türschloss glitt und Leos Rückkehr von der Arbeit verkündete. Auf Zehenspitzen kam er herein und stieg leise über die Spielzeuge hinweg, die überall im Flur verstreut lagen. Wenn er gegen eines trat, es auch nur leicht mit dem Zeh anstieß, würde er bestimmt den Jungen wecken, der in seinem Bettchen an einer Wand des Wohnzimmers schlief. Leo warf einen Blick auf seinen Sohn. Er hatte einen Daumen im Mund; seine Brust hob und senkte sich leicht, während er träumte. Die Metallstäbe des Bettchens schimmerten matt in dem Licht, das aus der halb geöffneten Schlafzimmertür drang.
Auf Kissen gestützt und mit einem Buch vor sich, lag Elise auf ihrer Seite des schmalen Doppelbetts. Natürlich las sie; auf ihrem Nachttisch stapelten sich die Bücher.
„Tut mir leid, dass es so spät geworden ist“, flüsterte Leo. „War heftig heute. Ich habe das Gefühl, eine Erkältung ist im Anflug. Morgen werde ich wohl zu Hause bleiben müssen.“ Er zwinkerte Elise zu, und sie lächelte. „Bin gleich wieder da“, sagte er. „Will nur kurz den Kuchen probieren.“
Auf Zehenspitzen schlich er zum Kühlschrank. Als er die Tür aufzog, klirrte eine Bierflasche, und er hielt den Atem an.
Aus dem Kinderbett kam kein Mucks. Ein kleines Wunder.
Leo stand vor dem Kühlschrank und bewunderte Elises Werk. Zwei schlichte Butterkuchen hatte sie in eine beeindruckende Nachbildung von Thomas, die kleine Lokomotive verwandelt, der Lok aus der Lieblingssendung des Jungen. Die dicke blaue Glasur war vermutlich süß und köstlich, allerdings hatte Leo den Verdacht, dass sich darunter ein paar angebrannte Stellen verbargen. Er lächelte. Bestimmt lag es an dem kaputten Thermostat. Wie immer.
Neben einer kleinen Vase auf dem Tisch im Wohnzimmer entdeckte er das Geschenk, das er ausgesucht hatte. Elise hatte es sorgfältig verpackt, und nun lag es dort und wartete darauf, von einem neugierigen Kind aufgerissen zu werden. Er warf einen Blick in das Gitterbett, betrachtete zärtlich das sandfarbene Haar und die weiche, glatte Haut seines Sohnes.
„Nacht, Kumpel. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bist du ein Jahr alt“, flüsterte er so leise, dass er es selbst kaum hörte.
Dann schlich er zurück ins Schlafzimmer, und Elise schaltete das Licht aus.
„Leo!“
Er regte sich im Schlaf.
Elise stieß ihm den Ellbogen in die Brust. „Leo!“, flüsterte sie noch einmal laut.
„Mhm?“, murmelte er schläfrig.
„Wach auf! Da draußen ist jemand!“ Ihre Stimme überschlug sich fast vor Panik.
Leo verspürte einen Adrenalinstoß und riss die Augen auf. Reglos lauschte er auf das, was seine Frau derart verstört hatte.
Da.
Ein leises Geräusch, fast wie ein Schniefen.
Dann Stille.
Erneut ein Geräusch. Diesmal ein Rascheln.
Es kam aus dem Wohnzimmer.
Bereits am Tag ihres Einzugs hatte Leo gewusst, dass so etwas passieren könnte. Ein Einbruch gehörte zwar nicht zum PLAN, war aber immer eine Fußnote darin gewesen, ein Risiko, das mit der geringen Miete einherging. Manchmal hatte er sich gefragt, ob er dann kämpfen oder fliehen oder vielleicht sogar die dritte Option wählen und sich einfach tot stellen würde.
Aber letztlich traf er gar keine bewusste Entscheidung. Ohne nachzudenken, sprang Leo aus dem Bett, blieb im Flur vor der Tür zum Wohnzimmer stehen und lauschte angestrengt.
Er nahm einen tiefen Atemzug, griff um die Ecke nach dem Lichtschalter und legte ihn um. Grelles Licht drang in das Schlafzimmer, und er trat beherzt aus der Tür, blieb aber gleich darauf wie angewurzelt stehen und sah sich blinzelnd um.
Schweigen.
„Leo?“, rief Elise mit zitternder Stimme. „Bist du noch da?“ Das Herz hämmerte ihr dermaßen laut in der Brust, dass Leo (und wer sonst noch in dem Zimmer sein mochte) es bestimmt hörte.
Endlich antwortete ihr Mann. Seine Stimme klang gepresst. Und verwirrt.
„Komm her, Elise. Schnell.“
Nur acht Minuten später tauchte ein Streifenwagen auf, dessen Scheinwerfer die Umgebung abtasteten, während der Fahrer ohne Hast oder besondere Sorgfalt vor dem heruntergekommenen Häuserblock parkte. Constable James Elliott war nur zwei Straßen entfernt gewesen, aber er ließ die Leute gern in dem Glauben, er sei extra für sie herbeigeeilt. Gut fürs Image, dachte er und blickte an dem niedrigen Gebäude empor.
Er lachte freudlos, als ihm klar wurde, dass er schon einmal hier gewesen war. Nur ein einziges Mal allerdings, vor etwa zehn Jahren, am dritten Tag dessen, was er für den Beginn einer steilen Karriere voller Medaillen und Ehrungen und Beförderungen gehalten hatte (womit er bislang falschlag). Damals hatte sein Vorgesetzter fast an derselben Stelle geparkt und vom Wagen aus beobachtet, wie der junge Polizeibeamte auf Probe nervös zur Tür einer Wohnung im Erdgeschoss gestapft war. Der Neuling sollte eingeführt werden, indem er eine alte Dame über den Tod ihres Sohnes in Kenntnis setzte. Elliott verzog das Gesicht bei der Erinnerung daran, wie der Frau die Tränen gekommen waren, als er ihr mitteilte, ihr Sohn sei in einem Haus in der Nähe im Schlaf gestorben. Er erzählte ihr nicht, dass er an seinem eigenen Erbrochenen erstickt war. Er erwähnte auch nicht, dass der Mann nach Elliotts Ansicht mit vierundvierzig zu alt gewesen war, um noch immer mit drei anderen Versagern in einem Dreckloch zu wohnen.
Einen Moment lang fragte er sich, ob die alte Frau wohl noch lebte. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Mrs Morrisons Tür öffnete sich ein paar Zentimeter, während er noch den rissigen, von Unkraut bewachsenen Pfad hinaufging. Sie hatte das Blaulicht gesehen, als sie sich langsam zur Toilette tastete. (Immerhin war es fast 2 Uhr nachts, und von einer Frau ihres Jahrgangs konnte wohl niemand erwarten, die ganze Nacht ohne Gang zur Toilette durchzuhalten.)
„Was wollen Sie?“, rief sie trotzig durch den Türspalt, fast als wollte sie den Officer herausfordern, ihr eine schlechte Nachricht zu überbringen.
„Ja leck mich“, murmelte Constable Elliott. „Sie ist es wirklich.“
„Haben Sie wegen des Kindes angerufen?“, fragte er. Seine Stimme hallte in der Stille der Nacht wider.
Die alte Frau starrte ihn verständnislos an.
„War hier irgendwo ein Kind?“, fragte er.
Immer noch dieser verwirrte Blick.
„Gehen Sie wieder rein“, sagte er, und Mrs Morrison tat wie ihr befohlen. Sie musste wirklich dringend aufs Klo.
„Verdammt alt geworden, die Gute“, sagte Elliott zu sich selbst und überprüfte noch einmal die Angaben auf seinem Notizblock. Er schüttelte den Kopf und klopfte an die Tür nebenan.
Ihm öffnete ein großer Mann mit dichtem hellem Haar, der sich als Leonard Palmer vorstellte.
„Sind Sie es, der wegen des vermissten Kindes angerufen hat?“, fragte der Constable.
„Ähm … ja“, antwortete Leo. „In gewisser Weise schon.“
„Was soll das heißen?“, fauchte Elliott, der bereits die Geduld verlor. Und das nach nur zehn Sekunden, dachte er. Wahrscheinlich ein neuer Rekord.
„Na ja, wir vermissen kein Kind“, sagte Leo gedehnt. „Wir … wir haben sozusagen eins gefunden.“
Dreimal erzählten Leo und Elise dem Officer ihre Geschichte, einmal neben dem Kinderbett und dann noch zweimal, während sie ihm am Esstisch gegenübersaßen. Elliott schnitt jedes Mal neue Grimassen und kritzelte wütend etwas in seinen Block.
„Also gut“, sagte er schließlich. „Wer auch immer dieses Baby hiergelassen hat … Hat er auch das Kinderbett aufgebaut?“
Sie nickten.
„Während Sie beide geschlafen haben.“
Sie nickten erneut.
„Und wovon sind Sie aufgewacht?“
„Wir haben ihn gehört“, sagte Elise, deren Gesicht blass und angespannt wirkte, weil sie nicht fassen konnte, dass sie an ebenjenem Tisch verhört wurden, an dem sie normalerweise frühstückten.
„Wen haben Sie gehört? Die Person, die das Kinderbett zurückgelassen hat?“
„Nein“, sagte sie. „Ihn.“ Sie deutete auf den kleinen Jungen, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, die Beine in den Laken verheddert. Sein Blick huschte neugierig zwischen den drei Menschen hin und her, die sich an seinem Bett versammelt hatten. Der Aufruhr schien ihn zu faszinieren.
„Und dann haben Sie die Polizei gerufen. Weil Ihr Baby Sie geweckt hat.“ Constable Elliott seufzte. „Ja leck mich“, sagte er erneut, diesmal nicht ganz so leise.
Leo öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Elise legte ihm eine Hand auf den Arm, woraufhin er innehielt und sich sammelte.
„Das haben wir Ihnen doch gesagt. Es ist nicht unser Kind. Wir … wir haben keine Kinder. Noch nicht.“ Er hätte gern hinzugefügt, dass Kinder in dieser Phase des PLANS nicht vorgesehen waren, dass Babys erst in Phase zwei kommen würden, aber das würde den Polizisten vermutlich nicht interessieren.
Womit er recht hatte.
Constable Elliott starrte das Ehepaar erneut durchdringend an. Dann schaute er sich demonstrativ in dem Raum um, als suche er nach versteckten Kameras. Irgendetwas stimmte hier nicht.
„Das soll wohl ein Scherz sein, was?“ Die beiden schüttelten den Kopf. „Okay, was haben Sie genommen?“
Elise und Leo sahen sich verwirrt an.
„Welche Drogen haben Sie genommen?“, hakte der Polizist nach. Er seufzte, unternahm nicht einmal den Versuch, seine Frustration zu verbergen. „Hören Sie, niemand bricht in eine Wohnung ein, um ein Baby zurückzulassen. Ich werde Ihnen sagen, was meiner Meinung nach wirklich passiert ist. Sie beide haben sich einen schönen Tag mit Wer-weiß-was gemacht. Nachts um zwei ist Ihnen eingefallen, dass Sie meine Zeit verschwenden könnten, indem Sie mich anrufen und mir erzählen, Sie hätten das Kind vergessen, um das Sie sich kümmern sollten. Hab ich recht?“
Aber noch während er sprach, wurde er unsicher … auch wenn er es niemals zugeben würde. Diese Leute sahen nicht wie Drogenabhängige aus. Sie sahen aus wie … verdammt, sie sahen aus wie Lehrer auf einer Klassenfahrt, die mitten in der Nacht aufgestanden waren, um die Kids in ihre Betten zurückzuschicken. Und in dem Wohnzimmer roch es auch nicht nach kaltem Marihuanarauch. Es roch … na ja, es roch, als lebte dort ein Kind. Es roch nach Windeln und Babypuder. Und nach Milch.
Wie winzige Hammerschläge setzten über seinem linken Auge die Kopfschmerzen ein. Das Haus wirkte von außen ziemlich ungepflegt, aber innen war alles wie aus dem Ei gepellt: saubere Fußböden, hübsche Möbel, jede Menge Bücherregale, an den Wänden Bilderrahmen, die alle auf gleicher Höhe hingen. (Gerahmte Bilder waren in dieser Gegend eher unüblich. In den meisten Wohnungen, die er betrat, gab es nur ein oder zwei Poster; irgendeine schäbige Heavy-Metal-Band, die ein in die Wand geschlagenes Loch überdeckte.) Der Tisch neben dem Kinderbett war bis auf ein weiß-rosafarbenes Blumensträußchen komplett leer.
„Wir sind nicht drauf“, erwiderte Leo. „Wir wissen nicht, was passiert ist. Ich weiß, es klingt merkwürdig …“
„Ach ja?“, fiel ihm der Polizist ins Wort. „Finden Sie?“
Der kleine Junge fing an zu weinen. Erneut tauschten Leo und Elise Blicke, rührten sich aber nicht.
Das Hämmerchen im Kopf des Polizisten wurde etwas größer.
„Warum heben Sie ihn nicht hoch?“, fragte er, als der Junge schließlich laut weinte. Elliott wollte nur, dass der Lärm aufhörte.
Elise stand auf, beugte sich über das Gitterbett und holte den Jungen heraus. Da stand sie und hielt ihn unbeholfen unter beiden Achseln.
Komisch, dachte Elliott. Eigentlich tragen sogar die völlig Abgefuckten ihre Babys auf der Hüfte.
„Warten Sie hier“, befahl er. „Ich muss die Sache melden.“
Zehn Minuten später kam er zurück und sah aus, als hätte er schlechte Nachrichten erhalten oder wäre lieber woanders. Möglicherweise beides. Der Junge hatte aufgehört zu weinen und saß nun auf der Couch auf Elises Knie. Er spielte mit ihren Haaren, drehte sie um seine pummeligen Finger.
„Sie haben also beide Arbeit?“, fragte Elliott und versuchte, lässig zu klingen, während er in Wirklichkeit immer verzweifelter seine Theorie zu bestätigen versuchte, dass sie nur die üblichen Süchtigen waren.
„Natürlich“, antwortete Elise. „Leo ist Buchhalter, und ich bin Englischlehrerin. An der Highschool, aber ich kann auch auf Collegeniveau unterrichten“, fügte sie leicht verlegen hinzu, als müsste sie etwas beweisen.
„Na schön.“ Elliott winkte ab. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er bekam es nur nicht recht zu fassen, und er zählte die Minuten, bis diese Sache das Problem eines anderen sein würde. „Ich werde Ihnen sagen, wie es jetzt weitergeht“, setzte er an. „Das Jugendamt wird bald hier sein, um mit Ihnen über Ihr Kind zu sprechen.“
„Er ist nicht unser …“
„Ach, hören Sie doch auf! Man wird Sie einem Drogentest unterziehen. Und man wird Sie fragen, warum Sie die Geburt nicht gemeldet haben.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Leo.
„Es ist nirgendwo dokumentiert, dass der Junge hier lebt.“ Leo und Elise wollten protestieren, aber Elliott hob nur abwehrend die Hände. „Hey, so was kommt vor“, sagte er. „Jedenfalls in dieser Gegend.“
Elise sprang auf. Sie hatte offenbar vergessen, dass sie ein Kind hielt, und der Junge, der auf ihrem Schoß spielte, rutschte auf den Boden und landete schmerzhaft auf dem Po. Er fing an zu kreischen, ein durchdringendes Geräusch, das Elise und Leo zusammenzucken ließ.
Elise hob ihn wieder hoch, und Elliott brüllte über die heiseren Schreie des Jungen hinweg: „Können Sie ihn nicht zum Schweigen bringen? Ich weiß nicht, ihm ein bisschen Milch geben oder so?“
Leo öffnete den Kühlschrank, und eine Bierflasche klirrte. Sie hatten keine Milch. Abgesehen von dem Bier in der Tür, einer Packung Käse und einem Teller mit drei Würstchen war der Kühlschrank leer.
„Vergessen Sie’s“, sagte der Polizist, als es an der Tür klopfte. „Ich bin raus.“
Die beiden Mitarbeiter des Jugendamts, ein Mann und eine Frau, stellten sich vor. Sie trug ein Kostüm, er einen Anzug mit knittrigem Hemd und ohne Krawatte – die Uniform von Leuten im Bereitschaftsdienst, die nicht mit einem Einsatz gerechnet hatten.
Noch in der Wohnungstür setzte James Elliott die beiden rasch ins Bild und deutete auf das Paar auf der Couch. Der Junge saß nun auf Leos Schoß, dessen Miene genauso verwirrt und benommen wirkte wie die seiner Frau wenige Minuten zuvor.
Falls ich jemals Kinder haben sollte, dachte Elliott beim Hinausgehen, sehe ich hoffentlich wenigstens so aus, als wüsste ich, was ich tue. Der Typ da hat keinen blassen Schimmer. Gib dem Kind doch etwas, womit es spielen kann, verdammt, irgendetwas, um es abzulenken.
Er befand sich auf halbem Weg zurück zu seinem Wagen, wobei ihm der Schmerz immer noch im Kopf herum hämmerte, da begriff er plötzlich. Es gab kein Spielzeug. Kein Auto, keine Bauklötze, nicht mal einen Teddy. In diesem Wohnzimmer befand sich nichts dergleichen. Sogar Junkies haben Spielzeug, dachte er. Es ist vielleicht schmutzig, aber immerhin etwas, worauf die Kleinen herumkauen können, während Mum und Dad unter den wachsamen Augen von Led Zeppelin, deren Poster die Löcher in den Wänden verbirgt, ihren Rausch ausschlafen.
Aber in diesem Haus gab es keine Poster, sondern nur gerahmte Bilder, die fein säuberlich an der Wand hingen.
Fotos von Mum und Dad zusammen.
Ohne Baby.
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