Islandhof Hohensonne 1 (Islandhof Hohensonne 1) Islandhof Hohensonne 1 (Islandhof Hohensonne 1) - eBook-Ausgabe
Solons Geheimnis
Islandhof Hohensonne 1 (Islandhof Hohensonne 1) — Inhalt
Die dreizehnjährige Frieda lebt mit ihrer Familie auf einem Reiterhof, auf dem Islandpferde gezüchtet werden. Was kaum jemand weiß: Frieda hat eine besondere Gabe, denn sie kann die Wünsche und Gefühle ihres Lieblingspferdes Alvara mit einer Berührung erkennen. Als eine neue Reitlehrerin zusammen mit ihrem Sohn Max auf dem Hof einzieht, merkt Frieda, dass auch Max eine besondere Beziehung zu Pferden hat. Er findet bald Gefallen an dem wilden Wallach Solon, der sich von niemandem reiten lässt. Die beiden Jugendlichen ahnen, dass mit Solon etwas nicht stimmt. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter seinen wilden Anfällen? Gemeinsam setzen Frieda und Max alles daran, Solons Ärger auf den Grund zu gehen ...
Leseprobe zu „Islandhof Hohensonne 1 (Islandhof Hohensonne 1)“
1. Kapitel
Schön und sonst nichts
„Wie lange müssen wir denn noch warten, Frieda?“
„Wann kommt Colin endlich?“
„Der steht da hinten und labert wieder rum.“
Die Reitschüler scharren mit den Füßen, die Pferde ebenfalls.
Ehrlich, mich nervt es auch. Colin, unser Reitlehrer, hat seinen Schülern einen Ausritt versprochen. Aber wer hat mal wieder die Pferde von der Wiese geholt? Ich. Wer hat acht schwere Sättel geschleppt? Ich. Wer hat mindestens sieben Pferde getrenst? Ja, wer wohl? Colin jedenfalls nicht. Braungebrannt und mit seinem Frauenversteherlächeln lehnt [...]
1. Kapitel
Schön und sonst nichts
„Wie lange müssen wir denn noch warten, Frieda?“
„Wann kommt Colin endlich?“
„Der steht da hinten und labert wieder rum.“
Die Reitschüler scharren mit den Füßen, die Pferde ebenfalls.
Ehrlich, mich nervt es auch. Colin, unser Reitlehrer, hat seinen Schülern einen Ausritt versprochen. Aber wer hat mal wieder die Pferde von der Wiese geholt? Ich. Wer hat acht schwere Sättel geschleppt? Ich. Wer hat mindestens sieben Pferde getrenst? Ja, wer wohl? Colin jedenfalls nicht. Braungebrannt und mit seinem Frauenversteherlächeln lehnt er neben einem roten Cabrio und quatscht mit Monas Mutter. Man kann selbst aus dieser Entfernung erkennen, wie toll sie Colin findet. Alle finden ihn toll. Und Colin findet sich natürlich auch unwiderstehlich.
Wir hatten auf unserem Islandhof schon so einige Reitlehrer. Nette, strenge, blöde, lustige, nervige und faule. Colin gehört in die Kategorie „schön, aber sonst nichts“. Er kann nicht besonders gut reiten, er hat kein Auge für die Fehler der Reitschüler, er kann noch nicht mal die Unarten der Pferde korrigieren. Aber er sieht gut aus. So gut, dass meine Cousine Franzi, die im Internet einen Modeblog betreibt, ihn oft als Model nimmt. Dann muss er in ausgeflippten Klamotten auf einem Pferd reiten oder einfach lässig mit einer Mistgabel in der Hand am Stall lehnen. Dass ich nicht lache – als würde er jemals ausmisten! Das mache natürlich auch ich.
„Du bist ja nur sauer auf ihn, weil er sich nicht für dich interessiert“, sagt Franzi gerne. Aber das stimmt wirklich nicht. Es ist mir egal, wie er mich findet. Ich kann ihn nämlich nicht ausstehen.
Überhaupt finde ich, dass wir gut ohne Reitlehrer klarkommen. Obwohl ich erst dreizehn Jahre alt bin, unterrichte ich oft die Kindergruppe. Papa hat die F1- und die F2-Gruppe und eine Therapiegruppe gibt es auch noch. Die leitet meine Oma. Sie ist nämlich auch noch ganz schön flott unterwegs.
Jetzt grinst Colin sein selbstgefälliges Lächeln und schiebt die Sonnenbrille lässig in die Haare. Monas Mutter lacht glockenhell. Die Pferde neben mir tanzen. Es ist warm in der Nachmittagshitze. Mir reicht es!
„Colin! Kommst du endlich? Wir warten seit einer halben Stunde“, schreie ich so laut, dass es alle hören können.
Colin schaut zu mir, ganz kurz nur.
„Hol mir mal Brana“, sagt er dann. „Oder, nein, ich nehme heute Refur.“
Geht’s noch? Ich bin doch nicht sein Stallbursche. Er kriegt Geld für seine Arbeit. Ich kriege für das, was ich tue, keinen Cent. Meine Arbeit ist ehrenamtlich! Meiner Familie gehört nämlich der Hof und für uns ist es selbstverständlich, hier mitanzupacken.
Ich bemühe mich, langsam bis zehn zu zählen. Leider komme ich nur bis acht. Dann schreie ich los: „Ich bin doch nicht dein …“ Pferdeknecht will ich eigentlich rufen, doch da legt mir jemand die Hand auf die Schulter. Papa.
„Hol Refur schnell“, sagt er in seiner ruhigen Art. „Sonst kommt ihr nie weg.“ Dann dreht er sich zu Colin um. „Jetzt komm endlich, die Stunde hat längst angefangen“, ruft er lauter.
Colin zischt sauer durch die Zähne. Ich kann es genau hören, obwohl er ein ganzes Stück von mir entfernt steht.
Schnell gehe ich zu dem kleinen Offenstall, in dem Refur steht. Als ich mit dem Hengst wieder auf den Hof komme, auf dem die Pferde angebunden werden, nimmt mir Colin den Strick aus der Hand und zieht Refur zur Anbindestange.
„Ich mach das schon!“, zischt er mir zu.
Er sieht beleidigt aus. Dass Papa ihn zur Arbeit angehalten hat, ärgert ihn. Es ist unglaublich! Da nimmt er sich immer so viele Dreistigkeiten heraus, aber wenn ihn jemand kritisiert, ist er gleich tödlich gekränkt.
„Und welches Pferd nimmst du?“, wendet er sich an mich.
„Ich reite doch gar nicht mit“, gebe ich verwundert zurück. „Ist doch dein Unterricht.“
Jetzt sieht Colin total überfordert aus. „Mit acht Kindern allein im Gelände? Das schaffe ich nicht.“
Wieder unterdrücke ich einen Wutanfall. War es meine Idee, einen Ausritt zu machen? Ist es mein Unterricht? Kann er mich nicht wenigstens vorher fragen, ob ich Zeit habe, ihn zu begleiten? Ich habe auch noch etwas anderes zu tun.
„Du hast den Kindern einen Ausritt versprochen“, erinnere ich Colin. „Wenn du das nicht hinkriegst, solltest du besser Abteilungsreiten auf dem Reitplatz machen.“
Wieder legt Papa kurz seine Hände auf meine Schultern.
„Reite mit, Frieda, okay?“
Seine Augen bitten. Ich kann Papa einfach nichts abschlagen. Er ist der tollste Vater, den ich kenne. Der ruhigste, der freundlichste und der verständnisvollste. Mir bleibt nichts anderes übrig, als wütend zu schnauben. Papa wirft mir einen besorgten Blick zu. Diesen Blick kenne ich schon von ihm. Papa hat nämlich immer Angst, dass er mir zu viel zumutet.
Es gibt wirklich unendlich viel Arbeit auf unserem Hof. Leider zieht sich ausgerechnet mein Bruder Paul immer mehr in sein Zimmer zurück und daddelt die ganze Zeit am Computer rum. Auch meine Cousine Franzi benutzt unseren Hof nur noch als Kulisse für ihren Modeblog – weil Pferde ja so gut bei ihren Fans ankommen. Wenn man ehrlich ist, wird die Arbeit auch für unsere Oma allmählich zu schwer und sie sagt immer häufiger, dass sie kürzertreten muss. Bleiben nur noch Tante Susi, Onkel Steffen, Cousine Greta, Papa und ich, die Zeit für die Pferde haben. Das sind ziemlich wenige Leute für fast fünfzig Islandpferde und einen funktionierenden Reiterbetrieb. Außerdem muss ich ja auch noch zur Schule gehen, auch wenn ich das am liebsten verdränge.
Seufzend mache ich mich erneut auf den Weg, um mir ein Pferd zu holen. Papa begleitet mich ein Stück zur Wiese.
„Ich weiß, dass das alles ziemlich viel ist“, flüstert er mir zu. „Aber Colin ist so schrecklich chaotisch. Wenn du nicht mitreitest, vergisst er bestimmt die Hälfte der Kinder im Wald.“
„Alles klar“, sage ich. Dabei müsste ich am Nachmittag eigentlich noch ein Referat vorbereiten. Mir bleibt nichts anderes übrig, als es auf den Abend zu verschieben. Schlaf wird ja sowieso überbewertet.
Als Alvara mich kommen sieht, läuft sie mir entgegen. Sie ist mein Traumpferd. Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass dieses wunderschöne Pferd tatsächlich nur mir gehört. Alvara ist sieben. Auffallend an ihr ist der durchtrainierte schlanke Körper und die unglaubliche Mähne. „Rotfuchs“ steht in ihren Papieren, aber das trifft es gar nicht so genau. In Wirklichkeit ist sie quietschorange.
Papa sagt immer, dass Alvara und ich so gut zusammenpassen, weil wir genau die gleiche wilde Mähne haben. Dabei sind meine Haare eher rotblond, finde ich. Eigentlich sind sie sogar eher blond als rot. Und so eine wilde Mähne habe ich auch nur selten. Oft mache ich mir nämlich einen Pferdeschwanz oder ich stecke die Haare hoch.
„Endlich!“, stöhnt Colin, als ich mit Alvara zurückkomme. Jetzt tut er so, als hätte es an mir gelegen, dass die Reitstunde fast vorbei ist. Und nun ist er es, der Alvara den Sattel auflegt und beim Trensen hilft, so als hätte er das schon den ganzen Nachmittag gemacht. Wenn es darum geht, die Lorbeeren einzuheimsen, ist Colin natürlich zur Stelle.
Der Ausritt ist eine Katastrophe. Während Colin mit den Mädchen quatscht, die links und rechts an seiner Seite reiten, fällt ihm überhaupt nicht auf, dass Amelie nicht mitkommt und anfängt zu weinen. Auch dass Gustav sein Pferd Hrina immer wieder antreibt, während er gleichzeitig an den Zügel zieht, kriegt Colin nicht mit. Ich reite zwischen Gustav, Amelie, Rosa und Valentin hin und her und versuche, die Gruppe zusammenzuhalten. Colin dagegen plaudert immer noch mit den beiden niedlichen Mädchen an seiner Seite. Frauenheld in allen Bereichen. Nur bei mir kriegt er auf diese Weise keinen müden Punkt.
Als wir aus dem Wald herauskommen und das weite Feld vor uns liegt, kann ich der Stute Hrina ansehen, dass es ihr mit Gustav reicht. Es geht ihr ziemlich auf die Nerven, dass der Junge immer wieder an den Zügeln zieht und ihr damit einen Ruck ins empfindliche Pferdemaul gibt. Jetzt wirft sie den Kopf in den Nacken und schiebt das Gebiss vor.
„Gustav, lass doch mal die Zügel locker“, schlage ich vor und rufe dann Colin zu: „Colin, guck doch mal! Hrina ist total sauer, die geht gleich durch.“
Colin dreht sich nur halb zu uns um. Ist doch nicht seine Aufgabe, für das Ende der Gruppe zu sorgen, denkt er sicher. Hrina macht einen kleinen Satz. Dann noch einen. Ich weiß genau, was jetzt kommt. Hrina ist ein empfindliches Pferd. Wenn man sie nicht in Ruhe lässt …
Auch Gustav scheint zu spüren, wie sich der Pferdekörper unter ihm anspannt. Aber statt sich tief in den Sattel zu setzen, zieht er erneut an den Zügeln. Dann klammert er sich mit den Beinen an den Pferdebauch und merkt gar nicht, dass er Hrina damit antreibt – das Gegenteil von dem, was er eigentlich erreichen will. Hrina rollt den Kopf ein und schüttelt die Mähne. Es ist nur eine kurze schnelle Bewegung, aber sie weiß genau, dass sie den Anfängern auf die Weise die Zügel aus der Hand reißt. Noch einmal schüttelt sie sich. Das reicht aus. Gustav verliert nicht nur die Zügel, auch sein linker Fuß rutscht aus dem Steigbügel. Langsam gleitet sein Körper zur Seite und schließlich fällt er ins Gras. Es geht alles wie im Zeitlupentempo. Bestimmt hat er sich nicht besonders wehgetan, aber er fängt sofort an zu weinen.
Hrina wirkt froh darüber, ihn so einfach losgeworden zu sein. Mit zwei kurzen Sprüngen überprüft sie, ob sie frei ist. Dann rennt sie los.
„Frieda, verdammt! Kannst du nicht aufpassen?“, macht mich Colin an und springt tatsächlich vom Pferd, um an Gustavs Seite zu eilen. Fürsorglich beugt er sich über ihn und tröstet ihn. Dann schaut er Hrina nach, die erleichtert und befreit über die Felder rennt. Die Steigbügel schlagen gegen ihren Bauch, der linke Zügel hängt ziemlich weit herunter.
„Frieda, beeil dich! Pass auf, dass Hrina sich nicht in den Zügeln verfängt“, zischt mir Colin wütend zu. Natürlich ist es mal wieder meine Aufgabe, die Stute einzufangen. Zum Glück bleibt sie an der nächsten Kurve stehen und versucht, das Gras am Wegrand zu knabbern. Typisch Islandpferd. Die haben immer Hunger.
Schließlich kriege ich Hrina zu fassen und bringe sie zu unserer Reitstundengruppe zurück.
Colin lässt Gustav wieder aufsteigen, nimmt jetzt aber Hrina als Handpferd an seine Seite.
„Lasst uns umdrehen“, schlägt er vor. „Die Reitstunde ist sowieso zu Ende.“
Dann wirft er mir einen wütenden Blick zu, als hätte ich das verschuldet. Das macht mich unglaublich sauer.
„Sag mal, du musst dich doch mal umgucken und mitkriegen, was hier für ein Chaos ist“, fahre ich ihn an. „Gustav hat die ganze Zeit an den Zügeln gezogen …“
Jetzt ist Colin echt beleidigt. „Warum sagst du denn nichts?“
Na klar, das ist alles meine Schuld.
„Du warst ganz weit vorne. Als ich es dir sagen wollte …“ Jetzt fange ich auch noch an, mich zu verteidigen. Das macht es eigentlich noch schlimmer.
Colin schaut mich tadelnd an. „Nächstes Mal bist du schneller, okay?“
Oh Mann, ich werde mich rächen. Eines Tages! Ganz bestimmt! Ich weiß nur noch nicht, ob ich ihn vergiften oder erdolchen soll.
Als wir auf dem Reiterhof ankommen, warten die Eltern schon auf ihre Kinder. Gustav sieht seine Mutter und fängt wieder schrecklich zu weinen an.
Seine Mutter ist sofort zur Stelle. „Was ist denn, mein Schatz?“
Gustavs Mutter gehört zu diesen Helikoptermüttern, die ihr Kind ständig umkreisen. Dass sie ihn eine Stunde lang einem Reitbetrieb überlassen musste, hat sie bestimmt wahnsinnig gemacht. Und nun das!
Gustav heult lauter. Colin nimmt ihn in den Arm und erzählt der Mutter, was sich im Gelände zugetragen hat. Ich höre nicht zu – ich weiß auch so, dass er die Schuld auf mich schiebt. Schnell nehme ich den Kindern die Pferde ab und führe sie in den Stall. Als ich zurückkomme, sieht mich Gustavs Mutter böse an. Sie hat längst erfahren, dass alles wieder mal an mir gelegen hat. Jetzt zieht sie ein Taschentuch aus ihrer Jeans und sorgt dafür, dass sich Gustav noch einmal die Nase putzt. Er erinnert mich an ein kleines Baby. Trotzig hat er die Unterlippe vorgeschoben und schaut mich sauer an. Er ist genauso wütend auf mich wie seine Mutter, das kann ich geradezu über die Entfernung spüren. Wortlos gehen sie zum Auto, das kurz darauf mit quietschenden Reifen davonbraust.
Tja, so ist das mit den Helikoptereltern: Sie sorgen sich nur um ihr eigenes Kind. Dass es auf unserem Hof noch andere Kinder, Erwachsene und Pferde gibt, stört sie nicht.
Ich schaue dem Auto nach. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Colin seinen Blick auf mich gerichtet hat.
„Die war ja ganz schön sauer auf dich“, sagt er vorwurfsvoll.
Halt bloß die Klappe, denke ich und beiße mir auf die Lippen.
„Das hätte auch noch viel schlimmer ausgehen können“, fährt Colin unbarmherzig fort.
Halt die Klappe. Halt bloß die Klappe!, ermahne ich mich immer wieder.
„Du musst einfach mehr darauf achten …“
Es ist schrecklich, dass er nicht aufhören kann. Ich merke, wie mir die Wut im Nacken sitzt und langsam in meinen Kopf kriecht.
Verzweifelt versuche ich, mich zurückzuhalten. Bis zehn zählen! Die Zähne fest aufeinander beißen …
„Halt doch endlich deine blöde Klappe!“, schreie ich los. „Merkst du nichts? Du bist der Reitlehrer. Du musstest auf Gustav aufpassen. Aber du hast …“
„Schrei doch nicht so“, versucht Colin, mich zurechtzuweisen. „Wer schreit, hat unrecht“, sagt er noch.
Jetzt verliere ich endgültig die Geduld. „Habe ich aber nicht!“, brülle ich. „Und ich bin nicht die einzige. Jeder auf diesem Hof hat schon lange gemerkt, dass du nichts hinkriegst. Du guckst nur, dass du dich rechtzeitig verdrückst, und suchst einen Dummen, der dir die Arbeit abnimmt.“
„Was?“, tut Colin überrascht.
„Tu doch nicht so!“, schreie ich weiter. „Es weiß doch jeder hier auf dem Hof, dass du eine faule Socke bist. Faul, aber schön. Sonst nichts!“
Es wird ganz still um mich herum. Aus den Augenwinkeln kann ich erkennen, wie alle zu mir herüberstarren. Monas Mutter sieht richtig erschrocken aus. Auch die Reitschüler sind irritiert. Nele geht sogar zu Colin und streicht ihm mitleidig über den Arm.
Verdammt, warum habe ich nicht ein einziges Mal meine Klappe gehalten? Mit meiner Wut mache ich immer alles kaputt. Letztendlich hält sowieso niemand zu mir. Colin ist der Star und nachdem ich ihm so zugesetzt habe, haben auch noch alle Mitleid mit ihm.
Ich sehe, wie Papa und Onkel Steffen auf mich zukommen. Papa legt beschützend seine Hand auf meine Schulter. Dann wendet er sich Colin zu.
„Colin, können wir gleich mal kurz reden?“, höre ich ihn sagen.
Oh, wie lieb ich Papa in diesem Moment habe. Er weiß genau, was wirklich passiert ist: Nämlich, dass Colin wieder einmal völlig planlos durch die Gegend geritten ist und ich auf alle schwierigen Kinder dieser Welt aufpassen musste.
Colin zieht die Augenbrauen zusammen. Ich sehe ihm an, dass er diesen verwunderten Blick nur spielt. Er weiß, dass Papa weiß, was wirklich passiert ist. Jetzt guckt er auf die Uhr.
„Muss das heute sein? Ich habe eigentlich …“
„Ja, das muss heute sein“, erwidert Papa streng.
Ich kann Papa ansehen, dass das ein ungemütliches Gespräch wird. Aber das ist auch dringend nötig. Colin hat schon seit Wochen nur noch das gemacht, worauf er Lust hatte: Ein bisschen reiten und dieses alberne Cowboy-Training mit dem Lasso, damit er auf Franzis Modeblog lässig aussieht. Außerdem mit Frauen quatschen und seine Sonnenbrille putzen. Für den Rest seiner Arbeitszeit hatte er sein sogenanntes „Personal“, nämlich meine Cousine Greta und mich.
„Von mir aus“, gibt sich Colin betont lässig. „Aber wenn es geht gleich. Ich muss nämlich noch weg.“
„In einer halben Stunde“, setzt Papa die Bedingungen. „Du hast ja bis achtzehn Uhr Dienst.“
Wow, das ist ja mal eine Ansage! Bis achtzehn Uhr ist Colin schon lange nicht mehr auf unserem Hof geblieben. Um diese Uhrzeit beginnt die Fütterung und die überlässt er gerne mir. Aber jetzt kann er sich nicht herausreden.
„Von mir aus“, knurrt er.
Ich fange Papas Blick auf und weiß, dass er mit Colin allein reden möchte. Das ist mir recht. Ich will Colin jetzt nicht in die Augen sehen. Schließlich ist mir klar, dass er seinen beleidigten Blick aufgesetzt hat.
Ich gehe zu Alvara in den Offenstall. Hier stehen alle Wallache und Stuten zusammen. Der Innenbereich ist so groß, dass alle genug Platz haben, um sich gemütlich ins Stroh zu legen. Außerdem können die Pferde nach draußen auf den Paddock. Ein paar Meter weiter gibt es noch einen kleineren Offenstall, in dem die Hengste stehen. Und dann gibt es noch ein paar kleine Ställe für Pferde, die in Quarantäne stehen müssen, weil sie krank sind. Auch wenn wir neue Pferde kaufen, müssen sie erst hier alleine stehen, bis sie die Tierarztuntersuchungen hinter sich haben.
Für Islandpferde, die im Winter ein richtig kuscheliges Fell bekommen und die gerne draußen stehen, auch wenn es kalt wird, sind Offenställe eine wunderbare Erfindung. Hier kann jedes Pferd machen, was es möchte und was ihm guttut. Im Sommer können sich die Pferde, die gerne vor der Hitze und den Mücken flüchten, im kühlen Inneren des Stalls aufhalten.
Alvara ist ein Pferd, das gerne draußen steht, im Sommer wie im Winter. Nur wenn ich in den Offenstall komme und mich auf die breite Futterraufe setze, die Onkel Steffen aus Beton gebaut hat, kommt sie zu mir. Eine Weile schnuppert sie an mir und ich streichele ihre Nase. Dann wird es still zwischen uns, denn jetzt folgt unser abendliches Einschlafritual. Alvara schiebt ganz behutsam ihren Kopf auf meine Schulter. Ihr weiches Maul streift meine Wange, ihre weichen Lippen berühren mein Ohr. Dann lehnt sie ihren Kopf an meinen.
Wie immer bin ich ein bisschen unsicher, ob das, was jetzt passiert, Einbildung ist oder ob wir wirklich unsere Gedanken austauschen. Ich bilde mir nämlich ein, Bilder zu sehen, die Alvara im Kopf hat. Vielleicht sind es aber auch nur meine Bilder – das kann ich nicht so wirklich auseinanderhalten. Ich habe jedenfalls plötzlich Bilder vor Augen, von denen ich glaube, dass sie in Alvaras Kopf herumspuken. Heute zum Beispiel ist es das Bild von einer grünen Wiese. Ich kann auch die Pferde sehen, die in der Nähe stehen und fressen. Es muss Alvaras Perspektive sein, aus der ich das alles sehen kann. Das Bild verschwindet langsam. Ich warte eine Weile, atme weiter tief ein und aus. Kommt noch mehr? Manchmal bekomme ich nur ein Bild zu fassen, manchmal aber sehe ich noch mehr Eindrücke. Ruhig atme ich weiter.
Wieder kommt ein Bild. Ich sehe Colin, der eine Satteldecke in der Hand hält. Dann spüre ich einen leichten Druck und höre, wie Alvara intensiver atmet. Wahrscheinlich habe ich den Moment zu spüren bekommen, in dem Colin mein Pferd gesattelt hat. Er war schon zu diesem Zeitpunkt ziemlich sauer auf mich. Vielleicht hat er Alvara mit wütendem Schwung den Sattel auf den Rücken geworfen. Das Bild verblasst. Alvara hat immer noch ihren Kopf auf meiner Schulter. Ruhig atmen wir beide weiter. Jetzt kommt noch ein Bild. Jemand liegt auf dem Weg und weint. Das kann nur Gustav sein. Ich sehe ihn mit den Augen von Alvara, die sich einen kurzen Moment zu ihm hinunterbeugt. Dieses Bild ist so lebendig, dass ich lachen muss. Dieses heulende Baby – wie lächerlich er sich macht mit seinem Gequake. Das scheint auch Alvara so zu sehen. Ich kann geradezu spüren, wie komisch sie ihn findet. Ich kichere und Alvara pustet mir ins Ohr, als würde sie ebenfalls lachen.
Wieder drückt sie kurz ihren Kopf gegen meinen, dann hebt sie ihn von der Schulter. Unser Gedankenaustausch ist beendet. Ich nehme Alvaras Kopf in meine Hände und drücke ihr einen Kuss auf die Nase.
„Schlaf gut, mein Schatz“, flüstere ich. Dann lasse ich sie los. Langsam bewegt sie sich zu den anderen Pferden nach draußen.
Ich springe von der Futterraufe und drehe mich um. Da sehe ich, wie Papa an der Stallwand lehnt. Er hat mich beobachtet.
„Na, habt ihr wieder eine Schmusestunde gehabt?“, fragt er.
Er macht sich immer ein bisschen über uns beide lustig. Aber sein Blick ist dabei weich und zärtlich. Er mag es, dass ich mich so gut mit den Pferden verstehe.
Ich habe einmal versucht, ihm von dem Gedankenaustausch zu erzählen, aber ich habe schnell gemerkt, dass er das alles nur für Einbildung hält.
„Pferde machen sich nicht solche Gedanken“, sagte er damals. „Das sind deine Bilder und du bildest dir ein, dass sie von deinem Pferd kommen. Aber das ist egal, denn es ist wunderschön, dass ihr beide euch so nahe seid.“
Es hat mich ziemlich unsicher gemacht, als Papa das gesagt hat. Haben Pferde keine Bilder im Kopf? Sind es meine Bilder, die ich auf Alvara übertrage? Ich glaube es nicht. Das Bild von dem weinenden Gustav habe ich ganz klar mit Alvaras Augen gesehen. Aber ich habe aufgehört, mit Papa oder irgendjemand anderem darüber zu reden. Das macht die wunderschönen Augenblicke zwischen Alvara und mir nur kaputt. Denn die gehören ganz klar nur uns beiden.
„Ich wollte dich zum Abendessen holen“, sagt Papa nun. „Wir haben einiges zu besprechen.“
„Ich komme“, erwidere ich.
Als ich neben Papa zum Haus gehe, sieht er mich lächelnd an.
„Ich glaube, du hattest heute einen ziemlich schweren Tag, oder?“, fragt er.
„Ach, alles gut“, gebe ich zurück. „Allerdings kann sich Colin darauf gefasst machen, dass er eines Tages ein Messer im Rücken stecken hat.“
Papa lacht und streicht mir kurz über den Rücken. Er weiß, dass ich es nicht ernst meine.
„Damit das nicht passiert, sollten wir alle mal miteinander reden“, schlägt er vor.
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