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Gebrauchsanweisung für ZürichGebrauchsanweisung für Zürich

Gebrauchsanweisung für Zürich

Milena Moser
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„Locker, amüsant und ausgesprochen kenntnisreich.“ - Nürnberger Zeitung

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Gebrauchsanweisung für Zürich — Inhalt

Marmorwaschbecken in öffentlichen Toiletten, Designerstühle im Postamt und blitzsaubere Trambahnwagen: Zürich ist eine Klasse für sich. Milena Moser, die in der Nähe des Bahnhofs Tiefenbrunnen aufwuchs und mehr als drei Jahrzehnte in Zürich lebte, stellt sich den typischen Klischees: dem Geld und dem Gold, den absurd hohen Preisen und den Steuerflüchtlingen. Sie spaziert durch die Altstadt und zum Zürichsee. Besucht Außenbezirke, die heute angesagt sind, und Lokale mit karierten Tischdecken, die früher als bünzelig galten, plötzlich aber sehr in sind. Erlebt Romantik und Hipster-WGs im Umkreis der Langstraße und bewegt sich auf den Spuren bekannter Krimihelden ebenso wie auf denen großer Psychoanalytiker.  

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 05.10.2015
224 Seiten, Flexcover mit Klappen
EAN 978-3-492-27659-7
Download Cover
€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 05.10.2015
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97157-7
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Zürich“

Nicht cool genug für diese Stadt


Zürich. Die Stadt, in der ich so lange gelebt habe, dass ich sie wie eine alte Verwandte behandle. Sie ist mir nah und fremd zugleich. Sagen wir, sie ist meine Tante – Tante Turica. Eine angeheiratete Tante, eine, die immer eine gewisse Distanz wahrt, die ihre Geheimnisse hütet. Bei ihr weiss ich nie so recht, woran ich bin. Sie zeigt mir nie, wie sehr sie mich mag, und ist doch immer für mich da. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, habe ich den Eindruck, ich müsse erst einmal eine Prüfung bestehen. Ihr Blick wandert von [...]

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Nicht cool genug für diese Stadt


Zürich. Die Stadt, in der ich so lange gelebt habe, dass ich sie wie eine alte Verwandte behandle. Sie ist mir nah und fremd zugleich. Sagen wir, sie ist meine Tante – Tante Turica. Eine angeheiratete Tante, eine, die immer eine gewisse Distanz wahrt, die ihre Geheimnisse hütet. Bei ihr weiss ich nie so recht, woran ich bin. Sie zeigt mir nie, wie sehr sie mich mag, und ist doch immer für mich da. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, habe ich den Eindruck, ich müsse erst einmal eine Prüfung bestehen. Ihr Blick wandert von meinen Füssen nach oben – das vergesse ich immer, sie hat sehr klare Vorstellungen von dem, was sie als passendes Schuhwerk bezeichnet. Ihr unbestechlicher grauer Blick ist gnadenlos wie das Licht in der Umkleidekabine einer teuren Boutique. Er bedeutet mir, dass ich nicht wirklich gut genug bin für sie. Nicht erfolgreich genug. Nicht genügend Geld habe. Nicht gut genug aussehe. Und am schlimmsten : nicht die richtigen Schuhe trage. Ich mache sie direkt für meinen Schuhtick verantwortlich. Doch so viele Paare ich auch im Schrank stehen habe, für Zürich sind es nie die richtigen. Ihre Augenbraue zuckt ganz leicht, vermutlich liege ich auch heute wieder knapp daneben. Gerade, als mich der Mut zu verlassen droht und ich mich frage, ob ich nicht lieber wieder gehen soll, nimmt sie mich in den Arm. Na ja, nicht wirklich in den Arm. Das ist nicht ihre Art. Sagen wir, sie legt eine kühle Hand auf meine Schulter und küsst knapp an meinen Wangen vorbei.
„ Dann komm halt herein “, sagt sie. Aber so gut kenne ich sie dann doch, um zu wissen, dass das nun mal ihre Art ist, sich auszudrücken. Sie neigt nicht zum Überschwang. Ihr „ komm halt rein “ bedeutet so viel wie von anderen ein jubelndes „ Da bist du ja endlich, lass dich umarmen ! “
Und wirklich, ich kann mich nicht beklagen – ihr Empfang ist immer formvollendet und höflich. Sie bewirtet mich fürstlich, und sie sieht immer wahnsinnig gut dabei aus. Kein Haar am falschen Platz. Keine Laufmasche in den unsichtbaren Strümpfen. Sie sieht gut aus, aber schön ist sie nicht. Alterslos, perfekt, unangreifbar, unnahbar. Es dauert immer eine ganze Weile, bis sie auftaut. Doch irgendwann geht die Sonne unter, und der Tee wird kalt. Dann holt sie die Cognacflasche aus dem Schrank, und plötzlich zeigt sie eine andere Seite.
Sie flucht. Sie lacht. Und sie erzählt von früher … Und mit einem Mal verstehe ich sie besser.
Manchmal geht sie mir auf die Nerven. Manchmal lästere ich über sie. Aber wehe, jemand anderer kritisiert sie auch nur im Geringsten ! Dann zeige ich sofort die Zähne. Denn das gebührt einem Aussenstehenden nicht, finde ich. Fauche ich. Und ich lege gleich los mit einem Vortrag über die Vorzüge dieser Stadt, über ihre Geheimnisse, über ihren unerwarteten Charme, die Überraschungen, die sie hinter einer spröden Fassade gekonnt versteckt.
Dieses Buch ist die lange Version dieses Vortrags. Wenn ich manchmal kritisch bin, dann vergessen Sie nicht : Ich darf das. Ich habe lange genug hier gelebt. Ich gehöre zur Familie. Und wenn ich hier und da ein klein wenig lästere, dann nicht, um Sie dazu aufzurufen, das auch zu tun – ganz im Gegenteil. Ich will Ihnen damit nur den Schlüssel zu dieser Stadt in die Hand drücken. Lassen Sie sich von ihrem abweisenden Gebaren nicht beeindrucken, will ich Ihnen sagen. Vertrauen Sie nicht unbedingt auf den ersten Eindruck. Zürich ist eine Stadt voller Widersprüche. Eine provinzielle Weltstadt. Eine bürgerliche Kulturmetropole. Ein unverschämt teures Pflaster, das seine grössten Schätze gratis anbietet.
„ Zürich ist wie ein Versprechen, das nie eingelöst wird. “ Das hat einmal eine Kellnerin zu mir gesagt, die aus einem Walliser Bergdorf in die Stadt gezogen war. Sie sprach immer noch in ihrem urchigen Dialekt, der selbst für Deutschschweizer schwer zu verstehen ist. Doch ich wusste genau, was sie meinte. Schliesslich war ich selbst mit dreizehn aus der Vorstadt in die Stadt gezogen. In die Stadt der uneingelösten Versprechen. Was hatte ich mir nicht von diesem Umzug erhofft !
Zürich, das war das Ende des Regenbogens. Das Zentrum der Coolness. Hier würde es bestimmt endlich losgehen mit dem wahren Leben, dem wilden. Seit einer Weile schon besuchte ich die Mittelschule in der Stadt, pendelte mit der Vorortbahn hin und her. Obwohl die Fahrt nur zwanzig Minuten dauerte, führte sie in eine für mich vollkommen andere Welt. Nein, schlicht in die Welt. Ich benutzte jede Gelegenheit, um länger zu bleiben, in Cafés herumzusitzen, in denen ich nicht wusste, was ich bestellen sollte, oder auf Treppenstufen zu sitzen und zu rauchen, wenn ich eigentlich in der Schule sein sollte. Im Schlepptau neuer Freundinnen wagte ich mich in die coolen Läden in der Altstadt und probierte Jeans an, die ich nicht kaufen durfte.
Kleider kaufen ! Dafür war die Stadt immer schon da gewesen : Da war das traditionsreiche Warenhaus Jelmoli, in dem wir als Kinder zweimal pro Jahr neu eingekleidet wurden. Die Fahrt mit dem Auto, das Parkhaus, in dem mir immer mulmig wurde. Die Stadt war gross und grau und roch nach Abgasen. Das, und die Leute grüssten sich nicht auf der Strasse, wie es uns zu Hause und in der Schule eingeschärft wurde – notfalls riefen wir geistesabwesenden Erwachsenen hinterher : „ Hey, grüezi säge ! “ In der Stadt hingegen beachtete einen niemand, das war gefährlich und gleichzeitig befreiend.
Als mein Vater auszog, zeigte sich dieser unverhoffte Silberstreifen am ansonsten eher tristen Horizont. Die Scheidung der Eltern bedeutete neben vielen anderen Veränderungen auch, dass wir umziehen würden : in die Stadt ! Ich konnte es nicht erwarten. Doch dann stellte sich heraus, dass unser neuer Wohnort nur hundert Meter von der Stadtgrenze entfernt lag, dass mein Schulweg nicht etwa kürzer geworden war, nur einsamer, ohne meine Freundinnen in der Vorortbahn, ohne die hübschen Jungs im Raucherabteil, die wir durch die Trennscheibe verstohlen beobachteten. Überhaupt : Nichts von dem, was ich mir von dieser Stadt versprochen hatte, erfüllte sich. Zürich machte keineswegs eine andere aus mir. Ihre Coolness übertrug sich nicht auf mich, so verpasste ich zum Beispiel die sogenannte „ Bewegung “ der Achtzigerjahre, die Revolte meiner Generation. Als wäre ich nie da gewesen. Dafür wäre ich fast einer Sekte aufgesessen, die auf unsichere junge Mädchen spezialisiert war. Und ich kaufe bis heute die falschen Jeans. Erst mit den Jahren merkte ich, dass es den meisten Zürchern ganz genauso geht : Sie alle erhoffen sich von der Stadt eine Art automatisches Upgrade ihres Lebens – das die Stadt aber nicht erfüllt.
Ich habe Zürich erst wirklich verstanden, als ich die Stadt verliess. Erst als ich ein paar Jahre lang in San Francisco, der Hauptstadt der Uncoolen, gelebt hatte, deren Bevölkerung sich im Wesentlichen aus Menschen zusammensetzt, die in der Mittelschule ausgelacht und verprügelt wurden : Aussenseiter, Streber, Computernerds, Jungs in Stöckelschuhen, muskulöse Mädchen, Künstler, Spinner. Dort bewegte ich mich wie ein Fisch im Wasser. Doch ich kam weiterhin jedes Jahr für zwei Monate nach Zürich. Und erst, als ich die Stadt hauptsächlich von ihrer Sommersonnenseite erlebte, begann ich sie so richtig zu schätzen. Plötzlich sah ich sie mit neuen Augen, mit der naiven Begeisterung einer amerikanischen Touristin. „ Schaut doch “, rief ich zur Verlegenheit meiner alten Freunde entzückt. „ Schaut doch, wie schön es hier ist ! Schaut, wie sauber und pünktlich alles ! “ Und damit meinte ich nicht nur ihre atemberaubende Lage, die ich immer für selbstverständlich genommen und gar nicht mehr beachtet hatte. Die Berge ! Der See ! Klares Wasser, in dem man schwimmen kann – vermutlich könnte man es sogar trinken, so sauber ist es. Gut gelaunte Menschen auf geschmackvollen Picknickdecken. Designer-Eis vom Handwagen. Und über allem wachen die immer noch schneebedeckten Bergketten. Die Postkarte lebt ! Rote Marmorwaschbecken im öffentlichen Klo. Designerstühle im Postbüro, blitzsaubere Tramwagen mit eingebauten Zeitungsständern. Luxuriöse Bäderanlagen, wasserspeiende Drachen, Rutschbahnen für jedes Alter. Gut angezogene Menschen überall, keine hängenden Bäuche, keine weissen Turnschuhe weit und breit, ich war begeistert.
Kurz, eine prächtige Stadt. In der allerdings erschreckend schlechte Laune herrscht. Der überwältigende Anspruch, immer an vorderster Front der Coolness dabei zu sein und sich gleichzeitig diese Anstrengung nicht anmerken zu lassen, raubt der Bevölkerung den letzten Nerv. Unruhig flitzen ihre Augen hin und her : Wo ist es nun, das pralle, urbane Leben, wo findet es statt ? Wo geht es ab ? Der im Hinterkopf ständig präsente, nagende Verdacht, eben nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, verdirbt ihr die Laune. Dabei ist meine Tante Turica wie jede andere stolze, schöne Frau. Übereifrige Verehrer langweilen sie. Hechelnden Trendsettern verschliesst sie sich. Aber denen, die sich einen Deut drum scheren, wo „ man “ hingeht und was gerade „ angesagt “ ist, denen zeigt sie sich von einer ganz anderen Seite. Die, die sich nicht um sie bemühen, werden von ihrem stillen, aber auch leicht schrägen Charme überrascht.
Kurz, die Einzigen, die diese coole Stadt wirklich unbeschwert geniessen können, sind ironischerweise die Uncoolen, die sporadischen Besucher wie Sie und ich.


Alle Wege führen zum HB

Vergessen Sie den Flughafen. Der Flughafen Zürich, wie er nach einer Reihe unglücklicher Namen simpel heisst ( „ Kloten “ bedeutet auf Holländisch „ Hoden “, und „ Unique “ klang so sehr wie „ Munich “, dass dem Gerücht nach diverse Taxifahrer mit ahnungslosen Gästen über die Grenze nach Norden gefahren sind ). Der Flughafen Zürich also ist ein Transitflughafen, eine Durchgangsstation auf dem Weg nach anderswo. Nein, wer Zürich zum Ziel hat, kommt mit dem Zug an. Der Zürcher Hauptbahnhof ist nicht nur der grösste, sondern auch der älteste Bahnhof der Schweiz. Der ursprüngliche Bau war der Endbahnhof der 1847 eröffneten ersten ganz auf Schweizer Boden gebauten Bahnstrecke. Sie führte von Baden nach Zürich und ist heute noch eine der beliebtesten Pendlerstrecken des Landes. Diese Verbindung trug im Volksmund den schönen Namen „ Spanisch-Brötli-Bahn “, nach einem Gebäckstück, das eine ziemlich interessante Geschichte hat : Es wurde ursprünglich in Mailand hergestellt, welches im 16. Jahrhundert unter spanischer Herrschaft stand. Die „ Spanisch Brötli “ waren vor allem im 17. und 18. Jahrhundert beliebt. Besonders die wohlhabenden Zürcher, die oft in Baden zur Kur weilten, schätzten dieses dekadente „ Stückli “. Es bestand nämlich aus luftigem Blätterteig mit einem sehr hohen Butteranteil – und ein solches Luxusgebäck herzustellen war im reformierten Zürich verboten. Aber die reichen Zürcher wollten diesen Genuss auch zu Hause nicht mehr missen, und so schickten sie ihre Dienstboten aus. Diese mussten nachts die 25 Kilometer von Zürich nach Baden zurücklegen, um am Morgen das Gebäck zu kaufen und es möglichst frisch den Herrschaften zum Sonntagsfrühstück aufzutischen. Mit dieser ersten Bahnverbindung konnten die „ Spanisch Brötli “ in 45 Minuten von Baden nach Zürich transportiert werden. Dafür wurde die Strecke wohl hauptsächlich genutzt, denn daher hat sie ihren Namen. Und diese Geschichte sagt eigentlich schon alles, was man über Zürich wissen muss.
1871 musste dieser erste Bahnhof aber schon durch einen grösseren, besseren, schöneren Neubau von Jakob Friedrich Wanner ersetzt werden, um dem erhöhten Verkehrsaufkommen gerecht zu werden. Damals überlegte man, den Bahnhof näher an die Stadt und an den See heranzubauen, weil der Zürichsee immer noch eine grosse Bedeutung als Transportweg hatte. Denn ursprünglich lag der Bahnhof ausserhalb des damaligen Stadtzentrums, der heutigen Altstadt. Doch die Stadt akzeptierte den Bahnhof als ihr neues Zentrum und richtete sich schon bald an ihm aus. Die berühmte Bahnhofstrasse rollt sich wie ein roter Teppich vor seine Füsse beziehungsweise seinen Haupteingang, der die Strasse wie ein Triumphbogen empfängt.
Bis heute ist der Hauptbahnhof in ständiger Veränderung begriffen, einem nicht enden wollenden Verbesserungs- und Vergrösserungsprozess unterworfen. Es würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages die Stadt auffressen würde.
Der Stau auf der A 1 sagt etwas anderes, doch ich behaupte : Alle Wege nach Zürich führen über den HB, wie wir den Hauptbahnhof nennen. Vielleicht beginnen und enden sie sogar da – denn warum sollte man diesen zwar weder schönen noch übersichtlichen Ort verlassen wollen, dieses ständig im Umbau begriffene, von rot-weiss gestreiften Planken begrenzte Labyrinth, diese imaginäre Weltstadt im Kleinformat, diese unterirdische Utopie ? Das sagen sich jedenfalls die Horden von Jugendlichen, die an den Wochenenden von der Agglomeration in die grosse Stadt von Welt geschwemmt werden. Viele bleiben gleich einmal da. In deutlich voneinander abgrenzbaren Gruppen. Unter der Uhr lebt unverdrossen der Punk weiter, mit Bierdosen und überraschend gut genährten Hunden mit rot-weiss gemusterten „ Glarnertüechli “ als Halsband. Bei der Rolltreppe zur S-Bahn hängen die Emos, die „ Emotionalen “, die Neoromantiker, die aus anderen Grossstädten längst verschwunden sind. Kunstvoll drapieren sie sich am Geländer, die dünnen Beine ausgestreckt, die kunstvoll geföhnte Franse über der Stirn. Das macht es den Vorstadteltern leichter, ihre Zöglinge gegebenenfalls wieder aufzuspüren. Manche werden aber gleich entdeckt, so wie Benjamin Lutzke, Hauptdarsteller des preisgekrönten Filmes „ Chrieg “ ( Krieg ). Er war sechzehn Jahre alt, hatte seine Lehre als Lüftungsplaner abgebrochen und wusste nicht, was mit sich anzufangen. Also hing er mit seinen Kumpels am HB rum und wurde dort von Simon Jaquemet angesprochen. Lutzke war einer der ersten von ungefähr tausend Jugendlichen, die der Zürcher Filmemacher zum Casting für seinen ersten Film einlud – einer der ersten und der Beste. Unterdessen hat er den Max-Ophüls-Preis gewonnen und Isabelle Huppert die Hand geschüttelt. Der Zürcher Hauptbahnhof, das Tor zur Welt. Sage ich doch.
In einem Interview für den ZÜRITIPP, die Veranstaltungsbeilage des Tages-Anzeigers, hat Benjamin Lutzke ausserdem etwas über die Schauspielkunst gesagt, das zu schön ist, um unzitiert zu bleiben, auch wenn es mit Zürich direkt nichts zu tun hat : Er habe früher sehr viel gelogen, sagt er. „ Ich war richtig gut darin. Davon habe ich profitiert. Schon beim Casting dachte ich : Das ist ja wie Lügen. “
Deshalb ärgern Sie sich nicht über die jugendlichen Horden, über die Sie am Wochenende unweigerlich stolpern werden. Wer weiss, ob es nicht der nächste Newcomer des Schweizer Films ist, der hier gerade seine Bierflasche vor Ihre Füsse fallen lässt !
Das reizendste Spektakel aber bietet sich im Souterrain bei McClean. Genau, der saubersten öffentlichen Toilette der Welt. Dafür kostet der Eintritt aber auch 2 Franken. Eine gut gekleidete ältere Dame, mit Einkaufstaschen der umliegenden grossen Warenhäuser behängt, drängt sich an mir vorbei.
„ Für zwei Schtutz steh ich doch nicht Schlange hier ! “, schnauzt sie. So heisst die Landeswährung in der Landessprache – Schtutz. Nicht Fränkli ! Bitte nicht ! Am häufigsten in folgender Konstellation gehört : „ Häschmer en Schtutz ? “ Auch reiche Länder haben Bettler. Aber dazu später. Zurück in die gediegene und geräumige Damentoilette im Zwischengeschoss des Hauptbahnhofes. Es herrscht Gedränge, vor allem vor dem Schminkspiegel. Junge Frauen machen sich für den Ausgang bereit. Ausgang, noch so ein lokaler Begriff. Damit ist nicht Heimaturlaub von Gefängnisinsassen und Psychiatriepatienten gemeint, sondern das Nachtleben. Tanzen, Trinken, Essen – Ausgehen eben. Doch, das ist in Zürich ein Zustand und keine Tätigkeit. Item. Die jungen Frauen schleppen eine Ausrüstung mit sich herum, die einer Theateraufführung oder einem Fotoshooting angemessen wäre und für die man normalerweise Träger engagiert. Rollkoffer und bauchige Taschen voller Kleider, Schuhe, Schmuck, Schminksachen, Haarprodukte. Mit diesem Gepäck belagern sie die Schmink­tische in der Ecke und bald auch jeden verfügbaren Quadratzentimeter vor den Spiegeln. Manche ziehen sich in den verschlossenen Kabinen um, aus denen dann besorgniserregendes Rumpeln und Ächzen klingt. Die dünnen Wände beben, als ob jemand gegen sie gestolpert wäre – und das ist sie auch, die junge Frau, die nach einer Weile herauskommt, ausser Atem, das Gesicht gerötet von der Anstrengung, aus der Arbeitskleidung zu schlüpfen und sich in hautenge Plastikhosen zu zwängen. Als Nächstes probiert sie verschiedene Schuhe aus, humpelt auf einem flachen, lackglänzenden und einem hochhackigen, satinierten Modell vor dem Spiegel auf und ab. Freundinnen diskutieren ernsthaft Pro und Kontra, bis eine andere sich einmischt und den Platz vor dem Spiegel beansprucht. Sämtliche Steckdosen sind im Einsatz, mit elektrischem Gerät werden Haare geföhnt, geglättet oder gewellt, es riecht nach verbranntem Horn, nach Haarspray, nach Parfüm. Spraydosen wirbeln wie Waffen durch die Luft. In den Spiegeln werden Blicke getauscht, abwägende, abschätzende, auch bewundernde, es wird geflüstert und kommentiert. Es dauert ziemlich lange, bis ein Grüppchen von Frauen bereit ist. Dann schwingt in ihren Schritten die Gewissheit mit, dass sie alles getan haben, was möglich ist. Sie sind schön, die Welt liegt ihnen zu Füssen ( flach oder hochhackig beschuht ).
Unter Umständen bewegen auch sie sich nicht weiter als mit der Rolltreppe hinauf in die Bahnhofshalle. Die von Eisenfachwerkträgern überspannte Halle würde mit ihren Arkaden und Bogenfenstern monumental und feierlich wirken – wenn sie denn zur Geltung käme. Doch meist ist sie bis zum Platzen zugebaut. In den reich dekorierten Wandelgängen und Lichthöfen, Restaurants und Sälen ist immer etwas los. Ein Rockkonzert, eine Autoausstellung, ein Fondue-Wettessen, ein Beachvolleyballturnier oder der Christkindlmarkt. Im Gegensatz zu anderen Orten auf der Welt scheint das Oktoberfest hier monatelang zu gastieren – oder wer weiss, was hinter den weissen Planen des Festzeltes stattfindet, ich habe nie gewagt, sie zu lüften. Kleine Warnung am Rande : Wenn Sie einen Zug erwischen wollen, planen Sie sicherheitshalber zehn Minuten extra ein, um die Halle zu durchqueren. In den beiden schmalen Gängen, die bei solchen Veranstaltungen für den Fussgängerverkehr frei bleiben, kommt es unweigerlich zum Stau.
Über all dem Treiben wacht ungerührt der blaue „ Engel mit-ohne Gesicht “, wie mein Sohn ihn nannte. Es ist „ L’ange protecteur “, der Schutzengel von Niki de Saint Phalle, der natürlich ein Mädchen ist – nicht nur kleine Kinder erkennen das sofort am bunt bemalten Busen. Auf Amtsdeutsch wird die fliegende Statue deshalb holprig „ Engelsfrau “ genannt. Diese kann natürlich nicht wirklich fliegen, sondern hängt hoch oben in der Bahnhofshalle an drei Stahlseilen. Von da aus soll sie die Reisenden beschützen, eine Aufgabe, die sie, soweit ich das beurteilen kann, gewissenhaft wahrnimmt. Schliesslich wurde sie von der Sicherheitsfirma Securitas in Auftrag gegeben, ein Geschenk an die Schweizerischen Bundesbahnen zu deren 150. Geburtstag. Auch die Schutzheilige aus Polyester ist nicht mit dem Flugzeug aus Kalifornien gekommen – dafür ist sie zu gross, elf Meter lang, und wiegt elfeinhalb Tonnen. So passte sie in kein Frachtflugzeug. Das Kunstwerk wurde in drei Teile zerlegt und per Schiff über Rotterdam nach Basel und anschliessend mit einem Tieflader nach Zürich transportiert. Hier wurde es vor Ort wieder zusammengebaut und bemalt. Hauchdünne goldene und silberne Plättchen wurden nicht nur auf die Flügel geklebt, sondern auch auf die Krüge in den Händen. Die Künstlerin war dabei anwesend und überwachte die Nachtaktion. Das Kunstwerk hielt ihrem kritischen Blick zunächst nicht stand. Die fünf Himmelskörper, die neben der Engelsfrau hingen und auf der Lithografie zu sehen sind, mussten wieder demontiert werden.
Als meine Kinder noch klein waren, pilgerten wir mindestens einmal die Woche in die Bahnhofshalle, um die Schutzheilige zu besuchen, die damals noch neu war, ihre Haut glänzte blau. Jedes Mal mussten wir uns eingehend über den Badeanzug mit den zwei ungleichen Brüsten unterhalten und über die Frage, warum das Springseil nicht blinkte. Das Springseil ist eigentlich ein Lebensstrang, so hat es die Künstlerin jedenfalls erklärt, und als solcher lässt er positive Energien fliessen, solange jemand daran gedacht hat, die Batterien auszuwechseln.
„ Lebensstrang “ ist allerdings nicht das Erste, was den Betrachtern spontan dazu einfällt. „ Das ist doch ein Expander “, hörte ich neulich jemanden sagen. „ So einen hatte ich auch mal ! “ Ein Expander … ? Dunkel erinnerte ich mich an die als Comic getarnten Werbeanzeigen auf den Rückseiten von Jugendzeitschriften, auf denen ein schmächtiger Jüngling am Strand von allen ausgelacht wird. Per Post bestellt er sich ein Trainingsgerät aus Gummischnüren und zwei Griffen, eben einen Expander. Mit diesem trainiert er seine Muskeln zu Bodybuilderformat. Dann traut er sich wieder an den Strand, wo er endlich von schönen Mädchen umringt ist. Mädchen in Bikinis. Mädchen mit ungleich bemalten Brüsten ? Von Engeln gar ?
Expander, Springseil oder Lebensstrang – heute ist die Schutzheilige etwas verstaubt. Kein Wunder, wird sie nur alle drei Monate einmal abgestaubt. Das grosse Kunstwerk ist zwar schwer, jedoch sehr empfindlich. Es darf nur ganz vorsichtig mit einem Staubwedel und einem Druckluftspray gesäubert werden, zu leicht könnte es kaputtgehen. Eine Arbeitsbühne hievt die zuständige „ Reinigungsfachperson “, wie das politisch korrekt heisst, dafür vierzig Meter in die Höhe. Definitiv eine Aufgabe für Schwindelfreie !
Meine Söhne sind dem Alter, in dem sie den „ Engel mit-ohne Gesicht “ besuchen wollten, längst entwachsen. Mir ist die Gewohnheit geblieben. Jedes Mal, wenn ich die Bahnhofshalle durchquere, bleibe ich kurz stehen, schaue hinauf, winke. Bedanke mich für eine ereignislose Reise ( wobei uns verwöhnten Schweizern eine Verspätung von sieben Minuten schon vorkommt wie anderen ein Streik oder eine Entgleisung ). Ich stehe nie allein unter den ausgebreiteten goldenen Flügeln der Schutzheiligen. Die Erwachsenen legen den Kopf in den Nacken und zeigen mit dem Finger nach oben. Das Kunstwerk ist umstritten, nicht nur, weil an anderen Orten ähnliche Engel von Niki de Saint Phalle hängen oder stehen oder fliegen. Nein, es sind vor allem die bunt bemalten Brüste, die Anlass zu Diskussionen geben.
„ Also nein ! Also so etwas. Ja aber nein ! Ist das Kunst ? Soll das Kunst sein ? Ja aber nein, und dann dieser Busen. Das muss ja nun wirklich nicht sein. Muss das sein ? Ja also nein, nein aber also … “
Unterdessen stellen kleine Kinder genau wie meine damals die wirklich existenziellen Fragen : „ Ist der Engel ein Mädchen ? Hat er Milch im Busen ? Sind seine Augen blau ? Gibt es auch rote Engel, grüne, gelbe ? Ist das Herz auf dem Badeanzug oder im Engel drin, und warum leuchtet es nicht ? Ist der Engel tot ? Sieht der Engel, wo der Zug hinfährt ? Kommt er zu uns nach Hause ? “
Der Engel, so denke ich, würde bestimmt gern für ein paar Tage abhauen, sich in einem Privathaushalt ausruhen, wo er die zu Beschützenden leichter überblicken könnte – aber er kann nicht. Er wird in der Bahnhofshalle gebraucht. Wir aber verlassen sie nun, und zwar durch den Hinterausgang.



Milena Moser

Über Milena Moser

Biografie

Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, arbeitete nach einer Buchhändlerlehre für das Schweizer Radio DRS und für Zeitungen, bevor ihr mit ihren Romanen und Sachbüchern („Die Putzfraueninsel“, „Schlampenyoga“ u. a.) der Durchbruch gelang. Sie veröffentlichte zwanzig Bücher sowie zahlreiche Essays,...

Pressestimmen
Nürnberger Zeitung

„Locker, amüsant und ausgesprochen kenntnisreich.“

Faces (CH)

„Milena Moser nimmt uns an der Hand und führt uns in ihrer ›Gebrauchsanweisung für Zürich‹ durch Altstadt und Niederdorf, entlang der Langstraße und durch den Chreis Cheib. Und das auf humorvolle Art.“

Blick Reisen

„Liebeserklärung an Zürich“

Sächsische Zeitung

„Milena Moser schreibt eine Liebeserklärung voll Witz und Widersprüche. Mit leichter Hand streut sie die Fakten ein. Andere Metropolen dürfen Zürich um eine solche Stadtführerin beneiden.“

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