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Ein Akt der Grausamkeit

Ein Akt der Grausamkeit

Patricia MacDonald
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Thriller

„Ein Psychothriller, ein düsteres Familiendrama zugleich. (...) Das ist umso packender zu lesen, weil das Böse so nahe kommt.“ - Lippische Landes-Zeitung

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Ein Akt der Grausamkeit — Inhalt

Hannah, Adam und die kleine Sydney haben es geschafft, sich unter neuen Namen in Philadelphia ein zweites Leben aufzubauen. Doch die hart erarbeitete Sicherheit gerät ins Wanken, als durch einen Zufall das Medieninteresse an der Familie geweckt wird und die Gesichter der drei, die nie wieder auffindbar sein wollten, in allen Zeitungen auftauchen. Denn Hannah und ihre Familie teilen ein grausames Geheimnis, das nun ein weiteres Mal droht, ihr Leben in einen Alptraum zu verwandeln. Und ihr größter Feind ist jemand, den sie am meisten lieben …

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 02.05.2016
Übersetzt von: Karin Dufner
400 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97343-4
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Leseprobe zu „Ein Akt der Grausamkeit“

EINS
Restoration House, West Philadelphia


Fahlgraues Zwielicht strömte durch die schmierigen Fensterscheiben des Restoration House herein und malte wässrige Muster auf das abgenützte Linoleum. Eine Gruppe von Männern mit düsteren Mienen saß auf Klappstühlen im Kreis und lauschte, wie ein kräftig gebauter Schwarzer namens Titus seinen Absturz in Depression und Selbstmordgedanken schilderte. „ Der Arzt bei der Veteranenverwaltung sagte, ich hätte eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich wusste nur, dass ich nicht mehr leben wollte. “ Er krampfte beide [...]

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EINS
Restoration House, West Philadelphia


Fahlgraues Zwielicht strömte durch die schmierigen Fensterscheiben des Restoration House herein und malte wässrige Muster auf das abgenützte Linoleum. Eine Gruppe von Männern mit düsteren Mienen saß auf Klappstühlen im Kreis und lauschte, wie ein kräftig gebauter Schwarzer namens Titus seinen Absturz in Depression und Selbstmordgedanken schilderte. „ Der Arzt bei der Veteranenverwaltung sagte, ich hätte eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich wusste nur, dass ich nicht mehr leben wollte. “ Er krampfte beide Hände zu einer gewaltigen Faust zusammen. Tränen liefen ihm über das faltige Gesicht.
„ Und jetzt ? “
Hannah Wickes beobachtete von ihrem Platz ein Stück abseits, wie der Gruppenleiter ernst den gesenkten Kopf und den tätowierten Nacken des leidgeprüften Exsoldaten musterte.
„ Ich bin mir immer noch nicht sicher “, erwiderte er mit einem schweren Seufzer.
„ Aber Sie sind hier. Und Sie reden mit uns. “
Der Veteran nickte und sah ihm in die Augen.
Der Gruppenleiter lächelte. Trotz seines von Pockennarben und Brandverletzungen entstellten Gesichts gelang ihm ein sanfter Ausdruck. „ Wir dürfen nicht aufhören zu reden. Und nächste Woche treffen wir uns wieder. Dann möchte ich Sie hier bei uns sehen, Titus. “
„ Ich werde da sein “, antwortete Titus.
„ Gut “, sagte der Gruppenleiter. „ Außerdem hat Anna einige Informationen für Sie alle zusammengestellt. “ Er nickte Hannah zu.
Hannah holte tief Luft. Der Gefühlsausbruch des Vete­ranen hatte sie erschüttert. Sie konnte seinen Schmerz nur zu gut nachvollziehen. Dennoch nahm sie sich zusammen und schlug einen dienstlichen Tonfall an. » Einige unserer Soldaten und Soldatinnen hier im Restoration House klagen, sie hätten Schwierigkeiten, die Sozialleistungen zu be­­kommen, die ihnen von Rechts wegen zustehen. Am kommenden Samstag um zehn veranstalten wir hier einen Workshop. Bringen Sie Ihre Unterlagen mit. Es werden Fachleute da sein, die versuchen werden, einige der Probleme zu lö­sen. Wir können auf Freiwillige von der Universität mit hervorragenden Computerkenntnissen zurückgreifen, die Ihnen helfen werden, sich auf den verschiedenen Regierungswebseiten zurechtzufinden. Sie alle haben ein Anrecht auf die Sozialleistungen, die die Regierung Ihnen versprochen hat. «
Die Männer in der Gruppe murmelten zustimmend.
„  Okay, alles zuhören “, ergänzte der Gruppenleiter, der Frank Petrusa hieß. „ Für alle, die an diesem Workshop interessiert sind, liegt auf dem Schreibtisch ein Stapel mit Informationsmaterial aus. Nächste Woche treffen wir uns am Mittwoch, weil ich am Freitag einen Termin in Washington habe. “
Die Männer klatschten einander ab und wünschten sich eine gute Woche. Dann löste sich die Gruppe auf, und die Männer strömten aus dem Raum, manche mit dem von Hannah ausgedruckten Informationsmaterial in der Hand.
Frank sprach leise mit Titus. Seine Handprothese ruhte sanft auf der Schulter des Exsoldaten. Als Hannah den beiden zusah, war sie, wie so oft, überzeugt, dass es ihr guttat, hier zu arbeiten, denn ihre eigenen Probleme traten auf diese Weise in den Hintergrund. Während des letzten Jahres hatte sie oft gegen die Verzweiflung angekämpft. Und deshalb hatte sie sich um eine Stelle im Restoration House beworben, einem gemeinnützigen Verein in West Philadelphia, der Veteranen und deren Familien betreute. Das Be­­werbungsgespräch hatte Father Luke, selbst Veteran und seines Amtes enthobener Priester, geführt, der seinen Titel allerdings weiterhin benutzte. Als Father Luke Hannah nach ihren Referenzen gefragt hatte, hatte sie ihn um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Er hatte ihr versichert, dass alles unter ihnen beiden bleiben würde. Und so hatte sie ihm gestanden, hier in Philadelphia gewissermaßen im Untergrund zu leben. Er hatte noch ein wenig nachgehakt und sie dann trotzdem eingestellt. Mit dem Ergebnis, dass Hannah nun zur hilfsbereiten Familie des Restoration House ge­­hörte.
„ Hey, Anna, warte mal einen Moment “, sagte eine brummige Stimme.
Als Hannah sich an der Tür umdrehte, sah sie, dass Frank auf sie zukam. Er trug Sweatshirt, Armeehose und Kampfstiefel und kratzte sich mit den Fingern der rechten Hand am linken Handgelenk. Die linke Hand hatte er bei einem Bombenanschlag im Irak verloren, und die Prothese schien ihm großes Unbehagen zu bereiten. Hannah blieb stehen, bis er bei ihr war. Oft wunderte sie sich, wie es ihm gelang, stets eine positive Stimmung zu verbreiten, obwohl er noch immer an den Folgen seiner schweren Verletzungen litt.
„ Ich bewundere dich “, meinte Hannah. „ Du schaffst es immer wieder, zu den Jungs durchzudringen. “
„  Ich habe es ja selbst erlebt “, erwiderte er nur. „ Ich verstehe, was in ihnen vorgeht. Hey, ich wollte nur fragen, ob ihr heute Abend zu Father Lukes Geburtstagsfeier kommt. “
„ Ja “, antwortete Hannah. „ Wir freuen uns schon darauf. Wo ist dieses Restaurant noch mal ? Ich hatte zwar einen Flyer im Posteingang, aber . . . “
„ Ebony’s Beans and Greens, Ecke 56th und Walnut. “
Die Feier zu Father Lukes sechzigstem Geburtstag wurde von seinem Lebenspartner ausgerichtet – dem Mann, für den er auf das Priesteramt verzichtet hatte. Spencer White war ein dicklicher Steuerberater mittleren Alters, der ganz in der Nähe wohnte. Father Luke und er waren vor einigen Jahren in aller Stille ein Paar geworden und widmeten ihre ganze Zeit dem Restoration House, Father Luke als Mitarbeiter und Spencer als ehrenamtlicher Helfer. Die Geburtstagsfeier würde zwar keine große Sache werden, allerdings etwas Besonderes für Hannah und Adam, die sonst kaum unter Leute gingen. „ Ich bringe meinen Mann Alan mit “, sagte sie. „ Ich möchte, dass ihr alle ihn ein bisschen kennenlernt. “
„  Ich freue mich schon darauf “, erwiderte Frank. „ Allmählich habe ich nämlich schon angefangen zu zweifeln, ob es ihn wirklich gibt. “
„ Es gibt ihn, Ehrenwort. “ Hannah grinste.
„ Was ist er denn eigentlich von Beruf ? “, erkundigte sich Frank.
„  Nun, er ist so etwas wie ein mobiler Problemlöser. Er arbeitet in einem Laden namens Computerhelden. Dort kann man anrufen, wenn man jemanden braucht, der einen vor dem Computer-GAU rettet “, erklärte sie. Sie fügte nicht hinzu, dass es für einen Mann, der früher die IT-Abteilung eines Telefonanbieters geleitet hatte, kein Zuckerschlecken war, auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch in ihrer derzeitigen Lage durfte man nicht wählerisch sein.
„ Mann, vielleicht hat er ja einen Tipp für mich “, meinte Frank. „ Mit meiner alten Kiste krieg ich rein gar nichts mehr hin. “
„ Ihm fällt bestimmt etwas ein “, antwortete sie.
„  Okay, dann bis heute Abend “, sagte Frank, winkte ihr mit seiner Prothese zu und machte sich auf den Weg in die Küche im hinteren Teil des Gebäudes, während Hannah in die Kindertagesstätte ging.
Sie war der heimeligste Raum in der heruntergekommenen, ja beinahe baufälligen Villa im Westen von Philadelphia. Die dankbaren Familien von Veteranen, die dort Hilfe gefunden hatten, hatten Kinderbettchen, Bücher und Spielsachen gespendet. Zwei der jungen Frauen von der Universität, die am Wochenende ehrenamtlich hier arbeiteten, hatten Kunststudenten überredet, ein farbenfrohes Bild an die Wand zu malen.
Hannah stand in der Tür und blickte in den Raum. Sydney spielte mit zwei anderen Kindern Quartett an einem Kin­dertischchen. Die Erzieherin, eine hübsche, dunkelhäutige Frau namens Kiyanna Brooks, die eine Nickelbrille und un­­zählige kunstvoll geflochtene Zöpfchen trug, gab Hannah ein Zeichen, damit sie sich nicht bemerkbar machte, bis die Spielrunde vorbei war. Hannah nickte lächelnd und sah weiter Sydney zu.
Während des letzten Jahres hatte Hannah Sydney so eingehend beobachtet wie ein Arzt einen frisch transplantierten Patienten. Sie hatte Ausschau nach Anzeichen dafür ge­­halten, dass sie mit dem neuen Leben, das sie sich aus den Trümmern ihres alten aufgebaut hatte, nicht zurechtkommen könnte. Sydneys neue Freunde kannten sie unter dem Namen Cindy, woran sie sich erstaunlich rasch gewöhnt hatte. Hannah, Adam und Sydney wohnten in Laufnähe zum Restoration House in einem viktorianischen Backsteinhaus, das einer älteren Schwarzen namens Mamie Revere gehörte. Mamie lebte in den unteren beiden Etagen, die Wickes, inzwischen als die Whitmans bekannt, hatten die Wohnung im zweiten Stock gemietet. Sie war ziemlich hell, wenn auch ein wenig klein, allerdings war sie nicht mit dem neuesten technischen Komfort ausgestattet. Oft ertappte Hannah sich dabei, dass sie es vermisste, eine Klimaanlage und eine Spülmaschine zu haben, doch daran war leider nichts zu ändern. In der Wohnung war einfach kein Platz für die Geräte auf Hannahs Wunschliste, ganz zu schweigen davon, dass es ihre derzeitige finanzielle Lage nicht erlaubte, sich diese anzuschaffen. Sie mussten jeden Cent zweimal umdrehen, seit sie Tennessee den Rücken gekehrt hatten – auch etwas, an das sie sich hatte gewöhnen müssen.
Zumindest hatte sich Sydney noch nie bei Hannah und Adam über die Stadt und ihr neues Zuhause beschwert. Die Vormittage verbrachte sie bei einer Tagesmutter einen Häuserblock entfernt. Mittags holte Hannah sie ab und nahm sie mit in die Kindertagesstätte des Restoration House, während sie selbst Veteranen und deren Familien beriet.
„ Gewonnen ! “, jubelte Sydney, und das Spiel war rasch zu Ende, als ein kleiner Junge am Tisch seine überdimensionalen Spielkarten hinwarf und sich selbst zum Sieger erklärte.
„ Das ist unfair “, schimpfte Sydney.
Hannah mischte sich ein, bevor ein Streit ausbrechen konnte. „ Komm, Cindy “, sagte sie und nahm das Kind an der Hand. „ Zeit, Mamie zu besuchen. Wusstest du schon, dass du bei Mamie bleibst, bis wir heute Abend zurück sind ? “
„ Wo geht ihr denn hin ? “, fragte Sydney.
„ Zu einer Feier für Father Luke “, erwiderte Hannah.
Sydney verzog enttäuscht das Gesicht. „ Ich will auch zu einer Feier “, beharrte sie.
„ Du und Mamie könnt ja zu zweit feiern “, versprach Hannah.
Als Hannah zwei Stunden später die Treppe zu Mamies Wohnung hinunterstieg und den Kopf in deren Wohnzimmer steckte, wehte tatsächlich ein Duft hinaus in den Flur, der verdächtig auf einen Kuchen im Backrohr hinwies. Bei Mamie roch es häufig nach Hühnersuppe und Lavendel­potpourri, was den Muff der abgewetzten Möbel und der schmuddeligen Wände überdeckte. Doch heute standen eindeutig Karamell und Zucker auf dem Programm, obwohl die Fenster offen standen, um die Herbstluft hereinzulassen.
„  Mamie “, rief Hannah, „ da sind wir ! “ Sie drehte sich zu Sydney um, die sie an der Hand hielt. „ Du musst bei Mamie ganz brav sein und alles tun, was sie sagt. “
„ Mache ich “, erwiderte Sydney. „ Ich bin immer brav. “
„ Ja, das bist du “, sagte Hannah, bückte sich, um Sydney auf die Wange zu küssen, und fuhr ihr durch das weiche helle Haar.
Mamie kam aus den Tiefen ihrer Wohnung herbeigehastet und wies Sydney sofort an, die Schuhe auszuziehen und in die Küche zu kommen.
„ Es riecht nach Kuchen “, verkündete Sydney.
„  Ganz richtig “, antwortete die alte Dame. „ Und nach dem Abendessen genehmigen wir uns jeder ein Stück. Jetzt muss er erst noch abkühlen. “
„  Ich kann dir gar nicht genug danken, Mamie “, meinte Hannah. „ Das ist das Lokal, wo wir hingehen. Ebony’s Greens and Beans. Du hast ja meine Nummer, falls etwas sein sollte. “
„ Ach, das Essen ist lecker dort “, antwortete Mamie. „ Die frittierten Maismehlklößchen sind so leicht wie Luft. “
„  Wir freuen uns schon darauf “, sagte Hannah. „ Wir kommen auch nicht zu spät zurück. “ Sie rief nach Sydney, um sich zu verabschieden, aber die Kleine war bereits los­gelaufen und richtete sich in der Küche häuslich ein.
„ Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen “, erwiderte Mamie.
Hannah nickte lächelnd, obwohl sie Sorgen gewohnt war. Sie trat auf den Flur hinaus, um zu schauen, wo Adam blieb. „ Komm, Schatz “, rief sie. „ Wir müssen los. “
Sie hörte das Klimpern von Schlüsseln, als Adam die Tür abschloss. Dann lief er die Treppe hinunter. „ Wo ist Syd . . . Cindy ? “, fragte er.
„ Sie hat in Mamies Küche einen Kuchen entdeckt. “
Adam lächelte. „ Sehr gut “, antwortete er. „ Dann ist ja alles in Butter. “
Hannah holte tief Luft und nickte. Sie durchquerten die Vorhalle, wo Mamies Familienfotos an den Wänden prangten. Das größte stellte ihren ältesten Sohn Isaiah dar, der schon seit Langem im Stadtrat von Philadelphia saß. Verständlicherweise war Mamie stolz auf ihn. Doch Hannah wünschte manchmal, dass der Ratsherr sich ab und zu die Zeit nehmen würde, sich um seine alte Mutter zu kümmern. Das Haus verfiel schon seit Jahren, ohne dass es Ratsherr Revere zu bemerken schien. Adam verbrachte viel seiner Freizeit damit, das Anwesen einigermaßen in Schuss zu ­halten.
Hannah ging zur Haustür, öffnete sie, trat in den frischen Herbstabend hinaus und atmete die gemischten Gerüche der Stadt ein. Anfangs hatte sie die unzähligen Eindrücke für Nase und Ohren als überwältigend empfunden, doch inzwischen konnte sie es sogar genießen. Außerdem glaubte sie nun, nach einem Jahr, dass sie nichts mehr zu befürchten brauchten, was ein großer Trost war.
„ Was für ein wunderschöner Abend “, stellte Adam fest. Ihm war die Eingewöhnung leichter gefallen. Und da er wegen seiner Aufträge in ganz Philadelphia herumkam, hatte er einen besseren Überblick über das Stadtleben als Hannah. Eigentlich war dieser Schritt ja ihre Idee gewesen, doch er hatte sich schneller mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Es war zwecklos, der Vergangenheit nachzutrauern.
„ Ist schon irgendwie komisch, wieder eine Krawatte zu tragen. “ Er grinste.
„  Father Luke wird es sicher zu schätzen wissen “, stellte Hannah fest. In Adams Firma gab es keine Bekleidungsvorschriften, und da er der älteste Mitarbeiter war, bemühte er sich sogar um einen besonders lässigen Stil, um nicht aus der Rolle zu fallen. Wegen seines Alters war man bei Com­puterhelden zunächst skeptisch gewesen, hatte ihm aber als Test einen defekten Laptop in die Hand gedrückt. Nachdem Adam das Notebook in Rekordzeit von Viren befreit und in Gang gesetzt hatte, hatte er den Job bekommen, ohne dass sich jemand für seine Vergangenheit interessierte. Das sei das Schöne an jungen Leuten, hatte er zu Hannah gesagt. Sie läsen keine Lebensläufe, sondern lebten im Hier und Jetzt. Adams direkter Chef war fünfundzwanzig und hatte magentafarbenes Haar. Doch auch das störte Adam längst nicht mehr.
Sie stiegen die Stufen hinunter.
„ Wohin ? “, fragte Adam.
„ 56th Street “, erwiderte Hannah und zeigte nach Norden. „ Es ist nicht weit. Wir können zu Fuß gehen. “
Auf der Mauer vor Mamies Haus saß eine verwahrlost wirkende junge Frau. Sie trug eine Armeehose und eine schmutzige Leinenjacke und trank aus einer Flasche, die in einer braunen Papiertüte steckte. Ihr schwarzes Haar war kurz geschoren, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Während Adam die junge Frau mit den glasigen Augen entgeistert musterte, lächelte Hannah ihr zu. „ Hallo, Dominga “, sagte sie.
Das Mädchen fuhr sich mit der Hand über die Haarstoppeln. „ Hallo, Miss Anna “, antwortete es schüchtern.
Als sie ihren Weg die Straße hinunter fortsetzten, sah Adam seine Frau mit hochgezogenen Augenbrauen an. „ Eine Freundin von dir ? “, fragte er.
„  Sie ist Veteranin und leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Manchmal kommt sie zu einer Gruppensitzung im Restoration House. “
„ Für mich scheint sie eher ein Alkoholproblem zu haben “, stellte Adam fest.
„ Selbstmedikation “, erwiderte Hannah nachdenklich. „ Menschen wie sie müssen eine Menge vergessen. “
„ Ich glaube, ich werde heute selbst ein bisschen Selbstmedikation betreiben “, meinte Adam. „ Es war eine anstrengende Woche. “
Hannah drückte seine Hand. Solange sie Adam und Sydney hatte, hatte das Leben für sie einen Sinn, so schwierig die Umstände auch sein mochten. „ Warum nicht ? “, sagte sie. „ Hier wären wir. “
Als sie die bescheidene Fassade von Ebony’s Beans and Greens erreichten, wehte ihnen der Duft von hausgemachtem Soulfood entgegen. Das gestreifte Vordach war mit Lichterketten geschmückt, und sie konnten von drinnen Gelächter hören.
„ Hey, da seid ihr ja ! “
Hannah blickte auf und lächelte, als sie Frank Petrusa erkannte, der Arm in Arm mit Kiyanna Brooks die Straße hinaufkam. Sie versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Hannah hätte nicht gedacht, dass die beiden ein Paar waren, doch das war nicht zu übersehen. Offenbar hatten sie ihre Beziehung geschickt geheim gehalten. Allerdings stellte Hannah normalerweise lieber keine persönlichen Fragen, um nicht Gefahr zu laufen, selbst welche beantworten zu müssen.
„ Frank ! Kiyanna ! Das ist mein Mann . . . Alan. “
Kiyanna lächelte so strahlend und wunderschön wie immer und streckte ihre schlanke Hand aus. „ Schön, dich kennenzulernen. Wir haben uns schon gefragt, ob du überhaupt existierst. “
Adam schüttelte ihr freundlich die Hand. „ Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Du leitest die Kindertagesstätte, richtig ? “
„ Stimmt. Ich habe Cindy sehr gern. Sie ist ein aufgewecktes kleines Mädchen. “
„ Sie . . . danke “, antwortete Adam.
„ Und das ist Frank “, sagte Kiyanna.
„ Frank Petrusa “, ergänzte der Gruppenleiter und hielt ihm seine gesunde Hand hin.
„ Frank leitet die Therapiegruppe posttraumatische Belastungsstörung “, erklärte Hannah.
„ Meine Frau hält sehr große Stücke auf dich “, merkte Adam lächelnd an.
„ Auf dich ebenfalls “, brummelte Frank.
Adam warf Hannah einen liebevollen Blick zu. „ Schön zu hören. “
Kiyanna lachte. „ Darauf trinken wir einen, lasst uns reingehen “, schlug sie vor.
Dieses Gefühl hatte Hannah so lange vermisst. Ein fest­licher Abend, auf den sie sich freuen konnte. Neue Bekanntschaften. Es war beinahe, als sei sie zu Hause angekommen. „ Also los “, erwiderte sie.
Mamie hatte zum Abendessen Makkaroni mit Käsesoße gekocht. Dazu gab es Apfelmus. Obwohl Sydney herzhaft zugegriffen hatte, machte sie sich hungrig über das Stück Kuchen her, das Mamie auf einem kleinen Teller vor sie hinstellte.
„ Isst du denn keinen Kuchen ? “, fragte das kleine Mädchen.
Mamie verzog das Gesicht und rieb sich die Brust. „ Später “, sagte sie. „ Ich fühle mich ein bisschen . . . komisch . . . 
Verdauungsprobleme. “
Nachdem der Kuchen vertilgt war, trug Sydney den Teller vorsichtig durch die Küche. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn neben die Spüle zu stellen. Dann drehte sie sich zu Mamie um. „ Darf ich jetzt fernsehen ? “, bat sie.
„ Klar darfst du. “ Mühsam stand Mamie auf und schaute hinüber zur Spüle. „ Um das Geschirr kümmere ich mich später “, seufzte sie ein wenig schuldbewusst.
Sydney war bereits ins Wohnzimmer gelaufen und drückte auf der Fernbedienung herum.
„  Nicht doch “, schimpfte Mamie. » Lass mich das ma­­chen. « Sie nahm dem Kind die Fernbedienung aus der Hand und richtete sie auf den Fernseher.
„ Jetzt komm schon. Was ist denn nur los mit diesem Ding ? “ Mit missbilligender Miene schüttelte Mamie die Fernbedienung.
„ Ich kann das selbst “, verkündete Sydney.
Mamie wiegte den Kopf hin und her. „ Bestimmt kannst du das. Wahrscheinlich besser als ich. “ Mamie starrte auf die Fernbedienung. Im nächsten Moment kniff sie die Augen zusammen. Das Gerät fiel ihr aus der Hand und landete klappernd auf dem abgewetzten Dielenboden neben dem Perserteppich.
Sydney hob es rasch auf. „ Du hast das fallen gelassen, Miss Mamie. “ Sie hielt der alten Frau die Fernbedienung hin. Im nächsten Moment wich sie erschrocken einen Schritt zurück. Mamies Gesicht war schmerzverzerrt, und sie griff sich an die Brust. Ihre dunkelbraune Haut war fahl geworden.
„ Oh, gütiger Himmel “, stöhnte Mamie auf. „ Etwas stimmt da nicht. “ Im nächsten Moment stürzte sie zu Boden.
Sydney stieß ein erschrockenes Wimmern aus. Vorsichtig näherte sie sich der alten Frau, die auf dem Teppich lag. „ Miss Mamie “, flüsterte sie.
Die alte Frau regte sich nicht.
„  Miss Mamie, wach auf “, flehte Sydney und stupste sie mit pummeligen Fingern an der Schulter an. Doch es erfolgte keine Reaktion.
„ Miss Mamie “, rief sie. Und als die alte Dame noch immer nicht antwortete, fing Sydney laut zu schluchzen an.


ZWEI


Dominga nickte allmählich ein. Die leere Halbliterflasche Billigwein war ihr aus der Hand gerutscht und, noch immer in der braunen Papiertüte, im verdorrten Gras neben der Mauer gelandet. Dominga schreckte immer wieder hoch und musste sich auf der niedrigen Mauer aufrichten, um nicht hinunterzukippen. Doch wenig später kehrte die Be­­nommenheit zurück. Dominga hatte denselben Traum wie so oft : Sie war zurück im Wüstencamp. Alles war trocken und staubig. Die Männer um sie herum waren Fremde, nicht die Kameraden, die sie kannte. Wohin sie auch schaute, lagen verstümmelte und verblutende Soldaten. Dominga wusste, dass es ihre Pflicht war, den Feind zu verfolgen. Doch sie konnte ihre Arme und Beine nicht bewegen. Sie war wie gelähmt. Der Sergeant rief etwas, aber Dominga verstand nicht, was er ihr sagen wollte.
Im Lager fing jemand zu weinen an. Es klang wie ein Kind, und Dominga wusste, dass sie es finden und ihm helfen musste. Aber wo ? Ruckartig fuhr sie hoch. Das Weinen dauerte an, obwohl der Traum zu Ende war. Sie hörte es immer weiter. Die verzweifelten Schreie kamen aus einem Fenster des Hauses hinter ihr. Dominga blinzelte einige Male und zwang sich, die Augen offen zu halten. Die Schreie des Kindes waren markerschütternd und zerrten an ihren Nerven. Auf wackeligen Beinen stand Dominga auf.
Als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, begriff sie endlich, dass es die Stimme eines kleinen Mädchens war. Eines kleinen Mädchens, das um Hilfe rief.
Und anders als im Traum fiel ihr alles wieder ein, was sie in ihrer Ausbildung gelernt und so lange nicht beachtet und vergessen hatte. Eine Flut von eingeübten Handlungsabläufen stürmte auf sie ein, denn offenbar war ein Notfall eingetreten. Mühsam riss sie sich zusammen und ging leicht schwankend zu der Lücke in der Mauer und dann den Fußweg zur Vortreppe des alten Hauses entlang. Nachdem sie langsam die Stufen hinaufgestiegen war, zögerte sie. Wieder ertönten die Schreie. Dominga beugte sich vor, spähte durch das Panoramafenster und blinzelte noch einmal, um ihre Augen an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Endlich sah sie, woher die Schreie kamen. Ein kleines blondes Mädchen kauerte auf dem Boden neben einer alten schwarzen Frau. „ Miss Mamie, Miss Mamie “, rief es der Frau zu.
Sofort bekam Dominga Mitleid mit der Kleinen. Schließlich wusste sie aus Erfahrung, wie es war, so mutterseelenallein zu sein. Das war den Großteil ihres jungen Lebens so gewesen. Sie durfte das Mädchen auf gar keinen Fall noch mehr ängstigen. „ Hallo, Schätzchen, es ist alles gut “, sagte sie so sanft wie möglich. „ Alles gut. Ich helfe dir. “
Als das Kind die Stimme durch das Fenster hörte, blickte es verdattert auf.
Das Schluchzen verstummte kurz.
„ Hör zu “, sprach Dominga weiter. „ Weißt du, wie man die Haustür aufmacht ? “
Die Augen der Kleinen weiteten sich in abgrundtiefem Entsetzen. „ Neeeein . . . “ Sie brach wieder in Tränen aus.
Dominga überlegte. Das Mädchen war ziemlich klein. Wahrscheinlich konnte es den Türknauf nicht erreichen und umdrehen. Die Frau auf dem Boden rührte sich nicht. Vielleicht war sie sogar tot. Wenn Dominga ein Telefon ge­­habt hätte, hätte sie Hilfe holen können. Doch sie benutzte stets Prepaid-Geräte, die sie im Getränkemarkt kaufte, und hatte gerade die letzten Minuten abtelefoniert. Nun musste eine schnelle Entscheidung her. Eigentlich gar kein schlechtes Gefühl. Adrenalin strömte durch ihre Adern, und sie konnte schlagartig klar denken. Ein kurzes Zögern noch und dann stand ihr Entschluss fest.
Nach vielen Jahren in diesem Viertel hatte sie gelernt, dass es ratsam war, auf der Straße stets eine Waffe bei sich zu haben. In ihrer Jackentasche steckte ein Schnappmesser. Sie öffnete den Reißverschluss, holte es heraus und klappte es auf. Nachdem sie ein großes Loch in das Fliegengitter vor dem Wohnzimmerfenster geschnitten hatte, zog sie es mit den Händen ein Stück auseinander, damit ihr kräftiger Körper durch die Lücke passte.
„ Ich komme jetzt rein, Chica “, rief sie. „ Hab keine Angst. “
Dominga kletterte über das Fensterbrett und landete auf dem Boden am Fenster. Auf dem Tischchen neben dem Sofa stand ein Telefon. Sie nahm es und wählte die Notrufnummer.
„ Was für eine Art von Notfall haben Sie ? “, fragte die Telefonistin.
Dominga erklärte, dass eine Frau auf dem Boden liege, worauf die Telefonistin sie aufforderte, deren Puls zu fühlen. Doch Dominga war bereits zu der Frau hinübergekrochen und tastete mit Zeigefinger und Daumen nach ihrem Handgelenk. „ Er ist sehr schwach “, meldete sie. „ Aber sie lebt. “
Die Telefonistin wiederholte die Adresse und erkundigte sich, ob sie wirklich korrekt sei. Einen Moment lang war Dominga verwirrt. „ Ich bin nicht sicher “, erwiderte sie. „ Ich habe ein Kind weinen gehört und bin in die Wohnung gegangen. Das Haus steht Ecke 50th Street und Chestnut. “
Die Telefonistin bestätigte ihr, dass Hilfe unterwegs sei. „ Bis dahin . . . “
„  Ich weiß, was bis dahin zu tun ist. Ich bin Soldatin und war im Irak “, entgegnete Dominga knapp. „ Sagen Sie denen nur, dass sie sich beeilen sollen. “
„ Miss Mamie “, jammerte das Kind.
„ Hab keine Angst “, murmelte Dominga, während sie den Kopf der alten Frau so ausrichtete, dass deren Atemwege frei waren. Dann reinigte sie ihr den Mund und begann mit der Herzmassage. „ Miss Mamie kommt wieder in Ordnung. “
Ohne zu ahnen, welches Drama sich gerade in Mamies Wohnung abspielte, taten sich Hannah und Adam an dem Soulfood-Büfett gütlich, das zu Ehren von Father Luke angerichtet worden war. Sie tranken ein paar Gläser und tanzten sogar ein bisschen. Nach dem letzten Tanz kehrten sie Hand in Hand zu dem Tisch zurück, den sie mit Frank und Kiyanna teilten. Kiyanna bedachte Hannah mit einem verschwörerischen Lächeln von Frau zu Frau.
„ Ihr beide seid ja so süß “, raunte sie.
„ Danke “, erwiderte Hannah.
„ Wie lange seid ihr denn schon verheiratet ? “
„ Ach, schon eine Ewigkeit “, antwortete Hannah ausweichend.
„ Und Cindy ist euer einziges Kind ? “
Hannah rührte mit dem Strohhalm in ihrem Drink herum und nahm ihn dann zwischen die Lippen, als müsse sie lange über diese Frage nachdenken. „ Ja “, sagte sie schließlich.
Kiyanna nickte bedächtig. Sie wollte zwar nicht nachbohren, war aber eindeutig neugierig.
„ Wir hatten die Hoffnung fast aufgegeben, als sie kam “, erklärte Hannah.
„ Sie ist wirklich ein reizendes Mädchen. “
„  Danke “, meinte Hannah. Einerseits sprach sie nicht gern über dieses Thema, wollte aber auch nicht unfreundlich zu Kiyanna sein, die so nett zu Sydney war, seit sie sie ins Restoration House mitbrachte.
„ Was ist mit dir ? “, erkundigte sich Hannah und warf einen Blick auf Frank, der sich gerade am Nachspeisen­büfett bediente. „ Seid ihr beide . . . zusammen ? “
Kiyanna sah Frank an und seufzte. „ Ja, ja, sind wir. “
„ Aber in der Arbeit seid ihr so . . . “
„ Kollegial “, ergänzte Kiyanna. „ Ja, wir versuchen, es nicht an die große Glocke zu hängen. “
„ Ist es was Ernstes ? “
Kiyanna grinste verlegen. „ Ja, ich glaube schon. “
Hannah nickte. „ Ihr seid ein schönes Paar. “
Kiyanna runzelte die Stirn. „ Als Frank in den Irak gegangen ist, war er verheiratet. Während er weg war, hatte sie einen anderen kennengelernt. Es fällt ihm immer noch schwer, jemandem zu vertrauen. “
„ Ja, jemandem vertrauen zu können ist sehr wichtig “, räumte Hannah ein.
„ Ich versuche, ihm seine Ängste zu nehmen “, sagte Ki­­yanna und rührte ihren Drink um.
„  Ich habe miterlebt, wie er mit den Veteranen arbeitet. Er hat so ein gutes Herz “, erwiderte Hannah. Sie schaute hinüber zu ihrem Mann, der mit dem hageren, leicht blutarm wirkenden Father Luke und dessen beleibtem dunkelhäu­tigem Lebensgefährten, Spencer White, dem Gastgeber, ins Gespräch vertieft war. „ Alan und ich haben viel zusammen durchgemacht “, fügte sie hinzu. „ Sehr viel. “
Kurz darauf schlug Adam vor, es sei allmählich an der Zeit, nach Hause zu gehen. Schließlich müssten sie Sydney abholen. Hannah stimmte zu, und sie verabschiedeten sich von den anderen Gästen.
Zu dieser späten Stunde waren die Straßen still bis auf ein gelegentliches Auto, aus dem Musik dröhnte, ein Motorrad oder eine Streiterei in einem Hauseingang. Die Stadt. Hannah hätte nie gedacht, dass es ihr dort so gut gefallen würde. Doch das Stadtleben hatte etwas an sich, auch wenn sie sich hauptsächlich deshalb dafür entschieden hatten, um anonym zu bleiben.
„ Hattest du Spaß ? “, fragte sie Adam.
Dieser nickte. „ Ja “, antwortete er. „ Und deine Kollegen fand ich nett. Wirklich sympathische Leute. “
„ Sind sie auch “, meinte Hannah. „ Ich mag sie sehr. “
„ Es ist schön, wieder mal mit dir auszugehen “, fügte er hinzu.
Hannah lächelte reumütig. „ Ich weiß, was du meinst. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil ich mich amüsiert habe. “
„ Vielleicht kehrt in unser Leben endlich wieder so etwas wie Normalität ein “, seufzte er.
„ Glaubst du, bei Computerhelden gibt es auch mal eine Firmenfeier ? “
Adam schüttelte den Kopf. „ Die stehen nicht so auf Menschen aus Fleisch und Blut, sondern machen lieber Party mit ihren Avatars. Dazu müssen sie sich nämlich nicht ordentlich anziehen. “
Hannah lachte und drückte seine Hand, als sie um die Ecke in die 50th Street einbogen. Im nächsten Moment schnappte sie nach Luft. „ Adam, schau. “
Er hatte es bereits gesehen. Den Krankenwagen. Und die Blaulichter des Streifenwagens.
„ Offenbar unser Haus “, stellte Hannah fest.
„ Das muss nicht sein “, entgegnete Adam.
Aber Hannah war schon losgerannt. Je näher sie kam, desto sicherer war sie, dass die Notfallfahrzeuge vor Mamies Haus parkten. „ Bitte, lieber Gott “, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, „ mach, dass Sydney nichts passiert ist. Oh, wir hätten sie nie allein lassen dürfen. “
Als sie am Haus ankam, war sie außer Atem. Sie hörte Adams polternde Schritte hinter sich auf dem Gehweg. Während sie auf die Polizisten zuhastete, bemerkte sie, dass die Heckklappe des Krankenwagens offen stand. Hannah packte den nächstbesten Polizisten am Arm. Sie brachte kaum einen Ton heraus.
„ Meine Tochter ? Was ist passiert ? Wo ist sie ? “
Der Polizist drehte sich mit ernster Miene zu ihr um. „ Sind Sie die Mutter des kleinen Mädchens ? “
„ Ja. Wo ist sie ? “ Hannah traten Tränen in die Augen. „ Ist ihr etwas zugestoßen ? Was ist geschehen ? “
„ Mit ihr ist alles in Ordnung. Sie sitzt da drüben im Streifenwagen. Hey, Mickey “, rief er. „ Die Mutter der Kleinen ist da. “
Hannah sackte gegen eines der Autos. Sie spürte, dass Adam hinter ihr nach Luft schnappte, drehte sich um und griff nach seiner Hand. „ Alles ist gut “, flüsterte sie.
Im nächsten Moment teilte sich das Meer aus Polizisten, und eine Polizistin stand vor Hannah. Sie hatte Sydney an der Hand.
Hannah sah ihr Kind an, fiel auf die Knie und breitete die Arme aus.
„ Mom, Mom ! “, jubelte Sydney und lief auf sie zu.
Hannah dachte, noch nie so etwas Gutduftendes wie das Haar ihrer Tochter gerochen zu haben. Es war ein wundervolles Gefühl, als die Ärmchen sich um sie schlangen. „ Alles in Ordnung ? “, fragte sie und drückte Sydney an sich.
Sydney nickte. „ Miss Mamie ist hingefallen. Sie ist krank geworden und hingefallen “, verkündete sie feierlich.
„ O mein Gott “, stöhnte Hannah auf. „ Wie . . . ? Was ist denn passiert ? “
Adam stupste Hannah am Rücken an. „ Steh auf “, zischte er. „ Wir müssen hier weg. “
Verwundert über seinen drängenden Ton blickte Hannah auf. Im nächsten Moment hörte sie eine dröhnende Stimme neben sich.
„  Mrs Whitman, Mr Whitman. “ Isaiah Revere, Mamies ältester Sohn, kam auf sie zu. Sie waren sich im Laufe der letzten zehn Monate einige Male begegnet, wenn er seine Mutter besuchte. Revere war ein kahlköpfiger Mann Ende fünfzig und hatte einen gut geschnittenen Mantel in gedecktem Braun an. Außerdem trug er eine Krawatte und blank polierte Schuhe aus Pferdeleder.
Hannah stand auf und schüttelte seine ausgestreckte Hand. „ Hallo, Mr Revere. Wie geht es Mamie ? Wird sie wieder gesund ? Was ist geschehen ? “, fragte sie.
In diesem Moment knallten die Türen des Krankenwagens zu, und die Sirene sprang an.
Isaiah runzelte besorgt die Stirn. „ Sie glauben, dass es ein Schlaganfall war, aber sie müssen noch einige Untersuchungen durchführen. Respekt vor Ihrem kleinen Engel. Cindy war sehr tapfer. Richtig, mein Kind ? “
Sydney, die sich in Hannahs Arme kuschelte, sah dem Stadtrat geradewegs ins Gesicht. „ Miss Mamie ist hingefallen. Sie ist krank. “
Isaiah Revere lächelte. » Stimmt. Aber sie wird wieder ge­­sund. Die Ärzte kümmern sich um sie. «
Hannah schüttelte den Kopf. „ Was ist passiert ? Wer hat sie gefunden ? “, erkundigte sie sich und schaute sich nach der Flotte aus Streifenwagen und dem Krankenwagen um, die sich gerade zur Abfahrt anschickten. „ Cindy ist viel zu klein, um Hilfe zu holen. “
„ Nun, das haben wir dieser Dame zu verdanken “, er­­widerte Isaiah. Mit diesen Worten drehte er sich um und wies auf eine männlich wirkende junge Frau, die gerade mit einem der Polizisten sprach. Auf Anhieb erkannte Hannah die Veteranin, die sie auf dem Weg zur Geburtstagsfeier getroffen hatten.
„ Könnten Sie mal bitte herkommen, Soldat ? “, forderte Isaiah sie auf. „ Das sind die Eltern des Kindes. “
„ Dominga “, rief Hannah aus.
Dominga nickte schüchtern. „ Hallo, Anna “, sagte sie.
Isaiah Revere verzog erstaunt das Gesicht. „ Sie kennen sich ? “
„ Ja. Nun, ich arbeite im Restoration House. Das ist ein gemeinnütziger Verein für Veteranen. “
„  Offenbar hat Ms Flores Ihre Tochter schreien gehört und ist zum Fenster gegangen. Als sie meine Mutter auf dem Boden liegen sah, hat sie schnell gehandelt und ist durchs Fenster eingestiegen. “
Hannah spürte, wie Adam sie am Arm zupfte. „ Hannah, wir müssen weg “, flüsterte er. „ Cindy muss ins Haus. “
Hannah ärgerte sich über die Unhöflichkeit ihres Mannes, denn sie wollte sich bei Dominga für ihre Geistesgegenwart bedanken. „ Dominga, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. “
Dominga versuchte, das Lob abzutun. » Ich habe nur ge­­macht, was nötig war. «
Plötzlich leuchtete ein heller Scheinwerfer Hannah mitten ins Gesicht. „ Ratsherr Revere, wir haben Ihren Anruf erhalten. Wir sind von Channel Ten News und haben gehört, Ihre Mutter sei erkrankt. Was ist geschehen ? “
Sydney hielt sich ihre pummelige Hand vor die Augen. Hannah erstarrte. Zu spät wurde ihr klar, warum Adam so rasch hatte verschwinden wollen.
„  Danke, dass Sie gekommen sind. Ich werde Ihnen alles erklären “, sprach Isaiah Revere ins Mikrofon. „ Ich fahre jetzt sofort ins Krankenhaus, um meiner Mutter beizustehen, die heute Abend in ihrer Wohnung krank geworden ist. Doch bevor ich gehe, möchte ich noch darauf hinweisen, dass sie jetzt wahrscheinlich tot wäre, wäre diese junge Frau nicht gewesen. Dominga Flores hat sich Zutritt zur Wohnung verschafft und den Notarzt verständigt. Meine Mutter war allein mit diesem kleinen Kind, das sie beaufsichtigt hat. “ Der Kameramann richtete das Objektiv auf Hannah, die Sydney in den Armen hielt.
Hannah klopfte das Herz bis zum Halse, und sie wandte so gut wie möglich das Gesicht ab.
„  Ms Flores ist Veteranin des Irakkriegs und hat durch ihre Teilnahme an diesem Konflikt schwere Schäden davongetragen “, fuhr Isaiah fort. „ Soweit ich informiert bin, hat Dominga es in letzter Zeit nicht leicht gehabt. Sie hat keine Arbeit und ist obdachlos. Doch als meine Mutter in einer schweren Notlage und Ms Flores mit einer Krisensituation konfrontiert war, hat sie sich auf ihre Ausbildung als Soldatin besonnen und sich heldenhaft geschlagen. “
Hannah hörte, dass Adam hinter ihr leise aufstöhnte. Sie fühlte sich wie gelähmt, gefangen im grellen Lichtschein der Kamera und völlig schutzlos.
Inzwischen waren die Kamerateams weiterer Sender eingetroffen, die vom Büro des Ratsherrn informiert worden waren. Jeder andere Sohn wäre schon längst unterwegs zum Krankenhaus oder im Krankenwagen bei seiner Mutter gewesen. Zu spät erkannte Hannah, dass Isaiah Revere den Zwischenfall nutzte, um Wahlkampf zu betreiben. Niemals hätte er sich eine Gelegenheit entgehen lassen, auf Stimmenfang zu gehen. Sie fühlte sich flau und befürchtete, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Allerdings hatte sie Sydney im Arm, und alle sprachen über die junge Frau, die ihr Kind gerettet hatte. Also war es unmöglich, sich einfach umzudrehen und davonzugehen.
„ Bevor ich ins Krankenhaus fahre, möchte ich Sie noch darauf hinweisen, dass Ms Flores’ Verhalten uns alle daran erinnern sollte, wie sehr dieses Land seine Veteranen im Stich gelassen hat, die stets treu für uns eingestanden sind. Sie kämpfen für uns, wenn Not am Mann ist, ganz gleich, wann und wo. “
Dominga wirkte verlegen, aber auch stolz. Obwohl es Hannah den Magen zusammenzog, zwang sie sich zu einem Lächeln. Vielleicht sieht ja niemand die Sendung, versuchte sie sich einzureden. Es sind doch nur Lokalnachrichten. Morgen werden es alle vergessen haben. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein Mensch, der fünfzehnhundert Kilometer weit weg wohnt, sich diesen Bericht anschaut ?
„ Wie fühlen Sie sich, Ma’am ? “, fragte der Reporter.
Hannah nickte. „ Dankbar. Sehr dankbar “, flüsterte sie, ob­­wohl ihr in Wahrheit speiübel war. Ihr Herz klopfte, und sie wünschte, der Boden möge sich auftun und Adam, Sydney und sie verschlingen, damit sie sich auf Nimmerwiedersehen in Luft auflösen konnten.

Patricia MacDonald

Über Patricia MacDonald

Biografie

Patricia MacDonalds fesselnde psychologische Thriller sind weltweit auf den Bestsellerlisten vertreten. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in New Jersey, USA.

Pressestimmen
Lippische Landes-Zeitung

„Ein Psychothriller, ein düsteres Familiendrama zugleich. (...) Das ist umso packender zu lesen, weil das Böse so nahe kommt.“

Österreich (A)

„Eine düstere Geschichte“

Südhessen Woche

„Patricia MacDonald hat einen atemlosen Thriller verfasst, der mit Schockeffekten einen krassen Gegenentwurf zum trauten Familienleben schafft. (...) Beste Kost für Psycho-Thriller-Fans.“

dpa

„Düsterer Thriller“

welikebooks.de

„Die Autorin ist eine Meisterin ihres Fachs und hat einen Thriller der Extraklasse geschaffen.“

KRIMI - Das Magazin

„Ein zwischen Familiendrama und Psychothriller angelegter Pageturner, der in spannender Weise gegenwärtige gesellschaftliche Themen aufgreift.“

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