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Die Toten, die dich suchen (Judith-Krieger-Krimis 6)Die Toten, die dich suchen (Judith-Krieger-Krimis 6)

Die Toten, die dich suchen (Judith-Krieger-Krimis 6) - eBook-Ausgabe Die Toten, die dich suchen (Judith-Krieger-Krimis 6)

Gisa Klönne
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Kriminalroman

„Ein Krimi der Extraklasse, mit Spannung und Tiefgang.“ - Tiroler Tageszeitung (A)

Alle Pressestimmen (16)

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Die Toten, die dich suchen (Judith-Krieger-Krimis 6) — Inhalt

Ein dramatischer Krimi um Flucht, Vertreibung, Gewalt und betrogener Sehnsucht: Judith Kriegers sechster Fall

Keine Toten mehr! Mit diesem Vorsatz kehrt Hauptkommissarin Judith Krieger nach Köln zurück. Als Chefin der Vermisstenfahndung, nicht mehr als Mordermittlerin. Doch gleich der erste Tag führt sie zum Schauplatz eines grausamen Mordes an einem seit Wochen verschwundenen Mann. Die Jagd nach dem Täter bringt Judith an die Grenzen der Legalität und auf die Spur einer zweiten Vermissten. Ist die junge Kolumbianerin Inez ein weiteres Opfer oder eine eiskalte Rächerin?

„Ein grandioses Stück ... Ein Krimi, der das Zeug zum Bestseller hat. Unbedingt.“
WDR 5

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 04.10.2016
432 Seiten
EAN 978-3-492-97515-5
Download Cover
€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 29.07.2021
432 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-50549-9
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Leseprobe zu „Die Toten, die dich suchen (Judith-Krieger-Krimis 6)“

Teil 1

Gespenster

1. Tag Montag, 4. Mai

Judith


Sie folgten dem Pfad, den das Absperrband vorgab, ließen die Kollegen zurück. Ihr Gejohl, ihre Zoten. Judith hob den Daumen und lief schneller. Der Hof schien sich zu verengen. Mauern, die näher rückten und den Tag schluckten. Sie hörte die Schritte Dinah Makowskis in ihrem Rücken wie ein unstetes Echo, hörte das leise Rascheln ihres Overalls im Takt ihrer Bewegungen. Und ihr Handy vibrierte zum x-ten Mal heute. Weitere Glückwünsche zu ihrem Karrieresprung wohl. Kollegen, die sich plötzlich an sie erinnerten, [...]

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Teil 1

Gespenster

1. Tag Montag, 4. Mai

Judith


Sie folgten dem Pfad, den das Absperrband vorgab, ließen die Kollegen zurück. Ihr Gejohl, ihre Zoten. Judith hob den Daumen und lief schneller. Der Hof schien sich zu verengen. Mauern, die näher rückten und den Tag schluckten. Sie hörte die Schritte Dinah Makowskis in ihrem Rücken wie ein unstetes Echo, hörte das leise Rascheln ihres Overalls im Takt ihrer Bewegungen. Und ihr Handy vibrierte zum x-ten Mal heute. Weitere Glückwünsche zu ihrem Karrieresprung wohl. Kollegen, die sich plötzlich an sie erinnerten, nun, da sie wieder in Köln war.

Hast also doch wieder Sehnsucht bekommen, Krieger. Hältst es nicht ohne Mord aus.

Sie ließ das Telefon, wo es war, schickte einen schnellen Blick über die staubblinden Fenster der Lagerhalle, den Stapel modriger Holzbohlen davor, das holprige Pflaster. Löwenzahn blitzte in den Ritzen. Das sah lustig aus. Lauter fette kleine Sonnen, wie sie Kinder mit Wachskreiden malten. Früher hätte sie sich gebückt, die zu pflücken.

Das Gebäude am Ende des Hofs war ein dreistöckiger Betonklotz mit Flachdach, die Fenster mit Brettern vernagelt.

„Judith. Hallo.“ Klaus Munzinger, der Chef der Kriminaltechnik, trat aus dem Eingang.

„Klaus.“ Sie gab ihm die Hand. „Und ihr seid wirklich sicher, dass ihr unseren Mann habt? Angelo Jaramillo?“

„Die Kleidung passt. Die Haare. Und das Tattoo ist eindeutig.“

Munzinger bückte sich zu einem seiner zahlreichen Koffer und förderte Mundschutz und Handschuhe daraus hervor. Dinah riss sie ihm förmlich aus der Hand und wich Judiths Blick aus. Im weißen Oval der Kapuze wirkte ihr Gesicht noch dunkler, sehr jung, seltsam nackt.

„Alles ok, Dinah?“

Dinah nickte, streifte die Handschuhe über. Ihr Fall war das. Sie hatte den vermissten kolumbianischen Geschäftsmann Angelo Jaramillo in den letzten Wochen gesucht und nicht finden können. Und nun war er tot, lag irgendwo in diesem Gebäude.

Zwielicht empfing sie drinnen, ein bleiernes Grau, das durch die Bretterverschalungen hereinsuppte. Dort, wo einst Lampen montiert gewesen waren, krümmte sich ein Gewürm nackter Kabel aus den Wänden. Rechts gähnte ein Aufzugschacht, ungesichert und ohne Türen. Das Gebäude stand leer, seit Monaten schon, im nächsten Jahr würde es abgerissen werden.

Sie folgten dem Kriminaltechniker zum Treppenhaus und die Stufen hinab. Schritte im Gänsemarsch, das Knistern der Overalls, die Anspannung, die Latexhandschuhe, deren Fingerlinge für Judiths Hände wie immer ein Stückchen zu lang waren. Alles vertraut, als ob sie nie fort gewesen wäre und die letzten vier Jahre sich einfach auflösten. Irgendwo ratterte ein Generator. Unten. Im Keller. Großartig, wirklich. Ein glänzender Start als Leiterin der Vermisstenfahndung. Ein Job für die Lebenden sollte das werden. Doch schon der erste Fall wandelte sich zu einer Todesermittlung, direkt nach ihrer Antrittsrede, noch bevor sie auch nur ihren neuen Schreibtisch in Augenschein nehmen konnte. Guter Witz, eigentlich. Kein Wunder, dass die Kollegen feixten. Nur dass das gar kein Witz war.


Die Treppe endete in einem Korridor, an dessen Ende stand eine Tür auf. Licht drang heraus, ein kaltweißes Rechteck, in dessen Widerschein die Wände roh wirkten, wund und die Decke zu niedrig, unwillkürlich zog Judith den Kopf ein.

Das nervtötende Rattern des Generators trieb sie vorwärts. Dreckkrumen und Fußspuren auf dem nackten Estrich. Spinnweben, die graue Pelze aus Staub trugen. Irgendwo in Judiths Magen regte sich etwas, sanft wie der Flügelschlag eines Nachtfalters. Ein leises Unwohlsein. Eine Warnung. Weil die Luft schon den Tod trug und stumpf wurde, zählflüssig? Nein, deshalb nicht, damit konnte sie umgehen.

Sie trat hinter dem weißen Rücken Klaus Munzingers in den leuchtenden Keller, blieb direkt wieder stehen. Ein rechteckiger Raum. Fensterlos, hoffnungslos, trostlos. Es gab nichts darin, nur die Scheinwerfer der Kriminaltechnik, den Lärm des Generators, den Leichengestank und den Toten.

Überfesselung – war das die korrekte Bezeichnung? Judith wusste es nicht, doch ihr fiel keine bessere ein. Ein Bündel Mensch in Embryonalhaltung lag da vor ihr auf dem Estrich, grotesk mit Gewebeband umwickelt. Hinzu kamen Handschellen, Fußschellen und Metallketten, die Hals und Gliedmaßen an einem etwa armdicken grauen Rohr fixierten, das senkrecht hinauf zur Kellerdecke führte. Ein Abwasserrohr vielleicht. Oder ein Heizungsrohr. Aber hier in diesem Keller gab es weder Waschbecken noch Toilette noch einen Heizkörper. Das einzige Zugeständnis an Komfort, das sein Peiniger Angelo Jaramillo gewährt hatte, war die Fleecedecke, auf der er lag. Hellrot mit weißen Punkten. Kindlich. Zu dünn, um zu wärmen.

Nein, halt, da war noch etwas. Eine Mineralwasserflasche der Marke JA in der Raummitte auf dem Boden, die ein Plastikaufsteller der Kriminaltechnik als Spurenträger Nummer 3 kennzeichnete.

„Verstehst du jetzt, warum wir euch geholt haben?“ Munzingers Stimme drang dumpf durch den Mundschutz.

Judith nickte und warf einen Blick auf Dinah, die vollkommen still stand, den Blick unverwandt auf den Toten gerichtet. Abwesend oder hoch konzentriert? Was ging in ihr vor? Nicht zu entscheiden, nicht hier, später würden sie das klären, wenn sie hier wieder raus waren und Dinah den Abschlussbericht verfasste, um die Vermisstenakte Jaramillo der Mordkommission zu übergeben.

„Hier entlang, dicht an der Wand bitte.“ Munzingers Zeigefinger dirigierte sie näher zum Leichnam. Wie viele Tatorte hatten sie schon zusammen begutachtet? Viele. Zu viele. Bis sie das nicht mehr ausgehalten hatte, keine Leichen mehr sehen wollte. Sehen und riechen und anfassen und in ihre Köpfe hineinkriechen, in ihre tiefsten Geheimnisse und Abgründe. Und in die ihrer Angehörigen und ihrer Mörder.

„Bondagetape“, sagte Munzinger hinter ihr. „Also das schwarze Zeug, mit dem man ihn verschnürt hat. Hält bombenfest, funktioniert ohne Klebstoff. Gibt’s in einschlägigen Sexshops, genau wie den Rest des Equipments.“

Judith drehte sich zu ihm um. „Nach einer SM-Party sieht das hier aber nicht aus.“

„Weiß man’s?“

„Ich bitte dich, Klaus. Er trägt Straßenkleidung.“

„Ein misslungenes Vorspiel?“

„Hier in diesem Keller?“

Sie ging in die Hocke, versuchte sich vorzustellen, was hier geschehen war. Sex oder Folter oder etwas völlig anderes? Angelo Jaramillo also. Haare, Statur und Kleidung passten tatsächlich exakt zu den Angaben in der Vermisstenakte. Ein fliederfarbenes Hemd, ein heller Leinenanzug und rehbraune Lederslipper. Schmutzstarr jetzt, verklebt von Dreck, Blut und Exkrementen. Er musste gefroren haben. Er trug nicht einmal Socken.

Wieder der zitternde Flügelschlag in ihrem Magen. Warum? Wegen Jaramillos gefesselter Hände vielleicht, die so weit vorgereckt waren wie irgend möglich. Als würde er um etwas bitten. Flehen. Beten. Als wollte er unbedingt etwas erreichen. Vielleicht diese Wasserflasche. Wahrscheinlich sogar. Die Handschellen hatten sich tief in sein Fleisch gegraben. Genau wie dieses Halsband in seine Kehle. Ein Halsband aus Lackleder mit Metallverstärkung und Nieten. Er musste daran gezogen haben, sich dagegen gestemmt, bis zuletzt. Wie ein Tier, das nicht aufgeben kann. Lieber ersticken als sich fügen. War es das, was sie verstörte, diese Vorstellung? Nein, das war es nicht, nicht allein, es war …

„Der Ring der O“, sagte Munzinger. „Also dieser Ring in dem kugelförmigen Scharnier auf dem Halsband, durch den die Kette verläuft. In der Szene gilt der als Erkennungszeichen der sogenannten Subs, also als Symbol der Unterwerfung …“

Ein Schrei unterbrach ihn. Dinah torkelte gegen ein Scheinwerferstativ. Die Lampe fiel und zerbarst, bevor sie das auch nur begriffen. Und schon lag auch Dinah am Boden, krümmte sich, presste die Hände vors Gesicht und würgte.

„Raus hier, sofort raus!“ Munzinger riss sie wieder hoch. Dinah wimmerte, keuchte, bemühte sich zu gehorchen. Erbrochenes quoll unter ihrem Mundschutz hervor, das sie mit hektischen Bewegungen aufzufangen suchte. Munzinger fluchte und zerrte sie Richtung Tür, stolperte über ein Stromkabel.

Das Licht schien zu verwirbeln, zu fallen, als auch der zweite Scheinwerfer kippte. Im Aufspringen sah Judith die Schatten ihrer Kollegen über die Wand fliegen. Es sah auf eine verrückte Art schön aus. Poetisch. Zwei aufgescheuchte Gespensterkrähen, die miteinander tanzten. Und dann war es auch schon vorbei, der Scheinwerfer zerschellte, ein Knall folgte und ein sehr ungesundes Zischen aus dem Generator, noch ein Knall, der verdächtig nach einer Tür klang, die zufiel, sich entfernende Schritte.

Schwärze im nächsten Moment. Schwärze und eine vollkommen unwirkliche, schier ohrenbetäubende Stille, weil der Generator verstummt war.

„Klaus? Dinah? Hallo?“

Keine Antwort. Kein Laut. Nur ihr eigener fliegender Atem. Ihr Herzschlag.

Judith rief noch einmal, lauter diesmal.

Wieder nichts. Gar nichts.


Das war ein Scherz. Ein ganz, ganz, ganz schlechter Scherz, das konnte ja wohl nicht wahr sein. Die mussten die Tür doch gehört haben und also wissen, dass sie hier drin festsaß. Diese Tür, die, wie Munzinger eben noch langatmig erklärt hatte, nur von außen zu öffnen war, weil sie innen nur einen Knauf hatte, keine Klinke, einen Knauf, den er noch nicht fertig untersucht hatte.

Der Gestank sprang sie an, krallte sich an ihr fest, ließ sich nicht mehr abschütteln. Die Schwärze verdichtete sich, drohte sie zu ersticken.

Schreien. Toben. An der Tür rütteln. Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger, Erste Kriminalhauptkommissarin neuerdings sogar, der einstige Star der Kölner Mordkommission, randaliert an einem Tatort und zerstört Spuren. Nein, verdammt, das ging nicht, diese Blöße würde sie sich nicht geben.

Vielleicht war das ja tatsächlich ein Scherz. Ein kleines, böses Willkommensritual, das die Kollegen ohnehin für sie geplant hatten. Sie kannten sie schließlich, wussten, wie wichtig es ihr früher immer gewesen war, einen Tatort allein zu besichtigen. Himmel noch mal, Judith, nun vertrau uns doch mal, wir übersehen schon nichts, du hältst nur den Betrieb auf … oft und oft hatten sie so schon gestritten.

Sie tastete nach dem Reißverschluss ihres Overalls, versuchte ihn aufzuziehen, rutschte ab. Ihre Hände fühlten sich eiskalt an, ungelenk, schienen trotzdem zu schwitzen, das Latex der Handschuhe klebte an ihr wie feuchte Fischhaut und der Reißverschluss klemmte. Judith zwang sich zur Ruhe, schaffte es, ihn zu öffnen, und bekam ihr Handy zu fassen. Das Display leuchtete auf und erlosch wieder.Kein Empfang. Keine Chance. Nicht mal der Notruf funktionierte hier unten.

Lichtpunkte flirrten vor Judiths Augen und verloren sich in der Schwärze. Sie glaubte Jaramillos Verlassenheit zu spüren. Sein Entsetzen, das sich in die kahlen Wände gefressen hatte und hier immer noch festsaß. Ein kolumbianischer Goldhändler auf Geschäftsreise in Europa. 34 Jahre alt, erfolgreich, glücklich verheiratet, Vater zweier Kleinkinder. Vor zweieinhalb Wochen war er über Nacht aus seinem schicken Südstadthotel am gegenüberliegenden Rheinufer verschwunden und dann irgendwie in diesen Keller geraten. Wie? Warum? Sein Mörder musste von diesem Keller gewusst haben. Er hatte sich sicher gefühlt hier, ungestört, hatte gewusst, dass dieses Gebäude leer stand und dass von hier unten kein Laut nach draußen dringen würde, deshalb hatte er Jaramillo zwar gefesselt, aber nicht geknebelt. Und Jaramillo hatte geschrien und um sein Leben gefleht und mit sich selbst gesprochen, sobald er allein war. War es so gewesen? Ja, genau so. Sie wusste das, fühlte das, konnte es nur nicht beweisen.

Sie aktivierte ihr Handy erneut. Die Taschenlampen-App funktionierte, das war immerhin etwas, auch wenn der bläuliche Lichtstrahl zu schwach war, den Raum in Gänze zu erfassen. JA auf der Mineralwasserflasche, war das nur Zufall oder wollte Jaramillos Mörder ihn damit quälen? Und hatte Jaramillo überhaupt Deutsch verstanden? Ein weiterer Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass der letzte Anrufer ihre Mutter gewesen war. Und die SMS von Per stand noch immer auf dem Display.


Als ich heute aufgewacht bin, warst du fort, Ju, aber meine Haut roch noch nach dir und meine Hände …


Genug davon. Judith schickte den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die Reise. Glassplitter auf dem Boden, die umgekippten Stative der Lampen darin wie Insektenbeine, neben dem Toten dunkel verkrustete Flecken im Estrich. Blut vielleicht, regelrecht plastisch wirkte das und nur Zentimeter daneben ein fröhlicher roter Zipfel der Fleecedecke unter Jaramillos schmutzigem Anzug.

Auf einmal hörte sie ihren Herzschlag viel zu laut und überall, in der Kehle, der Stirn, in ihren Ohren. Atmen Judith, du musst atmen. Atmen und dich bewegen, das baut Adrenalin ab. Sie tappte zurück zur Tür, eng an der Wand entlang in dem Korridor, den die Kriminaltechnik freigegeben hatte, so wie sie gekommen war. Vor zwei Minuten? Drei? Oder schon fünf?

Die Tür war verschlossen. Natürlich. Kein Laut dahinter. Kein Lichtstreif. Rostiges Eisen, das sie von der Welt trennte.

Sie lachte. Ein Geisterbahnlachen. Es klang dumpf unter dem Mundschutz. Ich freue mich, hier zu sein. Ihre Worte beim Einstand. Kaum zwei Stunden her. Wann würde Munzinger oder wer auch immer zurückkommen und die Tür öffnen? Freiheit – das war ein Wort, das schon so oft missbraucht worden war, dass man es kaum noch zu benutzen wagte. Aber was Freiheit tatsächlich bedeutete, offenbarte sich erst, wenn das, was man für selbstverständlich hielt, wegbrach: Sehen können zum Beispiel. Sich bewegen. Sooft und wohin auch immer man wollte.


Im Handylichtstrahl wirkte der Körper des Toten unwirklich, ein heller Schemen. Doch er war real. Angelo Jaramillo war hier in diesem Keller gestorben, vor Wochen wohl schon, und nur durch Zufall war er gerade heute entdeckt worden.

Judith wandte sich von der Tür ab, tastete sich erneut an der Wand entlang und kniete sich neben den Leichnam. Ihr Magen regte sich. Enge im Brustkorb. Ihr Herz. Das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Sie zwang sich zu atmen und jedes Detail zu betrachten, streckte die Hand aus und berührte sehr vorsichtig einen Zipfel der Fleecedecke. Weich. Hellrot. Weiße Punkte. Warum dieses Design? Was verriet das über den Täter? Dass er Kinder hatte oder ein kindliches Gemüt? Oder hatte er die Decke geklaut oder irgendwo billig erworben, ohne auf Farbe und Muster zu achten? Der Täter oder die Täter oder die Täterin? Womöglich gehörte die Decke auch Angelo Jaramillo selbst, vielleicht hatte er die für seine Kinder gekauft? Aber die anderen Mitbringsel für seine Familie steckten in dem Koffer, den er in seinem Hotelzimmer zurückgelassen hatte. Und warum hätte er ausgerechnet diese Decke zum Rendezvous mit seinem Mörder mitnehmen sollen?

Judith beugte sich tiefer. Die Ketten hatten Lacksplitter von dem Rohr gescheuert und Kerben hinterlassen. An der Wand daneben war Putz abgebröckelt. Nein, nicht gebröckelt – abgekratzt worden, knapp über dem Boden, in Reichweite von Jaramillos gefesselten Händen. Sie richtete den Lichtstrahl darauf, hielt unwillkürlich die Luft an. Das war ein J. Sein Initial? Nein, wohl nicht, denn nun, da sie bewusst hinschaute, erkannte sie einen zweiten Buchstaben. Ein verunglücktes E war das, und diese Schlangenlinie daneben konnte ein S darstellen. Und dahinter ein verrutschtes U und noch ein S und ein Kreuz. JESUS ist tot – war das Angelo Jaramillos letzte Botschaft gewesen, verstand sie das richtig?

Er musste im Liegen gekratzt haben, Stunde um Stunde, ein irrsinniger Kraftakt. Er konnte ja nicht gesehen haben, was er schrieb, nur gefühlt. Eine Welt, reduziert auf ein paar Zentimeter Bewegungsspielraum. Doch vielleicht war das eine Hoffnung gewesen, die Wand ein Halt, das Rohr, an das er gekettet war, ein Gegenüber, die Bestätigung, dass da noch eine Welt existierte, dass er nicht verrückt wurde, dass es etwas gab, was er seiner Ohnmacht entgegensetzen konnte, dass er noch lebte.

Sie atmete aus und ließ das Licht der Handytaschenlampe erlöschen. Lichtpunkte flirrten vor ihren Augen, foppten sie, ließen ein durchscheinendes Trugbild des toten Körpers durch den Raum schweben und schließlich zerfasern. Die Stille, die Schwärze, die Hilflosigkeit. Die blindwütige Gier nach dem Leben. Die Panik. Der Schmerz. Das leise Schaben und Kratzen. Fingerkuppen und -nägel, die sich in den Putz graben. Wie lange? Minuten oder Stunden? Das Zeitgefühl ging im Warten verloren. Sekunden, die sich zu einer Unendlichkeit addierten. Und irgendwo ganz in der Nähe der Mörder, Benzingeruch … Hör auf, Judith, stopp, das ist vorbei, das hast du überlebt, dies ist nur ein Keller, den du begutachtest, ein Job, hier lauert kein Mörder mehr, dies ist ein Raum, aus dem du bald wieder herauskommst.

Sie spannte die Muskeln an, ballte die Hände zu Fäusten, zwang sich, sie wieder zu öffnen, sich zu entspannen, zu atmen. Gab es Löwenzahn in Kolumbien? Sie wusste es nicht, hatte nicht darauf geachtet, nicht mal daran gedacht. Das Land war immergrün, unendlich fruchtbar, nah am Äquator. Es gab keine Jahreszeiten dort, nur Regen- und Trockenperioden und die immer gleich langen Tage und Nächte. Vielleicht hatte Jaramillo die gelben Sonnen im Hof draußen gesehen und an seine Kinder gedacht und gelächelt. Sie wünschte sich plötzlich, dass es so gewesen war, wusste zugleich, dass sie mit solchen Gedanken aufhören musste, sie in Schach halten, sonst ging sie gleich wieder unter.

Sie schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Sie hatte als Kind genau so eine Fleecedecke gehabt, die hatte in Berlin auf ihrem Bett gelegen. Nein, verdammt, das war Quatsch. Aber sie hatte eine Tasse und einen Teller in diesem Design besessen. Rot mit weißen Punkten, ein Geschenk ihres Vaters, das ihre Mutter Fliegenpilzservice nannte.

Und weiter, Judith, und weiter? Was sagt dir das über Jaramillo? Ihre Fragen flogen durch den Raum, prallten gegen die unsichtbaren Wände, vermehrten sich, wurden lauter. Fragen, nur Fragen. Aber irgendwo zwischen ihnen, hier in diesem Keller, verbarg sich die Antwort, und vielleicht würde sie die hören, wenn sie lange genug zuhörte. Sie lehnte sich an die Wand, starrte mit weit geöffneten Augen ins Dunkle und wartete.


***

Manni


Wir haben Ihre Frau … Vier Worte nur, und er hatte begriffen, dass in seinem Leben nun nichts mehr so sein würde wie bisher, dass alle geglaubten Sicherheiten nur eine Illusion waren. Wir haben Ihre Frau … Er hatte die Zeugenvernehmung abgebrochen und war losgerannt. Martinshorn, Vollgas, rotierendes Blaulicht. Der Tatort wischte vorbei und verschwand, nicht mehr sein Ding. Ein letzter Blick in den Rückspiegel noch, teuer bezahlt, weil er in der nächsten Sekunde um ein Haar mit einem Kombi kollidiert wäre. Ein Kombi, in dem seine Exkollegin Judith Krieger saß und von einer afrikanischen Schönheit chauffiert wurde. Eine Halluzination wohl, ein ganz großer Bockmist, den sein überreiztes Hirn ihm da für Sekundenbruchteile vorgegaukelt hatte.

Endlose, sinnlose Minuten verstrichen danach, weil selbst Blaulicht und Martinshorn das Vorankommen im Kölner Verkehrschaos nicht wirklich beschleunigen konnten. Im quälenden Zickzackkurs manövrierte er sich durch den Stau auf der Severinsbrücke. Seine Hände auf dem Lenkrad, die Knöchel, die weiß hervortraten, dieser Druck in der Kehle, das Rauschen des Polizeifunks. Und dazu in Endlosschleife die Stimme des Anrufers in seinem Kopf. Sachlich, so sachlich.

Wir haben Ihre Frau. Sie müssen sofort kommen. Es gibt Komplikationen. Eine Frühgeburt. Ihren Sohn haben wir auch hier.

Komplikationen, was genau hieß das? Das hatte der Anrufer nicht erklären wollen oder können oder dürfen, kommen Sie einfach her, Herr Korzilius. Er packte das Lenkrad fester. Die Ampel vor ihm sprang auf Rot. Martinshorn wieder an, links gucken, rechts gucken und rauf auf die Kreuzung. Aufmerksam bleiben, Höchstkonzentration, es gibt immer Idioten, die pennen, jetzt nicht auch noch einen Unfall bauen.

Noch fünf Wochen eigentlich bis zum errechneten Termin. Fünf Wochen, das war doch nicht viel, kein Drama mehr heute, das Kind konnte trotzdem gesund sein und leben. Genau wie die Mutter. Komplikationen, was zum Teufel hieß das? Kasi hatte den errechneten Geburtstermin gnadenlos überzogen. Ein Nesthocker, der hat wohl keine Lust auf den Stress draußen, hatten sie damals gespottet.

Endlich erreichte er die Klinik, das Klösterchen in der Südstadt, nur Minuten entfernt von ihrer Wohnung. Manni parkte im Halteverbot, scheiß drauf, sprintete zum Eingang und entdeckte seinen Sohn auf dem Boden des Wartebereichs neben einer Topfpflanze: Ein strubbelhaariger Winzling mit Latzhose, rot geweintem Gesicht und Dinosaurierrucksack. Ein Pfleger war bei ihm und machte Faxen mit einem himmelblauen Plüschteddy, den Kasi energisch zur Seite boxte, als er seinen Vater entdeckte. Manni ging in die Knie, und Kasi warf sich in seine Arme.

„Die lassen mich nicht zu Mama!“

„Ich bin jetzt da, Kasi, ich bin jetzt da. Wir gehen und suchen sie, wir gucken zusammen …“

Gucken, und dann? Seine Zuversicht klang falsch und schien zu verpuffen, als Kind würde er die keine Sekunde lang geglaubt haben. Manni stand auf und wuchtete sich seinen Sohn auf die Hüfte. Kasi schniefte und grub die Hände noch fester in Mannis Pulli. Sie fühlten sich heiß an, und Kasis Hosenboden war verdächtig feucht. Drei Jahre Leben und unvermittelt war dieser Knirps zum Protagonist in einem Drama geworden. Manni drückte ihn fester an sich und wandte sich an den Pfleger, der immer noch mit diesem schielenden Monsterbär herumfuchtelte.

„Korzilius mein Name. Wo ist meine Frau? Sonja Konrad. Also Konrad-Korzilius. Ich will … Ich muss …“

Der Pfleger schob ihn zum Empfang, ein anderer Weißkittel übernahm und lotste Manni in flottem Trab in die Eingeweide der Klinik. Kreppsohlenschritte auf blank gewienertem Linoleum. Kasis hektisches Schnaufen, sein Geruch nach Tränen und Spucke und dem Schlumpfshampoo, das er so liebte. Gynäkologie. Entbindung. Er kannte den Weg noch, erstaunlich, was man sich so alles merkte. Schrie da wer, war das Sonja?

„Warten Sie bitte hier.“

„Nein, ich will, meine Frau …“

„Bitte.“ Eine Hand auf seiner Schulter, ein Stuhl, ein Glas Apfelsaft für Kasimir, das dieser wütend wegschlug.

„Kasi, verdammt!“ Klebrige Nässe kroch von Mannis Hosenbein in seinen Turnschuh. Warten, warum schon wieder warten, jetzt, wo er hier war? Jetzt reiß dich am Riemen, Mann, die werden schon wissen, wann sie dich holen.

„Die Mama hat in die Hose gemacht, mitten auf der Straße“, wisperte Kasimir in sein Ohr. „Und dann lag sie plötzlich auf der Straße, und da war ein Feuerwehrauto.“

Feuerwehr oder Notarzt? Egal. Die Fruchtwasserblase musste geplatzt sein, völlig überraschend, als Sonja Kasi von der Kita abholte. Eine Tür klappte, wieder hörte er diese kehligen Schreie. Bei Kasis Geburt war er dabei gewesen, kein schönes Erlebnis, ganz und gar nicht, verstörend eher, und doch hätte er es um nichts auf der Welt gemisst haben wollen. Dieses absurde Glücksgrinsen in ihren Gesichtern, als sie Kasi zum ersten Mal anschauen konnten. Manni zog seinen Sohn fester an sich, merkte, dass Kasis Hosenboden inzwischen auch seine eigene Jeans durchfeuchtet hatte. Das Hosenbein, das vom Apfelsaft verschont geblieben war. Also hatten sie jetzt gewissermaßen alle Gleichstand, drei mit nassen Hosen – vielleicht war das ja ein gutes Omen.

Er sah auf die Uhr. Seit wann war Sonja hier? Warum hatte sie Kasi überhaupt selbst von der Kita geholt, das sollte doch eigentlich diese Tatjana übernehmen? Das neue Kindermädchen, irgendwas hatte Sonja ihm heute Morgen dazu erklärt, aber was? Er hatte nicht richtig zugehört, war in Gedanken schon ganz woanders, froh, dass das lange Wochenende rum war. Und er war außerdem zu spät dran gewesen und übernächtigt, wie eigentlich immer in letzter Zeit, weil Sonja nicht mehr durchschlief und Kasi ständig plärrte, weil sich keiner mehr wirklich erholte, weil sie viel zu viel stritten, sobald sie zu zweit waren. Und dieses Wochenende war die Sache dann eskaliert. Erster Mai, Birkengrün, junges Glück, ja von wegen. Zum ersten Mal hatten sie die Kontrolle verloren und sich sogar in Kasis Gegenwart gestritten. Und Kasi mutierte natürlich prompt zu einem kleinen Monster, wollte nicht essen, wollte nicht schlafen, und je mehr sie sich um ihn bemühten und ihm versicherten, alles sei prima in Ordnung, desto wütender wurde er, desto mehr ging alles den Bach runter, bis ihre Erbitterung schließlich ein Eigenleben entwickelte, eine feiste, picklige Kröte, deren Gift überall klebte.

Ich will mich nach dem Abstillen wieder um meine Praxis kümmern, Fredo. Und ich will weiterstudieren. Also reich jetzt endlich diesen Scheißantrag auf Elternzeit ein, damit ich weiß, dass du das ernst meinst. Du bist Beamter, was soll dir denn passieren, die werden dich schon nicht rausschmeißen, du hast es versprochen, und wenn du mich jetzt hängen lässt, dann …

„Sie haben eine Tochter, Herr Korzilius. Herzlichen Glückwunsch.“

Manni sprang auf, merkte, dass ihm die Knie wegsacken wollten, schaffte es, sich aufrecht zu halten.

„Und meine Frau?“

Sie brachten ihn zu ihr. Sie lebte. Jetzt bloß nicht flennen, Mann, du musst stark bleiben, Kasi braucht dich.

Aber die Geräte gefielen ihm nicht, diese ganzen Schläuche, und dass Sonja so blass war und sich nicht regte. Und wo überhaupt war seine Tochter? Eine Ärztin begann mit ihm zu sprechen. Eine schwere Geburt mit sehr hohem Blutverlust sei das gewesen. Sonja schlafe jetzt und brauche Ruhe, sie bekomme Infusionen, weil sie immer noch sehr stark blute.

„Und was heißt das?“ Seine Stimme klang heiser.

„Im Moment ist Ihre Frau stabilisiert. Wir versuchen zunächst, die Blutung zu stoppen.“

Versuchen. Das klang nicht überzeugend. Er streichelte Sonjas Hand, flüsterte ihren Namen. Keine Reaktion. Ihr Ehering so viel kleiner als seiner, ihre Finger so zart, dabei konnte sie so fest zupacken in ihrer Praxis, fand mit schlafwandlerischer Präzision immer genau die Stelle, wo es am meisten wehtat.

Kasimir brüllte los und versuchte sich aus Mannis Armen zu winden. Er wollte seine Mama, wollte zu ihr ins Bett kriechen. Manni hielt ihn fester.

„Still, Kasi, ruhig, die Mama will schlafen.“

„Ich bringe Sie zu Ihrer Tochter.“

Er folgte der Ärztin, ließ Sonja zurück, fühlte sich plötzlich wie ein sehr müder Tanzbär, und sein brüllender, zappelnder Sohn wog zwei Zentner. Die Ärztin lotste ihn in ein Zimmer und lächelte. Ein Plastikkasten auf Rädern stand darin, der Manni vage an ein Terrarium erinnerte.

„Keine Sorge, Herr Korzilius, Ihre Emma ist kerngesund. Wir geben ihr nur ein bisschen extra Wärme.“

„Emma?“

„So hat Ihre Frau das gesagt.“ Die Ärztin deutete auf das Namensschild. Lächelte.

Emma also. Emma Korzilius. Bis zur Erschöpfung hatten sie diesen Namen in den letzten Monaten diskutiert … aber ich bitte dich, Fredo, das ist doch kein Kniefall vor Alice Schwarzer, der Name ist schön und meine Urgroßmutter hieß auch so …, um ihn schließlich, wie er gedacht hatte, endgültig zu verwerfen. Falsch gedacht offenbar, denn Emma, so erklärte ihm die Ärztin, war das erste und einzige Wort, das Sonja beim Anblick ihrer neugeborenen Tochter herausgebracht hatte.

„Ich lasse Sie jetzt alleine.“ Die Ärztin schob ihm einen Stuhl zurecht. „Drücken Sie auf den Rufknopf, wenn Sie etwas brauchen. Hier in der Ecke liegt ein bisschen Spielzeug.“

Er nickte und merkte verspätet, dass Kasimir nicht mehr brüllte, sondern in stummer Faszination dieses winzige, schrumpelige Geschöpfchen in dem seltsamen Kasten betrachtete, das angeblich seine neue Schwester sein sollte. Manni sank auf den Stuhl und wischte sich mit dem Jackenärmel über die Augen. Jetzt flennte er also auch noch, heimliche lautlose Salzrinnsale, die Kasimir zum Glück nicht bemerkte.

Die Müdigkeit kam plötzlich, eine einzige große weiße Leere, die auch Kasimir übermannte, von einer Sekunde auf die andere war der plötzlich eingeschlafen. Ausgeknockt von der ausgestandenen Angst und dem Adrenalinhype, beruhigt durch die Anwesenheit seines Vaters, wie nur Kleinkinder das können.

Manni zog seinen Sohn fester an sich und tastete mit der freien Hand vorsichtig nach dem Vogelhändchen seiner neugeborenen Tochter.

„Emma. Hallo.“ Seine Stimme klang fürchterlich. Vielleicht sah sie ihm das ja nach. Emma Korzilius. Jetzt, hier, schien ihm dieser Name nicht mehr gar so unmöglich, und wenn mit ihm ein Quäntchen des Schwarzerschen Kampfwillens auf seine Tochter übersprang, sollte es ihm recht sein.

Ein Finger von ihm reichte schon aus, ihr Händchen zu wärmen. Ganz vorsichtig begann er es zu streicheln, und die winzigen Finger zuckten, dann blinzelte seine Tochter und musterte ihn aus ernsten blauen Augen. Manni atmete aus und flüsterte ihr Mut zu. Er mühte sich redlich, Zuversicht in seine Raspelstimme zu legen. Zuversicht, dass sie Sonjas Blutungen in den Griff bekommen und sie die nächsten Stunden überstehen würde. Und die bevorstehende Nacht. Und den nächsten Tag. Und den danach. Er versuchte sich auf diese Hoffnung zu konzentrieren. Darauf, nur darauf, nicht auf das Seufzen und Fiepen der Maschinen im Nebenraum und den Abgrund, der sich darin auftat.


***

Judith


Sie stand neben Munzinger auf dem Flachdach und atmete, sog die frische Luft in heimlicher Gier durch Nase und Lippen. Ein Versehen sei ihr unfreiwilliger Aufenthalt in dem Keller gewesen, hatten die Kollegen beteuert, als sie sie befreiten. Die Hektik wegen Dinah, die Mantrailer, die im selben Moment eintrafen … Sie hatte das so stehen lassen, wollte zu Dinah, aber ihre junge Kollegin hatte sich krankgemeldet und war, so Munzinger, zu Fuß über die Rheinwiesen verschwunden, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Ein Magen-Darm-Virus angeblich, vielleicht habe sie auch etwas Falsches gegessen. Oder gesehen, dachte Judith. Gesehen und nicht ausgehalten, und sie hätte gern gefragt, was genau das gewesen war. Dasselbe vielleicht, das auch sie gespürt hatte und noch immer nicht richtig benennen konnte, auch nicht nach den sechzehn langen Minuten alleine dort unten.

Der Leichengeruch haftete an ihr, ließ sich nicht wegatmen. Im Treppenhaus blaffte der Mantrailerhund Sherlock, ein gedrungener, rotbrauner Bayerischer Gebirgsschweißhund, der seinen Hundeführer aus dem Keller schnurstracks auf dieses Dach geführt hatte. Sie schwitzte. Sehnte sich danach, sich den Schutzoverall und am besten gleich noch den Rest ihrer Kleidung vom Leib zu reißen und sehr lange zu duschen. Frische Luft, ja von wegen. 14 Grad, grauer Himmel und kein Windhauch, alles statisch. Das typische Kölnklima, das sie in den letzten zwei Jahren im Bergischen Land schon beinahe vergessen hatte.

Munzinger pulte eine Packung Kaugummis unter seinem Overall hervor. Juicy Fruit wie eh und je, seine Lieblingsmarke.

„Auch einen?“ Er hielt ihr die Packung hin.

„Ja.“

„Früher hast du geraucht.“

Judith nickte.

„Und?“

„Man wird älter. Soll ja nicht sehr gesund sein …“

Er grinste, schob sich selbst einen Streifen in den Mund, und ein paar Atemzüge lang standen sie kauend nebeneinander und betrachteten das Stadtpanorama am gegenüberliegenden Rheinufer, das von den drei mächtigen Beton-Ls der Kranhäuser dominiert wurde. Die Brücken und der Dom wirkten dagegen geschrumpft. Goldmarie und Pechmarie. Das neue Köln und das alte.

Judith senkte den Blick in den Hof. Vor der Einfahrt parkten jetzt die Transporter der Hundeführer und der Bus der Rechtsmedizin. Bäume dahinter, eine stramme Reihe, kahl zum Teil noch. Die Poller Wiesen. Der Rhein. Der zweite Hundeführer folgte dem etwas dunkleren Schweißhund namens Daisy soeben auf die Straße. Die Leine war lang, bestimmt fünf oder mehr Meter, und schleifte über den Boden, der Hund witterte etwa zwanzig Zentimeter über dem Pflaster. Ein kurzes Bellen, Zögern, ein Blick zu seinem Herrchen und weiter.

„Gehen die Gassi oder nehmen die da draußen wirklich noch eine Spur auf?“

Munzinger hob die Schultern.

„Es kann durchaus zwei Wochen her sein, seit der Täter hier langgelaufen ist. Und es hat viel geregnet.“

„Sie sagen, Wind sei ein größeres Problem als Nässe. Wind verweht die Geruchspartikel, Regen drückt sie auf den Boden und konzentriert sie.“

Geruchspartikel, das hieß feinste Hautschüppchen, mikroskopische Schweißtropfen oder der für einen ausgebildeten Mantrailer-Schweißhund offenbar tatsächlich wahrnehmbare, absolut individuelle Duft menschlicher Fingerspuren auf einer Mineralwasserflasche. Fingerabdrücke, die in diesem Fall aller Wahrscheinlichkeit nach vom Täter stammten, weil die KTU dieselben Abdrücke auch auf der Kellertür nachgewiesen hatte. JA – wie makaber dieses Wort auf der Flasche ihr im Keller erschienen war. Wie ein Hohn, denn die Flasche stand weit außerhalb Jaramillos Reichweite.

„Verlässlich wahrnehmbar sind die Spuren für die Hunde wohl nur in den ersten 36 Stunden, nach einer Woche ist eigentlich Ende“, erläuterte Munzinger. „Aber da drin gab es ja nicht viel Publikumsverkehr, und wir wissen nicht, wann der Täter zuletzt hier war.“

„Ich denke, Jaramillo ist seit etwa einer Woche tot.“

„Er ja, aber doch wohl nicht sein Mörder.“

„Und der, meint ihr, ist hier weiterhin ein- und ausgegangen?“

„Die Mantrailer haben gesagt, sie werden’s versuchen.“

„Manni hat die bestellt, oder?“

„Manni, ja.“ Munzinger nickte und beförderte seinen Kaugummi mit der Zunge in die rechte Wangentasche. „Aber der musste weg, war wohl irgendein Notfall.“

Ein Notfall, was für ein Notfall? Munzinger wusste es nicht. Oder er wollte ihr das nicht sagen. Manni, ihr früherer Partner. Am Ende ihrer Abschiedsparty waren sie Arm in Arm zum Sonnenaufganggucken an den Rhein gewankt und hatten Davy’s on the Road Again gegrölt, und das hatte so furchtbar schräg geklungen, dass sie vor Lachen eng umklammert in den Sand plumpsten und um ein Haar auch noch geknutscht hätten. Und danach nichts mehr, wenn man von ein paar Mails und ihrer letzten SMS aus Kolumbien anlässlich der Geburt von Mannis Sohn einmal absah. Du hast allen Grund, sauer zu sein, mein Freund, das weiß ich.

Munzinger wandte sich ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Sofa, das im Windschatten des Aufzugsschachts stand und zugleich einladend und völlig deplatziert wirkte. Ein Sperrmüllstück wohl. Wer hatte das hier aufs Dach gebracht, die letzten Mitarbeiter der Firma? Es war verschlissen, durchnässt, aus rehbraunem Kunstleder. Zwei Kollegen von Munzinger begannen soeben, allerlei Müll darunter hervorzuklauben und jedes ihrer Fundstücke sorgfältig zu katalogisieren. Eine leere Sektflasche mit verblichenem Etikett, Zigarettenkippen, zusammengeknüllte Alufolie, einen Plastikkugelschreiber mit dem Logo der Straßenbaufirma, die dieses Gebäude einst benutzt hatte. Ein noch originalverpacktes Kondom der Marke Billy.

War Jaramillos Mörder hier oben gewesen? Hatte er auf diesem Sofa gesessen und das Stadtpanorama betrachtet? Und Jaramillo? Der Hund konnte nicht äußern, was genau er hier wahrnahm, er war einer unsichtbaren Spur gefolgt, die offenbar vor diesem Sofa endete. Warum auch immer. Als Beweis vor Gericht war diese Tatsache ohnehin nicht verwertbar. Judith versuchte sich Jaramillo in seinem hellen Sommeranzug bei einem Schäferstündchen auf diesem Sofa vorzustellen. Mitten in einer Aprilnacht bei lausigen zehn oder zwölf Grad und Nieselregen. Es ging nicht.

„Sie gucken den Dom an, sie trinken was“, sagte Munzinger zögernd.

„Es ging nicht um Sex, Klaus.“

„Bist du da nicht etwas vorschnell?“

„Ihr wolltet meine Einschätzung.“

„Und?“

„Ich weiß noch nicht genug, aber diese Halsfessel …“

„SM-Equipment, ohne Zweifel.“

„Ingrid Betancourt wurde zeitweise auch wie ein Hund angeleint.“

Munzinger runzelte die Stirn. „Sorry, da klingelt was, aber nur vage …“

„Sie wollte Präsidentin werden, Kolumbien reformieren, als Kandidatin der neuen, grünen Partei. Aber während des Wahlkampfs wurde sie von der FARC-Guerilla verschleppt und sechs Jahre im Dschungel gefangen gehalten.“

„Und du glaubst, die FARC operiert auch hier in Köln?“

„Ich glaube gar nichts, ich denke nur laut.“

Die Erinnerungen der Betancourt waren ein Zufallsfund in einer Lodge gewesen, ein deutsches Taschenbuch, die Hinterlassenschaft eines Backpackers. Judith hatte eher halbherzig zu lesen begonnen und dann nicht mehr aufhören können. Weil sie die ganze Zeit auf den Lichtblick hoffte, die Befreiung am Ende.

„Warum bist du wieder zurückgekommen, Judith?“

„Das war doch nur ein Sabbatjahr in Kolumbien.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich hatte nie vor, dort zu bleiben.“

Munzinger nickte, ließ ihr das so durchgehen. Oder glaubte er ihr? Und sie, glaubte sie sich? Zu viele abgebrochene Zelte. Zu viel Schweigen vielleicht auch. Nicht mehr zu ändern. Jetzt war sie hier. Eine neue Chance. Ein Anfang.


Der Himmel war konturlos, eine lichtgraue Kuppel, die sich über die Stadt und den Fluss wölbte und jeden Sonnenstrahl abfing. Irgendwo kreischte eine Metallsäge, und der Förderkran auf dem benachbarten Schrottplatz kam plötzlich in Bewegung, senkte den Greifarm und zerrte eine rostige Autotür aus den Untiefen.

„Im nächsten Jahr wird das gesamte Industriegelände hier einem neuen Wohngebiet weichen. ›Leben am Deutzer Hafen‹. Unser Köln soll noch schöner werden. Es gibt sogar schon Broschüren“, sagte Munzinger.

Ein neues, sauberes Köln würde also auch hier auf der rechten Rheinseite entstehen, ein weiteres Relikt aus der Zeit, als Arbeit noch Dreck machte, dafür verschwinden.

„Der Täter kann das gewusst haben“, sagte Judith.

Munzinger nickte. „Ja.“

„Vielleicht hat er gehofft, dass man Jaramillo erst findet, wenn die hier alles abreißen.“

„Oder überhaupt nicht.“

„Was sagt die zuständige Immobilienverwaltung?“

„Die kontrollieren nicht regelmäßig und ohne festen Turnus.“

„Das heißt, es war nicht vorhersehbar, dass gerade heute Morgen jemand hier vorbei schaute.“

Munzingers Mobiltelefon klingelte. Er nahm das Gespräch an, hörte zu, gab ein paar Anweisungen. Er war grau geworden, älter, wirkte auf einmal sehr müde.

„Wo ist eigentlich Karin?“, fragte Judith, nachdem er zu Ende telefoniert hatte.

Der Kriminaltechniker betrachtete sein Handy, als verrate es ihm die Antwort, furchte die Brauen, verstaute es wieder. „Sie hat sich versetzen lassen.“

„Wohin?“

„Münster.“

„Das ist weit.“

„Zusammen leben, zusammen arbeiten … wir brauchten ein bisschen Abstand.“

Abstand oder eine Scheidung? Einmal war sie bei den beiden Spurensuchern daheim gewesen. Zur Einweihungsparty, kurz nach deren Hochzeit. Sie stellte sich vor, wie Klaus Munzinger nun abends allein an dem riesigen Esstisch saß, doch vielleicht hatte Karin den auch mit nach Münster genommen. Karls Worte beim Abschied in Carpuganá. Seine Wut. Die Verletzung. Zum ersten Mal seit Langem musste sie wieder daran denken.

Warum bleibst du nicht hier, Judith, verdammt noch mal? Warum musst du alles kaputtmachen?


Der Leichengeruch war offenbar durch den Overall gedrungen, saß in ihrem Haar, ihrer Haut, ihrer Kleidung. Judith lief durch den Hof zu ihrem Wagen. Backsteinmauern links und rechts. Die Stiefelschritte der Kollegen vor ihr. Das Pflaster. Die Löwenzahnsonnen. Diese jähe, kindliche, durch nichts zu bezähmende Freude früher, wenn die Milch aus den Stängeln ihre Finger verklebte. Der Löwenzahn war ein Versprechen gewesen, ein Vorbote des Sommers, eine Verheißung. Seine gelben Köpfe konnten sich über Nacht in fedrige Wattekugeln verwandeln, Wunschblumen, die ihre Träume davontrugen, sie womöglich sogar erfüllten. Manchmal war es ihr gelungen, einen Strauß Löwenzahn an ihrer Mutter vorbei in ihr Zimmer zu schmuggeln. In einem Wasserglas unter ihrem Bett war er einigermaßen sicher. Doch immer ließen die Blüten bald ihre Köpfe hängen, als hätten sie ohne Wurzeln keine Kraft mehr.

Sie startete den Dienstwagen, ließ die Fenster herunter und fuhr in Richtung Deutz, passierte weitere Lagerhallen und die Wache der Wasserschutzpolizei. Auf der Wiese zum Rhein tobten drei Punks mit ihren Hunden zwischen den unvermeidlichen Joggern. Im Hafenbecken lag ein Löschboot, dahinter die Silos der Mehlfabrik, auf der Drehbrücke kamen ihr Spaziergänger entgegen. Ein Mann wird gefesselt, gefangen, vielleicht sogar gefoltert, und rundherum geht das Leben weiter. Aber irgendjemand musste doch etwas bemerkt und Jaramillo vermutlich sogar gesehen haben. Ihn und seinen Mörder. Nun, da sie wussten, wo sie suchen mussten, konnte die Mordkommission mögliche Zeugen aufspüren, auch wenn die Vermisstenfahnder des KK 62 das zweieinhalb Wochen lang nicht geschafft hatten.

Sie erreichte das Polizeipräsidium in kaum fünf Minuten, parkte in der Tiefgarage und übergab den Autoschlüssel dem Pförtner, der über den Fuhrpark herrschte. Er nahm ihn entgegen, ohne von seinem Sudoku-Quiz aufzublicken. Schuberts Forellenquintett flutete aus seinem hell erleuchteten Glaskabuff, ließ es unwirklich erscheinen, ein Aquarium zwischen Parkbuchten. Judith trat ins Licht des Innenhofs und lief zum Hauptgebäude. Kollegen kamen ihr entgegen, rauchend, redend. Nachmittag schon. Wer nicht im Schichtdienst arbeitete oder in einer Sonderkommission festsaß, machte Feierabend.

Das Kriminalkommissariat 62 lag im ersten Obergeschoss des Präsidiums, unmittelbar über der Kriminalwache. Judith nahm die Stufen des Treppenhauses im Laufschritt, passierte die Umkleideräume und Duschen der Kriminalwache, die Schreibstube des Staatsanwalts, die Toiletten, bog in den Gang der Vermisstenfahnder. Ihre neue Dienststelle. Eine Reihe verschlossener Türen mit noch fremden Namen. Ihre Schritte hallten. Nur die schmutzigen Handspuren und Schrammen an den Wänden deuteten darauf hin, dass hier täglich viele Menschen ein und aus gingen. Der Geruch von zu lange gewärmtem Maschinenkaffee stieg ihr in die Nase, ätzend und bitter. Irgendwo sirrte ein Telefon, sirrte und sirrte, ohne dass jemand abnahm.

Die Tür zum Sozialraum stand offen, auf dem langen Esstisch vertrockneten die letzten Überbleibsel ihres Einstands. Belegte Brötchen mit Lachs, Gouda, Salami, garniert mit Gurke, Tomate und Petersilie. Judith kippte sie in den Mülleimer.


Erste Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger. Leitung. Der Dienstrang auf dem Namensschild neben ihrer Zimmertür kam ihr hier in Köln auf einmal fremd vor. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, nachdem sie aus Kolumbien zurückgekehrt war, noch mal an der Landespolizeiakademie in Münster-Hiltrup die Schulbank gedrückt, danach die Prüfung und auch die erste Bewährungsprobe als Führungskraft überstanden. Im Outback natürlich. Zwei Jahre lang die Kriminalwache Olpe leiten, das hieß: Verkehrsunfälle, Einbruch- und Diebstahlsdelikte, Schlägereien verwalten, das kleine Einmaleins der Polizeiarbeit plus Einsatzkoordination und Personalführung. Und jetzt wieder Köln. Nicht die Mordkommission, aber das KK 62. Als Kommissariatsleiterin war sie somit zuständig für die Vermisstenfahndung, die Kriminalwache, die Asservaten und nicht näher definierte Sonderaufgaben.

Sie zog die Tür hinter sich zu und stand einen Moment reglos. So also sah es aus, dieses erste Einzelbüro ihrer Laufbahn, das einigermaßen repräsentativ war: Etwa 20 Quadratmeter. Grauer Nadelfilz auf dem Boden. Ein runder Besprechungstisch mit drei blau bezogenen Stühlen. Ein L-förmiger Schreibtisch seitlich des Fensters, grauweiße Lamellenjalousien davor, ein Computer, ein Telefon, zwei leere Regale, Whiteboard, Flipchart-Ständer, Papierkorb. Ihr Vorgänger war mitten im Skiurlaub an einem Herzinfarkt gestorben, kaum zwei Monate nachdem er diesen Posten übernommen hatte, weil der langjährige KK-62-Chef wegen seines Alkoholproblems in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet worden war. Ich verspreche mir viel von Ihnen, hatte Kriminalrätin Heidrun Valik bei Judiths Einstellungsgespräch gesagt. Die letzten Jahre waren keine besonders guten für das KK 62. Ich will, dass Sie das ändern. Dass Sie aufräumen und Ihre Leute zu einem Team formen.

Judith setzte sich an den Schreibtisch. Der Stuhl hatte eine rote Lehne und saß sich gut, war vielleicht sogar neu oder jedenfalls kaum benutzt. Bei ihrem ersten Rundgang mit der Valik vor drei Wochen hatte hier noch ein ausgeleiertes schwarzes Ungetüm gestanden, aus den Regalfächern quollen Papptüten mit Asservaten, und auf dem Tisch türmten sich chaotische Aktenberge, die mit vollkommen unleserlichen Post-it-Zetteln bekleistert waren. Doch inzwischen hatte jemand das Aufräumen offenbar sehr, sehr ernst genommen, denn nun gab es hier nicht mal mehr eine Büroklammer oder einen Bleistift. Und leider lag auch nirgendwo die Mappe mit den aktuellen Vorgängen, um die sie am Morgen gebeten hatte.

Sie zog die Schubladen auf, systematisch von oben nach unten, erst die rechten, dann die linken. Gähnende Leere überall, die unterste linke Lade ließ sich nicht öffnen. Abgeschlossen – und wo war der Schlüssel? Nicht hier jedenfalls. Judith lehnte sich zurück, wippte ein wenig mit der Lehne, legte die Füße auf die leere Tischplatte. Zu seligen Zeiten hatte es in Köln ja angeblich mal die fleißigen Heinzelmännchen gegeben. Wäre nett, wenn jetzt eines erschiene, ihr den Schlüssel und die fehlenden Unterlagen überreichte.

Der Leichengeruch erschien auf einmal wieder penetranter. Sie musste hier Wechselklamotten deponieren. Duschsachen, Föhn und Handtuch. Sie musste nur erst einmal den Umzugskarton finden und auspacken, in dem sie das verstaut hatte. Die Decke, diese rote Fleecedecke mit den weißen Punkten – warum dachte sie immer wieder an diese Decke?

Näher ran, Judith, du musst näher ran, wenn dich jemand angreift. Niemand ist unverletzbar. Du musst deinen Gegner fühlen, nur dann kannst du herausfinden, was er vorhat.

Die Leitsätze aus dem Training. Die Theorie, die im Ernstfall so schwer zu befolgen war, so schwer zu glauben. In einem dunklen Keller. Allein. Hilflos. In der Gewalt eines Mörders.

Gisa Klönne

Über Gisa Klönne

Biografie

Gisa Klönne, geboren 1964, lebt als Schriftstellerin und Schreibcoach in Köln. Ihre Kriminalromane um die eigenwillige Kommissarin Judith Krieger erreichten eine Gesamtauflage von über einer halben Million, wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit Auszeichnungen bedacht, unter anderem mit dem...

Pressestimmen
Tiroler Tageszeitung (A)

„Ein Krimi der Extraklasse, mit Spannung und Tiefgang.“

Kölnische Rundschau

„Wie immer exzellent recherchiert.“

EMMA

„Psychologisch ausgefeilt und spannend.“

Rhein-Sieg Rundschau

„Mit ihrem sechsten Fall meldet sich Ermittlerin Judith Krieger eindrucksvoll zurück.“

Neue Westfälische

„Ein komplexer Krimi, der den Leser ins Geschehen zieht.“

HÖRZU

„Brisante Handlung mit psychologischem Tiefgang.“

literaturmarkt.info

„Judith Kriegers Fälle genießen längst Kultstatus. (...) Ohne jeden Zweifel: Klönne schreibt mörderisch gut.“

Freundin

„Mitreißend.“

Westfälische Nachrichten

„Ein Buch mit einer unglaublichen Sogwirkung und damit ein echter Lesetipp.“

Ruhr Nachrichten

„Ein Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite beeindruckt und nachdenklich macht. Krimi-Lektüre vom Feinsten. Auch weil die Ermittler ›richtige Menschen‹ bleiben.“

Ibbenbürener Volkszeitung

„Stilistisch und inhaltlich ein hochgradig gelungener Krimi.“

Freie Presse

An den Krimis von Gisa Klönne begeistern ihre vielschichtigen Personen. Sie alle haben ihre eigene, sehr detailliert ausgearbeitete Geschichte und kämpfen damit, ihren Alltag und ihren Beruf auf die Reihe zu kriegen.«

Für Sie

„Rasant und vielschichtig.“

chrismon plus

„Wie die Schatten der Vergangenheit weit ins Jetzt reichen, wie Drogenkartelle, Goldmafia, archaische Gewaalt und illegale Arbeit aus der einstigen Drogenmetropole Medellin das beschauliche Köln erreichen, hat Gisa Klönne zu einem feinen Thriller verwoben.“

Sempacher Woche

„Gut recherchiert und packend erzählt, bietet der Roman der Erfolgsautorin beste Krimiunterhaltung für viele Lesestunden.“

Kölnische Rundschau

„Beeindruckend, wie Klönne dabei die Seelenlagen ihrer Kommissarin und der interessanten (neuen) Nebenfiguren in die Ermittlungen einbindet, aktuelle politische Fragen berührt und daraus einen hochspannenden Thriller destilliert.“

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