Vorwort Ein Gespenst geht um
Unter uns „Mittelalten“ geht ein Gespenst um. Es schleicht sich ein, man merkt es anfangs kaum, versteckt hinter dem lauten Getöse von Midlife-Crisis, Pubertät der Sprösslinge, Bandscheibenvorfall und Menopause. Erst zeigt es sich nur ab und zu, ein rasches Huschen um Mitternacht kurz vor dem Einschlafen. Da können wir es noch ignorieren. Doch es kommt immer wieder – bei manchen still und unheimlich, bei manchen als Poltergeist im Zuge einer plötzlichen schlechten Nachricht. Das Gespenst geht nicht mehr weg. Sein Name? Die banale wie unumstößliche Einsicht: Unsere Eltern werden alt.
Alt werden ist aber noch nicht alles. In diesem Falle könnte man sich trösten, mit sinnigen Sprüchen wie: „Man ist so alt, wie man sich fühlt ...“ Auch ein kleines gefühlsmäßiges Age-Lifting würde dagegen vielleicht helfen. Ein neues Hobby, ein Fitnessclub-Abo – wenn gewünscht, könnten wir unseren Eltern bei der Suche nach dem „Uplifter“ assistieren. Nette Geste, aber auf Dauer leider zwecklos. Denn was noch schlimmer ist: Unsere Eltern werden gebrechlich.
Gebrechlich ist eines dieser schönen altertümlichen Eigenschaftswörter im Deutschen, das irgendwie nach „zerbrechlich“ klingt. Moderner und klarer formuliert heißt das: Unsere Eltern sind chronisch krank. Sie stürzen immer öfter, sie brauchen Wochen bis Monate, um sich von häufiger werdenden Gesundheitsproblemen zu erholen, die früher Bagatellen waren. Sie erblinden oder ertauben langsam, trotz Star-Operation und Hörgerät, und landen hin und wieder im Krankenhaus. Und wir, die wir sehen und hören und leidlich geradeaus denken können, bekommen das mit. Ob aus der Ferne oder Nähe, wir spüren: wir können diese Abwärtsspirale nicht aufhalten. Es ist der Lauf der Zeit, der Lauf des Lebens. Natürlich wissen wir das, aber es ist schwer, es zu akzeptieren und auszuhalten.
Dass unsere Eltern alt werden mit allem, was dazugehört, ist auf den ersten Blick sicher kein SmallTalk-Thema. Doch bringt man es auf den Tisch – im Gespräch mit Freunden oder mit netten Kollegen beim Mittagessen, rückt es sofort in den Mittelpunkt. Denn alle kennen es, alle spitzen die Ohren. Möchten erfahren, wie die anderen damit umgehen und erzählen, wie es ihnen selbst ergeht. Probieren Sie es mal aus: Stellen Sie sich auf einer Party zu zweit in die Küche. Wählen Sie einen lockeren Ton, nicht zu schrill und nicht zu laut, aber doch gut hörbar für die Umstehenden. Erzählen Sie eine kleine Anekdote, vielleicht zunächst über einen Onkel, das ist nicht so nah. Nach kurzer Zeit werden Sie nicht mehr allein in der Küche stehen: „Also, wenn ich dazu mal was sagen darf ...“ – „Ich kenn das auch ...“ – „Bei uns läuft das ähnlich ...“
Ich selbst habe eine solche Situation erst vor Kurzem erlebt, als ich mich mit einer Freundin im Café über autofahrende ältere Verwandte unterhielt. Wir tauschten kleine Geschichten darüber aus, welche verblüffenden Argumente unseren Altvorderen einfallen, um zu begründen, warum sie weiterhin die parkplatzmäßig unpraktischsten und unökologischsten aller Autorassen für Tausende Euro jährlich in der Garage durchfüttern, um sie ein- bis zweimal pro Woche mit großem Aufwand zu satteln und durch den Stadtverkehr zu manövrieren. Trotz mehrerer Unfälle, Augen- und Parkinsonkrankheit, allerbester Nahverkehrsanbindung und ausreichend verfügbarem Bargeld für ein Taxi bis Teheran. Und das dreißig Jahre nachdem sie uns das Mofa verboten haben! Dabei waren wir damals bei allerbester Gesundheit, wollten – wie sie heute – nicht über Tempo 50 fahren und hatten uns die Mäuse für den Kauf des knatternden Gefährts selbst zusammengespart. Das sei hinausgeworfenes Geld hieß es, Ende der Diskussion.
Sie konnten damals nachts vor Sorge kein Auge zumachen, bevor unser 18-jähriger Freund (Fahranfänger mit großem „A“) uns nicht wohlbehalten nach Hause gebracht hatte. Das fiel unter die Kategorie „behütet aufwachsen“. Wir aber sollen uns heute keine Sorgen machen, völlig unnötig. Das große „AH“ für Fahr-Aufhörer ist kein Thema. „Behütet Altwerden“ ist erst angesagt, „wenn wir gar nicht mehr können.“ Bloß wann ist dieser Zeitpunkt gekommen? Und wer legt ihn fest? Können wir darauf vertrauen, dass unsere Eltern diesen Wendepunkt schon erkennen werden, oder ist es an uns, sie darauf aufmerksam zu machen? Stichwort: wer hütet wen?
Aber zurück zur Episode im Café: Schon nach kurzer Zeit diskutierten wir zu fünft über Oldies und ihre Autos. Der Kellner steuerte eine Anekdote über seine 93-jährige Großmutter bei, die ihn jedes Mal, wenn er ihr anbot, sie zum Arzt zu fahren, verdächtigte, scharf auf ihre breite Volvo-Schüssel aus den Achtzigern zu sein. Dabei sei er überzeugter Car-Sharer. Das Pärchen vom Nachbartisch berichtete über ein ausgefeiltes System von Maßnahmen zur Vorbeugung von familieninternen Auffahrunfällen in der Doppelgarage des Elternhauses. Die Eltern würden etwa einmal pro Woche Auto fahren, und zwar jeweils das eigene. An den Garagenwänden und zwischen den Autos stapelten sich alte Reifen und Gartenstuhlauflagen, alles zur Vermeidung von Dellen und Kratzern, zusätzlich zu den serienmäßig eingebauten Pieps-Einparkhilfen der beiden Autos und eigens installierten elektrischen Lichtschranken mit Warnton in der Garage. Diese Armada von Vorsichtsmaßnahmen erschien ihnen naheliegender als Veränderungen in Bezug auf die Stahlrösser selbst. In allen anderen Bereichen dachten sie konsequent pragmatisch. Wenn die Schwiegertochter ihre High Heels vor dem Ausgehen vorsorglich mit Gel-Polstern ausstattete, hieß es: „Wozu brauchst du die hohen Dinger überhaupt – du bist doch schön groß?“ Unsere spontane Runde geriet zur schmunzelnden Selbsthilfegruppe: Hilfe, die Vernunft unserer Eltern macht halt vor dem eigenen Garagentor!
Kein Wunder, dass uns das Thema interessiert: Eltern haben wir alle. Egal ob sie in traditioneller Ehe, getrennt, neu liiert oder alleinstehend leben. Ob sie weit entfernt wohnen oder nebenan, in der Großstadt oder auf dem Dorf, ob wir sie täglich oder nur einmal im Jahr treffen – wir sind lebenslang mit ihnen verbunden. Selbst diejenigen, die sehr selten oder konfliktbeladenen Kontakt zu ihren Eltern haben, beschleicht bei Nachrichten über deren zunehmende Gebrechlichkeit ein mulmiges Gefühl. Wie lange kann das wohl noch so weitergehen? Müsste man jetzt schon etwas unternehmen? Vorsorglich, für den Fall, dass ...?
Es ist ein bisschen wie auf der „Titanic“: Man steuert auf etwas Bedrohliches zu, dessen Ausmaße man eigentlich nicht so recht kennt. Das meiste lauert mutmaßlich noch unter der Oberfläche. Auch ist unklar, ob man zumindest dem moralischen Untergang überhaupt noch entgehen kann oder ob es nicht vielleicht schon zu spät ist, das Ruder herumzureißen. Anders als der Eisberg, auf den die „Titanic“ zusteuerte, gibt es in unserem Fall einen Aspekt, der keineswegs ein schlecht kalkulierbares Risiko ist: Der Tod als Abschluss der irdischen Reise ist sozusagen automatisch inbegriffen. Hundertprozentig werden unsere Eltern eines Tages sterben, genau wie wir irgendwann auch. Die Frage ist nur, wie wir gemeinsam mit ihnen die letzte Etappe ihrer Lebensreise gestalten. Oder ob wir uns erst danach die Frage stellen, ob wir anders hätten handeln können. Oder sollen. Oder müssen. Oder hätten können müssen.
Altwerden ist nichts für Feiglinge, heißt es so schön, und da ist was dran. Als Neuropsychologin untersuche und behandele ich Menschen, die von Schlaganfällen, Schädel-Hirn-Verletzungen, Parkinsonkrankheit oder Demenz betroffen sind. Als Wissenschaftlerin erforsche ich die Wirksamkeit neuer verhaltensbezogener Behandlungsmethoden. Die meisten meiner Patienten sind 65+. Ich erlebe täglich, wie sehr sie sich wünschen, dass alles wieder so sein möge wie früher. Auch ihren erwachsenen Kindern fällt es oft schwer, sich auf die Veränderungen im Leben ihrer Eltern einzustellen. Wie ihre Eltern möchten sie, dass es möglichst so weitergeht wie immer: Wenn schon nicht perfekt, so ist es doch wenigstens vertraut. Und so geht der Krug weiter zum Brunnen, bis er eines Tages bricht. Kommt dieser Tag, dann müssen Notlösungen getroffen werden, die schockierend weit von den Wünschen aller Beteiligten entfernt sind und die leider oft zu quälenden Dauerlösungen werden, weil der Zeitpunkt verpasst wurde oder den Eltern inzwischen Kraft und geistiges Vermögen fehlt, um bessere Alternativen zu entwickeln.
Theoretisch wissen wir alle, dass das vermeidbar wäre. Trotzdem stecken wir lange den Kopf in den Sand, in der Hoffnung, das Problem werde sich schon von alleine lösen. Laut Lexikon bezeichnet der Begriff „Problem“ den Abstand zwischen dem wahrgenommenen Ist-Zustand und einem angestrebten Sollzustand. Der Kern unseres Problems liegt nicht nur in der gefühlten Diskrepanz zwischen Tun und Hätte-tun-Sollen; mit der könnten wir uns vielleicht noch arrangieren, so wie wir uns mit vielen Unterschieden zwischen uns und unseren Altvorderen arrangieren. Der tückische Kern des Problems ist der, dass die Diskrepanz stetig größer wird und ihre Verringerung, wenn wir sie denn anstreben, in doppelter Weise an Zeit gekoppelt ist. Denn unsere Eltern werden nicht nur immer gebrechlicher, sondern gleichzeitig läuft ihre verbleibende Lebenszeit ab wie eine Sanduhr. Der Preis für das Herausschieben des eigenen Handelns, das spüren wir deutlich, sind Schuldgefühle. Und der Katalysator dieser Schuldgefühle ist nichts Geringeres als der Tod unserer Eltern.
Ach du meine Güte, werden Sie jetzt denken. Was für ein tonnenschweres Thema! Müssen ausgerechnet wir uns damit auseinandersetzen? Wir, die wir in Frieden und Wohlstand aufwuchsen, konsumieren, bei Bedarf auch mal protestieren oder über chronische Missstände anhaltend lamentieren? Besser ausgebildet, gesünder, sportlicher, faltenfreier, nicht-grauhaariger und hochgewachsener als alle vor uns? Yep, meine Lieben. Leider müssen wir da durch. Das Ableben unserer Eltern ist unvermeidlich und weder mit Hyaluron noch mit Megafon zu bekämpfen. Für die Phase davor hoffe ich, Ihnen mit diesem Buch einen kleinen Wegweiser mitgeben zu können. Es wird nicht nur die Probleme, mit denen Sie konfrontiert sein werden, skizzieren, sondern auch Lösungswege aufzeigen. Denn die Erfahrung zeigt: keine Veränderung ohne eigene Veränderung. Der Schwerpunkt dieses Buches wird also darauf liegen, wie man die eingangs beschriebenen Probleme angeht: Wie man in die Hufe kommt, welche Etappen auf dem Weg liegen, wie man mit Schwierigkeiten klarkommt und was man selbst dabei gewinnen kann.
Übrigens: Auch wenn das Thema nicht so locker-flockig wirkt – kein Grund, den Humor zu verlieren, im Gegenteil. Es gibt viele gute Gründe, mal die Taschenlampe anzuknipsen und sich das Gespenst genauer anzuschauen. Vielleicht verliert es dann seinen Schrecken.
Kapitel 1 Äußere Gegenspieler
Neulich traf ich Thomas, Ende vierzig, verheiratet, Vater von zwei halbwüchsigen Kindern und Leiter der Vertriebsabteilung eines mittelständischen Unternehmens. Er und seine Frau arbeiten beide, besitzen ein Eigenheim, und engagieren sich ehrenamtlich in ihrer Freizeit. Sie wohnen 300 Kilometer entfernt von Thomas’ westfälischem Elternhaus.
Thomas’ Vater ist vor Kurzem an einem Herzinfarkt verstorben. Auf meine Frage, wie es seiner Mutter gehe, seufzte er. Seit dem Tod des Vaters lasse sie niemanden mehr ins Haus und gehe selbst auch kaum noch nach draußen. Vermutlich Depressionen. Inzwischen sei sie wegen des Bewegungsmangels körperlich so kraftlos, dass sie Haus und Garten kaum noch in Ordnung halten könne. Er blicke nicht wirklich durch, was da los sei. Wegen der Kinder seien Besuche schwierig zu organisieren, daher sehe man sich selten. Als die Kinder klein waren, sei das noch anders gewesen – die Eltern waren damals noch aktiv und kamen mehrmals im Jahr zu Besuch.
Kürzlich habe ihn eine Nachbarin und alte Bekannte der Eltern angerufen und angedeutet, dass sie sich Sorgen um seine Mutter mache. Sie könne ihr eine Haushaltshilfe vermitteln, bezweifle aber, dass sie dieses Angebot annehmen würde. Der Anruf habe ihn zunächst erschreckt. Nach ein paar Tagen habe er sich allerdings entschieden, zu handeln. Die Mission lautete, Mutter Mechthild dazu zu bewegen, wenigstens jemanden zum Saubermachen ins Haus zu lassen. An einem Wochenende sei er mit seinem 13-Jährigen in den Wagen gestiegen, um die Mutter im Münsterland zu besuchen. Die beiden hätten sich extra bei Freunden einquartiert, um Mechthild nicht zu überfordern. „Und?“, wollte ich wissen. „Hatte die Mission Erfolg?“
Thomas zuckte mit den Schultern. Zwar habe sie am Ende halbherzig einem Probetermin mit der empfohlenen Reinigungskraft zugestimmt. Nach seiner Abreise sei daraus aber nie etwas geworden. „Immerhin“, so Thomas, „ich habe es zumindest versucht, mehr kann ich nicht tun. Insgesamt habe ich mich bei der ganzen Aktion aber ziemlich fehl am Platz gefühlt, und auch der Junge konnte mit der Oma gar nichts anfangen. So kraftlos und über alles lamentierend, das war schwer auszuhalten. Ehrlich gesagt, habe ich mich sogar ein wenig geschämt vor dem Jungen, weil in meinem alten Zuhause alles so verwahrlost war.“ Die anderen Großeltern seien genauso alt, aber dort: alles picobello.
Thomas’ Geschichte ist typisch für das große Heer erwachsener Kinder, das in den Achtzigern und Neunzigern von zu Hause auszog, um irgendwo in der Ferne den Grundstein für das eigene Leben zu legen. Typisch ist auch, dass mich diese Geschichte zugleich ratlos und ärgerlich machte. Warum ließ er, ein sozial engagierter und rechtschaffener Mann, seine Mutter schulterzuckend allein mit dem Schlamassel? Warum hatte es überhaupt einen Anruf von Mechthilds Nachbarin gebraucht, damit er mal nach dem Rechten sah? Sicher, es gibt immer Gründe, warum es gerade jetzt nicht passt. Der Job, eine private Krise, eine Urlaubsreise, die Kinder ... Dabei waren seine Kinder inzwischen längst aus dem Gröbsten raus. Unwillkürlich musste ich den Kopf schütteln. Die beiden waren in der Pubertät, da wird doch mal Zeit sein für Besuche im Elternhaus! Zweites Kopfschütteln: Pubertierenden Jugendlichen steht selten der Sinn nach Besuchen bei Oma oder Opa. Und wenn Thomas schon ahnte, dass es kein leichter Besuch werden würde, warum hatte er seinen Sohn dieser Situation überhaupt ausgesetzt? Welchen Zweck sollte der Junge erfüllen? Etwa als menschliches Schutzschild dienen? Wie konnte es sein, dass ein gestandener Mann, dessen hervorragende Kommunikationsfähigkeiten gegenüber Geschäftskunden die Grundlage für einen gut dotierten Job bildeten, im Gespräch mit seiner nächsten Anverwandten so unbeholfen war?
Vor allem aber war ich mit mir selbst unzufrieden: Thomas war mir gegenüber sehr offen gewesen und hatte mich im weiteren Verlauf unseres Gesprächs auch um Rat gefragt. Ich aber hatte nichts Gescheites antworten können. Klar hätte ich die moralischen Maßstäbe ansprechen können, die er sonst an sein Handeln anlegte und die nicht so recht zu der Aktion passten. Doch was hätte das genutzt? Er wusste selbst am besten, dass der Satz: „Ich hab’s versucht, mehr kann ich nicht tun“ zu wenig war. Eine Mischung aus Hilflosigkeit, Überforderung, Angst und Kopf-in-den-Sand-Stecken. Daher hatte ich mich also aufs Mitfühlende beschränkt. Verständnisvolles Seufzen und gemurmelte Bekräftigungen: „Ja, das hört man ja öfters ... bei Susannes Vater läuft das gerade ähnlich ...“ Wirklich weitergebracht hatte ihn das sicher nicht.
Eigentlich beste Voraussetzungen
Die Thomas-Geschichte führt uns vor Augen, wie paradox unser Problem ist. Die äußeren Bedingungen für einen regelmäßigen Kontakt zwischen den Generationen waren noch nie so hervorragend wie heute. Wir wohnen zwar in den seltensten Fällen alle unter einem Dach, doch wir verfügen über ein ausgezeichnetes Verkehrssystem mit dreispurigen Autobahnen, Hochgeschwindigkeitszügen und Billigfliegern. Moderne Kommunikationsmittel erlauben uns, auch über 300 Kilometer Distanz permanent in Kontakt zu bleiben. Die neueste Generation der „smarten“ Telefone, jener schlauen Dinger zum Übertragen von Hörbarem, eignet sich zunehmend besser zur Übertragung von Sichtbarem. Mit Bildern und Videos können wir uns via Telefon oder Tablet ohne großen Aufwand und zeitlich flexibel gegenseitig auf dem Laufenden halten. Selbst diejenigen unter unseren Eltern, die nicht im Internet unterwegs sind, haben meist ein Handy, ein praktisches mobiles Telefon, das unterwegs mehr Sicherheit und soziale Anbindung gewährleistet als die Telefonzelle früherer Zeiten. Die war wahlweise kaputt, oder es fehlte das nötige Kleingeld, das, sofern vorhanden, gefühlt im Sekundentakt durchklackerte.
Doch weder die Fortschritte in der Mobilität noch die verbesserten technischen Möglichkeiten im Bereich Kommunikation scheinen die hinreichende Basis für eine verbesserte Qualität des Generationenaustauschs zu sein. Und auch bei der Quantität scheint durchaus Luft nach oben zu sein. Woran aber hakt es dann? An den human resources?
Wir sind besser ausgebildet und welterfahrener als alle Generationen vor uns. Wenn unsere Kinder groß sind, sind wir fitte fünfzig oder dynamische sechzig und haben im Normalfall dank der allgemein gestiegenen Lebenserwartung immer noch viel Zeit vor uns. Einen Teil dieser Zeit können wir der Beschäftigung mit unseren Eltern widmen, weil diese heutzutage ebenfalls ziemlich alt werden. Wenn es dabei zu Auseinandersetzungen kommen sollte, sind wir eigentlich bestens vorbereitet. Wir sind die erste Generation, der zu Kinder- und Jugendtagen flächendeckend das Gespräch und nicht die Anwendung von Gewalt als gesellschaftlich akzeptierter Standard der Konfliktlösung vermittelt wurde. Wir leben mehrheitlich nicht mehr in der ständigen tief sitzenden Angst, für ein „Nein“ als Reaktion auf eine elterliche Forderung mit Schlägen oder Liebesentzug bestraft zu werden. In der Generation unserer Eltern und Großeltern war das noch ganz anders.
Im beruflichen Kontext haben wir an Kommunikationstrainings, im privaten Umfeld an Veranstaltungen zu den Themen Selbsterfahrung, Sinnfindung und persönliche Weiterentwicklung teilgenommen. Viele von uns sind, wie es so schön heißt, „therapieerfahren“ oder wurden in Job oder Privatleben zumindest schon mal „gecoacht“. Wir haben uns dabei intensiv mit den eigenen Stärken und Schwächen sowie mit deren Entstehungsgeschichte auseinandergesetzt.
Es gibt also – theoretisch – eine ganze Menge von Faktoren, die eine gute Kommunikation zwischen uns und unseren Eltern begünstigen würden. Im konkreten Fall scheinen wir all das zu vergessen. Nicht Kommunikation auf Augenhöhe, sondern Ausweichmanöver, bedrücktes und bedrückendes Schweigen bestimmen den „Dialog“. Der Grund dafür liegt in ein paar Gegenspielern, inneren und äußeren, die diesen eigentlich besten Voraussetzungen entgegenstehen, weil sie Distanz schaffen.
Tod und Sterben: die großen Tabus
Fangen wir mit den äußeren Gegenspielern an: den Rahmenbedingungen, die unsere Distanz und Verunsicherung vergrößern. Der vielleicht wichtigste Gegenspieler verbirgt sich hinter der Frage, wie wir heute im gesellschaftlichen Kontext mit Tod und Sterben umgehen. „Nicht der Tod, sondern das Sterben beunruhigt mich“, lautet ein berühmter Ausspruch des französischen Renaissance-Philosophen Michel de Montaigne.1 Renaissancetypisch blickte er beunruhigt auf das Diesseitige, das Sterben. Für die Zeit nach dem Tod hingegen vertraute er auf das Paradies, ein einigermaßen anständiges Leben und eine Beichte vor dem Ableben vorausgesetzt. Dieses Grundvertrauen haben viele Menschen heute nicht mehr: Sie fürchten beides, das Sterben und den Tod. Sie sehen es sogar als eine Einheit. Dabei macht es durchaus Sinn, das Sterben als Prozess zu unterscheiden vom Tod als dem Zustand danach. Dafür posthum merci, Monsieur de Montaigne! Das, was nach unserem Tod passiert, ist Glaubenssache. Wir können uns darüber austauschen, wir können die Annahmen übernehmen, die Religionen dazu vorgeben, oder unsere eigenen Vorstellungen entwickeln. Wobei auch die Annahme, dass nach dem Tod alles zu Ende ist, eine reine Hypothese ist. Ganz anders verhält es sich mit dem Sterben: Es ist ähnlich wie die Geburt ein Prozess, den wir beschreiben und miter-leben können. Der zwar individuell unterschiedlich anmutet, jedoch einem bestimmten Ablauf folgt. Sterben ist ein Teil des Lebens, wenn auch der letzte.
Zunächst also zum Sterben: Wieso wissen wir fast 500 Jahre nach der Renaissance immer noch so wenig darüber? Die einzige Antwort, die mir einfällt, ist: Wir vermeiden dieses Thema, solange es geht. In unserer modernen Gesellschaft wird alles Mögliche, das früher als der Privatsphäre zugehörig galt, bis in die letzten Details ausgelotet und ausgebreitet. Allen voran Sexualität und Partnerschaft, in religiösen Kontexten häufig tabuisiert und bis in die späten sechziger Jahre hinter die Milchglasscheibe des ehelichen Zusammenlebens verbannt. Heute jedoch wird über alle Facetten, vom Seitensprung über Sex-Spielzeuge bis zum konstruktiven Streiten unter Paaren offen diskutiert. Magazine und Ratgeber sind voll davon! Details zu heiklen Übergangsphasen wie Geburt, Pubertät oder der Menopause des Mannes sind zum Allgemeinwissen geworden. Über den Schritt vom Leben innerhalb des Mutterleibs zum Leben draußen sind beispielsweise auch Menschen, die selbst keine Kinder haben, zumindest in groben Zügen informiert: Die Fruchtblase platzt, die Wehen setzen ein und werden immer stärker, in der Eröffnungsphase sollte man sie weghecheln und erst später in der Austreibungsphase kräftig mitpressen. Wenn das Baby auf der Welt ist: Andocken lassen, Nabelschnur durchschneiden, Mutterkuchen abwarten.
Mal ehrlich: Könnten Sie den Prozess des Sterbens ähnlich präzise beschreiben? Welche Anzeichen den herannahenden Tod ankündigen oder wie man unterstützend darauf eingeht, dieses Wissen ist allenfalls spezialisiertem Pflegepersonal und Ärzten vorbehalten. Warum gibt es für Laien zwar flächendeckend Geburtsvorbereitungskurse, während Informationen zum Sterben allenfalls in Spezialvorträgen für ehrenamtliche Hospizmitarbeiter vermittelt werden?
Paradoxerweise bekommen wir, sobald wir den Fernseher anschalten oder ins Internet gehen, massenweise Sterbende präsentiert. Durchschnittlich 18 000 Leichen hat ein Kind heute bei Erreichen der Volljährigkeit in den verschiedenen Medien gesehen.2 Wenige Sekunden Naheinstellung aufs Gesicht, die Augen brechen, der Kopf fällt zur Seite. Zack, Kameraschnitt, in der Raumtotale werden die Reaktionen von Gegnern, Trauernden oder Ermittlern gezeigt. Geht so Sterben? Grundschulkinder sind heute mehrheitlich der Auffassung, Menschen würden immer durch Mord sterben. Das haben Befragungen ergeben.3 Wir Erwachsenen wissen natürlich, dass das nicht stimmt. Aber viel mehr wissen wir nicht.
Natürliches Sterben, die in unserem friedlichen und zivilisierten Land ungleich häufigere Variante als die durch Fremdeinwirkung, vollzieht sich sehr langsam. Die Veränderungen sind schleichend, ziehen sich über Tage hin. Der Appetit schwindet, der Organismus wird langsam schwächer, die Blutversorgung konzentriert sich auf die Körpermitte. Die Atmung verändert sich – Sterbende atmen durch den Mund, der dabei leicht geöffnet ist und deshalb quälend austrocknet. Der Atem rasselt, wenn wegen schwindender Nierenfunktion Flüssigkeit in der Lunge eingelagert wird und der Schluckreflex den Speichel nicht mehr abtransportiert. Phasen der Unruhe und Phasen des Dahindämmerns wechseln sich ab, manche Sterbende durchleben jetzt intensive Fantasien. Die Gesichtszüge fallen ein, die Nase ragt scheinbar spitzer heraus – das hippokratische Gesicht, für Pflegende in früheren Zeiten das Zeichen, den Geistlichen zu rufen. Jetzt stellen die Organe nach und nach ihren Dienst ein. Zum Schluss wird der Atem unregelmäßig, das Herz setzt aus. Ein letztes, unbändiges und von positiven Gefühlen begleitetes Aufbäumen des Gehirns – aus neurowissenschaftlicher Sicht ein letztes Anfluten von Endorphinen und Neurotransmittern, aus religiöser Sicht die Begleiterscheinung des Seelenübergangs ins Jenseits.
Eines solchen natürlichen Todes zu sterben ist medial natürlich viel schwieriger darzustellen als der gewaltsame Tod. Selbst in Texten wird das Sterben selten ausführlich beschrieben – vielleicht fehlt die überraschende Wendung, der Tod taugt schlecht als Pointe. Wohltuende Ausnahme: die ungemein fesselnde, detail- und geistreiche Darstellung von Roland Schulz im Magazin der Süddeutschen Zeitung, für die er den Deutschen Reporterpreis 2016 erhielt.4 Selten hatte man bisher die Chance, das Sterben so faktenreich und dabei so respektvoll und menschlich aus der Nahperspektive nachzuvollziehen.
Natürlich gibt es einleuchtende Gründe, warum wir Angst vor dem Sterben haben. Bis vor etwa fünfzig Jahren fand das Sterben meist zu Hause statt. Wenn die Pflegenden die oben beschriebenen Sterbezeichen erkannten, leiteten sie das Abschiednehmen ein. Je nach Konfession wurde der Gemeindepfarrer mit der „Letzten Ölung“ oder der Pastor mit einem tröstlichen Bibelwort zum Hausbesuch gebeten. Kinder konnten einen Blick auf die Sterbenden werfen, durften noch einmal ans Bett treten und erfuhren eine letzte, wichtige Berührung. Vielleicht schauten Freunde und Familienangehörige noch mal herein und erhielten letzte Worte mit auf den Weg. Der herannahende Tod hat immer etwas Schicksalhaftes, spannungsvoll Wartendes. Die vertraute häusliche Umgebung schaffte jedoch für alle Beteiligten Sicherheit und nahm dem Sterben das Gespenstische.
Je mehr sich in der Nachkriegszeit die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten entwickelten, desto weniger wurde zu Hause gestorben. Sterben verlagerte sich in Heime und Kliniken, Abschiednehmen fand – wenn überhaupt – häufig im piepsenden und blinkenden Rahmen der Intensivstation statt, und nicht immer konnten ökonomische Interessen der Kliniken dabei völlig ausgeschlossen werden. Dieses Phänomen und das gleichzeitig beeindruckende Voranschreiten von Hospizbewegung und Palliativmedizin in den letzten zwei Jahrzehnten sind andernorts mit viel Herz und Sachverstand beschrieben worden5. Aktuell stirbt in Deutschland, so eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung6, jeder Zweite im Krankenhaus, obwohl sich 75 Prozent wünschen, zu Hause zu sterben. Etwa 30 Prozent aller Deutschen erhalten heutzutage eine ambulante oder stationäre palliativmedizinische Behandlung – etwa 90 Prozent würden eine solche benötigen, so die Experten, die die Studie verfassten. Vieles hat sich getan – aber es gibt noch Luft nach oben.
Wenden wir uns nun dem Tod selbst zu. Der englische Soziologe Tony Walter, langjähriger Direktor des „Centre for Death and Society“ in Bath, veröffentlichte bereits 1991 einen sehr scharfsinnigen Artikel, der noch heute als klassische Referenz in der „Tabu-Debatte“ gilt.7 Walter ging darin der Frage nach, warum sich die These von der Tabuisierung des Todes in der modernen Gesellschaft so hartnäckig halte, obwohl der Tod in den Medien stetig an Präsenz gewinne – wohlgemerkt, der Artikel erschien 1991, vor der Geburt des WorldWideWeb.
Die von Walter favorisierte Antwort: Nicht die moderne Gesellschaft tabuisiert den Tod, sondern das moderne Individuum. Gesellschaften, so der zweidimensionale Erklärungsansatz des Soziologen, unterschieden sich nicht nur darin, ob sie den Tod tabuisierten oder nicht, sondern vor allem darin, ob sie Zeit als ein zyklisches oder lineares Phänomen begriffen. In Kulturen, in denen Zeit als Kreislauf konzeptualisiert werde, sei ein Ende nicht vorgesehen. Folglich werde der Tod gesellschaftlich tabuisiert, denn ein Ende des Kreislaufs würde das große Ganze infrage stellen. Begräbnisrituale symbolisierten in diesen Kulturen die Fortsetzung des Lebens in anderen Sphären: Tote werden auf die Reise ins Totenreich geschickt, ausgestattet mit Fahrzeugen, Waffen, Schmuck, Nahrung und allerlei anderen Beigaben.
In Kulturen, die an eine Fortsetzung ohne den irdischen Körper denken, existieren Vorstellungen wie die, dass sich Geist oder Seele lösen und in andere Sphären gelangen. Häufig werden Rituale durchgeführt, um diese Loslösung zu erleichtern. Für das einzelne Individuum bedeutet das, den eigenen Tod nicht fürchten zu müssen, da das große Ganze ja weitergeht.
Anders in modernen westlichen Kulturen: Hier werde Zeit als lineares Phänomen gesehen, folglich habe auch die Lebenszeit einen Anfang und ein Ende. Der Tod werde gesellschaftlich nicht tabuisiert, sondern – siehe oben – tausendfach auf allen Kanälen gezeigt. Für das moderne Individuum jedoch, so Walter, seien der eigene Verfall und die eigene Auslöschung bedrohlich. Es gebe keine allgemeinverbindlichen Rituale mehr, um die Lebenszeit des Einzelnen als kurze Episode in einen großen, immerwährenden Staffellauf einzubinden.
Um im Bild zu bleiben: Jeder läuft sein Rennen als Einzelläufer, solange er kann, und ignoriert sein Ende, auch wenn ihm schon merklich die Puste ausgeht. Was ihm dabei hilft, ist die variable Streckenlänge und die Unkenntnis derselben: Niemand weiß, ob die eigene Ziellinie nach 100, 400 oder 1000 Metern erreicht ist. Daher tun die Einzelläufer so, als ob es gar keine Ziellinie gäbe. Nicht für sich selbst, aber auch nicht für die anderen. Wer sagt schon gern mit einem kurzen Blick über die Schulter: „Tschüs, dich gibt’s bald nicht mehr, wir laufen dann ohne dich weiter!“ Bei einem linearen Zeitverständnis wie dem unseren würde das äußerst unsportlich wirken, zumal die kurze Streckenlänge ja jeden treffen kann. Laut Walter würden solche Aussagen vermieden, um auch noch dem angeschlagensten Läufer die Möglichkeit zu geben, bis zum Schluss sein Gesicht zu wahren. Man redet nicht über das Ende. Außer man ist Onkologe. Und selbst die müssen sich die Fähigkeit, das Unaussprechliche auszusprechen, hart antrainieren.
Walters zweidimensionaler Ansatz erklärt den Widerspruch zwischen der öffentlichen Allgegenwärtigkeit des Todes und der privaten Sprachlosigkeit in unserer Gesellschaft ganz gut, finde ich. Seine Theorie macht begreifbar, warum der Umgang mit dem Tod im Extremfall einem absurden Theaterstück gleicht: In Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern liegen Menschen, die so todkrank sind, dass keine Heilungschancen mehr bestehen und die Medizin nur noch palliativ tätig sein kann. Viele der Kranken werden von ihren engsten Angehörigen täglich besucht, dabei reden sie über alles Mögliche, verlieren aber kein Wort über den nahenden Tod. Nicht die Angehörigen, nicht die Sterbenden. Beide Seiten sind der Auffassung, der jeweils anderen damit etwas Gutes zu tun, obwohl beide unter dieser Sprachlosigkeit leiden.
Für lange Gespräche ist der Zeitpunkt dann häufig auch zu spät – Körper und Geist sind schon zu sehr mit dem Showdown beschäftigt, und die Kapazitäten sind begrenzt. Das Einzige, was hilft: Sprechen Sie schon vorher darüber. Ziehen Sie Bilanz, tauschen Sie sich aus darüber, was Sie glauben: ob und wie es weitergeht. Ob Sie hoffen, nach dem Tod den Verstorbenen wiederzusehen, ob Sie Angst haben vor dem Jüngsten Gericht oder ob Sie sich darauf freuen, als Teilchen im All herumschweben zu können. Dann ist entweder schon alles gesagt, wenn es so weit ist, oder man kann darauf aufbauen. Dazu später mehr.
Gesellschaftlicher Wandel und Generationenüberlappung
Neben der Tabuisierung des Endes, die Mitglieder aller modernen säkularen Gesellschaften betreffen dürfte, gibt es noch ein paar gesellschaftlich-historische Besonderheiten, die speziell die hiesige Generation der ab 1960 Geborenen betrifft. Diese Besonderheiten beziehen sich auf die Phase vor dem Tod: Der über Jahrhunderte bestehende Generationenvertrag zwischen Eltern, die ihre Kinder bis zum Erwachsenwerden betreuen, woraufhin diese dann ihre Eltern bis zum Tod betreuen, besteht nicht mehr. Zumindest nicht mehr in der gewohnten Form.
Denen, die dies betrauern, sollte man zu bedenken geben, dass die Menschen vor dem Zweiten Weltkrieg im Schnitt mehr Kinder hatten. Die Hauptbetreuung übernahm eines davon, häufig ein unverheiratetes, meist weibliches, und wohl nicht immer ganz freiwillig. Es wurde gesellschaftlich erwartet, dass man sich kümmerte, es gab wesentlich weniger professionelle Betreuungseinrichtungen, aber die Übernahme der Aufgabe war sicherlich nicht immer nur zum eigenen Schaden. Zudem war die Aufgabe zeitlich etwas begrenzter als heute, denn die Eltern lebten früher bekanntlich weniger lange.
Nicht von ungefähr begann die Generation derer, die im Nachkriegsdeutschland aufwuchsen, diesen Generationenvertrag schrittweise aufzulösen. Oder besser gesagt: zu flexibilisieren, weil sie Freiheit und Gleichheit nicht nur als hehre Werte in ihrer neuen Verfassung wissen wollten, sondern daraus auch für ihr Privatleben das Recht auf individuelle Lebensgestaltung, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung im Zusammenleben mit anderen ableiteten. Sie gaben diese Werte an ihre Kinder weiter, die ihren Beruf, ihre Partner, ihren Wohnort, ihre Freizeitbeschäftigungen und – inzwischen gab es die Geburtenkontrolle – auch die Größe ihrer Familie selbst wählen konnten und durften. Das taten sie dann auch. Mit dem Ergebnis, dass sich die Kinder- und Enkelschar und somit die Anzahl potenzieller Besucher und Betreuer für die Altersphase verringerte. Aus der bauchigen Generationenpyramide wurde eine Bohnenstange.8
Seit den siebziger Jahren schließlich hat sich unsere Gesellschaft auch auf anderen Ebenen rasant verändert. Der Ausbau des Bildungssystems, die Veränderung von Familienstrukturen und die gestiegenen Anforderungen an Mobilität im Arbeitsleben, um nur einige Aspekte zu nennen. Viele von uns leben seit ihrer Volljährigkeit weit entfernt von ihren Eltern. Und in den damals neuen Bundesländern führten die ökonomischen Folgen der Wende dazu, dass auch bereits langjährig erwachsene Kinder aus wirtschaftlichen Gründen wegzogen.
Die heutige mittlere Generation hat im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse als ihre Eltern. Besonders deutlich wird diese Diskrepanz zwischen Töchtern und Müttern. Es gehört daher immer seltener zum Lebensentwurf von Frauen, ihre Eltern oder sogar Schwiegereltern selbst zu pflegen: sie haben andere Alternativen. Durch die gestiegene Frauenerwerbstätigkeit ist es – trotz ausbleibender Lohngerechtigkeit – auch für Ehemänner weniger attraktiv, aufgrund eines familiären Pflege-Arrangements Einbußen im Doppelverdiener-Haushalt in Kauf zu nehmen oder gar durch eigenen Mehrverdienst auszugleichen.
Faktisch sind pflegende Angehörige allerdings nach wie vor unverzichtbar. Sie sind, wie die Robert-Bosch-Stiftung in einem Bericht des Jahres 2014 konstatierte, „Deutschlands größter Pflegedienst“: So werden beispielsweise 80 Prozent aller Demenzkranken von ihren Angehörigen betreut. Immer noch mehrheitlich von Frauen, aber der Anteil pflegender Männer steigt kontinuierlich. Von etwa 10 Prozent zu Anfang des Jahrtausends hat er sich auf 20 Prozent verdoppelt.9 Insgesamt sinkt der Anteil der Vollzeit-Familienpflege jedoch zugunsten einer zeitweisen Betreuung in einem Umfang von maximal zwei Stunden täglich.
Neben den bereits erwähnten Faktoren wie steigender Frauenerwerbstätigkeit und Doppelverdiener-Arrangements liegt dies auch an der zunehmenden Vielfalt von Lebensformen, die inzwischen ebenfalls in die Jahre kommen. Die viel beachteten Großstadt-Singles haben im Alter keine pflegenden Ehepartner. Die Wahrscheinlichkeit, dass Männer von jüngeren Lebensabschnittspartnerinnen gepflegt werden, sinkt mit abnehmender Beziehungsdauer vor dem Eintritt in diese Phase. Sie sinkt auch, je größer die Möglichkeiten der Partnerin sind, eigenes Einkommen zu beziehen.
Schlechte Nachrichten auch für die Verheirateten unter uns: Gut 40 Prozent der Ehen werden wieder geschieden10, und die dabei entstehenden Ex-Schwiegertöchter werden die Eltern ihrer Ex-Männer ziemlich sicher nicht pflegen. Auch für die Kinder hat eine Trennung Konsequenzen, denn ihre Eltern leben in zwei verschiedenen Haushalten, vielleicht sogar in unterschiedlichen Orten. Das vergrößert den Aufwand, mit beiden Elternteilen Kontakt zu halten.
Viele getrennte Elternteile gehen neue Partnerschaften ein oder gründen neue Familien. Die „Patchwork“-Familie ist inzwischen gesellschaftliche Realität. Wenn neue Partner erst nach der eigenen aktiven Familienphase ins Leben der Getrennten treten, ergeben sich daraus wieder neue Patchwork-Varianten: Menschen, die nie zusammengelebt haben, treffen als erwachsene Kinder ihres jeweiligen Elternteils in sehr privaten Situationen aufeinander. Dies kann sich als Glücksfall erweisen oder als das Aufeinanderprallen Lichtjahre voneinander entfernter Galaxien. In jedem Fall ist es erst mal komplizierter und verlangt mehr Flexibilität von uns als das traditionelle Ehe- und Arbeitsteilungsmodell, das erst endet, wenn einer von beiden stirbt.
Eine Folge der steigenden Lebenserwartung ist auch die verlängerte Generationenüberlappung.11 Unsere Eltern sind in der heutigen Zeit durchschnittlich nicht mehr dreißig, sondern fünfzig Jahre gemeinsam mit uns auf der Welt – bis wir selbst alt werden. Alles hat sich ein Stück nach hinten verschoben: Wir bekommen auch später in unserem Leben das erste Kind, derzeit mit etwa 31 Jahren im Vergleich zu 25 Jahren anno 1965. Die Lebenserwartung an sich hat aber einen noch größeren Schritt vollzogen.
Der interessanteste Parameter dabei ist die sogenannte fernere Lebenserwartung, also die Anzahl der Jahre, die man mit 65 durchschnittlich noch zu erwarten hat. Im Jahr 1900 waren das geschlechtsunabhängig etwa zehn Jahre. 1965 hatten Männer mit 65 durchschnittlich noch zwölf, Frauen 15 Jahre vor sich; unsere Großeltern-Generation starb also mit Mitte siebzig bis achtzig. Wer heute 65 Jahre ist, hat im Schnitt noch 17 (Männer) bzw. 21 Jahre (Frauen) vor sich!12 Damit rückt der Zeitpunkt, an dem wir uns von unseren Eltern verabschieden müssen, von den Vierzigern in die Fünfziger oder sogar Sechziger unseres Lebens. Rentner über sechzig, die um ihre kürzlich verstorbenen Eltern trauern, mögen uns heute noch ungewöhnlich erscheinen, werden aber künftig keine Seltenheit sein. Enkel erleben ihre Großeltern schon heute nicht nur während der Kindheit, sondern bis weit hinein ins eigene Erwachsenenalter.
Diese verlängerte Überlappung der Generationen bringt Veränderungen für das Zusammenleben mit sich. Ein Sprichwort sagt: „In den Augen unserer Eltern bleiben wir immer Kinder.“ Wie aber gestalten wir die Beziehung zu Mutti und Vati, wenn diese neunzig sind und wir mit sechzig selbst Enkel haben und uns mit den ersten Altersplagen herumschlagen?