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Mein Glück hat vier PfotenMein Glück hat vier Pfoten

Wie ich mit meinem Hund über die Alpen wanderte

Zu Fuß über die Alpen

Nadine und ihr Hund Ralfi sind ein perfektes Team, und sie lieben es, gemeinsam in den Bergen unterwegs zu sein. 2023 erfüllt sich die Journalistin einen Traum und bricht mit ihrem mutigen Vierbeiner zu einer Wanderung von München nach Verona auf. Doch ob sie und Ralfi, ein Portugiesischer Podengo, den sie aus einem Tierheim nahe Lissabon adoptiert hat, es wirklich über die Alpen schaffen?

50 Tage Natur und Gipfelglück, urige Hütten und die ganz große Freiheit

In knapp zwei Monaten wandern die beiden zunächst die Isar entlang, dann über Karwendel, Stubaital und die Dolomiten Richtung Gardasee. Humorvoll und unterhaltsam berichtet Nadine von ihren Erlebnissen. Sie schildert die landschaftliche Schönheit, spannende Begegnungen, die besonderen Herausforderungen einer Weitwanderung mit Hund, ihre Angst vor Bären – und teilt mit uns das Gefühl von Freiheit und Glück. Ein wunderbares Buch über ein fantastisches Abenteuer und eine besondere Freundschaft – nicht nur für Hundefans!

Mit vielen nützlichen Tipps für das Wandern mit Hund

Wie alles begann

November 2020, Portugal

Mit meinem Mietwagen rumple ich durch die Schlaglöcher der unbefestigten Straße zum Tierheim. Hinter mir wirbelt eine Staubwolke auf, das Fenster habe ich heruntergekurbelt. Die frische Morgenluft tut gut, und aus der Ferne dringt mir bereits das Bellen von Hunden entgegen.

Ich weiß nicht, was mich erwartet, aber den Wunsch, wieder einen Hund zu haben, trage ich schon lange in mir. Ich bin mit Hunden aufgewachsen – mein erster Begleiter, Caesar, blieb 18 Jahre und der zweite, Snoopy, zwölf Jahre lang an meiner Seite. Doch bisher fühlte es sich nie nach dem richtigen Zeitpunkt an. Auch wenn viele sagen, den gebe es sowieso nicht, bin ich da anderer Meinung. Die Voraussetzungen müssen einfach stimmen. Kann ich seinen Bedürfnissen gerecht werden? Habe ich genug Zeit, mich umfassend um das Tier zu kümmern? Und falls nicht, gibt es adäquate Betreuungsmöglichkeiten? Verfüge ich über die finanziellen Mittel, um sein Leben lang für einen Hund zu sorgen?

Seit September 2020 bin ich freiberufliche Journalistin im Bereich Sport und Outdoor, kann mir meine Zeit frei einteilen und meinen Arbeitsort selbst wählen. Meine Basis ist aber schon seit vielen Jahren München. Ich benötige nur ein Laptop und Internet, fertig ist mein Büro, das ich sowohl am Strand als auch auf einer Alm oder in einem Hostel einrichten kann. Diesen Herbst fiel meine Wahl auf Ericeira, einen kleinen Küstenort in Portugal.

Mit meiner beruflichen Unabhängigkeit fühlt es sich nach dem richtigen Moment an, wieder einen Hund in mein Leben zu holen. Überhaupt hat sich in letzter Zeit viel bei mir verändert. Ich habe mich von meinem damaligen Freund getrennt, eine On-off-Geschichte, die mich viel Kraft gekostet hat. In Portugal beginnt auf gewisse Weise auch ein neuer Lebensabschnitt für mich.

Schon zu Hause hatte ich mich nach einem potenziellen Adoptionshund umgeschaut, aber während der Coronapandemie waren sehr viele Tiere adoptiert worden. Mit meiner Reise nach Portugal verband ich also auch den Wunsch, dort einen Hund zu finden. Wirklich angegangen bin ich die Suche aber erst, als ich dann vor Ort war.

Zum ersten Mal sehe ich Ralfi, damals noch „Ralf“, auf der Website von „Dogs of Portugal“. Ein Team aus Freiwilligen unterstützt das Tierheim „Cantinho da Milu“ in Setúbal und vermittelt Hunde sowohl innerhalb Portugals als auch ins Ausland, manchmal sogar bis nach Kanada. Für die Auslandsvermittlung müssen die Tiere mindestens sechs Monate alt sein, da sie nur kastriert oder sterilisiert abgegeben werden. Wenn man sich die überfüllten Tierheime ansieht, ist das absolut verständlich. Die ungezügelte Vermehrung der Hunde auf der Straße produziert immer nur neues Leid.

Im Tierheim empfängt mich Gosia, eine junge, dunkelhaarige Frau aus Lissabon, die ehrenamtlich für die Vermittlung zuständig ist. Hauptberuflich arbeitet sie als Anwältin. Ihr immenses Engagement beeindruckt mich. Sie postet noch bis spät am Abend auf Facebook, um ein neues Zuhause für die Tiere zu finden.

„Ich suche einen sportlichen, mittelgroßen Hund, der gut mit Kindern klarkommt“, sage ich und bekräftige damit, was ich auch schon in meiner E-Mail mitgeteilt hatte. Ich erwähne auch den Namen „Ralf“, doch sie hatte ihn ohnehin schon für mich im Blick. Dass er Kinder mag, ist wichtig, denn ich habe eine Nichte und vier Neffen. Zielsicher führt sie mich zu ihm, einem Portugiesischen Podengo – etwa 40 Zentimeter groß, fuchsrotes Fell, schlanker Körper, riesige Ohren, circa zehn Monate alt. Mehr als 800 Hunde leben hier im Tierheim, und ich gehe jetzt mit diesem einen spazieren.

Soweit sich seine Geschichte nachvollziehen lässt, wurde er als Welpe ausgesetzt und landete in einer Tötungsstation, aus der ihn das Tierheimteam etwa im Alter von sieben Monaten gerettet hat. Angeblich gab es für Ralf in den drei Monaten, die er hier ist, noch keinen einzigen Interessenten. Verbunden durch eine hellgrüne Leine verlassen wir das Gelände und spazieren einen Feldweg entlang. Er zieht, hat einen starken Drang nach vorne – was für mich als aktiven Menschen durchaus ein Pluspunkt ist. Trotzdem strahlt er eine Ruhe aus, wie ich sie bei jungen Hunden selten erlebt habe. Wer weiß, was er schon alles durchgemacht hat, denke ich bei mir.

Nach ein paar Hundert Metern setze ich mich auf einen Grasstreifen am Straßenrand, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. Geduldig kommt er zu mir, schmiegt sich sanft an mich, ohne sich aufzudrängen. Seine Ohren sind stets in Radarstellung, während er die Umgebung scannt. Ich mache ein paar Selfies von uns und schicke sie an meine Eltern. Als ich die Bilder anschaue, bin ich überrascht: Seine Fellfarbe und meine Haarfarbe schimmern in der Abendsonne fast identisch. Man sagt ja, Hund und Frauchen gleichen sich über die Zeit an. Bei uns scheint dieser Prozess schon beim ersten Treffen abgeschlossen zu sein.

Nach einer Weile bringe ich Ralf zurück ins Tierheim und darf ihn in seinen Zwinger begleiten. Dort wohnt er mit zwei anderen Junghunden. Die beiden sind stürmisch und lecken mir begeistert das Gesicht ab. Ralf hingegen ist zurückhaltender, fast erwachsen für sein Alter. Wahrscheinlich prüft er mich ebenfalls: Was will diese Frau von mir? Kann ich ihr vertrauen?

Möglichst entspannt setze ich mich auf den staubigen Boden seines Geheges und beobachte ihn. Wie ein kleiner Wachhund rennt er zum Zaun, bellt die Hunde im gegenüberliegenden Zwinger an und stimmt in das allgemeine Hundeorchester ein. Nach jeder Runde kehrt er zu mir zurück, als ob er Bestätigung oder eine Rückversicherung sucht. Schließlich gehe ich in einen angrenzenden offenen Verschlag, in dem drei kleine Hundebetten aus Plastik stehen. Ralf folgt mir, und zum ersten Mal höre ich es: sein „Wohoooooo“. Was will er mir damit sagen? „Willkommen, das ist unser Schlafzimmer“ oder eher „Hey, stopp, hier darfst du nicht rein“? Ich weiß es nicht.

An diesem Abend fahre ich mit vielen Fragezeichen im Kopf ins Hostel. Die Zeit mit Ralf hat mir unglaublich gut gefallen, und der Abschied fällt mir schon nach dem ersten Treffen schwer. Aber Ralf ist ein Podengo, ein portugiesischer Jagdhund, gezüchtet für die Hasenjagd. Seine spanischen Artgenossen schreibt man übrigens mit c, also Podenco. Ralf ist also ein blitzschneller Jäger, der gelernt hat, draußen eigenständig Entscheidungen zu treffen. Wahrscheinlich werde ich ihn selten bis gar nicht von der Leine lassen können. Auch wenn meine Familie schon früher Hunde hatte, würde ich mich nicht als Hundekennerin bezeichnen. Bin ich einer so anspruchsvollen Rasse gewachsen?

Noch fünf weitere Male besuche ich ihn im Tierheim. Mal ist Ralf in seinem eigenen Auslauf, mal wartet er in einem Zwinger vorne, wo auch ein braver hellbrauner Boxer untergebracht ist. Wenn er mich sieht, stellt er sich auf die Hinterläufe, wirft die Vorderpfoten in die Luft und klammert sich ans Gitter. Vor Freude schmettert er mir sein „Wohoooooo“ entgegen, er weiß gar nicht, wie er seine Wiedersehensfreude noch ausdrücken soll. Die Mitarbeiterinnen im Tierheim, die Ralf kennen, sagen, dass zwischen uns eine besondere Bindung entstanden ist.

Und auch wenn ich gehe, übermannen Ralf seine Gefühle. Wenn ich mich verabschiede, folgt er mir bis zum Tor des Tierheims und rennt meinem Auto bis zum Ende des Zauns hinterher. Jedes Mal kommen mir die Tränen. Es ist erstaunlich, wie schnell so eine Beziehung heranwächst.

Am 13. November ist es dann so weit. Meine Zweifel sind kaum noch spürbar, meine Gefühle für Ralf überwiegen: Ich entscheide mich für ein Leben zu zweit. Gosia legt mir die Adoptionspapiere vor. „Bitte trage noch deine Daten ein“, sagt sie und meint damit meinen Namen, meine Anschrift und den Wunschnamen für meinen Adoptionshund. Ich entscheide mich, seinem Namen nur ein „i“ anzufügen, weil er diesen Namen nun schon seit drei Monaten trägt und seine Taufe im Tierheim für ihn damals einen Neuanfang bedeutet hat. Der Moment, in dem ich meine Unterschrift setze, besiegelt unsere gemeinsame Zukunft. Ich spüre, dass es eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens ist, und bin unglaublich glücklich.

Ab jetzt gehen wir gemeinsam durch die Welt. Obwohl ich eigentlich noch einige Wochen in Portugal bleiben wollte, entscheide ich mich dafür, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Auch hier spitzt sich die Coronasituation mit dem nahenden Winter wieder zu; am Wochenende gab es bereits ein Ausgangsverbot. Ich will auf keinen Fall riskieren, Ralfi zurücklassen zu müssen.

Ein letztes Mal bleibt mein Auto am 18. November vor dem Tierheim stehen. Ralfi wartet schon am Ausgang auf mich, seine Flugbox steht neben ihm. Von Setúbal aus fahren wir den ganzen Weg hinunter zum Flughafen in Faro, da nur von dort ein Direktflug nach München möglich ist. Mir ist es besonders wichtig, dass Ralfi keinen Flugzeugwechsel durchmachen muss. Vor dem Flug habe ich gründlich recherchiert. Natürlich wäre es mir am liebsten, wenn Ralfi mit in den Passagierraum könnte, aber mit seinen 14 Kilogramm ist er dafür leider zu schwer. Das Limit liegt bei 8 Kilo. Das bedeutet, Ralfi muss im Frachtraum mitfliegen – ein Gedanke, der mir fast das Herz bricht, aber es bleibt die einzige Option, ihn schnell und sicher nach Deutschland zu bringen. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, ihm Beruhigungstabletten zu geben, da dies auch von den meisten Tierärztinnen und Tierärzten nicht mehr empfohlen wird. Man kann nie genau sagen, wie ein Hund darauf reagiert, und sobald er im Flugzeug ist, hat man keine Möglichkeit einzugreifen. Für ein bisschen mehr Sicherheit empfiehlt es sich, einen Tracker am Hund oder seiner Flugbox zu befestigen, um seinen Standort jederzeit verfolgen zu können. Es kommt leider immer wieder vor, dass Hunde, ähnlich wie Gepäckstücke, verloren gehen – ein schrecklicher Gedanke, der mich während des gesamten Fluges begleiten wird.

Etwa sechs Stunden nachdem ich Ralfi in Faro abgegeben habe, transportiert ein Rollband seine Hundebox in die Wartehalle des Münchner Flughafens. Ich hebe sie herunter und lasse Ralfi heraus. Wir sind angekommen.

Hunde aus dem Tierheim oder Tierschutz

Die Entscheidung, einen Hund von einer Züchterin oder einem Züchter zu kaufen oder aus dem Tierheim zu adoptieren, ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Es lohnt sich aber, zuvor alle Optionen gründlich zu prüfen. Ein guter Ausgangspunkt ist die Frage, welche Eigenschaften der zukünftige Begleiter haben soll: Größe, Felltyp, Temperament und genetische Veranlagungen – ist er also eher ein Jäger, Hütehund oder Beschützer? Nicht nur Rassehunde, sondern auch Mischlinge besitzen besondere und individuelle Anlagen, die man aus der Mischung und körperlichen Konstitution ablesen kann. Am Ende bleibt aber jeder Hund eine Wundertüte, weil jedes Tier ein Individuum ist. Im Tierheim trifft man auf eine beeindruckende Vielfalt – von Welpen und jungen Hunden bis hin zu liebenswerten Senioren, Mischlingen und Rassehunden, gut sozialisiert, weil sie aus einem Zuhause abgegeben worden sind, oder ohne jeglichen Kontakt zu Menschen von der Straße.

Ein erster Schritt ist oft der Besuch lokaler Tierheime in Deutschland, die nach der großen Nachfrage während der Coronapandemie mittlerweile vielerorts wieder überfüllt sind. Erst danach sollte man seine Suche auf das Ausland ausdehnen. Viele Organisationen sind auf die Vermittlung in andere Länder spezialisiert, kümmern sich um Formalitäten, Impfungen sowie Kastrationen oder Sterilisationen und testen die Hunde auf Mittelmeerkrankheiten. Häufig erfolgt die Überführung in das neue Zuhause durch Sammeltransporte.

Obwohl ich persönlich keinen Hund allein anhand von Fotos oder Videos auswählen könnte, funktioniert dies in vielen Fällen problemlos. Herausforderungen entstehen vor allem, wenn die Vorgeschichte eines Tieres unbekannt ist. Solche Hunde können ängstlich sein, ohne dass man den Grund dafür kennt, müssen sich oft erst an alltägliche Situationen gewöhnen und behutsam sozialisiert werden. Hier sind Geduld und Einfühlungsvermögen entscheidend, da Hunde Zeit benötigen, um sich zu öffnen und Vertrauen aufzubauen.

Die sogenannte Drei-Drei-Drei-Regel bietet eine Hilfestellung für die Eingewöhnung: In den ersten drei Tagen steht die Orientierung im Mittelpunkt – der Hund ist verunsichert und benötigt vor allem Ruhe, klare Strukturen und Zeit, um die neue Umgebung kennenzulernen. Nach etwa drei Wochen beginnt er, sich sicherer zu fühlen und das neue Zuhause zu erkunden. Nach drei Monaten zeigt sich zunehmend die individuelle Persönlichkeit des Tieres, es baut Vertrauen zu seinen Menschen auf und integriert sich immer besser in den Alltag. Diese Regel ist jedoch nur ein Richtwert, denn jedes Tier ist einzigartig und benötigt unterschiedlich viel Zeit, um vollständig anzukommen.

Was ich aus meiner Erfahrung sagen kann: Es war nicht immer einfach mit Ralfi, dennoch habe ich es keine Sekunde bereut, ihn adoptiert zu haben. Wir haben viel Zeit in der Hundeschule verbracht und dort auch eine ganze Reihe von Menschen kennengelernt, die mit ihrem Hund von einer Züchterin oder einem Züchter Probleme haben. Oft liegt es nicht am Hund, sondern an den betreuenden Menschen. Wichtig ist, sich mit Erziehungsthemen auseinanderzusetzen, bevor man einen Hund adoptiert, damit man sofort weiß, worauf man achten muss, wenn er zu einem kommt. Die Erziehung sollte trotz der Eingewöhnung an Tag eins beginnen, weil sie dem Hund Orientierung bietet, sodass er dem Menschen gegenüber eine Erwartungssicherheit aufbaut.

Auf keinen Fall sollte man Tiere über den Onlinehandel kaufen. Auch bei Zuchthunden ist dringend auf Seriosität zu achten. Hunde mit unbekannter Herkunft können von sogenannten Vermehrern stammen, also Menschen, die Welpen wie am Fließband für den Verkauf produzieren. Das ist nicht nur für die Tiere die Hölle, die Hunde können starke gesundheitliche und psychische Schäden davontragen. Auch bei der Vermittlung von Auslandshunden sollte man vorab die Organisation recherchieren. Ich kann „Dogs of Portugal“ uneingeschränkt empfehlen.


Vom Traum zum Plan

Mai 2023, etwa vier Monate vor dem Start der Alpenüberquerung

Ich sitze auf dem Fußboden meines Ausrüstungslagers im Haus meiner Eltern, umgeben vom kompletten Inhalt meines Busses. Vor ein paar Tagen sind Ralfi und ich aus Norwegen zurückgekehrt, wo wir von Februar bis April mit dem Camper unterwegs waren. Jetzt sortiere ich meine Sachen: extrawarme Merinosocken, Daunenjacken, Ralfis Wintermäntel, Nudeln, Gaskartuschen mit Wintergas für den Kocher, Handschuhe, Thermomatten für die Busfenster – und meine Gedanken.

Norwegen war eine von vielen Touren, die Ralfi und ich schon gemeinsam mit dem Camper unternommen haben. Der Van war dabei Transportmittel und Lebensmittelpunkt in einem, unsere Stellplätze die Basislager, von denen wir unsere Bergtouren gestartet haben. Aber kann ich es auch wagen, mit ihm meinen lang gehegten Traum einer Alpenüberquerung umzusetzen – so ganz ohne den Camper als Rückzugsort? Schon länger wollte ich meine Erfahrungen aus weltweiten Trekkingtouren und Mehrtagestouren in den Alpen verbinden und das erleben, was für mich damals schon die ultimative Alpinerfahrung darstellte: eigenständig über die Alpen wandern, über einen langen Zeitraum jeden Tag in herrlicher Natur verbringen, mich allen Wettern aussetzen – und meine bergsteigerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen.

Schon damals war mir klar, dass ich die Berge als Resonanzraum brauche. Tagelanges Gehen in der Ebene würde mir wahrscheinlich nicht die gleiche Erfüllung bringen, weil mich vor allem die Berge auch mental herausfordern. Erst ihre Ausgesetztheit, Rauheit, Wildheit und Gnadenlosigkeit bringen mich an meine Grenzen, halten mir vor Augen, wozu ich wirklich in der Lage bin, und lassen mich an den Herausforderungen wachsen. Gleichzeitig schenken sie so viele liebliche und unvergessliche Momente: ein Edelweiß am Wegesrand, Gipfel, die sich im Bergsee spiegeln, ein Sonnenuntergang, der Ralfis hellrotes Fell zum Leuchten bringt, ein Regenbogen nach einem heftigen Gewitter.

Die Schönheit der Natur in all ihren Facetten hat mich schon immer überwältigt – als Kind im Thüringer Wald und nun als Erwachsene in den Alpen. Wochenlang nur in den Bergen zu sein – nichts könnte mich glücklicher machen. Und das mit Ralfi als meinem unerschrockenen Partner an meiner Seite.

Was Ralfi mir vom ersten Tag an ermöglicht hat, ist eine große Unabhängigkeit von den Plänen anderer Menschen. Mit ihm fühle ich mich nie einsam, er begleitet mich bereitwillig überall hin, und wir stürzen uns gemeinsam ins Abenteuer. Gerade auch wegen dieser Flexibilität konnte ich die Tour problemlos in unseren Terminkalender einbauen – weil ich mich mit sonst niemandem abstimmen musste. Nach unseren vielen Tagestouren in den Bergen hatten wir unsere Teamfähigkeit auch schon auf Mehrtagestouren getestet. Eigentlich wollte ich sogar schon 2021 ein Teilstück des Traumpfads München–Venedig absolvieren. Ich merkte aber schnell, dass es mit Hund nicht so einfach ist. Nicht alle Hütten auf der Originalstrecke erlauben Hunde. Am Ende kristallisierte sich heraus, dass ich vor allem Südtirol sehen wollte. So sind Ralfi und ich vier Tage durch den Puez-Geisler-Naturpark gewandert – unsere erste gemeinsame Hüttentour. Schon damals bemerkte ich, wie gut Ralfi damit klarkam, jede Nacht woanders zu schlafen, und dass er die langen Tagesetappen problemlos meisterte. Nach den vier Tagen waren wir zwar sehr erschöpft, aber auch unglaublich zufrieden. Das Gefühl, 50 Kilometer und gut 3400 Höhenmeter im Auf- und Abstieg gemeinsam gemeistert zu haben, hat mich so stolz gemacht und war die beste Vorbereitung für das, was uns diesen Sommer bevorstehen sollte. Dieser Hund hat nicht nur eine gute Nase für das Aufstöbern von Wild und Murmeltieren. Spätestens seit dieser Tour zeigte sich sein siebter Sinn für die Berge.

Noch immer sitze ich zwischen meinen Sachen und tippe in den Browser: „Alpenüberquerung mit Hund“. Die ersten Suchergebnisse leiten mich zu geführten Wanderungen mit Reiseveranstaltern. Ich klicke mich durch die Links, finde aber keine für uns passende Route. Dann stoße ich auf eine Liste mit den beliebtesten Alpenüberquerungen. Der Europaweitwanderweg E 5, also der Abschnitt von Oberstdorf nach Meran, erscheint ganz oben. Diese Gegend kenne ich von Hochtouren – wunderschön, aber viel zu überlaufen. Die siebentägige Route vom Tegernsee nach Sterzing wäre auch reizvoll, aber wahrscheinlich fehlt hier der technische Anspruch. Und eigentlich will ich viel länger unterwegs sein. Ebenso beliebt ist der Traumpfad München–Venedig, aber da hatte ich ja schon zuvor Probleme bei der Planung. Trotzdem starte ich erneut eine Recherche, da mir die Route nach wie vor zusagt. Aber bereits die Überschreitung der Birkkarspitze im Karwendelgebirge ist unmöglich, weil weder die Hütte vor dem Gipfel noch die danach Hunde erlaubt.

Also muss eine eigene Route her. Ich öffne eine Karte mit den gängigen Alpenüberquerungen und lasse meinen Blick über die verschiedenen Regionen schweifen: von Kärnten und den Julischen Alpen in Slowenien bis nach Triest, dann weiter nach Westen, in die Schweiz mit den Berner und den Walliser Alpen, dem Monte-Rosa-Massiv, dem Mont Blanc und schließlich bis nach Monaco. Und plötzlich weiß ich: Das wird es, eine eigene Route durch die Mitte der Alpen!

In Gedanken notiere ich meine perfekte Route: durch das Karwendel, die Stubaier Alpen und jede Menge Südtirol – Gegenden also, in denen ich mich bereits gut auskenne und die ich auf meiner Alpenüberquerung verbinden möchte. Als Ziel wähle ich nicht Venedig, sondern Verona, weil ich auf diese Weise wirklich meine eigene Route kreieren muss und mit meiner Routenführung im Zentrum des Gebirges verbleibe. Die wahren Ausmaße der Alpen kann man erst richtig mithilfe einer dreidimensionalen Karte erfassen, auf der man die Topografie plastisch sehen und fühlen kann. Eine solche Karte hat mir eine Freundin geschenkt, sie hängt in meiner Küche. Ich schaue sie mir an und weiß: Diese gewaltigen Berge möchte ich Schritt für Schritt überqueren.

Zeit habe ich ab Ende August, unterwegs sein könnte ich bis Anfang Oktober. Dieser Zeitraum eignet sich perfekt für eine Alpenüberquerung, weil Spätsommer und Herbst stabileres Wetter bieten, Hitzegewitter seltener werden und die Sicht klarer ist als im Frühling oder Sommer. Wie ich von Südtirol nach Verona komme, halte ich mir erst mal offen. So genau bin ich mit der Recherche noch nicht, aber der Anfang ist gemacht.


Später Start auf bekannten Wegen

18. August, von München nach Hohenschäftlarn
20,8 Kilometer, 135 Meter im Aufstieg, 45 Meter im Abstieg, 5:30 Stunden, 32 Grad

Hektisch eile ich durch ein Outdoorgeschäft am Marienplatz. Meine Eltern und meinen Neffen Edgar habe ich mit Ralfi und meinem Rucksack derweil in einem Café am Rindermarkt geparkt. Sie sind extra nach München gekommen, um mich vor meinem großen Abenteuer zu verabschieden. Draußen drückt die Hitze in der Betonlandschaft der Stadt. Eigentlich wollte ich längst unterwegs sein, aber meine Zeitplanung und die Realität liegen weit auseinander. Spontan habe ich entschieden, noch einen Wasserfilter zu besorgen, außerdem fehlen mir Brausetabletten mit Elektrolyten.

Als ich schließlich alles beisammenhabe, begleitet meine Familie mich vor das Münchner Rathaus, von wo aus Ralfi und ich unsere Reise starten. Es ist 14 Uhr, die Sonne hat bereits den Zenit überschritten, aber die höchsten Temperaturen des Tages sind erst gegen 16 Uhr zu erwarten. In meinen Magazinbeiträgen zur Tourenplanung predige ich regelmäßig, an heißen Tagen möglichst früh zu starten, um der Hitze zu entgehen. Jetzt muss ich darüber schmunzeln und nehme mir vor, meinen eigenen Rat in den kommenden Wochen ernst zu nehmen.

Mit meinem 48-Liter-Wanderrucksack und den schweren Wanderstiefeln fühle ich mich reichlich fehl am Platz. Neben mir lassen sich Menschen in Sandalen, leichten Sneakern und wallenden Kleidern fotografieren, ich dagegen wirke wie eine Everest-Aspirantin. Obwohl der Anblick hier nicht ungewöhnlich ist – viele Wanderinnen und Wanderer starten ebenfalls am Marienplatz, um den Traumpfad München–Venedig zu bewältigen. Davon abgesehen sind die meisten Leute wahrscheinlich sowieso mehr mit sich selbst und dem perfekten Foto beschäftigt.

Andererseits fühlt es sich auch gut an, hier zu stehen. Nach all den Vorbereitungen geht es endlich los. Ich bin aufgeregt, vielleicht ein wenig gestresst, weil mir der Trubel etwas zu viel wird. Gleichzeitig bin ich dankbar, dass meine Familie hier bei mir ist.

„Stell dich mal so hin, dass ich dich mit Ralfi vor dem Rathaus gut aufs Bild bekomme“, sagt meine Mutter.

Einfacher gesagt als getan, weil der Rathausturm sehr hoch ist. Aus der kurzen Distanz muss sich meine Mutter schon auf den Boden legen, um uns zusammen mit dem hohen Gebäude aufs Foto zu bekommen. „Das geht besser mit dem Weitwinkelmodus am iPhone“, sage ich, auch wenn Ralfi und ich dann aussehen wie Giraffen, weil die Optik uns in die Länge zieht. Das typische Glockenspiel im Turm erklingt jetzt jedoch nicht – dafür hätte ich zwei Stunden früher hier sein müssen.

Als wir dann endlich richtig positioniert sind, stehen wir da, in der prallen Sonne, mal halte ich Ralfi auf dem Arm, mal sitzt er brav neben mir. Uns beiden hängt die Zunge aus dem Mund. Meine Mutter drückt munter auf den Auslöser.

„Wie fühlst du dich?“, fragt mein Vater.

„Keine Ahnung“, antworte ich. Vielleicht hatte ich mir diesen Moment emotionaler vorgestellt. Vielleicht ist mir auch einfach noch nicht ganz klar, was jetzt gleich beginnt. Immerhin beruhigt es mich, dass ich heute noch den ganzen Tag auf vertrauten Wegen unterwegs sein werde, 20 Kilometer liegen vor uns. Wieder schüttle ich den Kopf über mich selbst – verrückt, erst so spät zu starten.

Ich schaue zu Ralfi hinunter und versuche nachzuempfinden, was in ihm gerade vorgeht, auch wenn er natürlich nichts versteht von dem, was hier passiert. Wahrscheinlich leidet er unter der Hitze und sehnt sich nach einer Abkühlung. Die Isar ist zum Glück nicht weit entfernt. Ich nehme meine Eltern noch einmal in den Arm.

„Viel Erfolg, das wird sicher gut“, sagt mein Vater. Meine Mutter fügt hinzu: „Und immer genug trinken!“

Auch mit 38 ist und bleibt man doch das Kind seiner Eltern. Edgar, gerade mal acht Jahre alt, wirkt traurig, er möchte mich unbedingt begleiten, aber ich vertröste ihn auf den nächsten Tag. „Morgen passt es besser, da gehen wir viel durch den Wald. Heute muss ich mich erst mal allein mit Ralfi auf alles einstellen, okay?“, sage ich. Etwas widerwillig umarmt er mich und wünscht mir viel Glück. Dann heißt es Abschied nehmen. Morgen begleiten meine Eltern Edgar zum Startpunkt meiner zweiten Etappe.

Ralfi und ich machen uns auf den Weg, vorbei am Viktualienmarkt zum Gärtnerplatz, wo ich früher gewohnt habe. Von dort geht es über die Reichenbachbrücke hinunter zur Isar, an der wir damals täglich unsere Gassirunden gedreht haben. Das liebe ich an München: die Nähe zur Natur. Selbst im Stadtzentrum hat sich der Fluss an vielen Stellen seinen wilden Charakter bewahrt oder ist nachträglich renaturiert worden. Bei Hochwasser werden regelmäßig die Kiesbänke überflutet, die Isarauen sind Landschaftsschutzgebiet. Für die kommenden Tage sind Temperaturen von über 30 Grad angekündigt.

„Was für ein Glück wir haben“, sage ich zu Ralfi, denn noch bis gestern hat es fast täglich geregnet. Ralfi mag keinen Regen und wird sich freuen, dass er davon erst mal verschont bleibt. Mit Hitze kann er aber auch nicht viel anfangen. Sein Traumwetter? 20 Grad und ein leichtes Lüftchen. Am Ufer tummeln sich unzählige Menschen, spielen Volleyball, balancieren auf Slacklines oder genießen einfach nur die Sonne. Wir bleiben größtenteils im Schatten der Bäume am Hochufer, gehen nur kurz runter, damit sich Ralfi in der Isar abkühlen kann. Schwimmen mag er nicht, aber bis zu den Ellenbogen ins Wasser waten – das liebt er.

Ralfi beginnt, im Kiesbett zu wühlen. Irgendwann stampft er wie ein Verrückter mit den Vorderpfoten auf, sodass das Wasser nur so spritzt. Sein liebstes Spiel ist es, große Isarkiesel aus dem glasklaren Wasser zu fischen. Da er nicht tauchen will, schiebt er die Steine mit seinen Vorderpfoten unter seinem Körper hindurch bis ans Ufer. Gefühlt hat er auf diese Weise schon Tonnen an Steinen bewegt. Doch die Zeit drängt, wir müssen weiter. Wir überqueren den Fluss auf der Tierparkbrücke in Thalkirchen und folgen dem Wanderweg am Westufer, später dem Seitenkanal des Flusses. Ein Großstadtgefühl will in München einfach nirgendwo aufkommen, vor allem nicht hier im Süden, wo die Isar das Stadtbild prägt.

Ich setze einen Fuß vor den anderen. Noch kenne ich jede Flusswindung und jeden Baum. Sogar ein paar der Hunde, die hier regelmäßig mit ihren Menschen spazieren gehen, erkenne ich wieder. Kurz denke ich daran, wie einfach es wäre, jetzt abzubiegen und zurück zu meiner Wohnung an der Theresienwiese zu gehen. Obwohl ich schon so viel gereist bin und ständig woanders wohne, spüre ich ein leichtes Gefühl von Heimweh. Es fühlt sich an wie ein sanftes Ziehen in meiner Brust, bittersüße Melancholie, wahrscheinlich ein Resultat des Vorbereitungsstresses der letzten Wochen und meiner Müdigkeit.

In Pullach steigen wir zum Hochufer auf und überwinden die ersten Höhenmeter unserer Alpenüberquerung. Um die lang gezogenen Serpentinen abzukürzen, nehmen wir eine steile Treppe, ein erster Härtetest für meine Oberschenkel. Ralfi steigt mutig voraus. Über unsere Bungeeleine, die an meinem Bauchgurt befestigt ist, sind wir miteinander verbunden, und er zieht mit aller Kraft voran. Immer wieder erstaunt es mich, wie viel Energie in diesem dünnen Hund steckt – und wie anstrengend Treppensteigen sein kann.

Der Blick von hier oben auf die Isar und ihre weißen Kieselsteinbänke ist überwältigend. Auch auf der anderen Isarseite erhebt sich das Gelände und ist von dichtem Wald bewachsen, ich kenne die Gegend gut von meinen Gravelbiketouren. Ralfi zieht mich zu einem Brunnen, wie sie hier in regelmäßigen Abständen zu finden sind, und auch ich fülle meine Wasserflasche zum ersten Mal auf. Die Zeit vergeht schneller, als mir lieb ist. Schweren Herzens verlassen wir den dichten Buchenwald der Hangleiten und wechseln auf den Gehweg neben der Bundesstraße 11, die von München ins Oberland führt. Ich habe die Route spontan angepasst, damit wir es noch vor Sonnenuntergang zu unserem Hotel in Hohenschäftlarn schaffen. Selbst schuld, denke ich.

Mit jedem Schritt brennen meine Fußsohlen mehr, bis die Schmerzen beinahe unerträglich werden. Das liegt daran, dass ich feste Wanderschuhe der Kategorie B/C trage. Sie sind ideal für mittelschwere Bergtouren, Trekking mit schwerem Gepäck und leichte Gletschertouren, da sie bedingt steigeisenfest sind, werden allerdings auf flachem Asphalt, über dem die Hitze flirrt, zur reinsten Tortur. Dass es unangenehm wird, war mir klar – aber so schlimm? Ich hatte noch überlegt, ein Paar Trailschuhe mitzunehmen, aber das hätte mein Gepäck gesprengt. Mein Rucksack wiegt jetzt schon 16 Kilogramm, inklusive Hundefutter und Wasser. Einen Tod muss man sterben, denke ich, denn mit Blick auf das, was noch vor uns liegt, werden sich die harten Bergschuhe vielleicht doch noch auszahlen.

Was ich auf jeden Fall vermeiden will, sind Shin Splints – das Schienbeinkantensyndrom, das bei Überlastung auftreten kann. Deshalb habe ich beschlossen, die ersten Etappen relativ kurz zu halten und nicht gleich am ersten Tag 30 Kilometer zu gehen. Schließlich hatten Ralfi und ich vor der Alpenüberquerung kaum Zeit, gezielt zu trainieren. Solch ein großes Projekt traue ich uns beiden nur zu, weil wir schon viele Abenteuer gemeinsam erlebt haben – von Hüttentouren über lange Skitouren bis hin zu monatelangen Vanreisen mit viel Outdoorprogramm – und ich weiß, was wir leisten können. Außerdem behalte ich mir vor, immer wieder Pausentage einzulegen. Trotz der defensiven Planung stellt die Alpenüberquerung auch einen Test für uns als Hund-Mensch-Team dar. Wir loten unsere gemeinsamen Grenzen aus.

„Mannnnnn, Ralfi!“, rufe ich plötzlich, als ich das Gleichgewicht verliere und beinahe stürze. Ohne Vorwarnung ist Ralfi nach links ins Feld gesprungen und zerrt mich an meinem Bauchgurt hinter sich her. So unvermittelt aus meinen Gedanken gerissen, muss ich laut lachen. Ralfi hat tatsächlich noch die Energie und die Muße, nach Mäusen zu wühlen. Was für ein Clown! Trotz seiner Rasse ist er ein miserabler Jäger und verfehlt regelmäßig seine Beute.

Während Ralfi den Mäusen nachspürt, blicke ich in den Himmel. Die späte Sonne taucht die Felder um uns herum in warmes Licht, und am Horizont färbt sich der Himmel im Abendrot. Ganz da hinten erkenne ich sie – die Berge. Schon am Ende des ersten Tages, an dem wir mitten in München gestartet sind, wirken sie zum Greifen nah.

Als wir 20 Minuten später in unserem Hotel in Hohenschäftlarn ankommen, ziehe ich sofort meine Schuhe aus. Was für ein herrliches Gefühl! Ich springe kurz unter die Dusche und schlüpfe in meine Wechselklamotten, die auch gleichzeitig meine Schlafsachen sind. Ich bin heilfroh, dass ich meine federleichten fliederfarbenen Birkenstocksandalen aus Schaumgummi eingepackt habe, obwohl selbst sie meinen Füßen gerade kaum Erleichterung bringen. Ralfi säuft seinen Napf restlos leer und frisst ein paar Brocken seines Trockenfutters. Viel Appetit hat er nicht. Erschöpft legt er sich auf seine Decke und streckt alle viere von sich. Wahrscheinlich wundert er sich, was das heute gewesen sein soll. 20 Kilometer Flachlandwandern?

Aber hey, wir haben den ersten Tag geschafft. Ich esse noch eine Portion Pasta im hoteleigenen Biergarten und gehe bald aufs Zimmer. Schon am ersten Tag tut mir alles weh. In kleinen Tippelschritten drehe ich mit Ralfi später noch die obligatorische Abendrunde. Wie soll das nur morgen werden, denke ich bei mir. Aber nun gehen wir erst mal ins Bett. Selig ziehe ich mir die Decke über den Kopf und schlafe, begleitet von einem tiefen Seufzer aus Richtung der Hundedecke, ein.

Routenplanung mit Hund inklusive Futter und Unterkünfte

Route: Die Planung der Wegstrecke orientiert sich stets an den Fähigkeiten von Mensch und Hund. Beide sollten beim Schwierigkeitsgrad einen Puffer haben, um noch Reserven für unvorhergesehene Herausforderungen zu besitzen. Ich nutze die Schwierigkeitsgrade des Schweizer Alpenclubs (SAC) als Orientierung, was sich in der Praxis bewährt hat. Erfahrungsgemäß sind mit Ralfi Touren zwischen T1 (einfache Wanderwege) und T3 (anspruchsvollere Bergwanderwege) gut machbar. T3 bedeutet, dass Wege teilweise unklar oder nicht durchgehend zu erkennen sind, das Gelände oft steil ist und exponierte Passagen mit Ketten oder Seilen gesichert sein können. Geröllfelder, leichte Schrofen und Abschnitte, bei denen man die Hände zur Balance benötigt, sind ebenfalls typisch. Zudem besteht an exponierten Stellen Absturzgefahr, weshalb man hier besonders aufmerksam sein muss.

Zur Planung meiner Alpenüberquerung habe ich gedrucktes Kartenmaterial und meine Wander-App benutzt. Konkret habe ich mich von Unterkunft zu Unterkunft vorgearbeitet und jeweils die besten Verbindungswege gesucht. Die Schwierigkeit der Wege ist im Kartenmaterial gekennzeichnet. Wenn ich bei einem Abschnitt etwas unsicher war, welche Schwierigkeiten dort wirklich auf uns warten, habe ich entweder bei Hütten nachgefragt oder mir über eine Onlinerecherche mehr Informationen beschafft. Manchmal sind meine Wunschrouten aber daran gescheitert, dass Hunde auf Hütten oder in Pensionen nicht erlaubt sind. Die Länge und die zu bewältigenden Höhenmeter einer Etappe hängen stark vom Trainingsstand und den bisherigen Erfahrungen des Hundes ab. Wichtig ist, sich vorsichtig an größere Herausforderungen heranzutasten.

Hundefutter: Hier ist die Zusammenstellung sehr individuell, da jeder Hund andere Vorlieben und Bedürfnisse hat. Auch der Kalorienbedarf kann sich bei hoher Belastung ändern – unbedingt vorab ermitteln und in die Futterplanung einbeziehen. Ich persönlich setze auf Trockenfutter, da es leicht, kompakt und gut zu transportieren ist. Glücklicherweise mag und verträgt Ralfi ein Futter, das wir in ganz Europa problemlos finden konnten. Unterwegs benötigt er zwischen 300 und 400 Gramm pro Tag; Standardpackungen von 800 Gramm reichen daher für zwei Tage. Für den Transport nutze ich wiederverschließbare Zip-Beutel, die praktisch und platzsparend sind. Unterwegs bekam Ralfi manchmal auch Pellkartoffeln oder Nudeln zu fressen, die aber ohne Salz gekocht sein mussten. Hunde mit speziellem Futterbedarf können allerdings eine genauere Planung erfordern. Es ist möglich, Futterpakete an Unterkünfte oder kleine Läden vorauszuschicken, was jedoch rechtzeitig organisiert werden muss.

Unterkünfte: Die Auswahl passender Bleiben kann anspruchsvoll sein, da Hunde nicht überall willkommen sind. Es ist wichtig, vorab anzufragen und den Hund bei der Buchung anzumelden. In Südtirol bieten viele Hütten Einzel- oder Doppelzimmer an, was besonders vorteilhaft ist, wenn man den Hund mitbringt. In der Hochsaison (Juli und August) sind beliebte Hütten oft schnell ausgebucht. Daher empfiehlt es sich, rechtzeitig, also mindestens ein halbes Jahr, im Voraus zu reservieren. Für den Hund eine eigene Decke mitzunehmen und möglichst auch ein Tuch, um die Pfoten abzuwischen, ist ebenfalls ratsam.

Blick ins Buch
VON WEGEN. Allein auf der Via Alpina – 2363 Kilometer zu Fuss von Triest nach MonacoVON WEGEN. Allein auf der Via Alpina – 2363 Kilometer zu Fuss von Triest nach Monaco

Allein über die Alpen

Mit Zelt und Gaskocher im Gepäck wandert die junge Schweizerin Christina Ragettli auf der herausfordernden roten Via Alpina vier Monate lang durch sechs Länder. Auf 2.363 Kilometern erlebt sie einige verrückte Geschichten und Abenteuer, die sie zum Teil an ihre Grenzen bringen. 

Via Alpina: 4 Monate, 6 Länder, Abenteuer pur

Doch trotz Schmerzen, Kälte, tagelangem Regen und scheinbar unüberwindbaren Hindernissen setzt sie einfach jeden Tag einen Fuß vor den anderen, und ihre Erlebnisse auf der Via Alpina werden zu Lebenslektionen. Sie zeigt, dass es manchmal nur etwas Mut und Selbstvertrauen braucht, um seine Träume zu verwirklichen.

Solo-Weitwanderung als Frau

Fernwanderungen sind nur was für Extremsportler:innen? Von wegen! Christina Ragettli beweist, dass es auch mit pink lackierten Nägeln geht.

„Ein Buch zum Wanderschuhe schnüren“ Markus Rottmann, Inspiration – Das Bergsportmagazin

„Es macht Lust auf den eigenen Aufbruch und weckt Respekt vor ihrem Durchhaltewillen und ihrem Vermögen, mit täglich neuen Unwägbarkeiten fertigzuwerden.“ FAZ

„Eine erfrischende Lektüre für alle Tage, an denen in den Bergen keine Sonne scheint!“ Bücherrundschau

„Sie zeigt, dass es manchmal nur etwas Mut und Selbstvertrauen braucht, um seine Träume zu verwirklichen.“ Running & Fitness

„Die Leistung dieser jungen Frau ringt einem Hochachtung ab.“ OÖ Nachrichten

Vorbemerkung der Autorin
Meine Erlebnisse auf der Via Alpina habe ich in Notizen und mit täglichen Sprachnachrichten an mich selbst festgehalten. Ich habe mit den Personen, die im Buch vorkommen, über die von mir niedergeschriebenen Erinnerungen gesprochen. Sie haben mir bestätigt, dass sie die Situationen ähnlich oder gleich erlebt haben. Und doch würde wohl jeder meine Wanderung anders beschreiben. In den vier Monaten ist viel mehr passiert, als ich auf den folgenden Seiten erzählen werde. Ich hoffe, dass ich einen authentischen und spannenden Einblick in meine Via-Alpina-Wanderung geben kann. Eine Expertin in diesem Bereich bin ich nicht – es war mein erstes Projekt dieser Art. Das Gleiche gilt auch fürs Schreiben dieses Buches.


Vorwort
Von Andri Ragettli, Bruder und Weltmeister Freeski Slopestyle
Christina, Gian und ich sind ein unschlagbares Team. Meine Schwester Christina, die Älteste von uns, hat unser Trio angeführt. Sie ist die Organisierte und hat wirklich immer alles unter Kontrolle. So war ihre Rolle schon früh klar, sie schaute auf mich und unseren Bruder Gian. Denn als ich ein Jahr alt war, verunfallte unser Vater tödlich. Deshalb arbeitete unsere Mama viel und war nicht immer zuhause. So entwickelte sich meine um sechs Jahre ältere Schwester zu meiner zweiten Mama.
Viele Jahre lang sind wir immer zu dritt auf den Berg gegangen, im Winter, um mit unseren neuen Freeskis über die Schanzen in Laax zu springen. Hin und wieder stürzte einer von uns. Christina brachte mich mehrmals nach Hause, legte mir einen kalten Lappen auf die Stirn, liess die Storen in meinem Zimmer herunter, damit es dunkel wurde und kontaktierte Mama. Manchmal, wenn es schlimmer war, brachte sie mich auch zum Arzt. Sie wurde dadurch schneller als wahrscheinlich üblich erwachsen und übernahm früh Verantwortung für unsere Familie. 
Wenn wir über Mittag allein zuhause waren, hat sie mir oft mein Lieblingsgericht gekocht: Omeletten. Ich bin ihr auch auf ewig dankbar, dass sie immer meine Aufsätze korrigiert hat und mir bei meinen Vorträgen geholfen hat. Denn das Fach Deutsch ist bis zum Ende des Gymnasiums mein schwächstes Fach geblieben. Einfach hatte Christina es mit mir nie. Ich war schon immer wild. Als ich ihre Schulkollegen auf dem Pausenplatz anspuckte, musste sie mich beschützen, damit ich nicht von den älteren Jungs verprügelt wurde. Aber es gab auch oft richtig heftige Streitereien zwischen uns. Es ist eine sehr schlechte Idee, sich mit Christina anzulegen. Einmal war sie so wütend auf mich, dass sie mich ganze zwei Wochen ignoriert hat. So etwas kann nur sie. Und trotzdem sind wir ein Dreamteam und unzertrennlich. 
Unsere Freizeit als Kinder gestaltete sich als ein einziger Wettkampf. Wer kann schneller die Piste hinunterfahren, wer kann länger die Luft anhalten oder wer kann weiter barfuss durch den Schnee laufen? Da ich der Jüngste bin, waren Gian und Christina in allem besser als ich. Verlieren war für keinen von uns eine Option, alle waren und sind wir besonders ehrgeizig. Ich wäre wohl nie so erfolgreich als Sportler, wäre ich nicht mit meinen beiden Geschwistern aufgewachsen. Das «du lahme Ente, jetzt mach mal„ beim Skifahren zu dritt hat mich angespornt und mich besser werden lassen. 
Auch jetzt noch schaut Christina, dass es allen gut geht, kommt regelmässig nach Hause und kocht hin und wieder für uns. Sie ist engagiert und gibt immer Vollgas – das zeichnet uns alle drei aus. Jeden in seinem Bereich. Ausserdem möchte sie alles perfekt machen – eine Perfektionistin, genau wie ich auch. Daher liebe ich es, dass ich mit ihr zusammenarbeiten darf, man kann sich zu 100 % auf sie verlassen. Sie ist nämlich nicht nur meine Schwester, sondern auch meine pr-Managerin. Und das eigentlich schon, seit ich zehn Jahre alt bin und sie 16. Sie erstellte meine Facebook-Fanseite, meine Insta-Seite, beantwortete meine ersten Interview-Anfragen und war immer total überzeugt, dass ich Profi werden würde. Sie glaubte an mich und half mir, meinen Weg zu gehen. So unterstützte sie mich auch im Sommer 2021 – denn sie schrieb gleich zwei Bücher. Mein Buch Attack your Dreams und 
ihres über die Via Alpina. 
Sie ging schon immer ihren eigenen Weg. Mit nur sechs Jahren entschied sie sich, nie mehr einen Bissen Fleisch zu essen. Als Vegetarierin war sie damals die Ausnahme. Mit meinem Bruder Gian machte ich mich jahrelang darüber lustig und hielt ihr gerne ein Stück Fleisch ins Gesicht, worauf sie sich geekelt abdrehte. Wie kann man nur Vegetarierin sein, dachte ich mir? 20 Jahre später bin ich es selbst und absolut überzeugt davon, dass es für mich, den Planeten und die Tiere besser ist. Vielleicht aber auch, weil sie mir jahrelang erklärte, wie ekelhaft es ist, dass ich tote Tiere esse. ;)
Christina war immer schon eine Abenteurerin, nachts barfuss aus dem Haus schleichen, im kalten Wasser baden. Sie ist tough. Ich kenne wenige Personen, die es so lange in Eiswasser aushalten. Oft endet dies noch heute in einem Wettkampf, wer es länger schafft, beispielsweise im Dorffluss kurz nach der Schneeschmelze. Wir pushen unsere Grenzen, wir wollen mehr, wir drei Geschwister stehen mitten im Leben – und geniessen es. Früh haben wir durch den schmerzlichen Schicksalsschlag gelernt, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Umso mehr habe ich mich gefreut, als Christina sich entschieden hat, ihren grossen Traum, die Via Alpina, Realität werden zu lassen. 
Als meine Schwester letztes Jahr erzählte, dass sie die rote Via-Alpina-Route absolvieren möchte, konnte ich nicht einschätzen, was das bedeutet. Als sie sagte, das seien über 2000 Kilometer zu Fuss, und zwar von Monaco nach Triest, dachte ich noch immer: “Naja, ich bin auch schon 100 Kilometer in zehn Stunden gejoggt.„ Nichts Verrücktes also, für jemanden aus meiner Familie. Erst als sie mittendrin war, wurde mir bewusst, wie körperlich und mental anstrengend ein solches Abenteuer ist! Jeden Tag um die 25 Kilometer, auf und ab und das über Monate. Allein. Ohne jemanden, der dich täglich motiviert, dir einen neuen Trainingsplan vorlegt oder dir am Abend den Rücken massiert und dir zur Stärkung Spaghetti kocht. Allein den Gefahren ausgesetzt von Schnee, Gewitter, wilden Tieren, Menschen und vor allem, allein mit den Gedanken. Nur du und deine Gedanken. Ich bin zwar selbst immer in den Bergen, aber mit Wandern und Bergsteigen habe ich bisher kaum Erfahrungen gemacht. Dafür weiss ich aber, wie es ist, sich in schwierigen Situationen durchzuschlagen, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Obwohl Christinas Via-Alpina-Projekt nicht auf Leistung ausgelegt war, so war es für sie trotzdem unumgänglich, an ihre Grenzen zu gehen – sei es körperlich, sei es in Bezug auf Ängste und Gefahren, denen sie ausgesetzt war, oder auch auf die emotionalen und mentalen “Ups & Downs„, die sie meistern musste.
Obwohl wir während ihrer Tour nicht ständig in Kontakt waren, war ich durch unsere Mama und meinen Bruder Gian immer bestens informiert. Nach zehn Wochen erzählte mir Gian, dass Christina eine Krise habe und mit dem Weitergehen kämpfe. Ich rief sie sofort an und packte alle meine Tipps aus, die ich in den letzten vier Jahren durchs viele Lesen und mein Training im mentalen Bereich anzuwenden gelernt hatte. Ein Zitat berührte mich besonders und ich hoffte, dass es auch sie motivieren würde. Ich schickte ihr einen Abschnitt aus dem Buch Living with the monks von Jesse Itzler: 
“Quitting because it’s easier is never the right decision. It only takes a minute to quit, but the moment will replay in your mind tomorrow, and the tomorrow after that, and the one after that.„
Ich wollte Christina daran erinnern, dass es immer einfacher ist, aufzugeben. Denn sobald man einmal aufgegeben hat, macht man es öfter und es wird zu einer Gewohnheit. Und wenn man aufgibt, bleibt man genau an diesem Ort stehen. Man kommt nicht weiter und es fühlt sich auch nicht besser an. Es ist jedoch wichtig, dass man seine grossen Ziele in kleine Teile bricht. Denn das grosse Ganze kann einen manchmal überfordern. Wenn man ein kleines Ziel nach dem anderen erreicht, dann kommt man (bei der Via Alpina wortwörtlich) Schritt für Schritt nach Monaco – bis ans Meer. Aber man muss einen flexiblen Plan haben. Da Christina und ich beide Kontrollfreaks sind, ist es für uns schwierig, wenn ein Plan nicht aufgeht. So war es bei ihr beim Start der Via Alpina wegen Corona und so ist es bei mir beispielsweise bei einer Verletzung. Das macht nervös. Genau in diesen Momenten ist es wichtig, nicht emotional zu werden. Ruhe zu bewahren und tief durchzuatmen. Dann gilt es die weiteren Wege zu prüfen. Als Perfektionisten haben wir immer einen Plan B bereit. Denn wenn wir Ragettlis ein Ziel haben, dann bringt uns nichts davon ab!


Juni 2020
Ich wusste es. Ich wusste genau, heute wird es heikel – heute wird es nicht gut laufen. Das Gefühl kam, als ich aufwachte und mich wie erschlagen fühlte. Die gesamte Nacht tanzten die Mäuse im Dach der kleinen Selbstversorgerhütte. Ich tat kein Auge zu und es regnete noch immer. Aber nicht nur darum hatte ich ein ungutes Gefühl. Im Juni die Schweizer Alpen zu überqueren ist eine grosse Herausforderung. Es liegt noch zu viel Schnee. Schon zig Schneefelder hatte ich gemeistert. Einige harmlos, andere gefährlich, wieder andere konnte ich irgendwie umgehen. Aber Corona gab mir keine andere Wahl, als in der Schweiz zu starten – lange bevor die Alpen ihr sattes Sommergrün erreicht hatten. Ich durfte mein Heimatland nicht verlassen, die Grenzen waren noch immer geschlossen. 

Und da war es. Das nächste Schneefeld. Der Regen verschlechterte meine Situation zusätzlich. Doch um vom Bergpass runterzukommen, musste ich über dieses Schneefeld absteigen. Ich tat, was ich immer tat, versuchte Schritt für Schritt meine Wanderschuhe in den Schnee zu rammen und Halt zu finden. “Du weisst, wie das geht„, sagte ich zu mir selbst. “Konzentrier dich, bald ist es geschafft.„ Schon die Hälfte des Schneefelds lag hinter mir, als ich mir eine kurze Verschnaufpause gönnen wollte. Der Regen lief mir über die Regenpelerine und die Landschaft war in triste Grautöne gehüllt. Aber ehe ich mich versah, glitt ich aus meinem Tritt und lag im Schnee. Ich rutschte und wurde immer schneller und schneller. Ich versuchte mit aller Kraft zu bremsen, meine Schuhe einzuhaken, mit den Stöcken irgendwie Halt zu finden. Zwecklos. Die grossen Gesteinsbrocken unterhalb des Schneefelds kamen näher und näher und mein Gedanke war: Schütze deinen Kopf. 
Ich rammte die Felsen und überschlug mich. Als ich endlich stoppte, sass ich im nassen Schutt. Sofort spürte ich Schmerz. Mein Fussknöchel. Meine Hand. Und doch, meinem Kopf ging es gut. Ich richtete mich auf und untersuchte die schmerzenden Stellen. Mein Fussknöchel tat mir am meisten weh, aber er sah ganz okay aus und nach ein bisschen hin- und herbewegen war ich mir sicher, dass nichts kaputtgegangen war. Meine Hand blutete, aber auch diese Schürfungen waren kaum der Rede wert. Dann noch ein kurzer Check des Knies – alles gut, es schwoll an, aber es hielt. Heisse Tränen liefen mir übers Gesicht. Aber was nützt es, allein auf 2290 Metern wegen Schmerzen zu heulen? Krampfhaft versuchte ich, meine Tränen zurückzuhalten und konzentrierte mich darauf, gleich weiterzuwandern. Aber die Tränen liefen mir dennoch unkontrolliert übers Gesicht. Wann hatte ich mich das letzte Mal so hilflos gefühlt? Eine vergleichbare Situation kam mir nicht in den Sinn.

Hier sieht mich niemand, keine Hilfe in Sicht. 

Ich atmete heftig und wollte schon weitergehen, doch ich konnte kaum etwas sehen. Mit dem Ärmel versuchte ich meine Tränen wegzuwischen. Und aus irgendeinem Grund machte ich ein Selfie – ein Foto von mir selbst, meines verheulten Gesichts. Ich denke, ich wollte den Moment – definitiv ein Tiefpunkt – festhalten. Für mich allein. Das Foto hat nie jemand gesehen. 

Ich schluchzte noch immer, tat mir selbst unendlich leid. Der Regen wurde nun heftiger – was für ein Timing. Meine Augen waren noch immer wässrig, mein Blick getrübt, sodass ich auf dem nassen Gras ein paar Meter weiter erneut ausrutschte und hinfiel. Dann gleich nochmal. Und nochmal. Bis ich so wütend auf die Welt und meine doofe Idee wurde, 2000 Kilometer zu wandern, dass ich nur noch losschreien wollte. Doch so bin ich nicht. “Heulen kannst du heute Abend, so viel du willst, aber jetzt ist dein einziger Job, heil ins Tal zu kommen.„
Noch 1500 Höhenmeter Abstieg lagen vor mir bis Prato Sornico im Maggiatal. Ich hatte mir selbst versprochen, die gesamte Via Alpina zu wandern. Ein Plan, an dem ich festhalten wollte. 

Es war Zeit, dass ich mich an unangenehme Momente gewöhnte.


Vorbereitung


Sommer 2017
Es war Juni 2017 und ich hatte soeben ein weiteres E-Book über Fernwanderungen zu Ende gelesen. Sarah Marquis, eine 49-jährige Schweizerin, erzählte, wie sie die Wüste Gobi allein durchquerte und sich der Hitze und Sandstürmen stellte. Ganz passend, ich war nämlich gerade in den Ferien in Namibia. Doch mit der Wüste konnte ich persönlich noch nie viel anfangen – sie reizt mich nicht und ich mag Hitze nicht. Seit längerem befasste ich mich nun mit dem Thema Weitwandern. Erst vor einigen Jahren hatte ich das Wandern wiederentdeckt. Ich brauchte damals unbedingt ein Sommerhobby, denn immer, wenn das Flimser Skigebiet, wo ich wohne, im Frühling schloss, wusste ich nicht mehr, was ich am Wochenende unternehmen sollte. Es gab Jahre, da verbrachte ich einen Teil meiner Sommerferien in Zermatt, um auf dem Gletscher skifahren zu können. Auf meinem Handy hatte ich immer eine Countdown-App, die mitzählte, wie viele Tage es noch dauerte, bis im Herbst der Skibetrieb wieder starten konnte. Der Sommer war mir zu heiss und musste überbrückt werden. 
Wandern empfand ich als langweilig. Etwas für alte Leute. Als Kind musste ich immer mitgehen. Meistens war es eine Qual, ausser wir wanderten zu diesem einen Bergrestaurant, wo es ein Trampolin gab. Die Einstellung, dass Wandern was für Langweiler ist, änderte ich erst mit etwa 20. Da entwickelte ich wieder Interesse an der Natur als faszinierender Schönheit und nicht als praktischem Spielplatz, um sich auszutoben. Als ich das erste Mal einen Klettersteig meisterte, merkte ich, dass Wandern durchaus spannend sein und für Adrenalinkicks sorgen kann. Später reizte mich das wilde Campieren am Fusse der heimischen Berge und so kam ich schlussendlich unverhofft, aber anscheinend unvermeidlich zum Mehrtageswandern. 
Ich fing an, Bücher über Abenteurer zu lesen, und besonders die Geschichte einer jungen Frau auf dem Pacific Crest Trail (kurz pct) inspirierte mich. Cheryl Strayed machte den amerikanischen Weitwanderweg mit ihrem Buch Wild zu einer der bekanntesten Weitwanderrouten der Welt. Als ich das Bücher-Universum nach Wandergeschichten durchsuchte, fand ich viele Erzählungen von sogenannten pct-Hikern. Ich wurde neugierig und, nachdem ich von meinen Namibia-Ferien wieder in meinem Schweizer Heimatdorf Flims angekommen war, machte ich den ersten Schritt und trat auf Facebook diversen pct-Foren bei. Der wohl berühmteste Weitwanderweg der Welt zieht sich über 4000 Kilometer von der mexikanischen Grenze im Süden der usa hoch bis zur kanadischen Grenze im Norden. Diese Wanderung dauert durchschnittlich fünf bis sechs Monate und da sie so viele berühmte Geschichten hervorgebracht hat, brechen mittlerweile jedes Jahr tausende Leute auf, um die ganze Westküste der Vereinigten Staaten abzulaufen. Das bedeutet aber auch, dass man nicht wirklich allein wandert – zumindest las ich das so in meinen Büchern. Auf den Streckenabschnitten des Pacific Crest Trail gibt es immer wieder Hikertowns. Das sind kleine Ortschaften entlang der Strecke, die auf die Wanderer ausgerichtet sind. Da gibt es Poststationen, wo man seine Nachschub-Pakete abholen kann, und auf die Bedürfnisse der wandernden Menschen zugeschnittene Hostels, Campingplätze oder Restaurants. Immer wieder begegnet man Gleichgesinnten an diesen Orten und es bilden sich “Trail-Families„. Manchmal schliessen sich einige mit gleichem Rhythmus und Wandertempo zusammen, um sich den Herausforderungen des Trails gemeinsam zu stellen. Für mich hörte sich das sehr beruhigend an, dass man zwar allein losgeht, aber, wenn man sich dafür entscheidet, auch immer in der Gruppe weitergehen könnte. In den pct-Foren war ich eine stille Mitleserin und sog alle Informationen auf. 

Seit Sommer 2017 konnte ich mich auch in der realen Welt regelmässig übers Wandern austauschen: Bei meiner Arbeit in der Marketingabteilung eines Bündner Skigebietes hatten wir ein neues Teammitglied bekommen: Domenica. Ich kannte sie zwar schon lange, aber wir freundeten uns erst bei der Arbeit wirklich an – denn uns verband etwas. Domenica hatte bereits Weitwander-Erfahrung gesammelt und lief im Sommer 2016 zwei Wochen lang auf dem berühmten Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Wir tauschten uns in den Arbeitspausen lebhaft aus und träumten beide vom Pacific Crest Trail. Über das Facebook-Forum lernten wir Stefan kennen, einen Bündner, der auf dem pct war, aber leider nach einigen Wochen wegen einer Fussverletzung abbrechen musste. Domenica und ich waren Feuer und Flamme und luden ihn zum Abendessen ein. Wir wollten alles wissen, erarbeiteten gemeinsam einen riesigen Fragenkatalog und trafen uns mit Stefan in Chur. Ich nahm sogar das iPad mit und wir stellten ihm eine Frage nach der anderen, während ich seine Antworten schriftlich festhielt. Stefan erzählte uns viel übers richtige Schuhwerk, darüber, wie man seinen Stuhlgang mit der ultraleichten Schaufel verbuddelt oder wie man mit Bären umgeht beziehungsweise sie nicht neugierig macht.


Das Wandervirus ist ausgebrochen!
Während ich mich in den folgenden Monaten regelmässig über den pct informierte, kamen bereits die ersten Zweifel auf. Länger als einen Monat wandert man durch die Wüste Kaliforniens. Wandern in der Wüste? Ich bin lieber in den Bergen unterwegs. Und dass es dort viele Klapperschlangen gibt, fand ich auch nicht gerade motivierend. 
In meiner Familie finden nur meine Mama und ich das Wandern faszinierend. Meine beiden jüngeren Brüder Gian und Andri sind absolute Adrenalin-Junkies. Wandern ist für sie, wie für mich zuvor auch, unendlich langweilig und mühsam. “Wieso machst du sowas freiwillig? Einen Berg hoch und auf der anderen Seite wieder runter?„, fragten sie mich manchmal. Auch wenn wir in dieser Hinsicht verschieden sind, haben wir alle ein grosses Bedürfnis nach Action und Abenteuer. Wir sind ein eingeschworenes Team. In meinem Freundeskreis kenne ich kaum jemanden, der noch immer eine so enge Beziehung zu seinen Geschwistern pflegt. 

Eines Tages rief mich mein Bruder Gian an. Er kenne jemanden, der gerade die Via Alpina wandere. “Die Via Alpina? Davon habe ich noch gar nie gehört!„, sagte ich. Es verwunderte mich etwas, dass Gian mit einem Wanderthema auf mich zukam. Er selbst hatte damit gar nichts am Hut. Andererseits hatte er viele verrückte und mutige Freunde und, wie ich später herausfand, ist die Via Alpina eine toughe Weitwanderung entlang des gesamten Alpenhauptkamms. Gian schickte mir den Bloglink seines Kollegen Pascal. Er kannte ihn vom Freeriden. Fortan las ich von Pascals Erlebnissen auf der Via Alpina über den Blog oder auch auf Instagram. Er war im April 2017 in Monaco gestartet und ich klinkte mich quasi mittendrin ein, um sein Abenteuer mitzuerleben. Die lange rote Via Alpina ist eine eher unbekannte Weitwanderung, die grüne Via-Alpina-Route kennen hingegen viele. Als ich anfing zu googeln, um einen Überblick zu erhalten, lernte ich Folgendes: Die Via-Alpina-Organisation hat vor über zwanzig Jahren angefangen, zusammenhängende Wege in den Alpen als Weitwanderungen zu vermarkten. “Discover the Alps„, so der Slogan. Es gibt in den verschiedenen Alpenländern separate Via-Alpina-Strecken, also beispielsweise eine französische Via Alpina (die blaue), eine schweizerische Via Alpina (die grüne), eine slowenische Via Alpina (die violette) und so weiter. Dann gibt es zusätzlich die Königsroute aller Via Alpinas – eben “die Rote„. Sie führt durch alle acht Alpenländer, vom Meer in Monaco ans Meer nach Triest – oder umgekehrt. So wandert man von Monaco durch Frankreich und Italien, kommt in die Schweiz, wandert ins Fürstentum Liechtenstein, weiter nach Deutschland, Italien und Österreich. Von dort nach Slowenien, bevor man bei Italien wieder ans Meer gelangt – immer dem Alpenhauptkamm folgend. Dabei verläuft die rote Route nicht auf den bereits bestehenden länderspezifischen Via Alpinas, sondern es wurde eine neue Routenführung gewählt. Das heisst, man durchwandert irgendwann die Schweiz, folgt aber nicht der Strecke der Schweizer Via Alpina (der grünen), sondern wandert eher im Süden der Schweiz. Der rote Streckenabschnitt durch die Schweiz dauert etwa fünf Wochen und ist technisch anspruchsvoller als die grüne Route, die nur drei Wochen dauert. 
Je mehr ich über die rote Via Alpina erfuhr, desto mehr Respekt entwickelte ich für Pascals Projekt. Um seine einmalige Erfahrung bei der mehrmaligen Alpenüberquerung beneidete ich ihn heimlich. Trotzdem plante ich weiter am pct-Projekt. Obwohl mir bei der Recherche zur Via Alpina warm ums Herz wurde, war mir das eine Nummer zu gross. Der pct in Amerika, mit der guten Infrastruktur für Wanderer und den vielen Menschen, die jährlich starten, gab mir ein grösseres Sicherheitsgefühl. Ich recherchierte weiter.

Im August 2017 machte ich meine erste kleinere Weitwanderung. Obwohl ich fast jedes Wochenende wandern war, hatte ich noch nie alleine im Zelt übernachtet. Nun war ich stolze Besitzerin eines neuen msr-Hubba-nx-Einzelzelts und fest entschlossen, es sogleich zu testen: auf dem Bernina Trek im Engadin, der mit 140 Kilometern Länge, 7 Tagen, 8000 Höhenmetern und mit Zwischenstopps in sechs Berghütten das perfekte erste Wanderabenteuer zu sein schien. Die Route wurde zwar als Hüttentour vermarktet, ich entschied mich aber, im Zelt zu schlafen – beruhigt, dass im Notfall immer eine Unterkunft in der Nähe wäre. Mein Ziel auf dieser Tour war es, herauszufinden, wie ich allein in der Natur klarkomme. 

In meinen Rucksack packte ich viel zu viel. Neben Zelt, Matte und Schlafsack stopfte ich auch einen kleinen Gaskocher, Kleidung (mehr als ich brauchte) und jede Menge Essen in den 50-Liter-Rucksack, der fast aus seinen Nähten platzte, als ich endlich fertig war. 
Meine Mama, meine grösste Unterstützung bei allem, was ich tat, war mindestens genauso aufgeregt wie ich. Auch sie ist eine Abenteurerin, ist in ferne Länder gereist und motiviert mich immer wieder, meine Träume zu realisieren. Manchmal weiss sie sogar besser, was ich will, als ich zugeben möchte. 
Als ich etwa 14 war, trainierte ich jede freie Minute im Snowpark. Das heisst, ich sprang mit Skiern über Schanzen und versuchte Tricks wie den “ThreeSixty„ (eine ganze Drehung), den “Backflip„ (einen Rückwärtssalto) und viele weitere. Jedes Jahr gab es in meinem Heimskigebiet einen Wettkampf für die internationalen Freeskier. Die besten der Welt wurden eingeladen und Normalos wie ich durften mitmachen und konnten sich fürs Finale qualifizieren. Etwa zwei Wochen vor dem Wettkampf sagte meine Mama mir, dass sie mich angemeldet habe, und dass ich – falls ich nicht teilnehmen wollte – ihr das Startgeld zurückzahlen müsste. Was sich wie eine Erpressung anhörte, war ein Schubs, meinen unausgesprochenen Traum zu realisieren. Obwohl sie meine Brüder und mich allein grosszog, kamen unsere Träume und Ziele nie zu kurz. Auch wenn sie zwischenzeitlich fast als Taxiunternehmen hätte durchgehen können. Stets musste sie einen von uns in irgendein Training fahren. 
 Bei meiner ersten kleineren Weitwanderung wollte sie mich unbedingt an den Startpunkt bringen. Als ich den Rucksack in ihr Auto lud, runzelte sie die Stirn, denn ich konnte ihn kaum hochheben. 

Obwohl es schon Ende August war und der Sommer sich dem Ende zuneigte, war das Wetter fantastisch und zeigte sich von seiner besten Seite. In Madulain zog ich meine klobigen Bergschuhe an – sogar steigeisenfest waren sie. Ich hievte den Rucksack auf den Rücken und war bereit zum Start. Mama machte noch ein Foto, es gab eine Umarmung und schon wanderte ich los. 
Nach nur wenigen Schritten merkte ich, dass der Rucksack nicht gut sass. Ich konnte meinen Kopf kaum aufrichten und deshalb nicht nach oben schauen, denn der Rucksack war so hoch gepackt, dass er über meinen Kopf hinausragte. Da es zu Beginn den Berg hochging, hätte ich ihn am liebsten abgesetzt und gleich an Ort und Stelle die Riemen angepasst. Doch meine Mama schaute mir nervös hinterher und ich wollte sie nicht verunsichern. Also ging ich erstmal weiter, Schritt für Schritt, bevor ich das Problem hinter der ersten Baumgruppe zu lösen versuchte. 

Der Bernina Trek lehrte mich in den folgenden sieben Tagen vieles. Ich wusste nun, dass ich gerne allein in der Natur bin, gerne draussen schlafe. Aber auch, dass ich damals zu massives Schuhwerk trug und mein Rucksack viel zu schwer war. Er wog 20 Kilogramm und etwa ein Drittel der eingepackten Sachen brauchte ich während der Wanderung im Engadin nicht – so beispielsweise meine schöne Emaille-Tasse mit dem kitschigen Trendspruch On an Adventure. Das Schuhwerk bereitete mir jedoch die grössten Schmerzen: Weil es so warm war, schwitzte ich in den Schuhen, die kaum eine Lüftung hatten. Deshalb bildeten sich neun Blasen, die von Tag zu Tag schlimmer wurden, bis ich es nicht mehr aushielt und schliesslich in den Wandersandalen zum Zielort des Bernina Treks lief. In Poschiavo angekommen, konnte ich kaum noch gehen, aber ich zog es durch. Für mich war es ein Meilenstein und nach meiner ersten längeren Tour fühlte ich mich nun der Weitwander-Community etwas mehr zugehörig. Auch wenn es nur sieben Tage waren, endlich konnte ich mitreden. 

Das Abenteuer von Pascal verfolgte ich immer noch voller Neugier. Er war mittlerweile in Triest am Meer angekommen, wie ich auf seinem Blog las. Seine Berichte waren sehr eindrücklich. Die Bilder der Berge, der steilen Pässe, sie waren wunderschön und die Landschaft so ursprünglich und einsam. Aber als Mann der Berge hielt er sich bei den Beschreibungen auf seinem Blog meist kurz. Teilweise musste die Via Alpina aufgrund von Schnee für ihn eine sehr grosse Herausforderung gewesen sein – so viel hatte ich jedenfalls erfahren. 
Für mich lag die Via Alpina zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne und doch wurde mir klar, dass ich nicht nach Amerika wollte. Die Idee, in ein Flugzeug zu steigen, um Amerika zu durchwandern, wirkte in meinen Augen immer sinnloser. Ich wohne in einer der schönsten Gegenden der Welt. Die Schweiz ist ein Paradies und die Alpen sind noch viel grösser als nur die Berge in der Schweiz – einen Bruchteil davon hatte ich schon erkunden können. Selbst wenn ich mich auf Europa beschränken würde, gäbe es eine Vielzahl an Weitwanderrouten, die einfach viel weniger Bekanntheit geniessen als der pct. Wieso so weit reisen, wenn das Schöne so nah liegt? Wortwörtlich vor der Haustüre. Ich entschied mich, mein persönliches Weitwander-Projekt auf meinem Heimatkontinent zu planen. 

Weitwanderung: Ja! pct: Nein. 

Doch dann wurde meine Arbeit als pr- & Kommunikationsangestellte für eine Tourismusdestination in Graubünden immer intensiver. Auch mein Nebenjob als pr-Managerin von Andri nahm Fahrt auf. Er wurde immer bekannter und so häuften sich die Interviewanfragen im E-Mail-Postfach. Die Arbeit machte mir so viel Spass, dass sich mein Fokus veränderte und ich mich einer weiteren Ausbildung widmete. Den Titel als eidgenössische Marketingfachfrau hatte ich schon, aber ich beschloss, mein Wissen auch im Bereich pr zu vertiefen. Ich arbeitete 100% bei meinem Hauptarbeitgeber, koordinierte morgens und abends die Termine für Andri und am Wochenende ging ich nach Zürich in die Schule, um mich auf die eidgenössischen pr-Fachprüfungen vorzubereiten. Mir blieb maximal ein Tag Freizeit und somit schob ich das Thema Weitwanderung auf die Seite. Ich hatte keine Zeit, mich zu informieren oder etwas zu planen. Aber mir war klar, dass der Moment für die Wanderung noch kommen würde. 

Im Frühling 2019 kam ich an einen Punkt, wo ich realisierte, dass sich etwas ändern musste. Ich versuchte mich gegen den Stress, den Druck und die Schnelligkeit meines Lebens zu wehren – ohne Erfolg. Mir wurde alles zu viel. Ich war überall gleichzeitig und nirgends richtig. An meinem einzigen freien Tag pro Woche schmiss ich den Haushalt, bezahlte Rechnungen, besuchte meine Familie, lernte und versuchte jeweils eine Bergtour zu unternehmen, um meine Batterien aufzuladen. Das funktionierte aber nicht. Deshalb plante ich mit meinem Freund Christian eine grosse Reise nach Kanada. Wir wollten beide abschalten. Er hatte sein Masterstudium abgeschlossen und ich wollte Überstunden abbauen und den Stress hinter mir lassen. Nur die Schule lief wie gewohnt weiter. Da ich den Unterricht “schwänzte„, musste ich in den Ferien für die pr-Prüfungen lernen. Fünf Wochen reisten wir durch Westkanada, wanderten und fuhren Kajak in der grenzenlosen Wildnis. Zu Beginn der Reise war ich eine Woche so krank, dass ich im schäbigen Hostel in Vancouver bleiben musste, während Christian allein die Stadt erkundete. Ich war genervt von meinem Körper. Wieso machte er genau jetzt schlapp? Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich erholte und merkte, dass meine Batterien sich nicht mehr so leicht aufluden, dabei war ich doch erst 26. 


Ich muss ausbrechen aus dem Hamsterrad!
Im Juni 2019 kamen wir zunächst erholt und glücklich zurück in die Schweiz. Allerdings ging alles weiter wie gewohnt und schon nach wenigen Wochen stand mir das Wasser wieder bis zum Hals. Doch meine Arbeit für die Destination machte sich bezahlt und ich wurde zur Teamleiterin der pr- & Kommunikationsabteilung befördert. Darüber freute ich mich sehr, wusste aber, dass es eigentlich kein guter Zeitpunkt war.
Im Herbst 2019, noch vor den letzten Prüfungen meiner Ausbildung, entschied ich mich, meinen Job zu kündigen, um das Projekt Weitwanderung nun endlich anzugehen. Ich war reif für eine richtige Auszeit ohne Rückkehr ins Bekannte. Die Zeit verging wie im Flug. Mein letzter Arbeitstag und die Abschlussprüfungen fielen terminlich fast zusammen und rauschten regelrecht an mir vorbei. 

Nur zwei Tage später reisten meine Mama und ich nach Nepal. Nach der anstrengenden Zeit wollten wir gemeinsam in den Bergen Nepals nach Erholung suchen. Kein Netz – all die täglichen “To-dos„ waren weit weg. Wir trekkten für fast drei Wochen im Everest-Gebiet. Es war eine besondere und neue Erfahrung. Erstens konnte ich drei Wochen nicht duschen und zweitens war ich erstmals in richtig hohem Gebirge. Wir wanderten über 5500 Meter hohe Pässe und beide kämpften wir fast täglich gegen die Übelkeit, die die Höhenkrankheit mit sich brachte. Gegen Schluss der Reise erlebte ich einen Aufschwung. Mit der Hilfe von einheimischen Sherpas – unser Schweizer Bergführer musste nämlich umkehren – schaffte ich es von 5100 Metern über felsiges Gelände und Gletscherspalten bis auf den 6200 Meter hohen Island-Peak-Gipfel. Wir waren am Morgen zu zehnt gestartet und zu viert standen wir schlussendlich auf dem Gipfel. Das zeigte mir, dass mein Körper trotz fast zweiwöchiger Schwächung ziemlich viel zu leisten vermochte, wenn es darauf ankam. Meine Mama verfolgte mein Abenteuer von der Hütte aus.
Zurück in der Schweiz ging ich meinem geheimen Masterplan nach. Ich arbeitete während der Wintersaison als Skilehrerin in meinem Heimatort Flims, um mich abends meinen Abenteuerplänen widmen zu können. Als Skilehrerin arbeitet man selten mehr als sechs Stunden am Tag – was für ein befreiendes Gefühl. Das ermöglichte mir viel Freizeit. Trotzdem war für mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, was für ein Abenteuer es im Sommer 2020 werden sollte. Plan a war eine Weitwanderung – aber welche? – und Plan b ein Sommer auf einer Berghütte. Ich liess mir diese beiden Optionen vorerst offen und genoss den Winter. In meine Pläne weihte ich kaum jemanden ein. Lange überlegte ich hin und her, was ich wohl lieber machen wollte. 
Irgendwann machte es einfach “Klick„. Bei einem Abendessen mit Bekannten wurde ich gefragt, was ich denn im Sommer arbeiten würde. Ohne gross darüber nachzudenken erzählte ich, dass ich die Weitwanderung “Via Alpina„ versuchen wollte. Innerlich wusste ich, dass der Hüttensommer mir nicht weglaufen würde. Den konnte ich auch noch mit 60 Jahren machen, eine Weitwanderung vielleicht nicht. Zuhause sagte Christian: “Hey, mir hast du gar nie gesagt, dass es nun die Via Alpina wird! Wann hast du dich entschieden und warum hast du es mir nicht gesagt?» Diese Fragen konnte ich nicht beantworten. Ich wusste es selbst nicht so genau. Dann stand es also fest – und ohne mir nochmals gross Gedanken zu machen, wollte ich trotz aller Ängste und grösstem Respekt die rote Via Alpina versuchen. 
Wenn schon, denn schon. 

Tagsüber trainierte ich für die Examen einer Zusatz-Skilehrerausbildung und coachte Gäste aller Levels zu einer besseren Skitechnik. Abends ging ich als mittlerweile 27-Jährige nicht mehr auf Partys, etwas unüblich für mein Alter, sondern plante die Weitwanderung. Ich begann meine Route auf der Karte zu skizzieren, lud gps-Daten auf mein Navigationsgerät herunter und markierte Dörfer mit Supermärkten für Verpflegungsnachschub. 
Bis zum 13. März 2020. 


Blödes Coronavirus: Fällt der Traum ins Wasser?
Dann kommt der Coronavirus-Lockdown und ich bin von einem Tag auf den anderen ohne Job, weil auch der Skiunterricht ausfällt. Meine sichere Anstellung habe ich schon im Herbst aufgegeben und ich weiss auch nicht, ob ich diesen Sommer überhaupt aufbrechen kann. Am Anfang mache ich mir keine Sorgen, aber als die ersten Stimmen in den Medien eine angespannte Situation für über zwei Jahre prophezeien, wird mir mulmig zu Mute und die Lust, eine Wanderung zu planen, die vielleicht niemals stattfinden wird, ist verflogen. Wenn man nach mehr als fünf Jahren einen sicheren Job mit regelmässigem Einkommen gekündigt und viel Mut aufgebracht hat, um endlich seinen grossen Traum Realität werden zu lassen, dann belastet diese Planlosigkeit. Zuerst kann ich mich noch mit Freelance-Aufträgen über Wasser halten und auch meine nebenberufliche Arbeit für meinen Bruder Andri hält mich stets beschäftigt. Doch irgendwann wird es Zeit, sich mit der Zukunft dieses Schlamassels zu befassen. Eine Besserung der Situation ist noch nicht in Sichtweite. Doch als ich wieder beginne nach Jobs zu suchen, kommen die ersten Aussagen der Schweizer Regierung zu den geplanten Lockerungen der Corona-Massnahmen. Da habe ich bereits ein Angebot für eine interessante Stelle bekommen. Wieder werde ich unsicher: Soll ich den Wanderplan umsetzen oder doch lieber hierbleiben? Auf Nummer sicher gehen? 
Ich entscheide mich fürs Wandern. 

Die Grenzen in Europa sollen schon im Juni wieder geöffnet werden. Glücklicherweise stosse ich bei meinem zukünftigen Arbeitgeber mit meinem Problem, dass ich nun doch noch nicht arbeiten will, auf Verständnis und kann im Mai 2020 den perfekten Deal abschliessen: Festanstellung ab November 2020, sobald ich von der Via Alpina zurück bin. Jackpot. Nachdem das geregelt ist, kehre ich nun mit Vollgas zur Planung zurück, die ich aus Frust zur Seite gelegt habe. Die ursprünglich angedachte Route von Monaco nach Triest ist leider nicht machbar, aber ich habe eine neue Idee. Und zwar werde ich einfach in der Schweiz losgehen, und wenn ich diese durchquert habe, sind weitere fünf bis sechs Wochen vorbei und die Grenzen mit grosser Wahrscheinlichkeit wieder offen. 

In den letzten Tagen vor meinem Aufbruch beginne ich, alle meine Ausrüstungsgegenstände zu wiegen. Ich habe schon davon gehört, dass es viele, die auf Weitwanderungen gehen, so machen. Das finde ich zwar etwas doof, doch irgendwann kommen Zweifel an meinem Schlafsystem auf. Also wiege ich jeden Gegenstand und siehe da, mein Schlafsystem ist tatsächlich überdurchschnittlich schwer im Vergleich zu meinem übrigen Wander-Hab-und-Gut. Zum Schlafsystem gehören eine Matte, der Schlafsack und das Zelt. Auch mein Tragesystem – also der Rucksack – ist etwas zu schwer. Da ich eher klein bin und besonders gut auf das Rucksack-Gesamtgewicht achten muss, entschliesse ich mich kurzerhand, mir einen neuen Rucksack und Schlafsack zu leisten. Obwohl ich eine komplette Ausrüstung besitze, ist diese einfach nicht fürs Weitwandern gedacht, sondern für kürzere Mehrtagestouren. Mein Material muss unbedingt leichter werden! Das Schlafsack-Problem löst sich schnell. Korrekt ausgedrückt handelt es sich aber gar nicht mehr um einen Schlafsack, sondern um einen Quilt. Nie hätte ich mir zugetraut, diesen Kompromiss einzugehen und mir einen Quilt anzuschaffen, aber das ist die beste und einfachste Lösung, um Gewicht zu sparen. Ein Quilt ist ein Schlafsack, der am Rücken offen ist. Er ist mehr wie eine Decke und mit Gummizügen kann man diesen Quilt um die Matte fixieren, damit keine kalte Luft hineinkommt. Man liegt also einfach auf der nackten Matte. Die Theorie dahinter ist, dass die Daunenfedern, auf welchen man in einem normalen Schlafsack liegt, aufgrund der Kompression durch das eigene Körpergewicht sowieso keine Wärme mehr speichern können.
Der Rucksack ist eine neuere und leichtere Version meines alten Rucksacks. Er ist breiter als lang, was ideal für mich ist. Noch wichtiger: Er überragt nicht meinen Kopf. 
Mit sieben Kilo Basisgewicht bin ich nun bereit für mein Abenteuer auf der Via Alpina.