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170 Jahre Kletterkunst

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Vertical — Inhalt

Das Standardwerk zu 170 Jahren Kletterkunst

Die moderne Kletterkunst begann auf den Britischen Inseln und im Elbsandsteingebirge; weiterentwickelt hat man sie vor allem im Kaisergebirge, in den Dolomiten und im Yosemite Valley; perfektioniert wird sie heute u.a. in Norwegen, Tschechien und Spanien. Reinhold und Simon Messner zeichnen den Bogen der Entwicklung nach – vom III. bis zum XI. Grad, von Albert F. Mummery am Grépon über Alexander Huber in der „Bellavista“ an der Westlichen Zinne bis hin zu den heutigen Stars, die das Sportklettern prägen und bereichern: Athleten wie Adam Ondra, Chris Sharma und Hansjörg Auer, Tommy Caldwell und Alex Honnold. Eine faszinierende Zeitreise.

€ 17,00 [D], € 17,50 [A]
Erschienen am 02.10.2018
432 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40480-8
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€ 14,99 [D], € 14,99 [A]
Erschienen am 02.10.2018
432 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99180-3
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Leseprobe zu „Vertical“

170 Jahre Kletterkunst


Der Verzicht auf Bohrhaken und die Rückkehr zu den Werten des Freikletterns kennzeichnen die Aktivitäten Reinhold Messners.

Heinz Mariacher

 
Die moderne Kletterkunst – hervorgegangen aus dem naiven Klettern im Fels – wurde innerhalb eines Jahrhunderts ins fast Unglaubliche gesteigert. Das Klettern am Fels begann auf den Britischen Inseln und im Elbsandsteingebirge; im Kaisergebirge, in den Dolomiten und im Yosemite Valley in den USA wurde es weiterentwickelt, bis keine Felswand mehr unmöglich schien. Mit der Philosophie des »Clean [...]

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170 Jahre Kletterkunst


Der Verzicht auf Bohrhaken und die Rückkehr zu den Werten des Freikletterns kennzeichnen die Aktivitäten Reinhold Messners.

Heinz Mariacher

 
Die moderne Kletterkunst – hervorgegangen aus dem naiven Klettern im Fels – wurde innerhalb eines Jahrhunderts ins fast Unglaubliche gesteigert. Das Klettern am Fels begann auf den Britischen Inseln und im Elbsandsteingebirge; im Kaisergebirge, in den Dolomiten und im Yosemite Valley in den USA wurde es weiterentwickelt, bis keine Felswand mehr unmöglich schien. Mit der Philosophie des „Clean Climbing“, die in Kalifornien entstanden ist, wuchs jene weltweite Bewegung von Freikletterern, die den Weg der Steigerung weitergehen werden: schwieriger, schneller, sicherer. Mit möglichst perfekter Absicherung wird Freiklettern endgültig zur Kunst in der vertikalen Arena. Heute ist das Klettern in der Halle eine neue Sportdisziplin und globale Freizeitbeschäftigung zugleich. Im Jahr 2020 wird „Sport Climbing“ neben Baseball, Karate, Surfen und Skateboarding zur Olympische Disziplin werden.

 Aber auch das Klettern im Fels wird immer weiter verfeinert. An künstlichen Strukturen wird trainiert, werden Weltmeisterschaften ausgetragen. In großen Felswänden wird dieses Klettern unter größtmöglicher Exposition zur Kunst, und überall, wo es Felsen gibt, wird geklettert, weltweit. Ist es Spiel? Sport? Kunst?

 Ich selbst habe – vor mehr als sechzig Jahren – mit dem Felsklettern begonnen, den Umbruch vom Hakenklettern zum Freiklettern in den Alpen mitbestimmt. In diesem Buch nun zeichnen wir die Entwicklung des Felskletterns auf, vom III. über den VII. bis zum XII. Grad. Unser Interesse gilt aber weniger der Historie des Felskletterns als vielmehr der Steigerung der Kletterkunst im Gebirge – von den Anfängen als Spiel bis zum Klettern als Wettkampfsport, das heute die Szene beflügelt. Indem wir die Neuerer von ihren jeweiligen Grenzwerten erzählen lassen, nehmen wir die Leser mit zu einem aufregenden Stafettenlauf, der mit dem Klettern im Elbsandsteingebirge beginnt und heute in den großen Wänden der Welt fortgeführt wird.

 

Weil ich die Leistungen der heutigen Spitzenkletterer zwar bewundern, aber nicht mehr nachempfinden kann, überlasse ich meinem Sohn Simon das letzte Kapitel. Es gilt auch, ihre Ideen und Emotionen einzufangen. Geht es doch vor allem um das heutige Verhältnis der jungen Grenzgänger zu ihren Herausforderungen, Projekten, Wegen – beim Versuch, das Unmögliche von gestern möglich zu machen.

Reinhold Messner



Lange vor seiner Karriere als Expeditionist hat Reinhold Messner als Alpenbergsteiger und -kletterer durch seine Unternehmungen ebenfalls entwicklungsbedeutsame Zeichen gesetzt: Und zwar dies sehr früh schon in einer Phase des kaum noch angekränkelt wirkenden technokratischen Alpinismus im Sinne einer Rückbesinnung auf klassische, ja mitunter hin zum archaischen tendierende Formen des Bergsteigens.

Elmar Landes



Aussichten Jenseits der Vernunft


Die erste Ausgabe dieses Buchs habe ich Alexander Huber gewidmet, weil ich ihn zu seiner Zeit für den kreativsten Kletterer weltweit hielt. Er setzte mit seiner doppelten Erstbegehung von „Bellavista“, mit dem Zinnen-Dach und vor allem mit der Solo-Begehung der Zinnen-Direttissima Gefahr, Risiko und Wagemut neu in Beziehung zueinander. Durch die Tat. Alexander Huber ist damit und durch seine Aussagen zum Sprecher einer jungen Generation von Kletterern geworden. Er hat die Exposition der eigenen Person wieder in den Mittelpunkt des Geschehens gestellt, so wie es Paul Preuß 100 Jahre zuvor und Walter Bonatti vor 60 Jahren getan haben. Inzwischen gibt es zahlreiche Neuerer und sie kommen aus verschiedenen Schulen. Ihnen allen bleibt das Transzendieren der eigenen Grenze wichtig. Und die bleibt der Katalysator beim Klettern, denn mit dem Vertrauten glauben wir uns nicht auseinandersetzen zu müssen. Trenddesigner und Konsumideologen gehen einen anderen Weg. Aber nicht, was auf dem enger werdenden Markt Aufmerksamkeit verspricht, zählt beim Klettern, sondern Kreativität, Schnellkraft und Instinkt in kritischen Situationen. Ich war anderen Kletterern nie neidisch um ihren Ruhm oder das Geld, das höchstens dazu reicht, die nächste Tour zu finanzieren. Wenn schon, bin ich neidisch auf ihre Kunst, in mir unzugängliche Dimensionen zu klettern.

Lynn Hill, die großartige Amerikanerin, die im Wettkampf- und Freiklettern in die Domäne der Männer einbrach, erkennt die Leistungen der Männer trotzdem an, wenn sie auf Highlights der letzten Jahre verweist: „Die Huber-Brüder wiederholten 1996 in völlig freier Begehung die ›Salathé‹, auf die einige Jahre später eine fast perfekte Onsight-Begehung der Route von Yuji Hirajama folgte. 1998 durchstiegen sie ›El Niño‹ am El Capitan frei bis auf einen einzigen Abschnitt.“ Eindrucksvoll auch der junge englische Kletterer Leo Houlding, dem fast ein Onsight-Durchstieg davon gelang, Todd Skinner und einige Freunde, die mehr als 60 Tage damit zubrachten, eine Route am Trango Tower frei zu klettern, Yuji Hirajama, der die erste Onsight-Besteigung im Grad 8c (5.14b) kletterte! Katie Brown gelang ihre erste 5.14a, der Spanierin Josune Bereciartu 8c (5.14b). Heute ist es die 13 Jahre junge US-Amerikanerin Ashima Shiraishi, der als erste Frau weltweit eine Felsroute mit der Bewertung 9a+ gelingt. Dem Tschechen Adam Ondra glückt schließlich sein „Project Hard“ in Norwegen, welches er erstmals mit 9c bewertet und Alex Honnold wagt eine Free-Solo-Begehung des „Freerider“ am El Capitan. Eine neue Dimension. Stefan Glowacz war es, der sich 2001 mit seiner Trilogie „Des Kaisers neue Kleider“, „Silbergeier“ und „The End of Silence“ – alle 1994 erstbegangen – in der Kletterszene zurückmeldete. Glowacz hat Erfahrung, Können und Talent. Er hat es aber nicht nötig, die Frage um Top-Erstbegehungen mit Moralfragen zu verbinden. Felswände sind keine Institutionen, in denen moralische Fragen dominieren, sie sind Teil der Natur und jenseits von Moral und Vernunft existent. Immer aber, wenn einige wenige den allgemein zugänglichen Weg verlassen, kommen andere mit ihrer Moral. Sie werden auch morgen versuchen, die Ausbrecher auf ihr Niveau herunterzuholen.

Ich lernte verstehen, dass die Berge, die wir bezwingen, nicht die am Horizont sind, sondern diejenigen in uns: Berge der Furcht, der Schwäche und der Unkenntnis. Und wenn es uns gelingt, ganz oben zu stehen, sind wir tatsächlich auf dem Gipfel der Welt.

Royal Robbins

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Alexander Huber bei seiner Free-Solo-Begehung der Zinnen-Direttissima

 

Für Visionäre gibt es immer neue Wege, und diese sind nicht ident wiederholbar. Sie entstehen beim Klettern und sind weder mit Methoden der Naturwissenschaft noch mit Moral zu beschreiben. Messen kann man sie auch nicht. Niemand wird je eine Tour im Fels auf dieselbe Art wiederholen, wie sie Mummery, Preuß, Vinatzer, Rebitsch, Huber, Honnold erstbegangen haben. Es wird so vieles immerzu anders, vor allem unser Blickwinkel auf uns selbst.

Leo Houlding hat, damals gerade volljährig geworden, am Beispiel El Cap ausgedrückt, wie die Entwicklung der Kletterkunst von der Einstellung in unseren Köpfen abhängt: „Zu Zeiten Warren Hardings war der El Cap ein unbestiegener Felsen. Er markierte eine Grenze, die Vorstellung des Kletterbaren. Harding erkannte, dass es nicht unmöglich war, ihn zu besteigen, wie viele glaubten. Er wagte sich ins unkartierte Gelände. Er hielt es für notwendig, die Expeditionstechnik anzuwenden. Im Verlauf eines halben Jahres verbrachte er 45 Tage damit, die dem Aussehen nach leichteste Route am Fels zu finden. Sein Führer war sein durch lange Erfahrung geschulter Blick. Er fixierte eine 1000 Meter lange ›Rettungsleine‹ von unten nach oben, und so entstand eine der berühmtesten Felsrouten der Welt: ›The Nose‹. Harding tat damit den ersten Schritt auf der Bigwall-Leiter.


In Großbritannien erlebt das Risikoklettern eine Wiedergeburt. Ich weiß, dass es in Norwegen, Schweden und Teilen der USA talentierte, begeisterte Trad-Kletterer gibt, aber sie sind in der Minderzahl. In meiner Zeit als Kletterer würde ich gern das Trad-Klettern propagieren. Einige von uns haben vergessen, dass Klettern nicht nur eine physische und geistige Übung ist; sie ist auch eine spirituelle.

Leo Houlding

 

Als Royal Robbins 1962 zum El Cap hinaufschaute, sah er genau das Gleiche wie Harding. Doch er sah es völlig anders. Mit Tom Frost, Yvon Chouinard und Chuck Pratt zeigte er den Weiterweg, indem er mit Hilfsmitteln die Salathé-Wand binnen sechs Tagen in einem Zug kletterte, und zwar als geschlossene, unabhängige Einheit und ohne eine fixierte Rettungsleine. Er machte den nächsten Schritt. 1975 stand Jim Bridwell an der gleichen Stelle und schaute sich das Gleiche an. Er sah eine Felswand, die er mit Hilfsmitteln in einem Tag ersteigen konnte. 1988 sah Todd Skinner eine Felswand, die man frei klettern konnte, wenn man eine ähnliche Belagerungstaktik anwandte wie Harding 30 Jahre zuvor bei seiner Besteigung mit Hilfsmitteln. 1993 sah Lynn Hill eine Felswand, die sie 1994 an einem Tag frei klettern konnte. 1998 schließlich, als Patch und ich dort standen und zum El Cap hinaufschauten, sahen wir eine Felswand, die wir auf einer schweren Route onsight frei klettern konnten, ohne die geringste Erfahrung im Bigwall-Klettern zu haben. Wir verwendeten fünf Tage und vier Nächte darauf, die zweite Begehung einer freien Route zu machen, die von den weltweit geschätzten Huber-Brüdern kurz zuvor am East Buttress eröffnet worden war … Abgesehen von zwei kleinen Stürzen kletterte ich die 30 Seillängen lange freie Version mit dem Schwierigkeitsgrad 5.13c auf Anhieb: also onsight.“


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Kathleen Brown

 

Der Fortschritt beim Felsklettern liegt zuallererst in der Veränderung der Art, in der wir Felswände sehen. Was wir zu klettern gewillt sind und der Stil, in dem wir zu klettern fähig sind, hängt davon ab, wie wir beides sehen: uns selbst und die Wand. Diese Wahrnehmung ist der Schlüssel zur Weiterentwicklung im Felsklettern. Ich will mich dabei auf das Klettern im Fels konzentrieren. Das Klettern an häuslichen Wänden – mit Griffen und Tritten versehen – ist etwas anderes. Es ist ein großartiger Sport, kann das Training unterstützen, als Wettkampf herhalten, mehr nicht. Ich hoffe trotzdem, mit diesem Buch nicht gegen den Wortlaut gelesen zu werden und die Kletterkunst damit zu bereichern. Vielleicht gelingt es auch, das Trad-Klettern, das im Schrumpfen ist, zu erzählen. Es darf nicht untergehen und damit vergessen werden.


METAMORPHOSEN DES UNMÖGLICHEN

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Das Elbsandsteingebirge von der Bastei aus gesehen

 

Mit den Idealen von Paul Preuß sympathisiere ich seit Jahren. Doch hätte ich mich gewaltig einschränken müssen, wenn ich all seinen Thesen nachgekommen wäre. So wie der Sportkletterer seinen Bohrhaken benötigt, war meine Krücke oftmals der Normalhaken. Bei meiner ersten Erstbegehung (1969) setzte ich sogar zwölf Bohrhaken ein. Gott sei Dank erkannte ich sogleich den Unsinn, der derartigen Unternehmungen innewohnt.

Albert Precht



Das Spiel über dem Abgrund

Das Felsklettern ist heute eine globale Erscheinung, obwohl es beim ehrwürdigen British Alpine Club vor 140 Jahren noch als Frevel galt. Und geklettert wird frei und gut gesichert: in Südafrika, Korea, Japan, in Mexiko, Chile, in Europa vor allem und im Yosemite Valley in den USA. In kaum einem anderen Teil der Welt hat die Erdgeschichte so glatte und großflächige Wände entstehen lassen wie in Kalifornien: glatte Abbrüche, Wände von 1000 Meter Höhe und mehr, Dome, Zinnen. 2000 Meter ragen die Granitsäulen im Karakorum in den Himmel, der Gral für künftige „Kletterfreaks“. Aber nicht nur hier, weltweit zwischen Antarktis und Baffin-Island stehen 1000 und mehr „Wallfahrtsziele“ für die besten Felskletterer bereit, Herausforderungen, die gefunden und innerhalb von wenigen Jahren zu Modefelsen für ein Heer von Nachsteigern werden. Verständlich, wenn wir alle mehr wollen als nur klettern. Suchen wir doch bestimmte Wände auf, um uns selbst zu erfahren, uns auszudrücken.

Die Kletterwege – entdeckt, durchstiegen, beschrieben – werden zu „Routen“, vielfach zu Kunstwerken erhöht und nachgeklettert. Sie bekommen einen Namen, einen Nimbus und einen Schwierigkeitsgrad. Akteure und Jahr der Erstbegehung gehen ein in die Archive der Klettergeschichte. Das ist schon seit hundertsiebzig Jahren so! Die Zahl der Haken, die der Bergführer Micheluzzi 1929 bei seiner Erstbegehung des Marmolada-Südpfeilers in den Fels geschlagen hat, gehört seit 90 Jahren zum Gesprächsstoff der Elite. Waren es sechs? Stecken heute nicht 60?

Warum brauchen moderne, bestens trainierte Kletterer an alten Routen so viele Hilfen?, frage ich mich. Ganz einfach: aus Gewohnheit! In unserer abgesicherten Welt fühlen sich auch Freeclimber mit besserer Absicherung wohler. Seit 100 Jahren erfinden sie also immer neue Absicherungshilfen. Steigen Motivation und Mut nicht auch mit der Suggestion von mehr Sicherheit. Interessant: nur mit verbesserter Ausrüstung ließen sich trotz alter Gefahren immer neue Spielmöglichkeiten finden. Und immer mehr Alpinisten knüpften aus dem Klettern ihren Lebensinhalt, ein paar wenige steigern das Herumturnen an Felskathedralen sogar ins Künstlertum, andere betreiben es als Beruf. Und alle sammeln wir Schlüsselstellen. Als wären es Perlen. Wann, wie, wer den Höhlenüberhang am „Micheluzzipfeiler“ oder das Zinnen-Dach geklettert hat, ist Legende.

Ob die Felskletterei als solche wirklich eine so hässliche und verabscheuungswürdige Sünde ist, dass ihre Anhänger nicht mehr unter die Klasse der wirklichen Bergsteiger gezählt werden dürfen, sondern wegwerfend mit dem Namen „Gymnastikbetreiber“ abgetan werden müssen!

A.F. Mummery


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Kletterei am Fermedaturm

 

Berge besteigt der Mensch schon seit Jahrtausenden, schwer zugängliche Höhen erklimmt er seit zweieinhalb Jahrhunderten. Vor hundert Jahren hat eine neue Mode eingesetzt: das Freiklettern, das in den Jahrzehnten von 1960 bis heute immer weiter verfeinert wurde. Fachlich korrekt heißt diese Technik „freies Klettern“. Die Historiker benennen es seit hundert Jahren als eine eigene Disziplin des Alpinismus. Aber erst nach und nach beherrscht es die Szene. Denn vor allem die Kletterer – früher als Bergsteiger mit affenartigen Verhaltensmustern verspottet – wollten sich weiterentwickeln. Ihr Ziel bleibt offenbar der Mensch als Spinne. Die Belastbarkeit der Fingerknöchelchen und deren Muskelbänder wird bis heute weniger in Frage gestellt als die „Moral“, das heißt die seelische Stärke beim Gang an der Sturzgrenze. Dabei ist es, wie schon vor hundert Jahren, der Ehrgeiz der Radikalsten geblieben, immer dorthin zu klettern, wohin sich sonst niemand traut. Minutenlang können die Profis an kleinsten Felsleisten hängen und 1000 Meter über dem Abgrund scheinbar mauerglatte Felswände hochgehen. Als wäre es ein Leichtes.

Damit sind wir beim Thema: 170 Jahre Kletterkunst. Mir geht es nicht darum, eine lückenlose Liste der Felsgeher vorzulegen, die „Großes“ am Berg geleistet haben. Noch weniger interessieren mich die durchaus bewundernswerten Wettkämpfe von Sportlern, die an künstlichen Kletterwänden in Europa- und Weltmeisterschaften gegeneinander antreten. Auch die Olympischen Spiele – ob Klettern als Disziplin dabei ist oder nicht – bleiben nur Spiele. Mir geht es um die Entwicklung des Felskletterns – von Bettega 1901 in der Marmolada-Südwand bis zu Alexander Huber 2001 in seiner Route „Bellavista“ in der Nordwand der Westlichen Zinne und 2017 Alex Honnolds Free Solo in der Plattenflucht des El Cap. Die Neuerer sind es, ihr Stil und ihre Einstellung, die es mir angetan haben. Wann, wie und wo das frei Kletterbare weiterentwickelt worden ist, bleibt mein Thema. Natürlich halte ich mich dabei an die Sprecher der jeweiligen Generation, die – ob sie es wahrhaben wollen oder nicht – für ihre Epoche stehen. Mit ihrer Hilfe zeichne ich Bild für Bild jenen Stafettenlauf, der seit mehr als zehn Generationen fortgeführt wird: die Umwandlung des unmöglich Kletterbaren in kletterbares Gelände.


„Bellavista“ ist eine psychische und physische Meisterleistung – ein Meilenstein in der Geschichte des Kletterns.

Andreas Kubin

 

Es gibt keinen Zweifel, das Klettern am Fels hat sich weiterentwickelt – zuletzt unglaublich schnell. Es wird pro Jahrzehnt um etwa einen Schwierigkeitsgrad gesteigert. Was schon Hans Dülfer erkannt hatte. Und so extrem schwierig heutige Spitzentouren sein mögen, die Steigerung ist nicht zu Ende. Denn das Felsklettern wird – wie alles menschliche Tun – von jeder Generation neu getan. Die besten Kletterer zeigen uns mit ihrer Euphorie immer wieder, wie die vertikale Arena in unserer Vorstellung verändert, das Thema „Klettern“ neu besetzt werden kann. Bisher waren Elbsandstein, Kaisergebirge, Dolomiten, Yosemite, Verdon die Zentren kreativer Aktivität. Morgen werden es Wände in Brasilien, Südafrika, Grönland, Patagonien oder Pakistan sein. Jede Generation muss sich ihre Welt ja erst ersinnen und Spielfelder finden für ihre Träume. Nein, es waren nie die Mittelmäßigen und Mutlosen, die den nächsten Schritt hin zum Unmöglichen gewagt haben. Diejenigen, die eine beständige Welt herbeisehnen, eine Welt, die für die Ewigkeit gemacht scheint, gehören nicht zu den Pionieren. Es war und bleibt der Schöpfergeist der Sinnstifter, welche die alte Welt in Frage stellen, um sie mit ihrem Tun neu zu erschaffen. Sie werden die Kletterszene sukzessive verändern. So nutzlos das Klettern auch ist, so sinnvoll erscheint es den Neuerern und Suchern. Weil sie mit einer Ahnung von der Zerbrechlichkeit der Welt an neuen Werten bauen, die wenigstens für die Zeit ihrer Aktivität Bestand haben. Für sie wird Klettern zum Wichtigsten auf dieser Welt. Seit ihrem Tun, ihren Storys, verändert sich unsere Vorstellung von „unmöglich“.

Ob Schuster im Elbsandstein, Schulze im Allgäu und am Uschba, Dülfer am Totenkirchl, Haupt und Solleder in der Civetta, Comici an der Großen Zinne, Vinatzer an der Marmolada-Südwand, Rebitsch an der Lalidererspitze, Magnone am Dru, Robbins an der Salathé … Güllich, Edlinger, Hill, Sharma, Ondra, Auer, Honnold, Caldwell – sie alle stellten und stellen hohe Ansprüche an sich und entwickeln so das Klettern weiter. Fast immer als Regelbrecher! Mit viel Disziplin und Können steigen sie über das jeweils Erreichte hinaus. Sich hohe Ziele zu setzen steigert die Motivation, und Erfolg macht erfolgsbewusst – hoffentlich auch vorsichtig. Den Besten ging es immer um zweierlei: zuerst ums Überleben und dann darum, den anderen einen Schritt weit voraus zu sein. Selbstbestimmt und in Eigenverantwortung gelang ihnen jeweils der nächste Schritt.

Dass nicht alle ihre Fans überleben, hat weniger mit der Gefahr beim Klettern als vielmehr mit jener Selbstüberschätzung zu tun, die vornehmlich Nachsteiger befällt. Leider. Fans werden nicht selten zu Neidern, dann überheblich und zuletzt zu Hasardeuren. Da sie ihren Vorbildern oft blindlings nacheifern, deren Spuren meist aber nur mit zusätzlicher Absicherung folgen können, verlieren sie leicht die Orientierung. Es fehlt ihnen jene Überlegenheit, eine Art innerer Sicherheit, ohne die Klettern an der Grenze des jeweils Machbaren nicht zu verantworten ist. Sie gehen nicht ihren eigenen Weg, sie konsumieren. Als Konsumenten dessen aber, was immer nur in radikaler Selbstverschwendung zu erreichen sein wird, machen sie weder die Erfahrungen noch die Wege ihrer Vorbilder. Sie machen höchstens Eindruck. Die Frage ist: Wie lange?


Dass die durchschnittliche Kompliziertheit der Kletterstellen, aber auch die klettertechnischen Fähigkeiten der Bergsteiger im Laufe der Zeit gestiegen sind und noch steigen werden, sah schon Dülfer – durch drei Stellen gekennzeichnet, deren erste Erkletterung jeweils 13 Jahre auseinanderliegt und durch Alleingänger ausgeführt wurde: Es sind dies der Riss am Winklerturm (Winkler 1887), der Riss in der Nordostwand der Punta Emma (Piaz 1900) und der Riss in der Fleischbank von Südosten (Dülfer 1913).

O.W. Steiner

 

„Wir hatten im Laufe der Zeit die Erfahrung gemacht, dass alle, die die wahre Freude am Bergsteigen genießen wollen, ganz allein auf ihre eigene Geschicklichkeit und Kenntnisse angewiesen sein sollen“, sagt Mummery, und seine vielen Gegner fanden genau in dieser Aussage den Nährboden für ihren Hass gegen den Spieler, der das Radikale, das Maßlose tat. Mummery kletterte und dachte wie kein Bergsteiger vor ihm, und nur deshalb war er den Mittelmäßigen in der Szene suspekt. Und deshalb wurde er zum Pionier einer neuen Kletterszene. Dieser Albert Frederick Mummery, 1855 in Dover geboren, hat die bergsteigerische Entwicklung im 19. Jahrhundert geprägt und mit Mut, Intelligenz und viel Humor immer wieder aufgezeigt, worum es beim Klettern geht: um Erfahrung und was sie unterbricht. Instinkte, die Bekanntes wie Unbekanntes entlang eines Wahrnehmungsmusters einordnen, sind dann ständig gefordert, wenn wir zwischen Fremdem und Vertrautem unterwegs sind – am Limit unserer Möglichkeiten also. Es kommt viel weniger darauf an, wie „schwer“ wir klettern, als vielmehr, wie weit wir uns exponieren. Die Grenze zwischen Selbstverschwendung und Selbstvernichtung beim Freiklettern ist schmal, und weil dies alle wissen, findet dieses Tun in seiner exzessiven Form so viel Bewunderung. Jede selbst veranstaltete Klettertour ist einzigartig, die Erfahrung dabei nicht wiederholbar.

Mummery und Zsigmondy haben es erlebt. Beide sind führerlos weitergeklettert – beide bis zum tragischen Ende. Spricht das gegen sie? Vielleicht – was aber käuflich, vervielfältigbar, konsumierbar ist, wird irgendwann banal. Radikale Selbsterfahrung ist nur im Widerstand gegen das mögliche Sterben zu haben und steht außerhalb jeder Moral. Damit stoßen wir auf jenen Widerspruch, der das moderne Freiklettern angreifbar macht und zugleich weiterträgt.


Dass die Technik unseres Sportes so rasche Fortschritte gemacht hat, wird immer als eine Art Verbrechen gebucht, ist aber meiner Ansicht nach nur zu begrüßen und keinesfalls zu bedauern.

A.F. Mummery

 

Das Freiklettern hat sich lange umgekehrt proportional zum Einsatz von Kletterhilfen zur Fortbewegung und proportional zur Verbesserung der jeweiligen Sicherungsmöglichkeiten entwickelt. Wird es mit der Steigerung so weitergehen? Ja und nein. Denn der Bewegungssinn, auf einer Reihe von Instinkten basierend, unterliegt zuallererst dem Überlebenswillen und nicht einer Moral, die immer nur aufgesetzt sein kann. Das Problem ist, dass Spitzenklettern heute kaum noch vermittelbar ist, dem Mittelmaß so wenig wie den Laien.

Ich weiß, viele halten diesen Zugang zum Freiklettern für bedenkenswert, und sie werden alles tun, um andere zu ihrem Irrtum zu bekehren. Ich aber will trotzdem erzählen, wie sich das Felsklettern entwickelt hat und warum es sich so und nicht anders weiterentwickeln wird. Natürlich ist es Unsinn, Dülfer mit Comici und diesen mit Güllich zu vergleichen – wer war der Beste? –, geht es doch um die Kunst des Kletterns, die sich so wenig vergleichenden Maßstäben unterwirft wie die Musik: Bach, Beethoven, Haydn, Mozart – sie waren alle einzigartig – wie Preuß, Rebitsch, Robbins, Ondra oder Honnold.

Es geht um die Frage, wie man es schaffen kann, als Kletterer alt zu werden. Zwei Faktoren werden hierfür vor allem herangezogen: das objektive Maß der Sicherheit (in Gestalt der Absicherung der Tour oder der Felsfestigkeit) und die subjektive Sicherheit (Können des Kletterers, Selbsteinschätzung, Entscheidungsfähigkeit und „Coolness“ in schwierigen Situationen). Diese beiden Faktoren werden zu persönlichen Gleichungen verknüpft: „Gute Sicherung im Fels + gutes Können, gute Entscheidungen etc. des Kletterers = Überleben“, spricht die Plaisirpartei. Die Abenteuerpartei entgegnet: „Schlechte Sicherung + exzellentes Können = Sicherheit“ und unterstellt: „Gute Sicherung verdirbt die Entscheidungsfähigkeit und führt damit zu Unsicherheit.“

Martin Schwiersch

 

Die Tatsache aber, dass das Alpinklettern Krisen erlebt, sollte uns nicht deprimieren. Im Gegenteil, Krisen sind anregend, und weil die vertikale Arena nicht ein für alle Mal ausgeschöpft ist, kann sie immer wieder neu entdeckt werden. Ja, Kletterer erschaffen ihre Welt, die vertikale Arena, immer wieder neu. Mit ihrer Fantasie und der Gabe, das Unmögliche zu wagen. Aber jede Generation, jede und jeder Einzelne, kann dies nur für sich tun. Wieder und wieder. Und weil junge Kletterer das Erreichte nie als ultimativ empfinden werden, müssen sie immer wieder neue Zugänge zu den alten Problemstellungen finden. Cassin und Ratti stiegen 1935 über einen Umweg durch die überhängende Nordwand der Westlichen Zinne; Weber und Schelbert 1959 direkt über die zentralen Überhänge; Baur und die Brüder Rudolph 1968 waagrecht über das große Dach; Alexander Huber 2001 frei mitten durch eine Serie von Dachüberhängen: ein Weg, der wenige Jahre zuvor noch unvorstellbar war. Wie doch Eigenständigkeit, Kreativität und Können unser aller Zugang zu den Felswänden verändern! Aber ohne Eigenverantwortung im Ausgesetztsein ist Felsklettern nur Sport oder Konsum.

Weil es in unseren Breiten alltägliche Sorge weniger als früher gibt, suchen immer mehr Menschen ihre ganz persönlichen Herausforderungen im Erlebniskonsum. Es geht dabei nicht um „Abenteuer, die man für sich und gegen sich selbst besteht“, sondern viel mehr ums Dabeisein. Man will dazugehören. Was sollen die vielen Jugendlichen sonst auch mit sich anfangen? Immer mehr Menschen suchen in Sport-, Freizeit- und Urlaubshobbys die Erfüllung ihres Lebens, ohne sich allerdings die entscheidende Frage zu stellen: Was kann jemand, der schon fast alles gemacht hat, wirklich tun, um seine Grenzen, und damit die Erschütterung seines Selbstverständnisses, zu erfahren? Sich exponieren!

Nie ist am Berg so schnell gelaufen, so hoch gefahren, so gut geklettert und so weit gewandert worden. Bergläufe, Bike-Veranstaltungen, Weitwanderungen finden in so großer Zahl statt, dass die Berichterstattung dazu die Übersicht verliert. Die Kletterer an den großen Wänden hingegen sind weniger geworden. Nur dort, wo gemessen wird – die Zeit, die Höhenmeter, die Klicks – sind viele: Zahl und Piste mit Absicherungskette haben also gewonnen. Der Konsum ist dabei, das Abenteuer am Fels zu verdrängen.

Wir suchen schwierige Touren auch aus dem Grunde aus, weil wir eine Freude daran finden, Schwierigkeiten zu überwinden. Das Gefühl, welches wir dabei haben, ist dasselbe, welches ein Turner empfindet, dem eine schwierige Übung nach langen Versuchen endlich gelungen ist. Es ist die Freude, ein Ziel erreicht zu haben, das erst hart erkämpft werden musste.

Emil Zsigmondy

 

Albert F. Mummery am Grépon


Im Sommer 1880 fällt Mummery hoch über dem Mer de Glace bei Chamonix der Grépon auf: ein paar wilde Zinnen und Felstürme, der Gipfel aus glattwandigen Obelisken gebaut.

Zusammen mit dem berühmten Bergführer Burgener studiert er die Ostwand des Berges und entdeckt „herrliche Risse, Felsbänder und Übergänge, die den unteren Teil mit dem oberen in Verbindung bringen“.

Ein Jahr später, am 1. August 1881, Aufbruch im Salon des Montenvers-Hotels. Es ist ein Uhr früh. Burgener geht es „schlecht“ und er wird mit Branntwein behandelt. Nach mühevollem Herumstolpern zwischen Steinen und mit Moränenschutt gefüllten Gletscherspalten verlassen sie das Mer de Glace und steigen über Grasbänder aufwärts. Sie halten sich links und nehmen das mittlere Couloir, das zum Berg führt. Der Bergschrund an seinem Fuß ist nicht übersteigbar, und sie queren weiter nach links, zur nächsten Rinne. Durch einen steilen Kamin, der sich über dem Eis als knapp mannsbreiter Spalt im Fels als Schwachstelle anbietet, glaubt Burgener einen Weg zu finden. Also wird Venetz, der Helfer, in den Bergschrund hinabgelassen. Er soll den Kamin zu erklettern versuchen, bleibt aber hoffnungslos stecken. Burgener, der geniale Kletterer, rettet die Situation, und zu dritt steigen sie über guten Fels weiter aufwärts.

Nach acht Stunden und einigen schwierigen Kletterstellen erreichen sie die Spitze eines großen roten Turms, der vom Mer de Glace aus deutlich zu sehen ist, aber nicht den Gipfel bildet. Es ist zu spät zum Weiterklettern, also Abstieg.

Am 3. August folgt der zweite Versuch, den schwierigsten Weg der Zeit zu Ende zu gehen. Nach dem guten Ratschlag eines Oberländer Bergführers, den Plan aufzugeben, ist Burgener wütend und so gekränkt, dass er bereit ist, sein Leben zu riskieren, um seinen Berufskollegen zu widerlegen. Kletterer waren also immer schon empfindlich, wenn es um ihre Ehre ging.


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Albert Frederick Mummery

 

Wir erklären tugendhaft, dass der Fels nur auf ehrliche Art zu bekriegen war.

A.F. Mummery


Mummery: „Aus der Flut seines unverständlichen Dialekts entnahm ich, dass unser Schicksal besiegelt war. Wenn wir auch unser ganzes Leben da oben verbringen oder sogar oben lassen müssten, so wäre das seiner Meinung nach noch immer besser, als unverrichteter Dinge zurückzukehren und sich dem Hohn und Spott dieses Ungläubigen auszusetzen.“

Ja, so ist es bis heute geblieben. Wir Kletterer wachsen am Widerstand der senkrechten Felsen und jenem der Zweifler, die unsere Vorhaben für unmöglich erklären. Trotzdem, die Seilschaft scheitert ein zweites Mal. Erst beim dritten Anlauf erreichen die drei den Fuß des Gipfelturms.

Mummery: „Er war von einer Unnahbarkeit, wie ich sie selten gesehen habe. Ganz anders wie die anderen Teile des Berges war sein Gestein glatt und grifflos. Von der Spitze bis an seinen Fuß lief zwar ein Riss, vier bis fünf Zoll breit, dessen Kanten aber so glatt waren, wie sie nur der beste Steinmetz aushauen könnte, und der auch in seiner Tiefe nicht die geringste Unebenheit aufwies. Kein eingeklemmter Stein, nichts war zwischen den scharfen Kanten als Halt zu erspähen. Zu all dem hing am Ausstieg, wenn man gerade noch mit letzter Kraft oben angelangt war, ein Felsblock über, den man überwinden musste, um auf der Spitze zu landen.“

Erst nachdem es Mummery und Burgener nicht gelingt, ein Seil über die Spitze zu werfen, um den Gipfel mittels Seilzug zu erreichen, gehen sie den Gipfelturm „by fair means“ an.

Was nun folgt, ist Freikletterei auf hohem Niveau. Wieder steigt Venetz voraus und eröffnet in der Felsarena der Nadeln von Chamonix 1881 (!) einen Weg, der senkrecht in den Himmel führt und schwieriger ist als alles, was bis dahin in den Alpen geklettert wurde.

Es ist natürlich völlig unlogisch, jemandem die Bezeichnung „Bergsteiger“ zu verweigern, der es versteht, in schwierigerem Gelände seinen Weg zu finden. Wenn man sagt, dass Menschen, die aus Liebe zum Bergsteigertum klettern, keine Bergsteiger sind, während andere, die dasselbe aus irgendeinem wissenschaftlichen Zweck tun, der ihnen gerade am Herzen liegt, diese Bezeichnung verdienen, so widerspricht das doch allen Gesetzen der Logik.

A.F. Mummery

 

Mummery: „Das Seilwerfen hatten wir vom oberen Rand einer schmalen Mauer aus betrieben, die ungefähr zwei Fuß breit und sechs Fuß über der Scharte gelegen war. Dort hatte sich Burgener aufgestellt, um Venetz, sobald er in seine Nähe kam, mit dem Pickel weiterhelfen zu können, während meine Wenigkeit, in der Scharte stehend, ihm den ersten Teil seiner Kletterei erleichtern sollte. Sobald Venetz aus dem Bereich meiner Hilfe gelangte, lehnte sich Burgener über die Scharte, rammte die Spitze so gut es ging gegen die gegenüberliegende Felswand, wodurch etliche Tritte von recht zweifelhafter Sicherheit geschaffen wurden, auf denen Venetz ausrasten und für jeden weiteren Schritt Kraft schöpfen konnte. Bald war aber auch diese künstliche Hilfeleistung unmöglich und er einzig und allein auf seine fabelhafte Geschicklichkeit angewiesen. Schritt für Schritt erzwang er sich keuchend seinen Weg, seine Hände fingerten über den glatten Fels in der vergeblichen Suche nach nicht vorhandenen Griffen, dass es einem förmlich wehtat zuzusehen. Mit unleugbarer Aufregung folgten Burgener und ich seinen Bewegungen, und mit nicht geringer Erleichterung sahen wir endlich die Finger seiner einen Hand auf der scharf abgehauenen Spitze suchen. Noch einige Sekunden Rast, dann schwang er sich über den vorstehenden Block, während Burgener und ich uns herunten heiser schrien. Als das Seil für mich herunterkam, wollte ich erst hochmütig ohne Hilfe aufsteigen. Zuerst gelang dies auch, dann kam ein Moment etwas zweifelhaften Hängens, dem ein scharfer Ruck folgte, und wie eine Spinne mit den Gliedern aushauend wurde ich auf die Spitze gezerrt, wo ich mit ungestörter Gemütsruhe den verschiedenen höhnischen Bemerkungen meiner Genossen standhielt, die mir vorhielten, dass man sich nicht nur auf Kletterschuhe verlassen dürfe, sondern auch das liebe Seil recht notwendig hätte.“ Erst im August 1892 wird Mummerys Weg wiederholt, wobei am Gipfelturm ein anderer Riss als 1881 genommen wird. Einige Tage später brechen Hastings, Collie, Pasteur und Mummery auf, um den Grépon-Gipfel „führerlos“ zu erreichen, wobei Mummery die schwierigsten Passagen führt.


M. Dunod hörte in Chamonix, dass ich drei Leitern von je 10 Fuß Länge bei diesem Aufstieg mithatte; ich glaube, es ist nicht nötig zu betonen, dass das nur ein Märchen ist! Jedenfalls war es aber der Grund, dass er selber sich mit drei Leitern von je 12 Fuß Länge beschwerte.

A. F. Mummery


VM06.tif

Der Mummeryriss an der Aiguille du Grépon

 

Was mich betrifft, der ich in den Bergen keine Zwecke irgendwelch anderer Art als mich zu erfreuen verfolge, kann ich den großen Grépon-Grat jedem anempfehlen, denn nirgends kann man kühnere Türme, wildere Klüfte oder schreckhaftere Abgründe finden; nirgends eine herrlichere Aussicht auf Berge und Seen, auf nebeldurchwogte Täler und geborstenes Eis.

A.F. Mummery

 

Mummery: „Ich weiß nicht, war es nur das Bewusstsein, dass ich heute führen sollte, jedenfalls erschrak ich über diese ungeheure Steilheit. Mit Ausnahme von zwei Stufen, wo die Felsen leicht zurücktreten, ist die ganze Wand senkrecht, ausgenommen der allererste Teil von sieben oder acht Fuß, der herausgewölbt ist und überhängt. Andererseits erschien mir der Fels viel gefurchter, als ich ihn in Erinnerung hatte, und je länger wir ihn betrachteten, desto mehr Hoffnung auf Erfolg erwachte in uns. Ich kletterte an den Fuß des Risses hinunter, und von dort begann ich über Hastings Schultern das mühsamste Stück Kletterei, das mir je untergekommen ist. Die ersten zwanzig Fuß hat man noch einige Hilfe am Seil, das um einen großen Felszacken in der Nähe des Sattels festgemacht werden kann; weiterhin dient es nur mehr als Zierde, obwohl es den Genossen eine gewisse Genugtuung bereiten mag, einen plötzlichen Sturz vielleicht doch damit aufhalten zu können. Ungefähr in der Hälfte des Weges ist ein ausgezeichneter Tritt, auf dem man verschnaufen kann. Wenn ich ausgezeichnet sage, so ist das wohl nur relativ gemeint im Verhältnis zu den anderen Abschnitten des Risses, nicht vielleicht, dass man dort mittagessen könnte oder auch nur stehen, ohne sich festzuhalten. Vor Jahren war ich an ebendieser Stelle rau aus meinen Betrachtungen aufgestört worden, da mein Fuß von dem Felsvorsprung abglitt und ich frei in der Luft baumelnd hinaufgezogen wurde. Eingedenk dieser Tatsache bemühte ich mich, mit meinen Fingern an allen Unebenheiten, die da oder vielmehr nicht da waren, hängen zu bleiben, bis ich halbwegs wieder Luft hatte, dann ging es weiter. Einstimmig war dieser zweite Teil von allen als der böseste bezeichnet worden. Griffe sind fast keine zu finden, und Tritte für die Füße fehlen vollkommen, man konnte nur auf die gütige Vorsehung vertrauen, die hie und da durch kleine, in den Riss eingeklemmte Steintrümmer von höchst fraglicher Vertrauenswürdigkeit nachhalf. Etwas weiter oben kann man auf die Vorsehung schon eher verzichten, da rechts wirklich ausgezeichnete Griffe sind, obwohl man keuchend und erschöpft noch genug Mühe hat, sein Gewicht nach aufwärts zu treiben. Dann wurden die Stützpunkte zahlreicher, bis man endlich mit Armen und Kopf auf der Grépon-Seite hängt, während die Beine noch mit den letzten Schwierigkeiten der andern Seite kämpfen. Als ich so weit war, brachen meine Freunde unten in ein Triumphgeschrei aus.“


Jeder Berg scheint drei Stadien durchzumachen – ein unmöglicher Gipfel, der schwierigste Berg der Alpen, an easy day for a lady.

A. F. Mummery

VM VI.tif

Der Grépon

 

Ein Jahr später steigt Mummery noch einmal auf den Grépon. Dieses Mal ist es eine große Partie, die sich der Kletterei stellt. Die mutige Gesellschaft besteht aus Miss Bristow, Hastings, Slingsby, Collie, Brodie und Mummery: „Es wagen sich ja immer mehr und immer schwächere Kletterer an die schwierigen Touren von gestern. Als ob mit der Zeit die Schwierigkeiten verloren gingen.“

Mummery: „Miss Bristow zeigte uns alten Alpine-Club-Mitgliedern, wie man leicht und sicher über steilste Felsen klettert, und während der kurzen Pausen, in denen wir anderen unsere Atemwerkzeuge wieder zur Ruhe brachten, fand sie noch Muße, zu fotografieren … Wir gingen bis zur höchsten Spitze empor, winkten eventuellen Freunden, die uns von der Mer de Glace aus vielleicht beobachteten und beglückwünschten die erste Dame, die je auf diesem wilden Turm gestanden hatte.“

Was vor zehn Jahren noch als unmöglich gegolten hat, ist damit zur „Damentour“ geworden!

Trotzdem, wegen der schlechten Eisverhältnisse ist diese Tour eine der schwersten in Mummerys Leben geblieben. Aber das Eis des „Unmöglich“ am Grépon ist für alle Zeiten gebrochen, und die Furcht der Kletterer, diese Spitze anzugehen, wird mit jeder weiteren Besteigung schwinden. Bis die Besteigung des Grépon zur „leichten Klettertour“ im Bewusstsein der besten Bergsteiger wird. Nicht der Fels, unsere Einstellung dazu ändert sich. Als ob mit der Zeit und mit dem Meistern immer größerer Schwierigkeiten das Unmögliche in unserer Vorstellung eine Veränderung erführe.

Diese beiden Prämissen gelten bis heute: Jede junge Bergsteigergeneration macht mögliche, was die Generationen vorher als unmöglich bezeichnet haben. Das Unmögliche möglich machen treibt die Kletterentwicklung an. Und je öfter ein Weg im Fels wiederholt wird, umso „leichter“ wird er, auch wenn sich nichts daran geändert hat. Mit der Steigerung des Kletterkönnens sind im Laufe von 170 Jahren Wände möglich geworden, die einst für die allerbesten Kletterer nicht denkbar waren. Und es wird weitergehen mit dem Auslöschen von Tabus.

Reinhold Messner

Über Reinhold Messner

Biografie

Reinhold Messner, Grenzgänger, Autor und Bergbauer, wurde 1944 in Südtirol geboren und wuchs in einem Bauerndorf auf. Bereits 1949 ging er zum ersten Mal in Begleitung seines Vaters auf einen Dreitausender. Nach seinem Technik-Studium arbeitete er kurze Zeit als Mittelschullehrer, ehe er sich ganz...

Simon Messner

Über Simon Messner

Biografie

Simon Messner, 1990 geboren, studierte Molekularbiologie in Innsbruck und schrieb seine Masterarbeit zum Themenbereich Epigenetik. Er begann mit sechzehn zu klettern und hat über vierzig Erstbegehungen absolviert, u.a. in den Alpen, im Oman, in Jordanien und im Sinai.

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