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Und morgen eine neue Welt

Tilman Röhrig
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Der große Friedrich-Engels-Roman

„Lesbare, lesenswerte, lebendige Geschichte.“ - Westdeutsche Zeitung

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Und morgen eine neue Welt — Inhalt

In seiner ebenso fundierten wie fesselnden Romanbiographie „Und morgen eine neue Welt“ fächert Bestsellerautor Tilman Röhrig (u.a. „Riemenschneider“, „Die Könige von Köln“, „Der Sonnenfürst“ und „Caravaggios Geheimnis“) die entscheidenden Jahre im Leben Friedrich Engels auf, dessen Geburtstag sich im Jahr 2020 zum 200. Mal jährt.

Zeitlebens ist Friedrich Engels ein Mann voller Widersprüche. Er ist Gelehrter und Revolutionär, Frauenheld und Fabrikant. Erfolgreich führt er die Fabrik seines Vaters in England und ist dennoch einer der großen Vordenker des Kommunismus. Für Karl Marx war er nicht nur enger Freund und Impulsgeber für dessen Werk, sondern auch unverzichtbarer Mäzen. Durch die Irin Mary Burns lernt Friedrich Engels das elende Leben der Arbeiter kennen – und findet in ihr die Liebe seines Lebens.

„Geschickt vermischt Tilman Röhrig auf anschauliche und ungemein lebenspralle Art Dichtung und Wahrheit.“ Aachener Zeitung (über „Die Könige von Köln“)

„Abermals ein strahlend-unterhaltsamer Historienroman. Die Mischung aus historisch fundiertem Hintergrund und kurzweiliger Phantasie macht den Roman zu einer niveauvollen Lektüre. Und dass Tilman Röhrig zudem ein Meister des geschliffenen Wortes und der präzisen Formulierung ist, steigert das Lesevergnügen zudem sehr nachhaltig.“ Westfalenpost (über „Der Sonnenfürst“)

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 02.12.2021
512 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31817-4
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.09.2019
512 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99497-2
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Leseprobe zu „Und morgen eine neue Welt“

1

Brüssel, Rue de l’Alliance 5
Ende April 1845

Die Haustüre war nur angelehnt? Helene zögerte, betätigte den Klopfer erneut. Mit leisem Scharren schwang die Tür weiter nach innen. Sie blickte über die Schulter zu den beiden Herren auf der andern Straßenseite, wollte nachfragen. Gleich wandten die sich ab, verbargen ihre Gesichter in den hochgestellten Mantelkragen und schlenderten die schmale Rue de l’Alliance hinunter. Seltsam, dachte Helene, als ich mich vorhin nach dem Haus der Familie Marx erkundigte, sahen sie mich nicht an, sondern deuteten nur mit [...]

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1

Brüssel, Rue de l’Alliance 5
Ende April 1845

Die Haustüre war nur angelehnt? Helene zögerte, betätigte den Klopfer erneut. Mit leisem Scharren schwang die Tür weiter nach innen. Sie blickte über die Schulter zu den beiden Herren auf der andern Straßenseite, wollte nachfragen. Gleich wandten die sich ab, verbargen ihre Gesichter in den hochgestellten Mantelkragen und schlenderten die schmale Rue de l’Alliance hinunter. Seltsam, dachte Helene, als ich mich vorhin nach dem Haus der Familie Marx erkundigte, sahen sie mich nicht an, sondern deuteten nur mit dem Daumen hier auf die Nummer 5.

Und diese Nummer hatte sie auch auf dem Zettel stehen, dazu stimmte die Straße, also musste sie an der richtigen Adresse sein. Aber nichts rührt sich im Haus. Vielleicht sind die Herrschaften kurz weggegangen?

Ich könnte auch drinnen warten. Helene fasste die Henkel ihrer Reisetasche fester, trat ein und lehnte die Haustüre hinter sich nur an. Säuerlich schaler Geruch stand im halbdunklen Flur. Ihr Fuß stieß an etwas Weiches. Sie beugte sich vor. Ein Mantel? Ohne Zögern setzte Helene die Tasche ab, hob das Kleidungsstück vom Boden, schlug es aus und hängte es zu den übrigen Jacken an die Garderobe. Weiter vorn entdeckte sie einen Zylinder, daneben eine Stoffpuppe, beides nahm sie auf, säuberte den Hut flüchtig mit dem Ärmel und stülpte ihn über den Haken. Die Puppe behielt sie in der Hand, zupfte an den verknoteten Haaren aus Wollfäden. Was ist hier geschehen?

Langsam ging Helene weiter. Nahe der Treppe ins erste Stockwerk stand rechts eine Tür halb offen. Vorsichtig spähte sie in den Raum. Kalter Tabakqualm verschlimmerte den Gestank. War das die Wohnstube? Stühle und Sessel kreuz und quer, auf dem großen ovalen Tisch lagen Brot- und Käsereste zwischen Gläsern und umgelegten Flaschen. In den übervollen Aschenbechern steckten Zigarrenstümpfe. Kerzen waren niedergebrannt, die Wachsstraßen zerlaufen und eingetrocknet. Ein Gelage, Helene rümpfte die Nase, deshalb stinkt es hier so.

In der hinteren Ecke entdeckte sie den Laufstall, sah den lockigen Kopf, das Mädchen kaute an einem weißlichen Holzstück. Da ist Klein Jenny. Aber wieso allein? Sie trat ins Zimmer und ging in Richtung der vergitterten Spielecke. „Na, meine Süße. Hab keine Angst vor mir!“

Unvermittelt wurde ihre Hand gepackt. „Halt!“ Aus dem Sessel neben Helene wuchs ein Kopf, wirres dunkelblondes Haar, die hellen Augen stierten sie glasig an. „Angst kenn ich nicht.“ Die schwere Zunge hatte Mühe, die Worte zu formen. „Aber du … du Schöne. Wie kommst du hierher? Du weißt, unsere Baronesse will das nicht.“ Der rötliche Randbart vom linken Ohr entlang des Kinns bis hin zum rechten Ohr verstärkte das Grinsen. „Meine Schöne.“

Helene spürte seine Finger unter ihrem Rock, zielstrebig strich die Hand den Schenkel hinauf, ehe sie es fasste, wurde ihr Po mit kräftigem Zugreifen betastet. „Was für ein Hintern.“

„Herr!“ Helene gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Unterstehen Sie sich!“

Darüber lachte er, griff noch fester zu. „Was für stramme Backen!“

„Wagen Sie es nicht …“ Nun hieb sie ihm rechts und links ins Gesicht. „Was erlauben Sie sich.“ Die Stimme wurde lauter. „Unverschämt, ich werde Frau Jenny …“

„Still.“ Er zog die Hand zurück, raffte sich halb aus dem Sessel. „Nur still. Wecke die Baronesse nicht auf.“ Er nestelte vom offenen Hemdkragen die Knopfleiste hinunter bis zur Weste und klaubte ein Geldstück aus der Tasche. „Hier. Besser, du verschwindest. Warte nebenan …“ Die Münze entglitt den Fingern, und er sank zurück. Erneut überkam ihn der Rausch. „Du weißt, ich wohne im Nachbarhaus. Da … da wartest du.“ Er schlief. Mit zitternden Lippen richtete Helene ihr Kleid. Dieser versoffene Schnösel. Behandelt mich wie eine Hure. So etwas ist mir …

Lautes Kreischen. Das Mädchen im Laufställchen brüllte. Es hatte seine Beißwurzel verloren. Beide Ärmchen streckte es zwischen den Holzstäben hinaus, zu kurz, die Köstlichkeit lag zu weit weg.

„Ich helfe dir.“ Helene hob das schreiende Kind auf, schaukelte es, zeigte die Puppe, das Unglück aber war zu groß. Erst die klebrige Kauwurzel konnte das Mädchen beruhigen. Helene spürte, wie ihr Ärmel feucht wurde, und roch an der Windel. „Jesses, du bist ja noch gar nicht versorgt. Das wird höchste Zeit. Erst aber suchen wir nach deinen Eltern.“ Mit der Kleinen auf dem Arm verließ sie, ohne den Kerl im Sessel noch eines Blickes zu würdigen, das Wohnzimmer. „Wir werden oben nachschauen.“

Aus dem Toilettenverschlag auf dem ersten Treppenabsatz roch es bedenklich. Helene schüttelte den Kopf. Da muss mit Soda geputzt werden.

„Wer ist denn da?“, rief eine Stimme von oben.

„Ich bin es. Helene … Helene Demuth.“

Das Atemholen war deutlich zu hören. „Lenchen?“ Oben erschien eine Frau, dunkle Augen in einem schmalen Gesicht, die offenen Haare wellten sich über den Kragen des Nachthemdes, reichten bis zum Busen. „Aber Lene! Heute schon? Ich dachte, erst morgen …“

„Aber Frau Jenny? Die Baronin, Ihre Mutter, hat Ihnen doch geschrieben.“

„Ist gleich. Dann habe ich den Tag verwechselt.“ Jenny Marx kam barfuß die Stufen hinunter, ihr Lächeln leuchtete. „Ich freue mich. Und sei herzlich willkommen. Ach, Liebchen, wie schön. Und Klein Jenny hast du auch schon entdeckt.“

„Unten in der Stube. Da saß das Kind allein.“

„Weil Püppchen quengelte, habe ich es heute früh rasch runtergebracht. Sonst hätte sie mir meinen Mohr noch geweckt. Ich habe mich noch mal hingelegt und muss wohl wieder eingenickt sein.“ Frau Marx gähnte. „Ich bin zwar gestern vor allen anderen ins Bett, aber es war für mich doch schon sehr spät. Ich weiß gar nicht, wann die Männer gegangen sind.“

„Einer von denen liegt noch unten im Sessel.“ Die Falte auf Helenes Stirn verschärfte sich. „Und die anderen haben vergessen, die Haustür zu schließen.“ Sie stopfte die Puppe in ihre Manteltasche, behutsam strich sie dem Kind über die Locken. „Und Klein Jenny. Niemand hat sich um dich gekümmert.“

Frau Marx hob den Finger. „Sei nicht so streng mit mir. Weißt du eigentlich, dass ich wieder schwanger bin?“

Großer Gott, dachte Helene, das eine Kind übersteigt doch schon die Kräfte, sagte aber: „Welch ein Glück. Da hat mich Frau Baronin gerade zur rechten Zeit geschickt.“

„Ein größeres Geschenk hätte mir Mutter im Augenblick nicht machen können.“

Nachdem Doktor Karl Marx über Nacht Paris wegen angeblicher politischer Hetze gegen das mit Frankreich befreundete Preußen verlassen musste und die junge Familie versuchte, in Brüssel Fuß zu fassen, hatte Baronin Caroline von Westphalen dem jungen Paar ihre Dienstmagd Helene Demuth zur Unterstützung für den Haushalt überlassen. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Helene sechs Jahre jünger als Baronesse Jenny. Ihre Tatkraft, ihre Umsicht sollten dazu beitragen, in dem, wie die alte Dame sich ausdrückte, unsoliden Lebenswandel der Familie Marx etwas mehr Ordnung und Beständigkeit zu schaffen.

Helene tastete sich vor. „So fertig eingerichtet scheint mir das Wohnzimmer noch nicht?“ Ein verständnisvolles Lächeln. „Aber Sie sind ja auch gerade erst eingezogen.“

Da ballte Frau Marx die Faust und drohte in Richtung Südwesten. „Diese Franzosen. Halsabschneider!“ Nach der überstürzten Ausweisung ihres Mannes Anfang Februar 1845 war sie noch in Paris geblieben, hatte versucht, die Möbel und einen Teil der Wäsche zu verkaufen, um das Geld für die Reise nach Brüssel zu beschaffen. Außerdem sollte noch genug für eine neue Einrichtung übrig bleiben. „Nicht einmal für die Postkutsche hat es ganz gereicht. Bei Freunden musste ich mir den fehlenden Betrag erbetteln.“ Sie deutete nach unten. „Was da im Wohnzimmer steht, haben uns die anderen deutschen Flüchtlinge aus unserer Straße geliehen.“

Wenn alle so sind wie der Kerl da vorhin, dann sind wir ja von feinen Leuten umgeben. Helene bezwang den Zorn. „Also schnarcht der Gast da unten in seinem eigenen Sessel?“

Jenny lachte hell auf. „Du meinst Fritz? Er und mein Mohr trinken am schnellsten, vertragen am wenigsten und wissen nie, wann sie genug haben.“ Sie ging schon die Treppe hinab. „Komm, ich stell dich vor!“

„Nein danke. Nicht nötig.“ Helene eilte ihr nach. „Erst das Kind. So wartet doch. Wo kann ich es wickeln?“ Die Hausherrin war nicht aufzuhalten, schon halb im Wohnzimmer deutete sie kurz auf die Tür am Ende des Flurs. „Da vorn ist die Küche. Da findest du alles.“

Helene hatte eine Decke über den Tisch gebreitet. Vergnügt strampelte Klein Jenny mit den nackten Beinchen, als ihr der Po abgewischt wurde. Die Baronesse brachte den Gast in die Küche. „Dies hier, lieber Fritz, ist die tüchtigste Helferin im Haushalt meiner Mutter. Ach, was sage ich, es gibt, nein, es gab keine bessere in ganz Trier. Denn ab sofort wird sie der gute Geist in unsrem Hause sein.“

Langsam drehte sich Helene mit der durchnässten und verschmierten Windel zwischen den Fingern um. Betont respektvoll fuhr Frau Jenny mit der Vorstellung fort: „Und dies hier ist unser Freund und Nachbar Friedrich Engels.“

In dem bartumrandeten verkaterten Gesicht arbeitete es, die Erinnerung weitete die graublauen Augen. „Sehr … ich bin sehr erfreut.“ Engels streckte die Hand zum Gruß.

Nur einen Schritt kam Helene näher, ehe er begriff, drückte sie ihm die schmutzige Windel in die Hand. „Gott zum Gruß.“ Gleich tat sie erschrocken. „Oh, verzeihen Sie! Das Kind … ich war in Gedanken. Bitte stecken Sie die Schweinerei da zu den anderen in den Windeleimer.“

Ohne ein empörtes Wort, ohne die Miene zu verziehen, gehorchte Engels. Nachdem er sich die Finger gewaschen hatte, verneigte er sich sogar leicht. „Ich bin sicher, die Familie Marx ist bei dir in besten Händen.“

Ihr Blick sagte ihm, dass die Partie ausgeglichen war und keine Beschwerde nach sich ziehen würde. „Ich wünsche dir einen guten Start hier bei uns in Brüssel.“

Frau Jenny führte den Gast hinaus, und Helene lächelte, während sie dem Kind die frischen Windeln anlegte.


2

Brüssel, Ministerium des Inneren, Rue de la Loi 4
Mai 1845

Ein Platzregen ging über Brüssel nieder. Vor der Nebenpforte des Ministeriums des Inneren drängte sich die Schlange der Wartenden enger ans Mauerwerk. Der Dachvorsprung hoch oben bot nur wenig Schutz, dennoch verließ keiner seinen Platz. Seit dem frühen Morgen harrten die Menschen aus, und quälend langsam schob sich die Schlange, beaufsichtigt von zwei bewaffneten Posten, ins weiße Gebäude hinein. Jeder Reisende musste sich hier im Büro für Passangelegenheiten sein Dokument ausstellen lassen, und bereits um drei Uhr nachmittags schloss sich die Pforte.

Etwas weiter oben standen auf der anderen Straßenseite die beiden Männer im Halbdunkel der offenen Säulenvorhalle des Parktheaters. Von hier aus überprüften sie durch ihre handlichen Stecher Gesicht nach Gesicht. „Einer auffällig?“, fragte der Kleinere.

„Unbekannt.“ Der Hagere sog den Speichel durch die Zahnlücke. „Keiner von unsren Verdächtigen dabei.“

So unvermittelt, wie er begonnen hatte, brach der Regen ab. Das Pflaster glänzte in der Sonne. Beide Herren verließen ihre Deckung, den Zylinder tief in der Stirn, den Mantelkragen hochgestellt, querten sie in langen Schritten die Straße. Ohne auf den empörten Protest zu achten, gingen sie an der Schlange vorbei direkt zum Eingang. Sofort fassten die Wächter die Gewehre mit beiden Händen.

Ein kurzes Geflüster entspann sich, erst nachdem die Herren eine metallene Marke vorgewiesen hatten, durften sie passieren.

Im Passbüro wollte der Beamte auffahren, auch ihn beschwichtigte die verstohlen vorgezeigte Plakette mit dem preußischen Adler. „Zweiter Stock“, raunte er hinter vorgehaltener Hand. „Linker Flur, letztes Zimmer.“

Vor der gesuchten Tür nahmen beide Männer den Zylinder ab, beide räusperten sich, noch ein gegenseitiges Nicken, und der Hagere pochte viermal kurz hintereinander.

Er wartete zwei Atemzüge, dann wiederholte er das Klopfzeichen. Stille. Endlich wurde von drinnen aufgeschlossen.

„Du zuerst. Und vergiss nicht zu fragen!“ Der Kleinere öffnete dem Kollegen, ließ ihn eintreten und drückte die Tür hinter sich zu.

Ein ausladender Schreibtisch beherrschte den Raum, auf der mit grünem Leder bespannten Platte lagen sorgfältig gereihte Papierstapel, daneben stand das Tintenfass, die weiße Schreibfeder war an der Seite zurechtgestutzt. Und aufgerichtet hinter dem Ordnungstisch saß der Vorgesetzte, die Haare mittig gescheitelt, geölt und eng an die Schädelseiten gekämmt.

Der Hagere nahm Haltung an. „Offizier Han…“

„Untersteh dich, Kerl! Keine privaten Namen. Du und dein Kollege, ihr seid hier als geheime Agenten für unser geliebtes Preußen eingesetzt. Ich habe euch Decknamen zugeteilt.“ Die Faust schlug auf die Platte. „Also: Schulz und Müller melden sich heute und jetzt zum Rapport! Verstanden?“ Ein bedeutungsvoller Blick nach rechts. Dort saß ein Herr, das Gesicht zum Fenster gewandt, er hatte den Zylinder nicht abgenommen, die linke Hand ruhte auf dem Silberknauf seines Stocks.

„Wir haben hohen Besuch aus Berlin.“ Der Vorgesetzte schmeckte das Wort vor, ehe er es aussprach: „Diplomatie. Ihr verdanken wir es, dass wir hier im neutralen Belgien ein Büro unterhalten dürfen und die hiesige Polizeibehörde mit uns zusammenarbeitet.“

„Zur Sache!“ Der Stock stieß einmal hart auf den Boden. „Meine Zeit ist knapp. Ich verlange Informationen über die kommunistischen Rädelsführer.“

Gleich gab der Vorgesetzte die Rüge nach unten weiter. „Was zögert ihr?“

„Mit wem sollen wir anfangen?“ Der hagere Schulz ließ den Zylinderrand Stück für Stück durch die Finger wandern. „Da oben in der Rue de l’Alliance braut sich was zusammen …“

„Mit Marx. Beginnt mit diesem Umstürzler Karl Marx. Aus Paris konnte er verjagt werden. Hier in Brüssel darf er sich nur aufhalten, solange er jede politische Aktivität unterlässt. Und hält er sich daran?“

„Nein, da sind wir ganz sicher. Drei, vier Spelunken haben wir unter Beobachtung. Da verkehren die deutschen Exilanten, und zwar regelmäßig, ebenso unsere Zielpersonen. Im Hinterzimmer trifft sich Marx mit deutschen Handwerkern. Vielleicht sind wir da einer Geheimgesellschaft auf der Spur.“

„Sehr gut. Dranbleiben, dranbleiben!“

Der untersetzte Müller trat einen Schritt vor. „Wie mein Kollege schon erwähnte. In der Rue de l’Alliance hat sich ein Schlangennest gebildet. Der Marx allein wäre noch zu bändigen, aber jetzt ist der aus Köln verjagte Moses Hess dazugezogen, und es kommt schlimmer: Im April hat sich dieser Friedrich Engels aus Barmen dort eingenistet. Haus an Haus wohnen …“

Das harte Aufstoßen des Stocks unterbrach. Ohne das Gesicht zu wenden, verlangte der Besucher aus Berlin: „Engels? Was weiß man über ihn?“

Der Vorgesetzte griff nach einem Papierstapel, nahm ein Blatt und tippte mit dem Finger darauf. „Laut Polizeiakte ist sein Vater ein ehrbarer, zuverlässiger Geschäftsmann aus dem Tal der Wupper. In Barmen und in Engelskirchen hat er große Garnfabriken. Einer seiner Söhne, dieser Friedrich, ist ein verfluchter Kommunist, der sich als Literat herumtreibt. Geboren 1820, also heute im fünfundzwanzigsten Jahr. Statur: groß, schlank und kräftig. Er ist uns bereits in Paris aufgefallen. An der Seite des Karl Marx. Im Übrigen sind beide fast gleichen Alters. Wobei Marx zwei Jahre mehr zählt.“

Agent Müller nickte. „Und jetzt wohnen sie Tür an Tür. Besonders auffällig bei Engels ist zu vermerken: Bei ihm gehen die Weiber ein und aus … Wohlgemerkt, er ist unverheiratet.“

„Freie Liebe?“ Der Vorgesetzte fuhr mit der Fingerkuppe die Spur seines Scheitels nach. „Das möchte ich näher erläutert haben. Grundsätzlich gibt es gegen Frauenspersonen nichts einzuwenden, dennoch könnten sie zur Gefahr werden.“ Er gab ein kurzes Lachgemecker von sich. „Was man so hört, halten diese Kommunisten nicht viel von der Ehe.“

Das Pochen des Stocks ermahnte ihn, sein Grinsen erstarb. „Informationen?“

Agent Schulz senkte die Stimme. „Uns fiel auf, dass nicht nur Friedrich Engels …“ Das Schnalzen durch die Zahnlücke ergänzte den Satz deutlicher als Worte. „Nein, vor gut drei Wochen ist auch bei Karl Marx eine zweite Frau eingezogen.“

„Beschreibung?“

„Nicht sehr groß. Keine Schönheit, eher bieder mit Haarknoten, auch nicht schlank. Unscheinbar eben.“

„Gefährlich. Haltet diese Person im Auge. Gerade von den Unscheinbaren geht Gefahr aus. Und nun wieder an die Arbeit. Hinaus mit euch!“

Die Agenten dienerten, gingen zur Tür. Da stieß Müller dem Kollegen in die Seite. „Du wolltest fragen“, zischte er.

Schulz zögerte, ein zweiter Stoß half nach. Er wandte sich um. „Verzeiht. Es ist nötig. Wir sind viel gelaufen, das Pflaster hier in Brüssel ist nicht gut, außerdem müssen wir bergauf und bergab. Dann der Regen und die Pfützen.“

„Klarheit!“ Der Vorgesetzte straffte den Rücken. „Agent Schulz, worum geht es?“

„Um das Sohlengeld.“

Sein Kollege pflichtete ihm bei: „Wir benötigen dringend neue Stiefel.“

„Schon wieder? Ich verlange den Beweis.“

Sie schürzten die Hosenbeine, der eine zeigte den abgenutzten linken, der andere den rechten Stiefel. Halb erhob sich der Vorgesetzte aus dem Stuhl, zwängte das Monokel ans Auge und beäugte die großen Löcher in den Sohlen. „Fatal. In der Tat.“ Er ließ sich nieder, nahm zwei Formulare, beschriftete sie mit geübter Hand und schob die Blätter den Agenten hin. „Keine neuen Stiefel. Die gibt es laut Vorschrift nur einmal im Jahr.“ Er entnahm der Lade unter dem Schreibtisch zwei Münzen. „Sucht einen günstigen Schuster! Das Geld sollte für neue Sohlen ausreichen.“

„Aber …“

„Keine Diskussion. Unterschreibt, und dann zurück an die Arbeit!“

Gehorsam und mit gesenkten Köpfen verließen die Agenten den Raum.

Die Tür fiel ins Schloss.

„Um Vergebung, Herr Geheimrat.“ Die Hände glätteten die geölten Haare an den Schädelseiten nach. „Es sind eben nur einfache Beamte. Gerne hätte ich besseres Personal.“

Der Besucher aus Berlin erhob sich, leicht tippte er die Stockspitze auf den Sims des Fensters. „Gar nicht so übel, mein Freund.“ Er wandte sich um. Ein bleiches Gesicht, scharfe kleine Augen hinter den Brillengläsern. „Unsere Zielpersonen werden längst diese beiden Männer und deren Kollegen entdeckt haben. Und dies ist gut so. Die Verdächtigen sollen wissen, dass wir ihnen auf Schritt und Tritt folgen.“ Er trat näher zum Tisch. „Mit diesen Spitzeln binden wir ihre Aufmerksamkeit, lenken sie ab. Und inzwischen platzieren wir eine zweite Riege.“ Von oberster Stelle im preußischen Innenministerium war geplant, etliche Informanten direkt in die Gruppe der Exilanten einzuschleusen. Sie sollten stichhaltige Beweise für die geheimen umstürzlerischen Pläne sammeln und stets mit Berlin und Wien in Kontakt stehen. „Das braucht Zeit. Aber …“ Der Stock pfiff einmal scharf durch die Luft. „Ob nun Gefängnis oder Galgen. Bald schon werden wir diesen Kommunisten den Garaus gemacht haben.“

Tilman Röhrig

Über Tilman Röhrig

Biografie

Tilman Röhrig, geboren 1945, lebt in der Nähe von Köln. Der ausgebildete Schauspieler ist seit über vier Jahrzehnten als freier Schriftsteller tätig. Die größten Erfolge brachten ihm seine historischen Romane, die allesamt Bestseller und vielfach übersetzt wurden. Für sein literarisches Werk erhielt...

Pressestimmen
Radio Mühlheim

„Ein historischer Roman mit einer vorzüglichen Mischung aus fundiertem Hintergrundwissen und Fantasien, bei denen ganz locker Fakten mit Spekulationen vermengt werden. Absolut lesenswert!“

Westdeutsche Zeitung

„Lesbare, lesenswerte, lebendige Geschichte.“

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