„The Second Death of Locke“ von V. L. Bovalino
Ein untergegangenes Königreich, eine verschollene Erbin und eine große Liebe, die selbst dem Tod trotzt! V.L. Bovalino begeistert mit spektakulärer Romantasy.
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Ein untergegangenes Königreich, eine verschollene Erbin und eine große Liebe, die selbst dem Tod trotzt!
Die Magie ist fast vollständig aus der Welt verschwunden, und um sie zu wirken, müssen zwei Menschen ihre Kräfte vereinen: Eine sogenannte Quelle, die die letzten Magiestränge der Welt spüren kann, und ein Magier, der die Macht der Quelle formen und nutzen kann.
Grey Flynn birgt eine solche Quelle der Magie in sich. Ihr Leben und ihre Gabe hat sie ihrem besten Freund gewidmet, dem Magier und Soldaten Kier. Sie ist seine Beschützerin, seine Heilerin und sein magisches Schwert und Schild, an…
Ein untergegangenes Königreich, eine verschollene Erbin und eine große Liebe, die selbst dem Tod trotzt!
Die Magie ist fast vollständig aus der Welt verschwunden, und um sie zu wirken, müssen zwei Menschen ihre Kräfte vereinen: Eine sogenannte Quelle, die die letzten Magiestränge der Welt spüren kann, und ein Magier, der die Macht der Quelle formen und nutzen kann.
Grey Flynn birgt eine solche Quelle der Magie in sich. Ihr Leben und ihre Gabe hat sie ihrem besten Freund gewidmet, dem Magier und Soldaten Kier. Sie ist seine Beschützerin, seine Heilerin und sein magisches Schwert und Schild, an ihn gebunden durch Magie und Geheimnisse. Grey würde alles für Kier tun – alles für ihn sein –, wenn er nur danach fragen würde.
Als ein verfeindetes Königreich die verschollene Erbin der untergegangenen Isle of Locke findet und damit Zugriff auf zerstörerische Kräfte erhält, beginnt für Grey und Kier eine tödliche Verfolgungsjagd. Ihre Reise bringt Grey viel zu nah an die Küste, an der die sagenumwobene Isle of Locke zuletzt gesehen wurde – und an die dunklen Geheimnisse ihrer eigenen Vergangenheit. Schon bald muss sich Grey entscheiden, wie viel sie bereit ist, für Kier zu opfern: ihre Macht, ihre Liebe, ihr Leben – oder, wenn nötig, die ganze Welt?
„The Second Death of Locke“ ist ein herzzerreißend romantisches Fantasy-Epos über eine eindringliche Lovestory, eine versunkene Insel und einen unerschütterlichen magischen Bund.
Das Buch enthält folgende Tropes:
Ein untergegangenes Königreich, eine verschollene Erbin und eine große Liebe, die selbst dem Tod trotzt! V.L. Bovalino begeistert mit spektakulärer Romantasy.
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Es regnete wieder einmal in Mecketer. Grey stapfte durch das Feldlager in Richtung Kommandozelt. Sie war fast mit dem Waschen fertig gewesen, war zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig sauber, als Kier die Verbindung zu ihr aufgenommen und einen Impuls hindurchgeschickt hatte. Sie verbrachten so wenig Zeit ohne einander, dass er sie für gewöhnlich nicht bei der Körperpflege störte, also konnte das nur eins bedeuten: Er brauchte sie ganz offiziell. Es war zu kalt, und ihre Haare waren noch nass; der chaotische Haarknoten tropfte ihr auf den Mantel, aber wenn er hier irgendwo war … also schön. Das bedeutete, dass man sie auch brauchte.
Sie gehörten zusammen, und sie nahmen diese Aufgabe ernst.
Jeder Schritt durch das aufgeweichte Lager fühlte sich an wie ein unendlicher Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, als wäre das Blut derer, die sie bezwungen, und derer, die sie verloren hatten, fest entschlossen, ihre Stiefel für ihre Knochen einzufordern. Ähnlich unangenehm waren jedoch das Flattern ihres Herzens und der Kloß im Hals – sie war nicht ängstlich, bestimmt nicht, aber für den Rang, den sie und Kier sich teilten, brauchte es eine gewisse ungesunde Co-Abhängigkeit, über die sie nur nachts nachzudenken wagte, wenn sie sicher sein konnte, dass Kier bereits schlief.
Sie wusste nicht, ob es dem Captain in ihrer Abwesenheit genauso ging. Sie hatte nie nachgefragt.
Grey schlüpfte durch die aufgeklappte Plane ins Kommandozelt – das streng genommen gar kein Zelt war, sondern ein schäbiges Sammelsurium aus Stofftunneln, die schon bessere Tage gesehen hatten. Einst mussten die Zeltbahnen eine natürliche Farbe gehabt haben, aber vom Rauch der Wachfeuer waren sie grau und mit braunen Schlammspritzern gesprenkelt. Sie hasste die Zelte. In ihnen miefte es nach Feuchtigkeit und Schimmel, die unausweichliche Folge von Regen, der in jede Falte drang, und das löste bei ihr immer wieder Juckreiz aus. Bei anderen Missionen waren sie manchmal in einer von Scaelas alten Burgen gewesen, umgeben von Kerzenlicht, dicken Mauern und echten Böden, aber Mecketer war anders. Es war noch nicht einmal in der Nähe einer Stadt – das Feldlager war eine Stadt für sich, und obwohl es während des Großteils des jahrelangen Grenzkriegs zwischen Luthar und Scaela bestanden hatte, war es schon zu oft niedergebrannt oder verlegt worden, um auf dauerhaften Strukturen zu fußen. Der Grund für seine Existenz war wie eh und je, den Versorgungsweg vom Meer zu schützen, der zwischen Scaela und einem von Luthars alten Häfen verlief und mal zu einem Reich, dann zu einem anderen gehörte.
Was sie darum geben würde, wieder in einer der Burgen zu sein, mit einem Dach über dem Kopf und Stein unter den Füßen! Was sie nicht alles für trockene Stiefel und einen wärmeren Mantel geben würde!
Der Schreiber sah auf, als sie eintrat. Ihm stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben – obwohl er gar kein Schreiber war, sondern entweder ein Magieloser, der mit Schreibarbeiten bestraft wurde, oder ein junger Soldat, der wegen seiner Verletzungen nicht auf Patrouille gehen konnte. Er stand auf und neigte den Kopf. „Kann ich helfen, Hand Captain?“ Seine Stimme klang so gleichgültig, als wäre ihm seit einem Dutzend Toten alles egal.
„Ich soll zu Captain Seward kommen“, sagte Grey. Weder Attis noch Concord hatten sie kommen lassen, aber das musste auch nicht sein. Wenn Kier hier war, gehörte sie auch hierher.
Der Schreiber seufzte, führte sie aber aus dem Verwaltungszelt durch drei durchnässte, hauchdünne Tunnel und blieb vor einem Zelt stehen, auf dem das Siegel des High Lord von Scaela prangte: eine offene Hand, die über einem hellblauen Feld das Zeichen der Gerechtigkeit zeigte. Dort blieb er stehen, straffte die Schultern – Grey versuchte, nicht zu viel in die Geste hineinzudeuten – und rief: „Master Attis, Hand Captain Flynn ist hier.“
Von der anderen Seite kam kein Geräusch. Master Attis kannte sich mit Standardzaubern aus, und ihre Quelle war stark genug, also konnte sie einen Schallschutzschild lange genug aufrechterhalten, um den größten Teil ihrer Angelegenheiten vor neugierigen Ohren zu schützen. Sie war gründlich. Grey bewunderte das, auch wenn ihr die Frau irgendwie Angst einjagte, sie wusste nur noch nicht, wieso.
„Herein“, ertönte schließlich eine Stimme.
Grey bedankte sich mit einem kurzen Murmeln bei dem Schreiber. Ihr fiel auf, wie er humpelte, die linke Seite bevorzugte. Kurz dachte sie darüber nach, ihn zu Leonie zu schicken, aber die Heiler waren bereits überlastet.
Sie schüttelte den Gedanken ab und schlüpfte an Scaelas Siegel vorbei. Bevor sie weiter ins Zelt trat, nickte sie Master Attis und ihrer Hand zu. Es ploppte ein wenig in ihren Ohren, als sie durch Attis’ Schild lief, und sie musste sich sehr zusammenreißen, nicht die Nase krauszuziehen oder sich die Ohren zu reiben.
Wie in den meisten Zelten in Mecketer gab es auch hier fast kein Mobiliar und vor allem nichts, das als permanent oder vernünftig gebaut zählen konnte. In einer Feuerschale an der Seite, gefüllt bis zum Rand mit magiegespeisten, leicht violetten Flammen, loderte es, und die Wärme brachte Grey etwas Entspannung. Es war ein kleines Zelt, in dem nur ein mit Karten überladener Tisch stand, ein Schreibtisch und zwei Stühle. Attis saß kerzengerade am Schreibtisch, die grau melierten schwarzen Haare zu einem festen Dutt gebunden, der ihre Gesichtszüge noch strenger aussehen ließ. Ihre Hand lauerte wie ein schräger Schatten hinter dem Schreibtisch. Kier saß auf dem anderen Stuhl und wirkte zerzaust, aber unbekümmert, obwohl er genauso gerade wie Attis saß. Es lag wohl an der unsauber geschwungenen Linie seines Mundes, an der Haarlocke, die nie dort bleiben wollte, wo er sie hintat.
„Tut mir leid, dass wir ohne Euch angefangen haben, Hand Captain“, sagte Attis und klang dabei kein bisschen, als würde sie sich entschuldigen wollen. Sie ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch und sah Grey dabei kaum an.
Wer bin ich, dass Ihr meinetwegen warten müsst?, wollte Grey sagen, aber sie hatte wegen ihrer vorlauten Art hier schon mehrfach Schwierigkeiten bekommen. Der Schlamm machte sie reizbar, und die salzige Luft vom Meer, das nur wenige Kilometer entfernt war, ruhelos, aber Attis war auch nicht gerade Balsam für ihre Seele. Das war einer der vielen Gründe, wieso ihr diese Mission auf die Nerven ging: Sie musste ihre wahren Gefühle für sich behalten, es sei denn, Kier war der Einzige in Hörweite. Da ihnen entweder ein gewaltsamer Tod oder eine lebenslange Schlacht drohten, hatten ihre Vorgesetzten normalerweise einen besseren Sinn für Humor.
Grey nickte einmal und widmete sich Kier. Sie ließ den Blick kurz über ihn wandern wie immer, wenn sie wieder vereint waren, egal, wie kurz sie sich nicht gesehen hatten. Das war eine weitere ihrer angstbesetzten Eigenschaften. Kiers Aussehen war fest in ihrem Kopf gespeichert und ihr genauso vertraut wie ihr eigenes Spiegelbild: das ungleiche Haselnussbraun seiner Augen, die dunklen Haare, die wegen der salzigen Luft lockiger waren als üblich, genau wie zu der Zeit, als sie noch Kinder waren; die unterschiedlichen Töne seiner Haut, die ein dunkles Oliv annahm, wenn die Sonne mehr als eine Stunde am Tag schien (außer hier in Mecketer, wo sie kaum zu sehen war und Kier, der die Sonne am Himmel genauso liebte wie diese ihn, untypisch blass war). Die Fülle seiner Lippen und die krumme Nase, der Schatten seiner Wimpern auf seinen Wangenknochen.
Kein neuer Bruch. Keine Wunde, abgesehen von dem Kratzer am Kinn von einem Gefecht vergangene Woche.
Sie schlüpfte auf ihre Position hinter ihm.
Kiers Schultern entspannten sich, weil Grey da war, wenn auch nur einen Hauch.
In der erprobten Haltung von Magiern und ihren Händen, ihren Quellen, ihrer Macht, legte Grey eine Hand auf Kiers linke Schulter, die Finger gekrümmt, sodass ihre Fingerspitzen gerade so sein Schlüsselbein berührten, der Daumen wenige Zentimeter von seiner Haut am Mantelkragen entfernt. Unterwerfung und Schutz, Treue und Macht, alles in einem.
„Wie ich bereits gesagt habe, das hier wird nicht einfach werden“, sagte Attis.
„Das ist es doch nie“, erwiderte Kier mit seiner ruhigen, weichen Stimme, die so anders klang als der Terror, zu dem er in der Lage war. Der kleine Teil von Grey, der noch vor Angst kribbelte, beruhigte sich sofort. „Aber bitte, fahrt fort.“
Grey warf einen Blick auf die Papiere auf Attis’ Schreibtisch. Der größte Teil davon waren Karten, versehen mit Pfeilen, Siegen und Verlusten, auf denen zu sehen war, wo die scaelanischen Armeen an der Grenze stationiert waren. Auf der Hauptkarte sah man die Aufteilung der Insel Idistra in ihre Staaten. Greys Blick wanderte über die Ecken: Kämpfe mit Cleoc Strata im Norden, mit Eprain im Osten, mit Luthar im Süden. An der westlichen Grenze mit Nestria herrschte glücklicherweise Frieden – ihr neuer High Lord hatte kein Interesse am Blutvergießen –, aber wer konnte schon sagen, wie lange er halten würde.
Sie brauchte eine halbe Sekunde, um zu registrieren, dass zwischen Kier und Attis noch eine weitere Karte lag, die mit unsauberer Schrift verunstaltet worden war. Sie war viel kleiner als die, die Attis’ großen Schreibtisch bedeckte. Grey wagte nicht, sich vorzubeugen, um sie genauer in Augenschein zu nehmen – das war nicht ihre Aufgabe. Denken war nicht ihre Aufgabe. Strategie war nicht ihre Aufgabe.
Grey war eine magische Quelle und darüber hinaus Kiers offizielle Hand. Sie war ihm als Quelle zugeteilt. Und als solche hatte sie zwei Aufgaben: erstens, ihrem Magier die Energie zufließen zu lassen, die er für seine Zauber brauchte. Und zweitens, ihn am Leben zu erhalten, koste es, was es wolle. In der Vergangenheit war es eine lebenslange Aufgabe gewesen, Hand eines Magiers zu sein, und sie war durch ein Bindungsritual besiegelt worden, aber diese Praxis war seit Langem schon verpönt und vor Kurzem erst verboten worden.
„Das ist ihre Route“, sagte Attis und fuhr mit dem Finger über einen markierten Höhenzug. Offensichtlich hatte Grey einen Teil des Gesprächs verpasst. „Und hier ist das Zielobjekt. Sie reisen mit einem Gefolge aus achtzehn Magiern“ – was hieß, dass auch achtzehn Quellen mitreisten, denn in Idistras Magiesystem konnte ein Teil ohne den anderen nichts ausrichten, aber Attis erwähnte die Quellen nicht, und Grey konnte nicht anders, als Attis’ eigene Hand anzusehen – „und scheinen in Schichten eingeteilt zu sein, um schneller voranzukommen. Vier identische Kutschen, alle gleich geschützt. Der Befehl lautet auf eine vollständige Dezimierung, angeordnet vom High Lord.“
Kier zuckte nicht mit der Wimper. Natürlich nicht, nachdem er seit Jahren diese Befehle ausführte. Grey hatte aufgehört zu zählen, wie viele Tode auf ihr Konto gingen, wie viel Blut in jedem einzelnen der Gefechte vergossen worden war, aus denen sie stets gerade so lebendig herausgekommen waren.
„Es könnte schwierig werden mit der Dezimierung“, sagte Kier. „Wie viele führe ich in die Schlacht?“
„Ihre ganze Kompanie, Captain.“
Er gab ein erstauntes Geräusch von sich. „Alle?“
„Befehl des High Lord.“
Grey bemerkte nicht, wie sehr sich ihre Finger in Kiers Schulter gruben, bis er sie unauffällig absenkte, sein Signal, um ihr zu zeigen, wie angespannt sie war.
Es hatte schon immer deutlich mehr Quellen als Magier auf Idistra gegeben, aber durch die ständigen Kriege und die schwindende Macht konnte man sich dessen nicht mehr sicher sein – noch nicht einmal in Scaela, der Nation, die die meiste Macht innegehabt hatte, bevor alles anders geworden war.
»In Anbetracht der letzten Zählung der Quellen scheint mir das nicht wie eine besonders gute Strategie …«, setzte Grey an.
„Es könnte klüger sein, einige unserer Quellen zurückzulassen“, pflichtete Kier ihr bei, hielt den Kopf für ihre Kühnheit hin und bügelte gekonnt ihren Fehler aus. Sie spürte ein leichtes Ziehen in der Verbindung zwischen ihnen, ein Warnsignal, und presste die Lippen aufeinander. Obwohl sie und Kier so gut austariert waren wie nur möglich und sich als Ebenbürtige behandelten, gingen nicht alle Magier mit ihrer Kraftquelle so um.
Und natürlich wusste sie, was Kier sagen würde, wenn sie allein wären: Wenn du nicht aufhörst, Autoritäten infrage zu stellen, wirst du Aufmerksamkeit auf dich ziehen, was sie üblicherweise mit Wir ziehen immer die Aufmerksamkeit auf uns konterte. Das liegt an dir, weil du so erschreckend grotesk bist. Woraufhin er vermutlich mit Erschreckend gutaussehend, meinst du reagieren würde.
Attis schüttelte den Kopf und warf Grey einen warnenden Blick zu, bevor sie sich wieder Kier zuwandte. „Nicht jede Spezialfähigkeit ist so fortgeschritten wie Eure. Jeder Magier in Eurer Kompanie wird von seiner Hand begleitet werden, dazu genügend magielose Soldaten zum Schutz, und alle werden bei Euch bleiben. Ich gehe kein Risiko ein.“
Kier protestierte nicht, aber Grey wusste, was er dachte. Als die Magie in Idistras Nationen noch stark war, war die einzige Begrenzung eines Magiers seine Quelle gewesen. Doch jetzt hatte sich alles verändert – alles war schwächer geworden. Obwohl Magier stets eine Affinität zu Fleisch und Blut gehabt hatten, zu Materialien oder natürlichen Kräften, waren sie nun beschränkt darin, was sie mit ihrer Magie ausrichten konnten. Die Magier mit einer Affinität zu Fleisch und Blut hatten alle eine Spezialfähigkeit, einen Körperteil, den sie in ihren Gegnern beeinflussen konnten; Materialisten konnten sich nur noch auf ein bestimmtes Metall, Holz oder Objekt konzentrieren. In ihrer Zeit als Heilerin in Scaelas Armee hatte Grey das ganze blutige Sortiment erlebt: diejenigen, die ihren Gegnern die Luft abschnüren konnten und Tote mit blauen Lippen und gequälten Gesichtern zurückließen; Fleischmagier, die riesige Hautstränge über die Münder nähten, die Grey dann mit einer schmalen Klinge unter viel Blutverlust wieder auftrennen musste; Knochenmagier, die Kiefer sperren und Knochen mit einem einzigen Blick brechen lassen konnten. Internistische Affinitäten waren selten, aber wenn sie auftraten, waren ihre Fähigkeiten einfach nur grauenhaft.
Vielleicht war Kiers Affinität zum Herzen da besser. Sauber. Natürlich gab es auch für sie Grenzen – eine Aorta komplett zu durchtrennen, kostete Grey so viel von ihrer Kraft, dass sie nur zehnmal in der Stunde dazu in der Lage war, eventuell ein Dutzend Mal, aber es gab schließlich auch andere Wege, das Herz zu verletzen. Andere Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass ein Feind sich nicht wehrte. Und obwohl sich Kier auf den Muskel selbst konzentrierte, beherrschte er auch die grundlegenden Zauber.
„Sie werden auf dieser Handelsroute reisen. Wenn sie das Objekt über den Fluss nach Luthar bringen, ist es für uns unrettbar verloren. Habt Ihr das verstanden, Captain Seward?“
„Absolut“, erwiderte Kier und sah mit finsterer Miene auf die Karte. Was gut war, denn Grey verstand fast nichts. Sie schickte einen Impuls über ihre Verbindung zu ihm. Sätze zu formulieren, dazu waren sie nicht in der Lage, aber sie waren schon so lange als Magier und Quelle verbunden, dass Kier an der Art, wie sie ihre Gefühle durch die Verbindung zu ihm schickte, ihre Intentionen ablesen konnte. Dasselbe traf auf ihn zu. Er bemerkte ihre Neugier und begriff sofort.
„Und was genau ist das Zielobjekt?“
„Das geht Euch nichts an, Captain Seward.“
Es entstand ein kurzes Schweigen. Grey wünschte, sie könnte Kiers Gesicht sehen, anstatt es sich anhand seines Hinterkopfs vorstellen zu müssen. „Master Attis“, sagte Kier sehr behutsam. „Ihr seid Euch sicher der Tatsache bewusst, dass ich das Zielobjekt nicht holen kann, wenn ich nicht weiß, was es ist.“
Wieder herrschte Schweigen. Grey blickte geradeaus, das Gesicht teilnahmslos, und versuchte, wieder in das Bild einer perfekten Hand zu passen, was Kiers Rang besser entsprach. Gegenüber von ihr folgte Attis’ Quelle demselben Prinzip. Ihr Name war Mare Concord, und sie war achtunddreißig Jahre alt. Sie war seit achtzehn Jahren Attis’ Hand, lange genug, um sogar ihre Gedanken von jemand anderem bestimmen zu lassen. Grey hatte das herausgefunden, als Attis sie vor zwei Jahren für eine andere Mission ausgeborgt hatte, weil Mare verletzt worden war und medizinischer Hilfe bedurfte.
„Ihr werdet es erkennen, wenn Ihr es seht“, sagte Attis knapp. „Mehr müsst Ihr nicht wissen. Ihr brecht noch vor Tagesanbruch auf. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Grey erkannte anhand der Pause, die entstand, dass Kier nachbohren wollte. Aber er wusste es besser. Das war der Unterschied zwischen ihr und Kier – ihm war klar, wann der Bogen überspannt war.
„Ja, Master“, sagte er.
„Gut“, erwiderte Attis, nahm bereits das nächste Blatt von ihrer Hand entgegen und widmete sich der nächsten Aufgabe. „Wegtreten.“
Für einen kurzen Augenblick nur trafen sich die Blicke von ihr und der Hand von Attis. Grey sah noch Mares Gesicht vor sich, grau vom Blutverlust, die Lippen aufgeplatzt und spröde, wie sie aus dem Becher in Greys Hand trank. Mare war bewusstlos gewesen, als Grey die Wunde in ihrer Leber vernäht hatte, aber als sie bei der äußeren Verletzung angekommen war, hatte die Betäubung nachgelassen, und Mare hatte mit leerem, kraftlosem Blick hingenommen, dass Grey Stich um Stich um die gezackte Schnittwunde über ihren Rippen setzte. Sie erinnerte sich noch daran, was Mare gesagt hatte, als sie fertig war. Mit den blutigen Fingern hatte sie ihr Handgelenk gepackt. Hör auf. Sofort. So schnell du kannst. Sie brauchen dich nie so sehr wie du sie.
Damals hatte sie Mare erwidert, dass Kier anders sei, und hatte einen so mütterlich mitleidigen Blick geerntet, dass ihr Herz schmerzte. Keiner ist anders. Sie sind alle gleich.
Mare war ohne eine Infektion genesen, dank Greys sorgfältigem Vorgehen. In jener Nacht hatte Grey noch lange wach gelegen, nachdem Kiers Atem schon gleichmäßig geworden war, und sein Gesicht betrachtet.
Wir werden in dieser Rüstung sterben, hatte Mare gesagt und nach ihrer blutigen Hand gegriffen. Wir werden unter Scaelas Banner sterben, und wofür?
Für das, was sie Locke angetan haben, hatte Grey nicht erwidert, obwohl die Wahrheit dieser Aussage ihr bis in die Knochen brannte.
Kier war bereits auf dem Weg, und Grey kämpfte sich schnell aus ihren Erinnerungen, um ihm zu folgen. Er ging quer durch den Raum, durch die Stofftunnel und aus dem Zelt. Grey blieb so knapp hinter ihm, wie sie konnte – Magier und Quellen wurden nicht aufgrund ihrer Schrittlänge zusammengetan, aber vielleicht hätte man das berücksichtigen sollen –, bis sie in den Lärm des Feldlagers traten.
»Kier …«, setzte sie an.
„Nicht hier“, sagte er, ohne sich umzudrehen. Es war auch nicht nötig. Sie war so gut auf seine Stimme eingestellt und spürte ihn so deutlich, dass sie ihn sogar hörte, wenn er mitten in der Schlacht etwas flüsterte.
Sie blieben an einem der offenen Feuer stehen, um sich mit heißem Tee und Essen zu versorgen, und machten sich dann mit eingewickeltem Brot, Käse und Rauchfleisch in den Taschen und den heißen Bechern in den Händen zu ihrem Zelt auf. Als sie am Feldlazarett vorbeikamen, konnte Grey die Schreie der Verletzten hören. Sie wollte helfen, aber sie tat es nicht. Ihre Pflicht wartete nicht in diesem Zelt oder einem ähnlichen, seit sie vor sechs Jahren von ihrem Posten als Heilerin abgezogen und Kier als Quelle zugewiesen worden war. In ihrer Freizeit half sie trotzdem noch, aber sie litten beide bereits unter Schlafmangel, und gemessen daran, was sie von dem Gespräch mitbekommen hatte, würde sich daran heute Nacht nichts ändern. Grey eilte weiter.
Sie durchquerten das Lager. Das Meer von Gesichtern war bunt, aber die Erschöpfung und die hartnäckige Kriegsmüdigkeit verliehen ihnen allen ein vertrautes Erscheinungsbild. Wie im Rest von Idistra gab es auch in Scaela kein einheitliches Aussehen. Vor eintausend Jahren war die ganze Insel noch unbewohnt gewesen. Dann kamen die ersten Schiffe und mit ihnen die Magie. Vor den Kriegen waren die Staaten bekannt für Fischfang, Textilien und Handel mit dem Norden gewesen; fast alle hier stammten von irgendwo anders her und sahen dementsprechend aus. Grey selbst war wie ein Mosaik: Wenn überhaupt, konnte sie ihre Abstammung zu Lindan zurückverfolgen, möglicherweise auch ein wenig Ruskaya, aber noch wichtiger zu den alten Familien, die die Insel erreicht und die Magie erlernt hatten. Das kühle Stahlblau ihrer Augen, die blasse Haut und die dunkelbraunen Haare passten zu der Mischung der Soldaten von überall aus Scaela, ganz anders als damals, als sie an der Küste aufgewachsen war, wo nicht wenige von den Händlern Isbetans und Maroushans abstammten und Kiers Farbtöne hatten.
Zurück in ihrem Zelt war alles einfach. So war es immer, wenn sie allein waren, wenn die Ränge unwichtig waren und sie nicht nachdenken musste.
So ruhig wie immer öffnete Kier die Spange an ihrem Hals und half ihr aus dem Mantel. Dann hängte er seinen darüber. Er zog die kleine Feuerschale zwischen ihre Bettpritschen und griff nach ihrer Hand, um sie zu entzünden. Grey spürte, wie magische Energie aus ihr floss, ein Zwicken und dann einen warmen Schauder auf ihrem Rücken. Er musste sie nicht berühren, um ihre Magie zu nutzen, aber es war immer leichter, wenn irgendeine Art von Kontakt zwischen ihnen bestand: Er verbrauchte weniger von ihrer beider Energie, und wenn sie allein waren, gab es keinen Grund, sie ohne Kontakt abzuschöpfen. Wen sollte es stören?
Sie zog die Stiefel aus und stellte sie neben ihre Pritsche. Er rutschte beiseite und machte ihr auf seiner Platz, baute aus seiner Decke einen Kokon für sie. Grey setzte sich im Schneidersitz hin, die Knie vom Feuer gewärmt, seine linke Seite dicht an ihre rechte gedrückt. Er hatte den kleinen Beistelltisch für den Tee und das Essen herangezogen.
„Also?“, fragte sie.
Er gab ein kehliges Geräusch von sich, sein Blick war in die Ferne gerichtet. Sie stupste ihn mit der Schulter an, und er reichte ihr Käse und Brot, als wollte er sagen: Iss, ich komme schon drauf zu sprechen.
„Die Nummer gefällt mir nicht“, sagte er schließlich. „Fühlt sich seltsam an.“
„Wieso?“, fragte Grey.
„Wegen des High Lord zum Beispiel. Das kann nichts Gutes bedeuten, wenn er involviert ist.“
Grey kaute auf ihrer Lippe. Er hatte nicht unrecht – Grey und Kier kämpften an der südlichen Grenze gegen Luthar; der High Lord, der nach Art aller Herrscher Idistras nur Scaelas genannt wurde, war im Nordosten. Wenn er sich hier einschaltete, musste die Mission wichtig sein.
Aber das war nicht das Einzige, was sie und womöglich Kier an der Beteiligung des High Lord störte. Grey, Kier und sein Bruder Lot waren in einem Dorf an Scaelas Nordostküste aufgewachsen, in der Nähe der Hauptstadt und des Sitzes des High Lord. Es war Jahre her, dass sich Grey Gedanken über die Anwesenheit Scaelas’ in ihrem Leben machen musste.
„Das bedeutet, man vertraut dir“, sagte sie.
Kier warf ihr einen Blick zu. „Das bedeutet, dass wir aufgefallen sind.“
„Das könnte ja auch etwas Gutes sein“, sagte sie bestimmt.
„Vertraust du mir?“ Keine andere Frage war so überflüssig wie diese.
„Auf ewig“, sagte Grey. Sie beobachtete, wie er das Brot zerteilte. Seine Finger waren lang und vernarbt, und er trug einen silbernen Ring am rechten Mittelfinger, obwohl das nicht erlaubt war angesichts des ständigen Risikos, im Kampf den Handschuh zu verlieren. Der Ring hatte einst Lot gehört, bevor er in einem Gefecht gegen Eprain gefallen war.
Kier seufzte, legte die trockene Rinde seines Brots beiseite und warf ein paar Krumen ins Feuer. »Ich habe Angst vor dieser Mission. Mein Gefühl sagt mir … Ich weiß nicht, Grey. Es gefällt mir nicht.«
Die Tatsache, dass er ihren Namen gebrauchte, ließ sie aufhorchen. „Ich wusste gar nicht, dass du die Gabe der Prophetie bekommen hast, als ich gebadet habe“, erwiderte sie reflexartig, weil er ihn so selten sagte.
Das genügte, um ihm ein halbherziges Lächeln zu entlocken. Grey betrachtete sein Gesicht, die Falten um die Augen, die erst kürzlich dazugekommen waren. Er hatte vergangenes Jahr angefangen, an den Schläfen zu ergrauen. Sie zog ihn unablässig deswegen auf, auch wenn sie dabei Bauchschmerzen hatte. Mit sechsundzwanzig gehörte er zu den jüngsten Captains in Scaela, und es machte sie wütend, wie jeder Tag seines Dienstes diese Tatsache mehr und mehr verblassen ließ.
Kier sah finster drein. »Mir hat Attis’ Gesichtsausdruck auch nicht gefallen … und da lag noch etwas auf ihrem Schreibtisch. Ich hätte es nicht lesen dürfen, aber ich habe es trotzdem getan.«
Grey stieß ihn mit der Schulter an. „Kier Seward, du Scharlatan. Du liest die geheime Korrespondenz unserer Vorgesetzten? Das passt überhaupt nicht zu dir.“
Er lächelte, aber das Lächeln erreichte nicht seine Augen. »Es sieht aus, als hätte Luthar etwas entdeckt, mit dem sie glauben, neue Quellen schaffen zu können. Gegen den Verfall anzukämpfen. Wenn sie wirklich glauben, dass sie neue Quellen erzeugen können, die Macht wiederherstellen … dann ist es kein Wunder, dass der High Lord sich einschaltet.«
Grey erstarrte kurz – Kier sah sie aufmerksam an, betrachtete ihr Gesicht, und er würde sofort merken, wenn sie Unbehagen zeigte. Also unterdrückte sie es. „Der einzige Weg, wie sie die Macht wiederherstellen können, ist, wenn sie den Erben der Insel gefunden haben.“
„Ich weiß“, sagte Kier.
Grey spielte mit ihrem Deckenzipfel. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn sie den Erben der Isle of Locke finden würden, eine Heldentat, die schon seit langem quasi unmöglich geworden war, weil jemand die Insel, die Quelle der Macht der fünf anderen Nationen, angegriffen und völlig zerstört hatte.
Ob nun detoniert oder untergegangen – als die Isle of Locke vor sechzehn Jahren im Meer versunken war, war der brüchige Frieden zwischen den verbleibenden Staaten endgültig dahin gewesen. Die Jagd hatte begonnen, als Scaelas einen Brief von Severin von Locke bekommen hatte, unterzeichnet mit seinem echten Namen, der bewies, dass der Erbe offensichtlich den Angriff überlebt hatte.
Grey erinnerte sich noch an die Patrouillen in den Dörfern und wie die Soldaten Scaelas jeden Jungen zwischen zwölf und zwanzig Jahren verhört hatten, nur um sicherzugehen. Sie erinnerte sich daran, wie sie ein halbes Dutzend Mal Lot geholt hatten, und an seinen leeren Blick, wenn er spätabends nach dem Verhör zurückgekehrt war. Sie wusste noch, wie sie zusammen mit Kier an der Tür gelauscht hatte, wenn Kiers Mutter leise versuchte, Lots Fragen über den Krieg zu beantworten: Wieso haben die mich verhört? Weil du das richtige Alter hast. Wen suchen sie denn? Den einzigen Menschen, der diesen Krieg beenden kann – aber er ist selbst noch ein Kind. Was hätten sie denn mit mir gemacht? Was werden sie mit ihm machen? Ich weiß es nicht, mein Junge. Ich weiß es nicht.
Es war eine traurige Wahrheit und eine, die zum Krieg zwischen den Staaten von Idistra geführt hatte. Die Isle of Locke war stets der Ursprung der Macht für Idistras Staaten gewesen: Scaela, Cleoc Strata, Nestria, Eprain und Luthar. Die Quellen, bei denen sich die Magier dieser Länder bedienten, bezogen hier ihre Kraft.
Niemand wusste genau, wie oder wieso Locke zerstört worden war, noch, welchem Land die Schuld für die Zerstörung zukam, aber eine Sache war offensichtlich: Ohne seine physische Existenz und ohne die Möglichkeit, dass der Erbe eine Verbindung zum Hauptquell aufnahm, war seit sechzehn Jahren in ganz Idistra nicht eine einzige Quelle geboren worden.
Kier ließ nicht locker. „Es sei denn, sie haben einen anderen Weg gefunden. Vielleicht irgendeinen Urahn? Einen Blutsverwandten? Irgendeinen vergessenen Cousin?“
„Ich glaube nicht, dass die Kräfte so funktionieren“, wiegelte Grey ab. „Eine solche Verbindung, ein vergessener Cousin der Insel, wäre nicht stark genug, um all die Macht wiederherzustellen.“
„Dann vielleicht jemand mit einer direkteren Verbindung? Ein Bastard?“
„Alle, in denen das Blut der Insel floss, wurden getötet“, sagte Grey scharf.
Jede Nation hatte ihre eigenen Allianzen mit Locke, aber Scaela war durch Blut und Schwur an die Insel gebunden. Scaelas, der High Lord, der den Namen seines Staates trug, war der Erste gewesen, der in dem Versuch, das Schicksal von Lockes verlorenem Sohn aufzudecken, einen Krieg angezettelt hatte – zuerst mit Epras, weil sie jeden Cousin mit dem Blut der Insel jagten, dann mit Nestria, weil sie nach der Zerstörung die High Lady von Lockes Schwester getötet hatten – und dann war es nur eine Frage der Zeit, bis Cleoc Strata und Luthar folgten.
Kier schwieg einen langen Augenblick. „Über den Teil denke ich lieber nicht nach.“
Er war unmöglich zu vergessen, schließlich war genau das der Grund, wieso Krieg herrschte. „Ich weiß“, sagte Grey dennoch.
„Also glauben sie tatsächlich, den Erben gefunden zu haben“, sagte Kier und drehte seinen Ring. „Das ist die einzig mögliche Erklärung.“
„So sieht es aus.“
Er zuckte die Achseln. „Dann ist das nicht mein Problem. Und deins genauso wenig. Sollen sich andere den Kopf darüber zerbrechen. Wir werden uns holen, was auch immer sie haben wollen, und dann weitersehen. Es ist ein dummes Unterfangen, aber wenn Attis glaubt, dass wir etwas Großes vollbringen können, dann wirft das zumindest ein gutes Licht auf deine Kräfte. Vielleicht werden wir an einen netteren Ort versetzt.“
Sie legte ihm eine Hand an die Schläfe und fuhr über die silberne Strähne in seinen dicken, dunklen Haaren. Er hatte einen Haarschnitt dringend nötig – sie waren seit Wochen pausenlos in der Defensive, weil Luthar die Kontrolle über die Nachschubroute erlangen wollte, die von der Brücke am Fluss bis zum Hafen verlief. Kier befehligte sechzig Mann (obwohl er immer sagte: „Du hast genauso das Kommando wie ich“, und sie darüber immer lachen musste), also war es verständlich, dass die Haare ganz unten auf seiner Liste standen. Wenn sie eine bessere Hand wäre, eine militantere, würde sie die Sache jetzt erledigen. Sie hatte alles Nötige dafür in ihrer Tasche. Aber bei allem Pflichtbewusstsein liebte sie einfach das Gefühl seiner zu langen Haare, wenn sie sich um ihre Finger wickelten.
„Attis hat uns die Mission erteilt, weil wir dazu in der Lage sind“, sagte sie.
Er seufzte. „Sie hat uns die Mission erteilt, weil du die beste Quelle bist, die wir haben, und weil sie das endlich begriffen hat, obwohl es sie wütend macht, sich einzugestehen, dass du stärker als Concord bist.“
Grey zuckte die Achseln. Es gab keine richtige Antwort darauf. „Ruh dich aus, Captain“, sagte sie. Dann stupste sie seine Hand in Richtung der Brotkrumen. Schließlich war sie seiner Gesundheit verpflichtet. „Und iss.“
Kier zog eine Grimasse, aber er gehorchte.
Der Krieg dauerte nun schon fast zwanzig Jahre und dominierte ihre Erinnerungen für den größten Teil ihres Lebens. Davor, als Locke noch als neutrales Territorium existierte, waren die sechs Staaten von Idistra genauso friedlich wie der ganze Kontinent gewesen. Grey konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sich das angefühlt hatte.
Greys Eltern und ihr Bruder waren Opfer des Krieges. Nach der Tradition in Scaela war das Waisenmädchen, das an jenem düsteren Tag am Ufer angespült und halb verhungert und verwahrlost im Wald gefunden worden war, einer Kriegswitwe anvertraut worden. Man hoffte, dass dies das Leid lindern konnte – und es löste das Problem der Waisenkinder, denen man trotz des empfindlichen Mangels an Pflegeeltern so ein Heim bieten konnte. Es war nur weniger hilfreich, dass Greys neuer Vormund gerade erst achtzehn geworden war, vor Kurzem geheiratet hatte und genauso schnell zur Witwe geworden war. Sie war kaum in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern, geschweige denn um ein trauerndes Kind.
Daher war es eine glückliche Fügung des Schicksals, dass das nette Paar neben Imarta zwei Jungen hatte, die nur etwas älter waren als Grey, und sich bereit erklärte, noch zwei weitere Nachzügler liebevoll aufzunehmen. Grey konnte sich an ihre ersten Tage in Imartas Haus nur noch in Bruchstücken erinnern: wie Kiers Großmutter einen großen Topf auf dem Herd umrührte, während seine Mutter die Schnürsenkel an Greys Stiefeln schnürte; wie der ältere Junge ihren Namen beim ersten Mal missverstand und sie immer nur Grape nannte; wie sie an Imarta gekuschelt schlafen wollte, weil sie kaum durch die Nacht kam, ohne vor Angst zu schreien; wie sie am Tisch einen Stapel weitergereichter Hemden durchwühlte, während sie die Jungs beobachteten.
Sie war froh, dass sie noch wusste, wie sie ihn kennengelernt hatte. Dass sie eine vage Erinnerung an das Leben ohne Kier hatte, und sei es nur, um besser zu verstehen, wieso sie sich ohne ihn fühlte wie ein nicht vertäutes Schiff. Sie kannten sich schon so lange und waren miteinander verwachsen wie Wurzeln benachbarter Bäume, nicht wie benachbarte Kinder, bis Kier so sehr mit ihrem Verständnis von Magie verknüpft war, dass sie die beiden manchmal kaum auseinanderhalten konnte.
Vielleicht war es Schicksal. Eine selbsterfüllende Prophezeiung. Kier war ihr inzwischen so nah, wie sie der wahren Magie je kommen würde.
Es war später Abend, als sie endlich wieder allein waren, nach einer Diskussion mit ihren Offizieren über die richtige Strategie beim Hinterhalt und einer Runde Training.
Grey war müde, und ihr tat alles weh. Sie lag mit dem Rücken auf dem kratzigen Teppich, der ihren Zeltboden vor dem Schlamm schützte. Sie hatte ihren Mantel und den größten Teil ihrer Kleidungsschichten abgelegt und trug nur noch ihre eng anliegende Trainingshose und ein enges Hemd. Grey starrte gerade nach oben und betrachtete die Bewegungen der Zeltbahn im Wind.
Kier legte den Schleifstein und seine Klinge beiseite und setzte sich neben sie. Als seine Hände ihre Waden nahmen und die Verhärtungen herausmassierten, war das Geräusch, das sie machte, fast unanständig. Er antwortete mit einem leisen Lachen. Sie schlug sich schnell eine Hand vor den Mund, bevor noch mehr herauskam und sie sich voller Scham und unehrenhaft aus der Situation, ihrer Position und vielleicht ganz Scaela entfernen musste.
„Umdrehen“, murmelte Kier.
Grey presste die Lippen aufeinander, aber tat wie ihr geheißen. Sie schob die Träger über die Schultern, und Kier half ihr, das Hemd bis zur Hüfte herunterzuziehen und ihren Rücken freizulegen. Grey fröstelte und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf. Kier setzte sich auf sie und widmete sich ihrem Rücken. Das Problem damit, darauf trainiert zu sein, ihn rund um die Uhr zu beschützen, koste es, was es wolle, war, dass ihr Körper einen ziemlich hohen Preis zahlte. Anders als die meisten Magier versuchte sich Kier zumindest erkenntlich zu zeigen.
„Ich versuche immer noch, mir einen Reim darauf zu machen“, sagte er und bearbeitete mit den Fingerknöcheln die Verhärtungen in ihrem unteren Rücken. „Du bist dir sicher, dass es nichts gibt, was einfach so eine Quelle erzeugen kann, richtig?“
„Das weißt du genauso gut wie ich.“
„Lügen, Blasphemie, üble Nachrede.“
Sie seufzte. „Nein. Es gibt nichts, was eine Quelle erzeugen kann.“ Sie kaute auf der Lippe und war von den sanften Berührungen abgelenkt, die seine Finger auf dem Weg nach oben verursachten, bis sie die verspannten Muskeln an den Schultern erreichten.
Er dachte nach. „Dann kommt es aus irgendeinem anderen System.“ Die idistranische Magie beruhte auf einer Quelle und einem Magier, aber andere Magiesysteme an anderen Orten funktionierten nicht so. „Vielleicht ein Stein?“
„Ein Stein?“ Grey sah ihn über die Schulter an.
Er grinste sie an und oh. Oft konnte sie so tun, als wären Kier und sie nichts weiter als sehr enge Freunde, aber manchmal war dieses Ziehen in der Brust schwer zu ignorieren.
„Oder ein Elixier“, überlegte er.
„Kiernan Seward, wenn wir unser Leben für einen Stein oder ein Elixier aufs Spiel setzen müssen, dann werde ich dich und dieses verfluchte Lager verlassen und desertieren.“
Er lachte und legte die Hände um ihre Taille. Seine Daumen drückten links und rechts ihres Rückgrats ins Fleisch. Sie biss sich auf die Lippen, um keine unangemessenen Geräusche von sich zu geben. „Mich würdest du nicht verlassen“, sagte er.
Sie schloss die Augen und verbarg das Gesicht im Arm. Nein, sie würde ihn nicht verlassen. Aber eines Tages vielleicht würde es das Beste für ihr Herz sein, wenn sie es tat.
„Vermutlich ist es ein Fehler“, sagte Kier. Für einen kurzen Augenblick dachte sie, er meinte das, was sie gerade taten, und ihr Herz setzte kurz aus – obwohl es nicht ungewöhnlich für ihn war, so liebevoll und sanft mit ihrem Körper umzugehen. „Eine Ente.“
„Mag sein“, sagte Grey.
Er machte sich wieder an die Arbeit, und die Stille zwischen ihnen wuchs. Grey wechselte die Position, aber bewusst unauffällig, denn diese Art der Pflege bewirkte vielleicht nichts bei ihm, aber bei ihr dafür auf eine Art und Weise, die ihr unendlich unangenehm wäre, wenn er es herausfände.
Es sei denn, die Reaktion war gewollt. In diesem Fall wäre es ein ziemlich guter Augenblick für ihn, um das herauszufinden, einen Schritt weiterzugehen oder eine Grenze zu überschreiten, die sie ohne Gewissheit nie überschreiten würde – aber die Position, in der sie sich befanden, und die Tatsache, dass er diese Grenze nicht überschritt, war ihr Antwort genug.
„Du hattest einen Albtraum heute Nacht“, sagte Kier auf einmal.
Sie rollte unter ihm herum, die Augen schmal, der Arm schützend über die Brüste gelegt. Kier bewegte sich nach oben, um ihr Platz zu machen. Wenn ihr Anblick etwas bei ihm auslöste, so obenherum frei unter ihm, dann verbarg er es geschickt.
Er beugte sich vor und legte ihre Haare so, dass sie nicht unter ihr klemmten. Dann nahm er sich ihren freien rechten Arm vor und fing an, den Unterarm zu massieren. Nach all den Jahren wusste er leider immer genau, wo sie die größten Schmerzen hatte.
„Tut mir leid, dass ich dich durcheinandergebracht habe“, sagte sie.
„Ist schon in Ordnung“, sagte Kier und tat es ab, als wäre es irgendeine Kleinigkeit wie sonst. „Was hast du geträumt?“
Grey legte den Kopf zurück und starrte wieder an die Zeltdecke. „Habe ich vergessen.“
Er stupste sie hart in den Bauch.
„Was? Das stimmt.“
„Flynn“, seufzte er und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
Sie schob seine Hand beiseite und zog ihr Hemd hoch. Jetzt wagte er doch einen kurzen Blick, bevor er wegsah und schluckte.
„Du erinnerst dich an jedes Detail“, sagte er leise.
Ich will mich aber nicht daran erinnern, wollte sie sagen, aber das war es nicht wert. Sie schwieg, bis er von ihr heruntergestiegen war und sich neben ihr ausstreckte. Er hasste es, so viel wusste sie, weil er immer befürchtete, dass die Feuchtigkeit durch den Teppich gekrochen war (was nie passierte), und schwor daher auf die Pritschen, weil diese bequemer waren als der Boden (was nicht stimmte; sie würde einfach hier auf dem Boden schlafen, wenn er nicht so ein Riesenfass deswegen aufmachte). Sein Arm drückte gegen ihren; sie verschränkte ihre Finger mit seinen und spürte die lockere Verbindung zwischen ihnen. Ihre Kraft floss leicht in ihn hinein und fiel dort in einen Schlummer. Der Raum fing an, wärmer zu werden, und das Violett des Feuers wurde eine Stufe heller, als sie ihre Kraft auf ihn richtete.
Kier, wollte sie sagen, was soll das? Wieso kämpfen wir?
Aber er würde nur sagen, dass sie für Scaela kämpften, weil es ihr Zuhause war und weil alle anderen auch kämpften. Scaela gegen Luthar um die Häfen und gegen Cleoc Strata um die fruchtbaren Äcker und gegen Eprain um den Zugang zum östlichen Meer. Es war Scaela gegen die anderen und die anderen Staaten auch gegeneinander. Der einzige Weg, irgendwo Frieden auf dieser verfluchten Insel zu finden, war vielleicht Nestria, weil die nur gegen Cleoc Strata kämpften und ansonsten fast frei waren.
Scaela gegen alle, weil irgendjemand vor Jahrzehnten Locke in dem gescheiterten Versuch, Idistras Macht an sich zu reißen, zerstört hatte, und Scaelas, der High Lord, würde dies nie vergessen.
Denn bald würde überhaupt keine magische Kraft mehr übrig sein, es sei denn, der Erbe der Insel kehrte zurück, um Locke wiederzubeleben. Und irgendjemand hatte den Rest der Familie umgebracht, und niemand wusste, wer das wie getan hatte oder ob es überhaupt möglich war, die Kräfte wiederherzustellen.
Grey spürte, wie all das auf ihrer Brust lastete. Die Hoffnungslosigkeit und ihr Albtraum machten es nur noch schwerer.
„Captain“, sagte sie mit belegter Stimme.
„Hand“, erwiderte er, schlüpfte wieder in seine Rolle und erwartete ihre Beichte. Er legte so viel Zärtlichkeit in dieses eine Wort, dass sie zweimal schwer schlucken musste, bevor sie überhaupt ans Reden denken konnte.
Sie schloss die Augen, konzentrierte sich nur auf seine Hand in ihrer, auf das Auf und Ab der Kräfte, die zwischen ihnen flossen.
„Feuer“, sagte sie. „Ich habe von Feuer geträumt.“
„In der Vergangenheit oder der Gegenwart?“
„Vergangenheit“, sagte sie. „Überall. Meine Haare sind versengt, meine Kleider verbrannt.“
„Und dann?“
Sie zuckte die Achseln. Worte konnten das nicht beschreiben. Es gab kein „und dann“. Sie stand in Flammen. Sie war wach, saß auf ihrer Bettpritsche, die Finger in die Decke gekrallt, schweißgebadet, und keuchte ins Nichts. Dazwischen war kaum eine Sekunde vergangen.
Und sie schrien. Das war das Einzige, was sie Kier nicht verraten wollte: Um sie herum waren nur noch Schreie zu hören.
„Das ist alles“, sagte sie und drückte ihm die Hand.
Er bohrte nicht nach. Er konnte sie mittlerweile einschätzen.
Sie lagen einige Zeit so da und lauschten den Geräuschen des Lagers: Stiefel im Schlamm, halb mitgehörte Gespräche und der Wind in den Zelten.
Irgendwann schließlich seufzte Kier. „Wir sollten schlafen.“ Seine Finger lösten sich von ihren, und er setzte sich auf. Sie beobachtete ihn. Sein Hemd war aus der Hose gerutscht und offenbarte einen Streifen nackter Haut am Rücken.
„Ja, sollten wir.“
Kier packte sie an der Hand und zog sie vom Boden hoch. Dabei schöpfte er gerade genug Macht ab, um das Feuer für eine angenehme Schlaftemperatur einzustellen. Sie ging zu ihrem Koffer, um ein sauberes Schlafgewand zu finden. Kier zog die Stiefel aus, schlüpfte aus seiner Kleidung und legte sie auf seinem Koffer zusammen. Er hatte sich schon immer mit seinem Körper wohlgefühlt, ganz anders als sie mit ihrem; selbst heute noch drehte sie sich zur Wand, um sich umzuziehen.
Im Grunde war es überflüssig. Ob es ihr egal war oder nicht (und um ehrlich zu sein, egal war das falsche Wort), sie hatten jeden Zentimeter voneinander gesehen. Sie kannte jede Narbe auf seinem Körper genauso gut wie ihre eigenen, jede Mimik, zu der sein Gesicht in der Lage war. Zwischen ihnen herrschte kein echter Anstand. Es war schlichtweg nicht möglich, selbst wenn sie so taten, als ob.
Es machte alles noch viel schwieriger, dieses Wissen. Am allermeisten für ihr verräterisches Herz.
„Flynn?“
„Hm?“
Sie drehte sich um und sah, wie er unter die Decke kroch. Nachdem sie ihr Nachthemd angezogen hatte, schlüpfte sie unter ihre eigene Decke und nahm spiegelverkehrt dieselbe Position ein. Zur Übung hatten sie damals ihre Betten so eng aneinandergestellt, damit sie jedes Detail seines Gesichts betrachten konnte, wenn sie so lagen.
„Letzte Nacht“, fing er unsicher an. „Dein Albtraum.“
„Kiernan.“
„Du hast den Namen deines Bruders geschrien.“
Grey sog die Luft durch die Zähne ein. „Na und? Du schreist auch den Namen deines Bruders, wenn du schläfst.“
Seine Miene blieb unverändert. Jeder von ihnen hatte einen Bruder verloren – was gab es da noch zu sagen?
»Du hast nur … schon länger nicht mehr so einen schlimmen Traum gehabt. Wenn irgendetwas geschieht … wenn sich irgendetwas ändert …«
Sie drehte sich wütend auf den Rücken, damit er ihr Gesicht nicht sehen oder weiterreden konnte. „Schlaf jetzt“, sagte sie. „Du verbrauchst so viel von mir, wenn du müde bist.“
Danach sagte er nichts mehr, und sie spürte, wie ihre Worte verletzend in der Luft hingen. Er nutzte nie zu viel von ihr, egal, was sie sagte, und das war die Wahrheit – das, was er brauchte, entsprach immer genau dem, was sie geben wollte.
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