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Rejoice — Inhalt

Eine außerirdische Künstliche Intelligenz wurde von drei hochentwickelten Spezies ins Sonnensystem geschickt. Ihre Mission besteht darin, das Ökosystem der Erde zu retten – doch dessen größte Bedrohung ist die Menschheit selbst. Die KI hat die Wahl: Soll die Menschheit gerettet oder ausgelöscht werden? Das Raumschiff der KI entführt am helllichten Tag eine einzelne Frau. Die Science-Fiction-Autorin Samantha August ist der einzige Mensch, mit dem die KI spricht. Die Menschen sollen entscheiden, ob sie bereit sind, ihren freien Willen für eine Welt ohne Gewalt aufzugeben. Während Samantha aus dem außerirdischen Raumschiff auf die Erde hinabblickt, muss sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen ...

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 04.11.2019
Übersetzt von: Andreas Decker
528 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99477-4
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Leseprobe zu „Rejoice“

Kapitel eins
Victoria, British Columbia, Kanada, 19. Mai, 14:19 Uhr


Vor der Bar in der Cook Street standen drei Raucher. Eine Frau trug einen Pappkarton mit alter Kleidung zum Secondhandshop. Auf der anderen Straßenseite kamen gerade drei Anstreicher bepackt mit Reparaturmaterial für Trockenmauern aus dem Baumarkt. Ein Mann ging in Richtung Pandora Avenue und dem Gemüseladen an der Ecke.

Die Straße selbst war stark befahren und trotz der mittigen Abbiegespur verstopft. Auf der Spur nach Süden kam der Verkehr nur noch im Kriechtempo voran, da die Wagen vor [...]

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Kapitel eins
Victoria, British Columbia, Kanada, 19. Mai, 14:19 Uhr


Vor der Bar in der Cook Street standen drei Raucher. Eine Frau trug einen Pappkarton mit alter Kleidung zum Secondhandshop. Auf der anderen Straßenseite kamen gerade drei Anstreicher bepackt mit Reparaturmaterial für Trockenmauern aus dem Baumarkt. Ein Mann ging in Richtung Pandora Avenue und dem Gemüseladen an der Ecke.

Die Straße selbst war stark befahren und trotz der mittigen Abbiegespur verstopft. Auf der Spur nach Süden kam der Verkehr nur noch im Kriechtempo voran, da die Wagen vor der Ampel auf grünes Licht warten mussten, bevor sie auf die Pandora abbiegen konnten. Aus der Pandora war gerade ein UPS-Lieferwagen eingebogen und fuhr in nördliche Richtung.

Insgesamt elf Kameras zeichneten den Vorfall in Form von Fotos und Videos auf. Als die Zeugen später von Journalisten und der Polizei befragt wurden, gab es einen außergewöhnlich hohen Grad an Übereinstimmung. Bei Beginn der offiziellen Untersuchung breitete sich der Vorfall bereits im Internet aus.

Eine Frau mittleren Alters war die Cook auf der Seite mit der Bar und dem Secondhandshop hinuntergegangen. Sie war gut gekleidet gewesen, ihr Schritt selbstsicher, die Hände hatten in den Taschen des dunkelgrauen, mittellangen Mantels gesteckt, und ihr rotes Haar war lang genug gewesen, um von dem aus Süden kommenden Wind ergriffen zu werden, andererseits aber nicht lang genug, um hinter ihr herzuwehen. Ihr Gesicht war auf eine seltsame Weise eingängig – wie sich die Zeugen in unmittelbarer Nähe erinnerten. Hohe Wangenknochen, flache Wangen, ein breiter Kiefer, ein Gesicht, das nicht viel Sonne abbekommen hatte.

Am Himmel hatte es ein paar Wolken gegeben, die von Sooke Hills im Westen kamen, darum hatte zuerst niemand dem Schatten, der sich über die Straße senkte, Beachtung geschenkt.

Einer der Raucher, ein Mr. John Allaire, saß im Rollstuhl. Seine Haltung verlieh ihm das Privileg, die erste Person zu sein, die gesehen hatte, wie sich die Wolken am Himmel auflösten und den leicht gekrümmten Umriss von etwas Großem und Massivem freigaben.

„Wie die Unterseite einer Untertasse aus Porzellan“, sagte John. Gemessen am Verlauf seines bisherigen Lebens war das ein entscheidender Augenblick für ihn. Die Dinge waren schon eine ganze Weile ziemlich beschissen gewesen. Das Rauchen zerstörte seine Beine unterhalb der Knie. Das Trinken schadete seiner Leber. Er war dreiundsechzig Jahre alt und lebte von Sozialhilfe. Er hatte noch nie in der Lotterie gewonnen.

„Wie die Unterseite einer Untertasse aus Porzellan. Die fing dann in der Mitte an zu glühen. Genau im Zentrum. Unvorstellbar hell. Ich musste meine Augen beschatten, aber ich konnte trotzdem den Lichtstrahl sehen, der in die Tiefe fuhr. Direkt auf diese Frau zu. Die stand keine sechs Meter von mir entfernt. Sie hat überhaupt nicht mitbekommen, was sie da getroffen hat.“

Margot Revette stimmte ihm zu. „Sie ging einfach nur ihres Weges. Dann kam das Licht und verschluckte sie. Als es erlosch, war sie ebenfalls weg. Ich wollte nur ein paar alte Kleider wegbringen. Und ein altes Paar Stöckelschuhe – unvorstellbar, dass ich die überhaupt jemals gekauft habe. Die sind nicht für menschliche Füße gemacht. Ich muss den Verstand verloren gehabt haben. Aber secondhand? Da besteht immer die Chance, dass die Leute so etwas kaufen.“

„Das Licht blitzte auf“, erzählte Rick Shultz. „Wir kamen gerade aus dem Laden, Jack, Naadi und ich, trugen das ganze Zeugs zum Lastwagen. Das verfluchte Licht zuckte von diesem verfluchten UFO nach unten und – zack! – weg war die Frau. Dann faltete sich das Schiff einfach zusammen und verschwand.“

„Heilige Scheiße, ja“, fügte Jack hinzu. „Als wäre sie eingeäschert worden.“

„Faltete sich zusammen und verschwand“, wiederholte Rick. „Das verdammte Ding ist nicht einmal weggeflogen.“

Wer war die Frau?

Das wusste keiner. Man würde darauf warten müssen, dass jemand als vermisst gemeldet wurde. Das würde möglicherweise einen oder zwei Tage dauern, und falls die Frau allein gelebt hatte, möglicherweise auch viel länger.

Keine der Handyaufnahmen hatte ihr Gesicht gut eingefangen. Das war wirklich bedauerlich, andererseits aber auch nicht überraschend. Jedermann filmte das UFO.

 

Dr. Hamish Drake arbeitete zu viel. Darin waren sich alle einig, die ihn kannten, vor allem seine Frau. In den vergangenen fünf Jahren war Hamish einer von nur drei Allgemeinmedizinern im Großraum Victoria gewesen, der neue Patienten annahm. Es herrschte gewissermaßen eine Ärztekrise.

An diesem Nachmittag stahl er sich gerade ein paar Minuten zwischen zwei Patienten, um sich durch einen Stapel neuer Untersuchungsergebnisse zu kämpfen, als seine Rezeptionistin Nurjehan Aziz sein Büro betrat. Von dem fehlenden Anklopfen überrascht, spähte Hamish über den Rand seiner Lesebrille. Nurjehan war ganz blass, ein Anblick, der ihm vertraut war, vor allem, wenn bei langjährigen Patienten schlechte Ergebnisse reinkamen.

Der Tod hatte eine ganz bestimmte Art, die Lebenden zu verfolgen, etwas, das Nurjehan und Hamish nur zu gut verstanden. Er kündigte sich durch Blässe an, wenn einem das Blut aus dem Gesicht wich. Hamish erkannte den Schatten auf Nurjehans Miene sofort, und aus den Tiefen seines Inneren stieg ein kühles, leidenschaftsloses Entsetzen nach oben, während er in seiner Erinnerung nach jemandem kramte, der in Schwierigkeiten war – jemand, den er vergangene Woche behandelt, bei dem er Untersuchungen angeordnet hatte, jemand …

„Es ist etwas passiert“, sagte Nurjehan.

Hamish runzelte die Stirn. Hier ging es um etwas anderes. Sie zitterte. Er hatte seine Rezeptionistin noch nie so durcheinander gesehen. Er nahm die Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch. „Schließen Sie die Tür. Erzählen Sie.“

Sein ruhiger, wohlklingender Tonfall konnte sie nicht beruhigen. Stattdessen zuckte sie zusammen.

„Ich war online … Entschuldigen Sie …“

„Nicht schon wieder. Nurjehan, wenn Sie mir nicht sagen wollen, dass gerade ein Atomkrieg ausgebrochen ist, werde ich …“

„Da war ein UFO. Hier in Victoria. Überall auf Facebook und YouTube gibt es Aufnahmen davon. Ich habe auf der CHEK-Nachrichtenseite nachgesehen. Die Polizei hat das Foto einer Person gepostet, die einfach verschwunden ist.“

„Ein UFO.“

Nurjehan hielt ihm ihr Handy hin, um ihm das von ihr aufgerufene Bild zu zeigen. Zu nahe. Er konnte kaum mehr als eine verschwommene Gestalt auf einer mutmaßlichen Straße ausmachen. Er setzte wieder die Brille auf und beugte sich vor.

„Das ist Sam.“

Wie aus der Ferne hörte er seine Rezeptionistin sagen: „Dieser Lichtstrahl. Aus dem UFO. Die ganze Sache wurde aufgezeichnet.“

„Das ist doch lächerlich!“ Hamish griff nach seinem Handy. Er betätigte die Schnellwahltaste seiner Frau. Sofort kam die Antwort. Verbindung nicht möglich. „Das hat nichts zu bedeuten“, murmelte er und wählte erneut. „Trotz ihrer Onlinepräsenz geht sie nur selten dran. Manchmal vergisst sie sogar, das verdammte Ding anzustellen.“ Das gleiche Resultat. Er steckte das Handy in die Tasche und stand auf. „Zeigen Sie mir das Video. Ich kann das nicht glauben.“

 

Das Polizeirevier war keine drei Blocks entfernt. John Scholes legte das Telefon weg. Er ignorierte die blinkenden Lichter der verschiedenen Leitungen, die nun alle auf Warteschleife gestellt waren, stand vom Schreibtisch auf und trat ans Fenster.

Unten wälzte sich der Verkehr vorbei; er schien eine neue Dringlichkeit zu haben, aber vermutlich war das nur Einbildung. John schaute auf. Unschuldige Wolkenfetzen trieben vorbei, und ein bedeutendes Stück höher zog ein heller Fleck über ein Stück Himmel. Ein Wasserflugzeug setzte zur Landung im Hafen an.

„Das klang unerfreulich“, sagte eine Stimme hinter ihm.

„Dave“, sagte er anstelle eines Grußes, ohne sich umzudrehen. „Ja, war es auch. Wir haben eine positive Identifizierung. Das war ihr Ehemann am Telefon.“

„Sind Sie sicher?“

„Ja. Ich bin überrascht, dass ich es nicht sofort erkannt habe. Die Aufnahme war verschwommen, das ist wahr, aber diese roten Haare …“

Sein Kollege und Partner trat neben ihn. „Trotzdem wird das irgendein Schwindel sein.“

John nickte. „Jetzt vielleicht erst recht.“

„Was meinen Sie?“

„Die Frau. Samantha August. Die Science-Fiction-Autorin. Sie wissen schon, Abgründe, die Vorlage für den Film. Dieser Roman und das andere Zeugs. Eine Vloggerin. Politik. Soziale Gerechtigkeit.“

Dave schnaubte. „Eine SF-Autorin wird von einem UFO zerstrahlt? So etwas kann man nicht erfinden.“

John warf seinem Partner einen mürrischen Blick zu. „Wie ich gerade ihrem Mann erklärt habe, geht es hier um eine vermisste Person und nicht um eine Tote. Es gibt keinerlei Beweise, dass sie in Asche verwandelt wurde.“

„Hören Sie sich selbst eigentlich zu? Beweise? Welche Beweise denn? Darum geht es doch, wenn man etwas verbrennt, oder nicht?“ Er deutete auf die Straße. „Ein Windstoß. Puff! Alles weg.“

„Niemand hat sie verbrennen sehen. Sie ist einfach verschwunden. Das Licht verschluckt sie, dann ist es weg und sie mit ihm. Mannomann.“ Er hielt inne. „Ich habe mir das verdammte Video schon mindestens tausend Mal angesehen.“

„Noch andere Sichtungen?“, wollte Dave wissen.

„Sichtungen, Entführungen, Analsonden – die kriechen alle aus dem Gebüsch.“

„Aber es gibt nicht mehr auf Video.“

John schüttelte den Kopf. Dann zuckte er mit den Schultern, als wollte er sein Urteil revidieren. „Das Netz ist voll davon.“

„Klar. Körniger, verschwommener Mist im HD-Zeitalter. Primitiv gemachte Photoshop-Scheiße.“ Dave überlegte. „Früher oder später wird alles widerlegt.“

John zuckte erneut mit den Schultern. In Wahrheit hatte er zu diesem Thema keine ausgeprägte Meinung. Die Tage waren auch so schon übermäßig gefüllt, und die in seinem Verstand wachsende Dunkelheit machte seine Nächte zur Qual. Ein alter Veteran mit vielen Dienstjahren hatte das mal als „den Weg“ bezeichnet, und John hatte ihn nun betreten. Der Weg … er führte fort vom Glauben an das Gute; wenn es um die Menschheit ging, erwartete man nichts mehr, abgesehen vom Schlimmsten. Eine Sammlung der Trauer, als würde man den Wäschesack mit der eingesammelten schmutzigen Kleidung in die Zimmerecke treten. Und in der Zwischenzeit machte man einfach mit dem Alltag weiter.

Am Ende des Weges würde ihm alles egal sein.

Aber vielleicht gab es noch andere Möglichkeiten, wie man das alles bewältigen konnte. Er würde nicht aufhören, danach zu suchen, das war ihm klar, bis er … bis er schließlich aufgab.

„Soll ich ein paar der Anrufe übernehmen?“

John nickte. „Das wüsste ich zu schätzen, Dave.“

„Die Sache hat Ihnen ganz schön zugesetzt.“

Das hatte sie in der Tat. Sie erforderte einen Sinneswandel, den er einfach nicht in sich hatte. Aber ohne ihn hatte er gar nichts. Er wandte sich an seinen Partner. „Ihr Mann war ziemlich durcheinander.“

Aber Dave saß bereits am Telefon und nahm den nächsten hysterischen Anruf entgegen.

 

Ganz egal, welches Zimmer Hamish auch betrat, sie war im Haus. Als würde er ihrer Spur folgen, nur dass seine Frau immer außer Sicht blieb, weil sie gerade um die Ecke bog oder die Tür schloss. Auf der Treppe zu ihrem Dachbüro roch er abgestandenen Zigarettenrauch, aber das war ein alter Geruch, und die kaum wahrnehmbare Wolke über den mit Teppich ausgelegten Stufen war nichts anderes als Staub, erhellt von dem durch das Dachfenster einfallenden Sonnenlicht.

Der Laptop für zu Hause lag zugeklappt auf dem Schreibtisch, eingerahmt von ihren Notizen, einer Tasse mit abgestandenem Kaffee und dem überquellenden Aschenbecher; die blaue Betriebsanzeige des Geräts pulsierte langsam.

Etwas von der Präsenz, zu der sie geworden war, hatte Hamish angesteckt, und er wanderte wie ein im Haus gefangener Geist umher, und das Haus selbst war in einer Erinnerung gefangen, die bereits schal und leblos wurde.

Seit dreiunddreißig Jahren verheiratet, seit neunundzwanzig Jahren eine eigene Arztpraxis. Keine Kinder. Sie war nicht die Art von Frau, die Gewohnheiten und Vergnügungen opferte. Außerdem erforderten Kinder Zeit, Energie und Jugend, das bedeutete lebenslänglich, und man begab sich auch noch freiwillig in diese Zelle. Das hatte sie mit dem üblichen herausfordernden Funkeln in den Augen gesagt, als würde gleich ein raues, vermutlich bitteres Lachen folgen. Trotz seiner ganzen Sensibilität und Ausbildung hatte Hamish immer Probleme gehabt, seine Frau zu deuten. Sie hatte Ecken und messerscharfe Kanten und die Angewohnheit, auf ihnen zu tanzen. Ein Charakterzug, der zu einer professionellen Persönlichkeit entwickelt worden war. Ihr Vlog Here Now wurde geliebt und gehasst, je nachdem, auf welcher Seite des politischen Grabens man stand. Sie war furchtlos, und viele Leute auf der ganzen Welt konnten furchtlose Frauen nicht ausstehen.

Der Festnetzanschluss hatte geläutet, das antiquierte Geräusch überraschte Hamish jedes Mal. Der Laut war beharrlich und seltsam kalt. Vermutlich war es ihr Agent gewesen, und ja, vielleicht hätte er ein paar Worte verdient gehabt, aber Hamish überließ das dem Anrufbeantworter.

Ihre Genre-Kameraden würden auf ihrer Facebook-Seite sein, würden ihren Twitter-Feed mit endlosen unbeantworteten Fragen und Bitten um Informationen füllen, egal von wem. Sie würden hektisch an der Tür von Here Now klopfen. Sollten sie miteinander reden. Abgesehen von der nüchternen Verlautbarung der Polizei und den vielen aufgenommenen Interviews mit den Zeugen gab es eigentlich nichts mehr zu sagen. Sie war weg, aber weg war jetzt ein Wort mit tausend möglichen Bedeutungen.

Die Dämmerung war hereingebrochen, und da im Haus keine Lampe eingeschaltet war, kroch das Zwielicht in alle Ecken und ließ jedes Detail im Wohnzimmer, in dem er sich schließlich zusammengesunken in seinem Ledersessel wiedergefunden hatte, grobkörnig erscheinen. Er hatte sich die Videos angesehen, die das Verschwinden seiner Frau dokumentierten. Die Entführung? Die Vernichtung? Es hätte eine Szene aus Dutzenden SF-Filmen und Fernsehserien sein können. Eine dieser wackeligen Handaufnahmen, die vor ein paar Jahren so in Mode gewesen waren und nun ein Comeback geschafft hatten.

Sie hätte mittlerweile angerufen. Sich zu melden war wichtig, wo es nur sie beide gab; aber nicht mit besitzergreifender Leidenschaft. Es war mehr die vertraute Berührung wohlbekannter Leben, was man üblicherweise miteinander teilte: drollige Tiefstapelei, sardonische Kommentare und eine Handvoll ehrlich gemeinter Phrasen. Ihre private Sprache.

Eine Sprache, die er mit niemandem teilen konnte. Nicht mehr, vielleicht nie wieder.

Hamish Drake saß im verblassenden Licht im Wohnzimmer und hatte keine Ahnung von dem Chaos auf den Online-Fanseiten. Da waren die verbissene Ungläubigkeit und der Schock bei vielen ihrer Schriftstellerkollegen sowie die frohlockenden religiösen Fundamentalisten, die sich über den Zorn Gottes und den einer Frau zustehenden Platz in der Welt ausließen. Im Äther hatte ein Krieg begonnen, in dessen Mittelpunkt eine Frau stand, die nicht länger da war.

Und natürlich war da die weitverbreitete hartnäckige Überzeugung, dass die ganze Angelegenheit ein Schwindel war, eine PR-Aktion – schrieb sie nicht gerade an einem UFO-Roman?

Davon wusste ihr halbes Dutzend Testleser aber nichts – sie hatte ungefähr ein Drittel von einem dystopischen Thriller fertig, der in einer weit entfernten Zukunft spielte. Die Arbeit war langsamer geworden, aber ein paar Seiten tröpfelten noch immer ein. Man war (untereinander) der Meinung gewesen, dass sie müde geworden war, vielleicht sogar die Nase voll hatte. Dreißig veröffentlichte Romane, drei Filmadaptionen, zwei Fernsehserien, von der eine noch lief. Ein Vlog, das berüchtigt dafür war, für Aufruhr zu sorgen. Ihre Geschichten waren stets bösartig, die Worte so scharf wie ein Skalpell; man bemerkte nie, dass man blutete, bis man sah, wie sich die Haut teilte und die Eingeweide herausquollen. Ihre Vlogs waren genauso, und alles wurde präsentiert mit einem süßen Lächeln.

Mit anderen Worten: der übliche brillante, wütende Scheiß. Sam August, Feministin, Humanistin, gelegentliche Satirikerin und Essayistin, niemand, mit dem zu spaßen war – und nein, sie schrieb keinen dämlichen UFO-Roman.

Weg. Verschwunden, entführt, verbrannt, vermisst, tot, lebendig, tot, lebendig, tot …

In dieser Nacht blieben die Lampen im Haus aus. Die Morgendämmerung fand einen Mann, der zusammengesunken in seinem Ledersessel saß, das Gesicht in den Händen vergraben, und dessen Körper von stummer Trauer geschüttelt wurde.

Über Steven Erikson

Biografie

Steven Erikson ist Archäologe und Anthropologe. Mit seiner international gefeierten Reihe um „Das Spiel der Götter“ etablierte er sich als eine der wichtigsten Stimmen der phantastischen Literatur. Der Autor lebt in Kanada.

Kommentare zum Buch
Rejoice Die letzte Entscheidung
Esther am 15.07.2020

Die Inhaltsbeschreibung vernachlässige ich, da es sich hier um eine Bewertung handelt. Den Inhalt kann man im Klappentext und anderen Rezensionen mal mehr, mal weniger ausführlich finden. Ich habe selten ein Buch gelesen, dass mich so wenig mitgerissen oder zumindest mitgenommen hat wie dieses. Deshalb bin ich auch nur bis Seite 167 von 519 gekommen. Es wird das erste Buch sein, das ich nicht auslesen werde. Sehr schade, da mich der Klappentext wirklich angesprochen hat. Allerdings kommt bisher in jedem Kapitel ein anderer Protagonist vor. Anfangs habe noch versucht, die Namen in Erinnerung zu behalten, doch irgendwann merkte ich, dass das weder möglich noch erforderlich für den weiteren Verlauf der Handlung ist. Es geht nicht um Einzel-Charaktere, sondern um Geschehnisse an verschieden Orten. Wer dies erlebt, ist unwichtig. Zumindest bis Seite 167. Als Drehbuch kann es durchaus gut sein. Ich könnte mir auch einen Film vorstellen, aber zum Lesen todlangweilig. Aus anderen Rezensionen entnehme ich, dass der Autor seine Weltanschauung bzw. seine Kritik am derzeitigen Umgang mit der Umwelt, den Menschen... deutlich machen möchte. Wenn dem so ist, dann doch bitte interessanter geschrieben oder nicht als Roman, sondern als Artikel oder ähnliches direkt formuliert.

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