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Man soll den Tag nicht vor dem Elternabend loben

Gabriele Frydrych
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Von Schülern, Lehrern und anderen Hochbegabten

„Mit viel Humor, Gelassenheit und mit einem großen Herzen berichtet (Gabriele Frydrych) von ihrem Schulalltag.“ - GEW Zeitung

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Man soll den Tag nicht vor dem Elternabend loben — Inhalt

Betreten des Klassenzimmers auf eigene Gefahr!

Montagmorgen, 8 Uhr. Luise aus der 10a gibt ein Attest ab, das sie vom Sport befreit. Valeska möchte so ein „Dings“, damit das „Dings“ (das JobCenter) die „Dings“ (Klassenfahrtskosten) übernimmt. Max braucht so was auch, er hat sein „Dings“ leider verloren. Diego will seine Schürfwunde vorführen und wickelt schon drohend am Verband – und Lehrerin Gabriele Frydrych versucht, über den Dingen zu stehen und Deutschunterricht zu machen. Mit viel Humor und einem großen Herzen berichtet sie, warum der Schulalltag erst richtig irre wird, wenn klagewütige Eltern aufkreuzen und angebliche „Experten“ ihr zu Finger-Yoga und Achtsamkeitstraining raten. Zu Wort kommen auch gequälte Schulsekretärinnen, Putzkräfte, Mensabetreiber und Erzieherinnen.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 11.01.2019
304 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31369-8
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 11.01.2019
288 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99199-5
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Leseprobe zu „Man soll den Tag nicht vor dem Elternabend loben“

I. Teil:
Von Schülern


Auf ein Neues!
Gute Vorsätze und Ideen zum Jahreswechsel, Böller im Schulflur und Heizungsausfall

Die Feiertage sind vorbei. Braten, Magenbitter und Familienzusammenführungen haben deutliche Spuren hinterlassen. Zerrupfte Weihnachtsbäume warten am Straßenrand auf die Müllabfuhr, letzte Klausuren und Aufsätze warten auf Korrektur. Die Zeit der Askese und des Entzugs ist angebrochen: kein Alkohol – zumindest nicht bis Karneval. Kein Marzipan, kein Nugat, kein Fernsehen. Das hebt die Stimmung ungemein, genau wie der erste Arbeitstag im [...]

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I. Teil:
Von Schülern


Auf ein Neues!
Gute Vorsätze und Ideen zum Jahreswechsel, Böller im Schulflur und Heizungsausfall

Die Feiertage sind vorbei. Braten, Magenbitter und Familienzusammenführungen haben deutliche Spuren hinterlassen. Zerrupfte Weihnachtsbäume warten am Straßenrand auf die Müllabfuhr, letzte Klausuren und Aufsätze warten auf Korrektur. Die Zeit der Askese und des Entzugs ist angebrochen: kein Alkohol – zumindest nicht bis Karneval. Kein Marzipan, kein Nugat, kein Fernsehen. Das hebt die Stimmung ungemein, genau wie der erste Arbeitstag im neuen Jahr. Zensurenkonferenzen stehen an, das Zeugnisprogramm auf dem Computer muss aktualisiert werden, damit es am Tag des Ausdruckens keine Tobsuchtsanfälle oder Selbstmordversuche gibt
Als ich – gefühlte zwei Stunden nach Weihnachten – in meine 9. Klasse komme, sitzen alle mit Schals, Handschuhen und leidendem Blick vor mir. Valeska klappert vorwurfsvoll mit den Zähnen. Die Heizungsanlage hat es nicht geschafft, rechtzeitig hochzufahren. Der erste Schultag kommt ja auch jedes Mal völlig überraschend. Nach der dritten Stunde gibt es „Kältefrei“. Denn auch die Schulleitung in ihrem Wellness-Biotop hat mittlerweile blaue Lippen und abgestorbene Finger. Das Tempo, mit dem meine Schüler in die Freiheit flüchten, würde ich mir gelegentlich wünschen, wenn im Unterricht Bücher, Hefte und Stifte ausgepackt werden sollen. Ja, es ist schrecklich: Wir sind noch eine Schule fast ohne Laptops, White Boards und iPads. Sogar Frontalunterricht soll hin und wieder vorkommen. Es gibt bei uns Kollegen, die offen propagieren, es komme im Unterricht vor allem auf die Persönlichkeit des Lehrers an und nicht auf elektronisches Spielzeug!
Der verkürzte Schultag erfreut auch einige Lehrkräfte. Anscheinend haben sie ihre Korrekturen noch nicht geschafft. Allerdings ist es im Deutsch-Lehrerzimmer gut geheizt, sodass spontan eine Fachkonferenz einberufen werden kann. Jemand muss das dreistufige Binnendifferenzierungsmaterial fürs nächste Halbjahr ausarbeiten. Wir spielen „Wer sich zuerst bewegt, hat verloren“, sehen angestrengt aus dem Fenster oder in den Lehrerkalender, nur nicht dem Fachbereichsleiter in die Augen. Blickkontakt hat enormen Aufforderungscharakter: „Ach, Karin, du willst das übernehmen? Das ist ganz toll!“ Letztendlich macht es wie immer die Kollegin, die das Schweigen und Warten am wenigsten aushalten kann. Also ich.
An den folgenden Tagen gibt es leider kein Kältefrei, obwohl jemand hartnäckig die Heizkörper im Klassenraum abdreht. Ob das der Mathe-Kollege ist oder mein Lieblingsschüler Konrad? Ich wünsche meiner Klasse ein erfolgreiches neues Jahr: bessere Zensuren, mehr Medienkompetenz und Leselust. Diegos rechte Hand ist dick verbunden. Ein illegaler Kracher wollte Silvester einfach nicht wegfliegen. Diegos Finger sind glücklicherweise alle noch dran. Er präsentiert mir triumphierend ein Attest, das ihn bis Ostern von allen schriftlichen Aktivitäten befreit, Mensadienst und Tafelputzen inklusive. Aber in den Pausen schippt Diego vor der Cafeteria Schnee, weil er dafür von unserer Küchenfee kostenlos Brötchen bekommt.
Viele Schüler berichten stolz von der Preisgestaltung ihres Silvesterfeuerwerks. Ich murmle: „Ach, 500 Euro für Böller sind locker drin? Da bleiben selbstverständlich keine 2,20 Euro für ein Reclamheft übrig.“
Einige Schüler haben sich extra ein paar Böller aufgehoben, weil es im Schulgebäude so schön hallt. Und in den vielen Gängen und Treppenhäusern einer großen Gesamtschule hat man exzellente Flucht- und Versteckmöglichkeiten. Kein Lehrer findet einen auf Anhieb. Und sollte man doch von irgendeiner sportlichen Aufsicht eingeholt werden: Wie will sie ohne Handy-Foto beweisen, dass man gerade einen Böller geworfen hat? „Ohne meinen Anwalt sag ich gar nichts!“
Wer nichts mehr zum Zündeln hat, legt in der Mittagspause auf dem Schulhof Eisbahnen an oder knetet knüppelharte Schneebälle. Ich bin froh, dass ich zurzeit Mensa-Aufsicht habe. Anstatt im Hof Schneeball- und Böllerwerfer zu jagen, entferne ich nur Schülergesäße und Restmüll von den Esstischen und verhindere lustige Kampf- und Fangspiele in der überfüllten Mensa, die von vielen jetzt als Wärmehalle genutzt wird. „Nein, hier drinnen wird kein Softball gespielt.“
Unsere Jahrgangsleiterin hat auf der ersten Sitzung im neuen Jahr eine zündende Idee: Alle Kollegen schreiben ihre guten pädagogischen Vorsätze auf, diese Selbstverpflichtungen kommen in den Schulsafe, und ein Jahr später kontrollieren wir, wer am erfolgreichsten war. Ich nehme mir vor, nicht immer so destruktiv zu grienen, wenn gegen gesellschaftliche Missstände lustige neue Unterrichtsmethoden propagiert werden. Ich will mich auch nicht mehr so echauffieren, wenn die Lokalzeitung behauptet, dass jede, wirklich jede Brennpunktschule erfolgreich sein kann, wenn die Lehrer es nur wollen und sich endlich gezielt fortbilden. Ich frage auch nicht mehr auf den Gesamtkonferenzen nach, woher all die begnadeten Fortbilder eigentlich kommen sollen, die uns das Leben erklären. Die uns befähigen, gegen Mobbing, Antisemitismus, Nationalismus, falsche Ernährung, falschen Medienkonsum und gegen unterirdische Denkfähigkeit vorzugehen. Und ich will auch nicht mehr darüber räsonieren, warum viele Kollegen anscheinend eher an den Weihnachtsmann als an die Relevanz von Gewerkschaftsarbeit glauben.


Unterrichtsqualität
Bürokratie und Formalien behindern pädagogische Ansprüche

Ich würde in meiner 9. Klasse so gern mal eine Stunde lang Deutsch unterrichten! Oder Geschichte. Von mir aus auch Ethik, dieses tolle neue Schulfach, in dem zwei Wochenstunden alles ausbügeln sollen, was Fernseh- und Computermüll an Empathie, Respekt und Achtung vor der Menschenwürde zerstört haben. „Na und, warum tun Sie es dann nicht? Unterrichten ist doch wohl Ihr Job?“, fragt der unbekümmerte Leser. Tja, so einfach ist das nicht.
Es klingelt. Die Schüler strömen in die Klasse, kauen noch und unterhalten sich fröhlich. Einige suchen in ihren riesigen Taschen nach Deutschsachen oder neuen Brötchen, andere stellen sich sofort um den Lehrertisch auf. Ich werde gern dicht umzingelt, deshalb fühle ich mich auch in vollen Bussen und auf ausverkauften Pop-Konzerten so wohl. Konrad drückt mir eine winzige Entschuldigung in die Hand. Luise gibt ein zerknülltes Attest ab, das sie vom Sportunterricht befreit, nicht aber vom Schulbesuch, wie sie es eine Woche lang zu ihren Gunsten ausgelegt hat. Valeska möchte so ein „Dings“, na, so einen Zettel, damit das „Dings“ (das Jobcenter) die „Dings“ (Klassenfahrtskosten) übernimmt. Ach, so was braucht Max auch unbedingt. Er hat sein „Dings“ leider verloren. Diego will mir seine Silvesterverletzungen vorführen und wickelt schon drohend an seinem Verband. Thymian beklagt sich, dass sein Sitznachbar in der Nase bohrt. Koschka möchte unbedingt weiter vorn sitzen. Angel-Marie will ihr Wahlpflichtfach tauschen. Darstellendes Spiel sei blöd, vor allem die Lehrerin sei voll peinlich. Angel-Marie möchte lieber zu Naturwissenschaften wechseln (klar, da ist ja auch ihre Freundin Sara-Belle). Oksana hält einen Euro für unser afrikanisches Patenkind in der Hand. In Fünf-Cent-Münzen. Manchmal überkommen mich leise Mordgelüste.
Die ersten fünf Anfragen bearbeite ich, dann schicke ich alle energisch auf ihre Plätze. Da wird die Tür aufgerissen. Draußen steht ein wichtiger Kollege mit geschwollenem Kamm. Angeblich hat er jetzt hier in meinem Raum Unterricht. Weil er den schriftlichen Beweis dafür nicht antreten kann, muss er sich ein anderes Plätzchen suchen, um Kafkas Käfergeschichte zu behandeln. Seine Oberstufenschüler verfolgen grinsend unseren dezent-giftigen Wortwechsel.
Nun überprüfe ich die Hausaufgaben. Nachdem ich schon die Hefte von zehn Schülern kontrolliert habe, fängt Jeremy in seinem Riesenrucksack zu wühlen an. Manche Schüler suchen dann besonders intensiv, wenn sie genau wissen, dass sie nichts finden werden. Ich widme mich also den Krakeleien von Lorenz. Er benutzt zum Schreiben einen breiten Filzstift. Nee, einen Füller hat er nicht, bekommt er auch nicht. Und schöner schreiben könne er eben nicht. Verächtlich sieht er mich an. Sicher weiß er aus der Zeitung, dass weibliche Lehrkräfte an Knaben immer noch völlig verfehlte feinmotorische Anforderungen stellen. Virginia konnte ihre Hausaufgaben leider nicht machen, weil sie bei der Oma übernachtet hat. Bestechende Logik. Auf Robins Aufsatz hat der kleine Bruder Gemüsebrei geschmiert. Rein farblich käme auch etwas anderes in Betracht. Koschka liest ihre Aufgabe mit so leiser Piepsstimme vor, dass ich sie mehrfach auffordern muss, lauter zu sprechen. Das Publikum in den hinteren Reihen schläft sonst weg. In den Pausen hat Koschka ein sehr kräftiges, fast schon ordinäres Organ.
Wir schlagen die Deutschbücher auf. Ich muss die richtige Seitenzahl heute nur fünfmal nennen. Während René schon zwei Absätze gelesen hat, blättert Max noch orientierungslos im Buch. Thymian starrt aus dem Fenster. Nach vier Monaten Unterricht hat er immer noch kein Deutschbuch. Lioba muss ganz dringend auf die Toilette. Klar, die große Pause ist ja auch erst fünfzehn Minuten her. Markus bohrt sich ein Lineal ins Ohr, und Edgar kippelt mit gesundheitsbedrohender Intensität. Vielleicht sollte ich seinen Stuhl festschrauben, anstatt den Jungen ständig zu ermahnen. Grace nutzt die Gelegenheit, um sich über einen frischen Kaugummi unter ihrem Tisch zu beschweren. Sofort gehen fünf weitere Hände hoch. „Bei uns kleben auch ganz viele Kaugummis. Immer, wenn Frau Rolands Gruppe hier im Raum Spanisch hatte!“ Ich winke ab. Jetzt nicht! Während wir weiterlesen, füllt Nils Tinte in seine Wasserflasche. Ja, davon bekommt man eine königsblaue Zunge. Luises spitze Ekelschreie übertönen meine durchdachten Leitfragen.
Es ist die 7. Stunde. Ich weiß, die Kinder sind müde. Ich lasse sie aufstehen und alle Fenster aufreißen. Wir singen laut ein Lied über die liebe Sonne und machen Bürogymnastik. Der Sauerstoff strömt nur so in die kindlichen Hirnzellen. Nach einer ganzen Weile kehrt auch wieder Ruhe ein.
Als ich zum Stundenschluss die Tafel aufklappe, ist sie mit kryptischen Zeichen vollgeschmiert. Ist das Sanskrit? Hebräisch? Mengenlehre? Manchmal richtet sich meine Mordlust auch gegen Kollegen. Angel-Marie ist erst mal lange im Schulgebäude unterwegs, um frisches Wasser zu holen und den ranzigen Schwamm auszuwaschen. Um noch mehr Zeit zu schinden, wischt sie die Tafel besonders langsam und gründlich. Die Schüler schaffen es nicht mehr, meine Zusammenfassung von der Tafel abzuschreiben. Das liegt daran, dass man an der klatschnassen Tafel (danke, Angel-Marie!) meine Schrift noch nicht lesen kann, aber auch daran, dass es bei manchen Schülern ewig dauert, sich Stift und Papier auszuleihen. Es ist auch wirklich überraschend und zudem völlig unmodern, dass im Unterricht etwas von Hand geschrieben werden soll.
Gleich muss die Klasse im fliegenden Wechsel zum Physikunterricht ins Nebengebäude in den dritten Stock. Also schreiben wir in der nächsten Deutschstunde weiter. Falls wir dazu kommen. Die halbjährliche Schülerbewegungsstatistik wartet noch, alle „Mutti-Hefte“ müssen regelmäßig auf Kommunikationswünsche hin überprüft werden, das Wandertagsziel steht noch nicht fest. Einige Schüler wollen dringend den Vertrauensschüler abwählen. Ich muss Geld für die Klassenfotos kassieren, Fehlzeiten und Verspätungen abmahnen, Verträge für die Schließfächer austeilen, eruieren, wer Kais Federtasche geklaut hat, zwei Streithähne zu den Mediatoren schicken, überprüfen, ob alle an einer verpflichtenden Arbeitsgemeinschaft teilnehmen, und die Impfpässe für die Klassenfahrt einsammeln. Außerdem möchte eine Praktikantin mit den Schülern noch in dieser Woche eine Umfrage zur Unterrichtsqualität durchführen. Nur zu!


Keine Ahnung!
Mit welchen Sprüchen sich Jugendliche Erwachsene vom Leib halten

Erwachsene nerven. Sie wollen Jugendliche entschlüsseln und enträtseln. Ständig bohren sie mit Fragen in ihnen rum: „Na, wie war’s in der Schule?“ oder „Habt ihr den Mathe-Test schon zurück?“ Jugendliche müssen also ständig Mittel und Wege suchen, um sich abzuschotten und sich zu wehren. Zum Beispiel mit Geheimsprachen und eigenen Codes. Mit kryptischen SMS-Mitteilungen und Piktogrammen. Manche Eltern kriechen ihren Kindern bis ins Smartphone und ins Internet hinterher und denken, sie könnten dort Lösungen für die Rätsel der Pubertät finden. Lächerlich. Es gibt keine Teenie-Website, die ein Erwachsener verstehen könnte. (Eben. Soll er auch gar nicht.) An Elternsprechtagen klagen besorgte Mütter ihr Leid: „Er erzählt mir überhaupt nichts mehr!“ Ich bemühe mich dann um neutrale, wenn nicht gar empathische Gesichtszüge. Ich kann ja schlecht sagen: „Ich kann Ihren Sohn voll verstehen!“
Besonders engagierte Eltern und Großeltern folgen dem Kind zu Facebook und posten hemmungslos Baby-Fotos, Strick-, Koch- und Pflanzversuche, die preisgekrönten Rammler, sportliche Exzesse und weise Aphorismen. Zum Beispiel: „Reife bedeutet, das Richtige zu tun – auch wenn die Eltern es empfohlen haben!“ Das arme Kind flüchtet sich zu Instagram und Snapchat in der Hoffnung, dass Mutti es dort nicht so bald wiederfindet.
Als Übersetzungshilfe für Eltern und Erzieher geben Linguisten jährlich Wörterbücher der Jugendsprache heraus. Beim gemeinsamen Abendessen schlägt der Vater unterm Tisch nach, wovon seine Tochter gerade redet. Hopfensmoothie? Evolutionsbremse? Vollpfostenantenne? Alimentenkabel??? Da wird Vati Pech haben. In der Zeit, die das Lexikon zum Erscheinen brauchte, hat die aktuelle Jugendsprache längst andere Wörter und Begriffe entwickelt. Notgedrungen. Denn raffinierte Werbetexter greifen jede Wortschöpfung sofort auf, denken sich auch jede Menge selber aus und biedern sich damit in ihren Fernsehspots an. Elemente der angeblichen Jugendsprache sind längst in den Duden eingezogen. Sogar in Schulbüchern gibt es ganze Kapitel darüber. Mittlerweile finden selbst die Altvorderen eine Sendung „cool“, „hammer“ und „geil“ oder haben „keinen Bock“, heute noch Yannicks Jeans umzunähen. Sie haben auch im Internet eruiert, was „rofl“, „lol“ und „yolo“ bedeutet. Und es ist ihnen nicht peinlich, diese Kürzel auch noch zu benutzen: „Essen steht im Kühlschrank. Hdl.“
Also müssen die Teenies immer neue Wörter finden, um sich abzugrenzen.
Manchmal bin auch ich ein wenig ratlos. Was, die neuen Sneaker sind „voll fett“? Meine Lederjacke ist „gangsta“? Der junge Sportlehrer echt „killer“, „bombe“? Als Lehrerin studiere ich an Hunderten von Jugendlichen neue Sprachphänomene. Aus Tonfall, Mimik und Gestik kann ich meistens dunkel erahnen, was einzelne Wörter bedeuten. „Fett“, „gangsta“, „killer“ sind Ausdrücke tiefster Bewunderung. Die größten Komplimente, die man sich vorstellen kann. Zumindest zu dem Zeitpunkt, an dem ich das hier schreibe.
Ein richtiges Kompliment ist es übrigens auch, wenn ein Neuntklässler mir in der Pause aufgeregt etwas erzählt und mich dabei spontan duzt. Vielleicht noch ein liebevolles „Weißte, Alter?“ hinzufügt. Wobei ich als pädagogisches Vorbild gleich wieder darauf hinweise, dass ich als Frau auf der Anrede „Ey, Alte!“ bestehe. Damit habe ich das vertrauensvolle Gespräch natürlich sofort abgewürgt. Beim nächsten Mal bin ich vorsichtiger! Der vorlaute Ömer fragt mich im Schulflur: „Na, Frau Frydrych, alles fit im Schritt?“ Da er das auf seine Art nett meint, verzichte ich darauf, ihm den wörtlichen Sinn seiner Frage zu erklären. Das wäre ihm vermutlich doch peinlich. Ich antworte locker: „Ja, alles chic. Alles volle Möhre.“ Ömer geht zufrieden weiter.
Meine Schüler haben derzeit eine Lieblingsfloskel, mit der sie jede Frage beantworten. Egal, worum es geht. „Wo steht in diesem Satz das Akkusativobjekt?“ – „Keine Ahnung.“ – „Warum hast du schon wieder deine Hausaufgaben nicht gemacht?“ – „Keine Ahnung.“ – „Was ist mit dir los, du wirkst so bedrückt?“ – „Keine Ahnung.“ – „Kommst du nun mit auf die Klassenfahrt?“ – „Keine Ahnung.“
Diese Antwort ist schnell, bequem und definitiv. Der Lehrkörper reagiert irritiert. Er versteht diese Schüler-Ahnungslosigkeit noch, wenn es um Vokabeln und Lerninhalte geht. Aber handelt es sich um Beziehungen, Wünsche und Befindlichkeiten, ist „Keine Ahnung“ irgendwie voll uncool.
Meine Schüler haben noch diverse andere Mittel, Eindeutigkeit zu vermeiden. „Hast du das Buch eigentlich gelesen?“ – „Nicht wirklich.“ – „Hast du den Klassenraum gefegt?“ – „Nicht wirklich.“ Das klingt verbindlicher und netter als ein krasses „Nein, habe ich nicht. Hatte keinen Bock. Haben Sie ein Problem damit?“
Beliebt in Aufsätzen und mündlichen Antworten ist das Satzende „und so weiter“. Damit wird dem Lehrer suggeriert, dass hier ein immenses Wissen ruht, so immens, dass es die Grenzen einer einzelnen Schulstunde, einer einzelnen Klassenarbeit sprengen würde. Eine ähnliche Funktion hat das Wort „irgendwie“. Es deutet ebenfalls auf großes Hintergrundwissen hin, man kann es nur momentan nicht in die Worte fassen, die der Lehrkörper versteht. Ziel all dieser Floskeln ist es, nebulös zu bleiben und sich insistierenden Erwachsenen zu entziehen.
Aber wie schon erwähnt: Auch Erwachsene sind lernfähig.
„Wann korrigieren Sie endlich unsere Aufsätze?“, fragt mich Lorenz. Ich grinse: „Keine Ahnung. Bleib mal cremig, Digga!“
Lorenz findet das überhaupt nicht witzig. Meine Schüler haben eben keinen Humor.


Im Härtetest
Qualitätsprüfung durch kundige Schülerhände: Was halten Bücher, Fotos, Sportschuhe und Besen aus?
Paul von der Schülerzeitung will dringend ein Kinderfoto von mir. Seine Leser sollen bei einem Preisrätsel herausfinden, welches süße Kleinkind zu welchem verkniffenen Pädagogen mutiert ist. Ich suche mein Lieblingsfoto heraus, auf dem ich als Baby unbefangen in die Kamera lächle und von meiner Zukunft noch nichts ahne. „Ich habe davon kein Negativ mehr. Also seid vorsichtig mit dem Original“, bitte ich Paul. „Ehrensache, Frau Frydrych! – Oh, das ist ja noch Schwarzweiß! Das bekommen Sie gleich morgen zurück, ohne Fettflecke und Eselsohren. Versprochen!“
Viele Wochen und Mahnungen später kommt Paul schuldbewusst zu mir, das verknitterte und eingerissene Foto in der Hand. Es hat bei der redaktionellen Bearbeitung sehr gelitten. Vermutlich haben es sich die jungen Redakteure keckernd aus der Hand gerissen: „Zeig mal! Das ist die Frydrych? Hahaha.“ Paul weiß ein Spezialgeschäft, in dem man alte Fotos rekonstruieren lassen kann. Dorthin bringt er es, und nach weiteren Wochen bekomme ich ein kitschig koloriertes Babyfoto zurück.
Nicht nur private Erinnerungsstücke der Lehrer werden auf ihre Widerstandsfähigkeit hin getestet. Ich habe abgegriffene und schmuddelige Bücher schon als Kind nicht gemocht, Manche Werke aus der Stadtbücherei hatten ganz seltsame Flecken und Gebrauchsspuren. Was gibt es Schöneres als druckfrische Lektüre? Das kann die E-Book oder überhaupt nicht lesende Generation natürlich nicht verstehen. Ganz stolz verteile ich in der Klasse einen Satz jungfräulicher Jugendbücher. Sofort werden die ersten wie Heftchenromane geknickt – der schnellste Weg, die Seiten zu lockern. „Stellen Sie sich nicht so an“, steht im Blick meiner Schüler, als ich darüber meckere. Nach einem Monat sammle ich die Bücher wieder ein. Da haben sie bereits eine Menge erlebt. „Meine Wasserflasche ist in der Tasche ausgelaufen“, erklärt Luise und hält mir ihr aufgeschwemmtes Exemplar unter die Nase. Das nächste Buch klebt wie Fliegenleim, das dritte hat der Wellensittich bearbeitet, das vierte riecht nach Fritteuse, im fünften fehlen zwanzig Seiten. „Das war schon so! Ich schwöre!“, behauptet Robin. Beim Lesen ist ihm dieser Defekt gar nicht aufgefallen.
Im Tanzunterricht verleihe ich häufig CDs oder USB-Sticks, damit die Schülerinnen sich daheim die Musik überspielen, üben und choreografieren können. Ich habe einen enormen Schwund an Speichermedien. Manchmal bekomme ich als Ausgleich ein wenig Geld vom Verwaltungschef. Manchmal bringen mir die Mädchen die CDs und USB-Sticks auch wieder mit. Meist ohne Hülle oder Schutzkappe.
Wenn die Anverwandten meiner Schülerinnen und Schüler wüssten, wie oft sie als Ausrede herhalten müssen! „Meine kleine Schwester hat das Diktat zerrissen“ oder „Mein Vater hat gesagt, das Buch ist Schrott, das brauche ich nicht zu lesen“. Hunde, Katzen, Meerschweinchen: Sie alle zernagen und fressen mutwillig Schuleigentum. Omas, Opas und Mütter räumen anscheinend ständig in den Kinderzimmern auf und werfen alle schulischen Fundstücke in den Müll. So verschwinden Zeitungsordner, Liederbücher, Zeichnungen, Plakate und Sporttrikots. Und meine Tanz-CDs.
Einmal gebe ich Abzüge von unserer Klassenfete herum. Man kann Fotos vorsichtig am Rand anfassen und trotzdem alles gut erkennen. Ich bekomme einen Stapel gewellter Fotos mit fettigen Fingerabdrücken zurück. Mein Klassenlehrer-Kollege hat wie üblich kein Mitleid: „Warum hast du die Bilder vorher nicht in Plastikhüllen getan?“
Für die nächste Chorprobe stopfe ich die Liedtexte in dreißig Plastikhüllen, in der Hoffnung, dass sie bis zum Auftritt in zwei Wochen halten. So eine Chorprobe zerrt bei den Kindern sichtlich an den Nerven. Die Hüllen werden gerollt, zerknüllt und geknickt. Sie überleben die Probe nicht.
Mit ihren eigenen Sachen gehen die lieben Kleinen genauso um. Im Elchtest sind derzeit Federtaschen und Sportbeutel. Sie dienen als Wurfgeschosse und Fußabtreter. Jeden Freitag finde ich in einer Ecke einen Turnschuh oder einen Kugelschreiber.
Zeugnisse sind in den Augen der Erwachsenen wichtige Dokumente. Ich kaufe dafür ein neues Computerprogramm, extrastarkes Papier und versaue 50 Probedrucke, bevor ich am letzten Schultag tadellose Exemplare überreichen kann. Ein paar Kinder haben Hüllen und Mappen dabei. Die anderen falten ihr Zeugnis, damit es in die Hosentasche oder in die winzige Clutch passt. Wenn sie sich später mal bewerben wollen, werden sie im Sekretariat um ein neues Zeugnis betteln und die schönsten Ausreden ersinnen, wohin das alte entschwunden ist.
Nach den Ferien hänge ich Zeichnungen meiner Schüler auf. Die Rahmen habe ich, blöd wie viele Lehrer sind, von meinem eigenen Geld gekauft. Es gibt auch Kollegen, die auf ihre Kosten Teppichboden in der Klasse verlegen lassen oder Gardinen mit kleinen Elefanten aufhängen. Bei meinen zehn großen Glasrahmen fehlt am nächsten Tag bereits eine Ecke. Das war natürlich niemand aus meiner Klasse. Vielleicht ein Troll, ein Gnom? Diese Unholde entwenden Klebstoff, Scheren und Locher, beschädigen Türschlösser und Fenstergriffe und verschwinden danach klammheimlich. Dass der Klassenschrank völlig verzogen ist und sich kaum noch öffnen lässt, geht auch aufs Konto der Trolle. Die springen nachts dagegen. Kein Besen überlebt in meiner Klasse länger als einen Monat. Gnome prügeln sich so lange damit, bis der Besen in zwei Teile zerfällt. Auch Zimmerpflanzen werden in meiner Klasse nicht alt. Entweder ersaufen sie, oder sie vertrocknen still und leise. Ich beklage mich auf dem nächsten Elternabend über diese Nachlässigkeit und Zerstörungswut. „Können Sie denn beweisen, dass das unsere Kinder waren?“, fragt die Elternvertreterin spitz. „Vielleicht sollten Sie höherwertiges Material anschaffen!“, rät Edgars Vater.
Ein Kollege ist so mutig und stellt ein Aquarium in seinen Klassenraum. „Man muss den Jugendlichen auch mal vertrauen!“, erklärt er mir, als ich ihm dringend rate, ein Schloss am Deckel anzubringen. Nach zwei Monaten ist das Aquarium wieder abgebaut. Das Problem an so großen Schulen ist die Anonymität: Viele Gruppen nutzen die Unterrichtsräume – und nicht nur die eigene Klasse.
Mittlerweile kassiere ich Pfand für schulische Leihgaben, laminiere wichtige Unterlagen und erhebe Abnutzungsgebühren bei Marmeladenflecken in Büchern. Private Dinge verleihe ich prinzipiell nicht mehr, seit der Videofilm von unserer ersten Klassenfahrt in Diegos Haushalt verschollen ist. „Ein altes Video, das ist doch nicht so schlimm“, findet seine Mutter. Erst als der Goldsohn in der Schule ihr Smartphone verhökert, kommt sie vorwurfsvoll zu mir: „Haben Sie denn überhaupt nicht im Blick, was die Schüler in den Pausen so machen?“


Voll gruselig
Wenn Lehrer auf Klassenfahrten spuken

Zu einer Klassenfahrt gehört ein ordentliches Gespenst! Eine liebe Kollegin hat damit gute Erfahrungen gemacht. In der letzten Nacht ist der Herbergsvater mit Eisenketten auf dem Dachboden herumgeschlurft, und die Zehntklässler in den Betten darunter waren schwer beeindruckt. Bis heute sind sie davon überzeugt, dass es in der Jugendherberge Windischleuba spukt. Eisenketten und Herbergsvater stehen mir leider nicht zur Verfügung. Aber ein Neffe, der mir aus dem Internet Geräusche für die Geisterstunde zusammenstellt.
Wir haben mit unserer 9. Klasse ein Haus für uns allein. Auf Wunsch verrate ich gern die Adresse. Abends schließe ich unten die Tür ab, und wir sind völlig ungestört. Im „Sockenraum“ können wir die täglichen Ereignisse besprechen, singen, tanzen und rappen. Bei der Planung der Fahrt hielt ich den „Sockenraum“ für eine Art Umkleidebereich, in dem man seine nassen Klamotten parkt. In Wirklichkeit ist es der Gemeinschaftsraum, der nur schuhlos betreten werden darf, damit man auf dem sauberen Teppichboden in allen Positionen meditieren, rumsitzen und rumliegen kann.
Am zweiten Abend lösche ich das Licht und erzähle mit Grabesstimme von einem einsamen Feriencamp im Wald: Ein paar muntere Teenager sollen dort alles für die Sommersaison vorbereiten. Nachts muss eins der Mädchen auf die Toilette. Der Weg führt aus der Ferienhütte durch dunkles Gelände. Die Sanitärbaracke befindet sich am anderen Ende des Camps. Jaja, die Idee habe ich aus einem romantischen amerikanischen Film. Die Stellen mit der blutigen Axt lasse ich beim Erzählen natürlich weg. Während sich meine Heldin im düsteren Waschraum ängstigt, rollen meine Schüler kreischend und kichernd übereinander. Ich bin froh, dass ich das Licht aus Sicherheitsgründen wieder anmachen kann. Ich bin nämlich noch am Grübeln, wie meine Geschichte eigentlich enden soll.
In der dritten Nacht kommt die CD meines Neffen zum Einsatz. Mein Kollege und ich sagen Gute Nacht und bewachen im Flur das Einschlafen. Es wird nicht ruhig. Flüstern, Gackern und besser nicht näher beschriebene Körpergeräusche dringen aus den Zimmern. Ständig muss noch jemand aufs Klo. Als endlich Ruhe eingetreten ist, versteckt sich das Lehrpersonal unter der Tischtennisplatte im Freizeitraum und stellt den CD-Player an: Ein hoher Schrei hallt durch die Gänge, schlurfende Schritte folgen, begleitet von Scheppern und gehässigem Lachen. Es klopft laut an eine Tür. Jemand zersägt etwas. Seufzen, Stöhnen und Wimmern in allen Stimmlagen ertönt.
Fast umgehend schießen meine Jung-Machos aus ihren Zimmern. Mit Paddeln und Tischtennisschlägern bewaffnet entdecken sie sofort ihre Lehrer im Freizeitraum. Schade, ich hätte die CD gern bis zum Schluss gehört. Als alle wieder in den Betten sind, taucht Luise vor meiner Tür auf. In der Schule ist sie ein rotzfreches Mädchen, das mit fast allen Lehrern Zoff hat. Jetzt steht sie in ihrem Bärchennachthemd vor mir und weint. Sie habe als Kind heimlich zu viele Gruselfilme gesehen und müsse jetzt unbedingt zu Koschka ins Bett. Dann wäre aber ihre Zimmernachbarin allein. Die will das auf gar keinen Fall.
Also schlafen in dieser Nacht acht Mädchen in einem Raum, eng aneinandergekuschelt, jeweils zwei in einem Bett. Die Jungen haben ihre Paddel vorsorglich neben sich gelegt. Mir fällt die Nachtwanderung ein, von der man im Kollegium erzählt: Zwei Klassenverbände gehen durch einen Wald. Taschenlampen sind verboten. An jede Lehrerin klammern sich ca. sechs Schülerinnen. Der vierte Lehrer hat Migräne vorgetäuscht, hält sich aber im Gebüsch versteckt und springt – mit einem Bettlaken getarnt – auf den Weg und ruft „Buh!!!“ Ehe er sichs versieht, stürzen sich einige Knaben auf ihn und verprügeln ihn. Seine Stimme erkennen sie in ihrer Angst (angeblich) nicht. Erst als das Laken fällt, lassen sie von ihm ab. Der Lehrer nimmt ihnen das sehr übel …
Einige meiner Jungen wünschen sich für den nächsten Abend die erneute Vorführung der CD. Ich treffe mich mit ihnen im Sockenraum. Heute ist Gruselstunde nur für Freiwillige. Um wenigstens eine kleine Überraschung zu bieten, bitte ich Jeremy um seinen Einsatz. Ich weiß, dass er eine scheußliche Gummimaske im Koffer versteckt hält. Aber statt Jeremy erscheinen fünf aufgeregte Mädchen im Türrahmen. Ich müsse unbedingt zu Kismet kommen. Kismet ist älter als die anderen, ein toughes Mädchen, stark und temperamentvoll. Aber jetzt schluchzt und hyperventiliert sie gleichzeitig. Auf dem Weg zur Dusche hat sie einen Einbrecher mit Gummimaske gesehen. Sie hätte um Hilfe gerufen, aber niemand hätte sie gehört. So eine Maske kennt sie aus den Schlachtsequenzen einer Videofilmreihe. Es beruhigt Kismet nicht im Geringsten, dass hinter dieser Maske nur ihr Mitschüler Jeremy gesteckt hat. In der Nacht schlafen alle 13 Mädchen gemeinsam in einem Zimmer.
Ich habe daraus gelernt. Auf Klassenfahrten werden nur noch fröhliche Lieder und freundliche Tiergeschichten zu Gehör gebracht. Nachtwanderungen erfolgen allenfalls in der Dämmerung, wenn man Lehrer noch von Gespenstern unterscheiden kann. In den Fluren vor den Schülerzimmern brennt die ganze Nacht Licht. Die Erziehungsberechtigten bitte ich darum, den Medienkonsum ihrer Kinder stärker zu kontrollieren und häufiger das Gespräch darüber zu suchen. Ich selber schließe mich der Initiative „Mehr Qualität im Fernsehen“ an.
Die Grusel-CD habe ich zu Halloween einem Skelett geschenkt, das mit Gummimaske und Axt vor meiner Wohnung stand. „Lass den Quatsch, Jeremy! Eine Lehrerin lässt sich durch nichts schrecken!“


Man muss mit den Schülern auch mal reden!
Großartige Fachkräfte führen ein Schwänzerprojekt durch
Tumult im Publikum. Der Absesandte einer „Leuchtturmschule“ erklärt uns, wie man das Problem der „Schulabstinenz“ bekämpft. Aber alles, was er da lang und breit erzählt, wissen wir bereits. Wir haben schwänzende Schüler telefonisch geweckt oder auch von daheim abgeholt, bzw. von der Polizei abholen lassen. Wir haben bei Hausbesuchen versucht, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. „Was, unser Sascha schwänzt die Schule? Das kann gar nicht sein! Er verlässt jeden Morgen um 7.30 Uhr das Haus!“ – „Mag ja sein. Aber in der Schule kommt er leider nicht an!“ Wir haben dreiseitige Schulversäumnisanzeigen ausgefüllt und zum Bezirksamt geschickt. Das stellt dann irgendwann Bußgeldbescheide aus, die lediglich im Schülerbogen abgeheftet werden, weil die betroffenen Eltern in der Regel kein Geld haben.
Heute findet mal wieder ein pädagogischer Tag statt. Die Schüler haben frei, und wir werden von echten „Fachkräften“ fortgebildet. Der Mann am Rednerpult ist wegen unserer Unruhe erzürnt. Er droht, den Saal zu verlassen: „Ich bin Beamter, ich bekomme mein Geld auch, wenn ich hier nicht referiere!“ Wir schweigen betreten, ahnen aber, dass auch diese Fortbildung nicht viel bringen wird. PowerPoint und hochtrabende Begrifflichkeiten für banale Erkenntnisse, aber wenig, was uns im Schulalltag wirklich nützt.
Doch ab jetzt wird alles anders! Begeistert stellt der Schulleiter der Gesamtkonferenz sein neues Kompetenzteam vor: Frau Wilke und Herr Jahn vom Projekt „Durchstarten“ werden sich unserer Schulabstinenten annehmen. Das Quartiersmanagement der umliegenden Großraumsiedlung stellt eine renovierte Ladenwohnung und Gelder zur Verfügung, das Kompetenzteam innovative pädagogische Module. Die beiden präsentieren ein wenig herablassend ihr Projekt: Schüler müssten sich in der Schule wohlfühlen. Es gelte, ihre Potenziale zu entdecken. Und ein guter Rat für uns Lehrer: „Man muss mit den Schülern auch mal reden!“
Wir Lehrer im 9. Jahrgang dürfen pro Klasse ein, zwei Delinquenten vorschlagen. Die lieben Kleinen sollen für ein Jahr in die renovierte Ladenwohnung ausgelagert und professionell betreut werden. Danach haben sie bestimmt unbändige Lust auf Schule und kehren hoch motiviert zurück. Unsere ewige Nörglerin kritisiert, dass in der Ladenwohnung genau die Lehrkräfte zum Einsatz kommen, denen die Schwänzer jetzt schon aus dem Weg gehen. Der Schulleiter wedelt ihren Einwand mit einer Handbewegung weg.
Das Kompetenzteam begutachtet die Kandidaten im Unterricht und im Einzelgespräch. Man merkt deutlich, wie wenig sie von unserem mittelalterlichen Unterricht halten. Herr Jahn blättert beim Hospitieren dezent in einer Fachzeitschrift (Fußball), Frau Wilke wischt auf ihrem Smartphone herum. Aus meiner Klasse sollen Mirko und Justin ins Projekt. Im Vorstellungsgespräch fragt Frau Wilke in zuckersüßem Ton nach Mirkos Hobbys. „Kickboxen“, nuschelt der Junge. „Super!“ Frau Wilke flippt vor Begeisterung fast aus. Mirko ist irritiert. Bisher sind seine aggressiven „Potenziale“ in der Schule auf kein positives Echo gestoßen. Ich erkenne: Hier bahnt sich etwas Wunderbares an, was ich bisher ausgebremst habe!
Wochen später hört man Seltsames aus der Ladenwohnung: Einige Schüler schwänzen weiterhin. Viele huldigen der gleitenden Arbeitszeit. Gewiss ist, dass Frau Wilke ein ordentliches Frühstück serviert und genug Raucherpausen anbietet. Eine Anwesenheitsliste wird nicht geführt. Die Schüler lümmeln auf den Sofas herum und können entscheiden, ob sie wirklich Englisch machen wollen. „Och nö, heute nicht“, meint Justin. „Na gut, dann vielleicht morgen?“, flötet Frau Wilke. Wenn zu wenig Klienten erscheinen, ist manchmal schon um elf Uhr mit dem Unterricht Schluss. An den wöchentlichen Projekttagen geht es ins Kino, zum Burgerbrater oder zum Bowling. „Die wollen sich bei den Schülern nur einschleimen“, meint der Mathekollege mürrisch, als er in der Ladenwohnung mal wieder keine Interessenten vorfindet.
Nach einem Jahr kommen Mirko und Justin in unsere Klasse zurück. Justin fand das Projekt doof und fühlte sich abgeschoben. Er hat jetzt einen eifrigen jungen Familienhelfer, der ihn täglich zur Schule bringt und im Unterricht neben ihm sitzt. Mirko und seine Familie ziehen in einen anderen Bezirk. Das dortige Jugendamt freut sich bestimmt über die dicke Akte. Quartiersmanagement und Schulleiter sind unzufrieden mit dem Projektverlauf. Bis heute warten sie auf die Dokumentation und den Abschlussbericht. Aber Frau Wilke und Herr Jahn haben sich in die Uckermark abgesetzt. Es heißt, sie betreiben dort einen Erlebnis-Bauernhof.
Meine Schüler sind mittlerweile in der 10. Klasse. Darunter zwei 18-jährige Mädchen, die das Jahr freiwillig wiederholen, weil sie einen besseren Abschluss erreichen wollen. Leider erscheinen sie nur zu unserer Klassenfahrt in die Türkei. Die Reise wird vom Jobcenter bezahlt. Die Eltern der Mädchen reagieren weder auf Telefonate noch auf Einschreiben. Ein Kollege rät mir, die Kindergeldkasse zu informieren. Ich ringe mit mir, ob das politisch korrekt ist. Dann schreibe ich der Kindergeldkasse, dass sie zwei volljährige Schülerinnen unterstützt, die überhaupt nicht mehr in der Schule auftauchen. Zwei Wochen später lerne ich endlich die Eltern der Mädchen kennen. Wort- und tränenreich führen sie mir ihre Töchter zu, die von nun an brav in der Klasse sitzen.


Die Klassenparty
Von den Schwierigkeiten der sexuellen Annäherung

Ein-, zweimal im Jahr ereilt einen das Schicksal: bettelnde Kinderaugen, Schülerfinger, die am T-Shirt zerren, Hände, die einem liebevoll den Rücken klopfen: „Och, bitte, Frau Frydrych, wir haben so lange keine Klassenparty mehr gemacht. Wir organisieren auch alles selber!“ Da lassen sich nur schwer Ausreden konstruieren, wie man diesem Ungemach entgehen könnte. Vier Stunden lang höllisch laute Musik, und nicht ein einziger Titel von Mick Jagger darunter! Die Schüler akzeptieren leider widerspruchslos alle meine Regeln, Angel-Marie geht sogar den Hausmeister „bestechen“, damit die Party abends stattfinden kann. Hülya macht eine Liste, was alles mitgebracht werden soll. Für die Musik wird Edgar sorgen. „Sie müssen sich um gar nichts kümmern! Sie müssen nur Aufsicht führen!“ – „Aber keine Schulfremden mitbringen! Und hinterher wird widerspruchslos aufgeräumt. Und auch die Jungen machen mit sauber und bringen was zu essen mit! Und es gibt nicht nur Chips und Gummibärchen, sondern auch was Gesundes! Und wenn ich sage, dass Schluss ist, dann muss auch Schluss sein.“ – „Na klar doch, Frau Frydrych, gar kein Problem, machen wir alles.“ Die Hoffnung, dass vielleicht der Hausmeister keine Lust haben könnte, abends die Schule zu öffnen, zerschlägt sich auch.
Der große Tag ist gekommen. Ich packe zu Hause eine Tasche mit Putzlappen, Küchenpapier, Besteck und Party-Spielen und wandere abends wieder zurück in die Schule. Mein Kollege hat den kahlen Raum schon mit den Schülern geschmückt. Die grellen Neonlampen sind mit Krepppapier verhängt. Das Büfett sieht sehr einladend aus. Heimlich klaue ich ein Stück Köfte (türkische Boulette, aber viel besser!) und stelle nicht zum ersten Mal fest, dass meine deutschen Schüler Kuchen, Käse und Süßigkeiten aus dem Supermarkt angebracht haben, während alle fein geschnitzelten Salate, mühsam gebackenen Kekse und Blätterteigspeisen von den türkischen und arabischen Mädchen und Müttern stammen. Meine Schülerinnen sind kaum wiederzuerkennen. Schicke, enge Kleider, viel Make-up und hohe Plateau-Schuhe, in denen ich keinen Schritt machen könnte, ohne umzuknicken. Hülya hat zur Feier des Tages ihr Kopftuch abgenommen und präsentiert ihre wunderschönen langen Locken. Hoffentlich petzt das niemand ihrem älteren Bruder, der sie stets und ständig kontrolliert. Sogar die Jungen haben sich in feines Tuch geschmissen: weiße Hemden und schwarze Hosen. Dazu den ersten Flaum kräftig mit Rasierwasser eingerieben und viel Gel in die Haare eingearbeitet.
Die Musik dröhnt seit zwei Stunden. Meine „Kinder“ haben sich mit großen Chips-Tüten in die Ecken zurückgezogen und zucken rhythmisch mit den Füßen, aber niemand traut sich zu tanzen. Die Mädchen probieren ab und zu am Rand der Tanzfläche drei Schritte, um anschließend kichernd auf die Toiletten zu rennen, wo sie stundenlang ihr Make-up überprüfen und wichtige Strategien entwickeln. Die Mädchentoiletten sind in der Schule ohnehin ein attraktiver Sammelpunkt. Anscheinend gibt es keinen schöneren und ungestörteren Ort, an dem man in Ruhe alles besprechen kann. „Also, die Party findet hier im Jahrgangsraum statt, nicht im Flur und auch nicht auf den Toiletten!“ – „Frau Frydrych, machen Sie doch mal was. Die wollen alle nicht tanzen.“ Mein Kollege und ich verteilen unsere in weiser Voraussicht vorbereiteten Loszettel. Die Schüler werden per Zahl und Kennwort für den nächsten Tanz verkuppelt. Doch sobald einer der Tanzpartner „geoutet“ ist, scheint sein Pendant in der Menge einfach unauffindbar. Wir zählen diktatorisch ab und jagen alle auf die Tanzfläche. Das klappt auch zwei Lieder lang ganz gut, aber beim nächsten langsamen Stück desertieren die ersten Jungen wieder auf die Sessel in den Ecken. (Beim nächsten Mal lasse ich alle bequemen Sitzmöbel entfernen!). „Frau Frydrych, es ist so langweilig. Wissen Sie keine anderen Tanzspiele?“ Also binden wir den Kindern Luftballons an die Hufe. Beim Tanzen müssen die gegnerischen Ballons zerstampft werden. Wer seinen Ballon retten kann, hat gewonnen. Dieser Ringkampf kommt gut an. Zum Schluss sind noch sechs Jungen übrig, die sich tanzend umzingeln. Der Sieger Mustafa dreht ein paar Break-Dance-Spins auf dem Kopf, danach ist erst mal wieder Schluss mit den tänzerischen Aktivitäten. Meine lustigen Mitmachtänze treiben nur mir den Schweiß auf die Stirn. Die angedrohte Damenwahl leert den Raum blitzartig. Frustriert greifen sich die Lehrer die Erdnussflips.
Das Ende der Fete naht. Der Hausmeister steht schon im Flur und rasselt mit seinem großen Schlüsselbund. Eifrige Helfer stapeln Teller und kippen Getränkereste zusammen. Der letzte Blues! Wie auf ein geheimes Zeichen hin finden sich plötzlich alle paarweise auf der Tanzfläche ein. Drei Mädchen zerren meinen Kollegen und mich dazu und beobachten gerührt, wie wir weisungsgemäß Hand aneinanderlegen. Es wäre äußerst grausam, gerade jetzt die Fete, wie geplant, zu beenden. „Also gut, noch drei Tänze. Aber dann ist wirklich Schluss!“ Misstrauisch werde ich, als die drei Lieder überhaupt kein Ende nehmen wollen. Es gibt anscheinend CDs, auf denen ein Stück nahtlos ins nächste übergeht. Kleine Mistviecher! Als endlich alle mit Schüsseln, Tüten und Pfandgut vor der Schule stehen (Hülya hat wieder das Kopftuch aufgesetzt, weil ihr großer Bruder sie gleich abholt), glänzen die Augen. „Wann machen wir die nächste Party? Es war richtig toll!“ Vier Stunden rumsitzen, dreißig Minuten tanzen – das war richtig toll? Und muss sofort wiederholt werden? Verstehe einer die Jugend von heute. Bei uns war das früher gaaanz anders!!!


Ein Rohrbruch
Was macht man, wenn man unerwartet schulfrei hat?

Ein Rohrbruch überrascht uns an einem warmen Junimorgen. Das Erdgeschoss der Schule ist überschwemmt. Vollgesogene Deckenplatten beginnen sich zu lösen. Im gesamten Gebäude muss das Wasser abgestellt werden. Schon vor Wochen, wenn nicht gar vor Monaten hat unser Direktor die Verwaltung darauf hingewiesen, dass das Rohrsystem der Schule völlig marode ist. Aus Ventilen tropft es, aus Abflüssen stinkt es. Niemand hat reagiert. Leider berichtet auch die Lokalpresse nicht mehr von diesen Zuständen. Spätestens dann würde die Verwaltung nämlich mal einen Klempner vorbeischicken. Aber in Berlin sind so viele Schulen in einem traurigen Bauzustand, selbst im reichsten Bezirk, dass die Misere kaum noch eine Zeitungsmeldung wert ist.
Ohne funktionierende Toiletten kann man keinen Ganztagsbetrieb aufrechterhalten. Außerdem ist eine der Deckenplatten ins Foyer gekracht. Glücklicherweise stand dort gerade niemand. Der Hausmeister hat einen Schock erlitten und wird von den Schulsekretärinnen betreut. Alle Schüler und Lehrer werden heimgeschickt. Die meisten Schüler sind verschwunden, bevor es dem pädagogischen Personal einfällt, ihnen Hausaufgaben mit auf den Weg zu geben. Ich weise Luise, die zu langsam war, an, die Aufgaben per WhatsApp zu verbreiten. Man kann nicht sagen, dass die Kinder traurig sind, weil ihr wertvoller Unterricht ausfällt. Auch die Kollegen, die auf dem Parkplatz in ihre Autos steigen, scheinen guter Dinge zu sein. Ein paar Siebtklässler planschen noch im Wasser rum, bevor der Direktor sie mehr als deutlich auffordert, endlich das Schulgebäude zu räumen, bevor sich noch ein Deckenteil löst. Ich überlege, was ich mit dieser unverhofften Freizeit anfangen soll. Die Klausuren korrigieren, die seit zwei Wochen warten? Shoppen gehen? Im nächsten See baden und Enten füttern? Pflichtbewusst entscheide ich mich für die Klausuren.
Am nächsten Tag wird ein außerordentlicher Wandertag anberaumt, weil in der Schule immer noch alles feucht ist und müffelt. Wir haben Glück: Die Sonne strahlt, der Busfahrer hat gute Laune und lässt uns einsteigen, obwohl meine Klasse nicht angemeldet ist und eine weitere Klasse auf dem Oberdeck herumtobt. Wir bleiben unten im Bus. Ercan ist charmant und bietet einer giftig dreinblickenden Rentnerin seinen Sitzplatz an. „Sie könnten sich ruhig bedanken“, ermuntere ich die immer noch giftig dreinblickende Frau. Ich habe schließlich einen Erziehungsauftrag! Anscheinend sucht die unfreundliche Passagierin irgendeinen Grund, sich zu beschweren, und ist sauer, dass sie keinen findet. Meine Schüler werfen nicht mit Chips, schaukeln nicht an den Haltestangen und grölen nicht durcheinander. Aber zwei muslimische Mädchen tragen ein Kopftuch. Endlich hat die Frau etwas, worüber sie sich ereifern kann. Als niemand reagiert, stellt sie ihre kultursoziologischen Betrachtungen wieder ein.
Wir landen in der Nähe eines idyllischen Berliner Gewässers. Meine Schüler halten verzweifelt Ausschau nach einem Supermarkt. Wir entdecken nur eine Tankstelle und einen winzigen Tante-Emma-Laden mit Bierausschank. Notgedrungen lasse ich meine Schüler kurz zum Einkaufen frei. Sie sinken mir sonst unterzuckert am Ufer nieder oder verdursten auf der einstündigen Wanderung. Zumindest brauche ich eine Stunde, wenn ich den See umrunde. Meine lauffaulen Kinder werden dafür vermutlich zwei Stunden brauchen. Jeremy borgt sich von mir zwei Euro und wird sie mir zwei Wochen später nur unwillig und auf ausdrückliches Nachfragen hin zurückgeben. Fehlt noch, dass er sagt: „Stellen Sie sich nicht so an! Ich bin jung und brauche das Geld!“ Die lieben Kleinen kommen mit Großfamilienpackungen Chips und Flips zurück und mit Zwei-Liter-Flaschen Cola. Der Tankstellenbesitzer und Tante Emma freuen sich über ihren Umsatz. Meine netten Schüler bieten mir von ihrer Marschverpflegung an, aber auf Flips, Chips und Cola war ich nur als Teenager scharf, als das Zeug innerfamiliär rationiert und mit drei Geschwistern zu teilen war.
Wir gehen die Treppe zum Seeufer hinunter. An Wochenenden und Sommerabenden tobt hier das Leben. Jugendliche veranstalten Wettläufe mit Bierkästen, obwohl die Polizei das verboten hat. Tierliebe Berliner schicken ihre erhitzten Doggen und Rottweiler ins Wasser, obwohl das Bezirksamt das verboten hat. Ruderer und Paddler rasten in den geschützten Schilfgürteln, obwohl das absolut verboten ist. In jeder zweiten Bucht sitzen fröhliche Gruppierungen um Lagerfeuer und Einweg-Grills, obwohl Schilder vor der erhöhten Waldbrandgefahr warnen. Aber „freie Bürger“ lassen sich nicht von kleinmütigem Regelwerk einschränken. Die Müllabfuhr hat gerade ihre Tour am See beendet und alle Schnapsflaschen, Grillreste, Pizzakartons und Windeln eingesammelt und die übervollen Papierkörbe geleert. Krähen und Wildschweine begeistern sich an diesem Müllaufkommen, zerren Tüten aus den Eimern und verteilen den Inhalt großzügig rund um den See. Obwohl das natürlich verboten ist. Die meisten Wildschweine an diesem Ufer sind allerdings menschlicher Herkunft.
Ein grimmiger Jogger hat den Ehrgeiz, mitten durch meine Klasse zu sprinten. Koschkas Chipstüte fällt beim Anrempeln runter, und sechs Schwäne stürzen sich gierig auf die Krümel. René ruft dem älteren Sportler hinterher: „Wat is, Opa? Probleme? Ist die Glocke länger als das Seil?“ Ich sage nichts. Der „Opa“ hat schließlich angefangen, sich schlecht zu benehmen. Glücklicherweise rennt er weiter und sucht nicht das Gespräch mit René. Vielleicht ahnt er auch, dass ich meine Schüler erbittert verteidigen würde.
Wir umrunden vorsichtig einige Angler, um ihre Lachse und Karpfen nicht zu vertreiben. Oder was auch immer sie hier fangen wollen. Es soll in dem See Riesenwelse geben, die den Schwimmern in die Waden beißen, wenn sie sich den Laichgebieten nähern. Angeblich sind auch schon einzelne Dackel den Welsen zum Opfer gefallen.
Schweres Stampfen und Keuchen nähert sich. Diesmal retten sich meine Schüler gleich an den Wegrand, um von der männlichen Weight-Watchers-Gruppe nicht plattgewalzt zu werden! Schwaden von Rasierwasser und Schweiß hüllen uns ein. Ein riesiger Hund interessiert sich für Oksanas Rucksack. Die kreischt und versteckt sich hinter meinem Rücken. Der Hund hechelt drohend. „Der will nicht spielen. Der will nur beißen!“, vermutet Edgar. Aus der Ferne trillert jemand, und der Hund rennt los. „Der darf hier doch gar nicht frei rumlaufen!“, Oksana zeigt auf eins der vielen Schilder, auf dem ein dicker roter Strich eine schwarze Hundesilhouette durchstreicht. Das Hunde-Herrchen ist offensichtlich auch ein „freier Bürger“.
Im Schilf singt und knarzt ein Teichrohrsänger. Normalerweise verstecken sich diese raffinierten Vögel gut, aber der hier schaukelt deutlich sichtbar auf einem Halm. „Seht mal, ein Teichrohrsänger“, erkläre ich meiner Klasse. „Den sieht man so gut wie nie.“ Meine Schüler heucheln Interesse an Natur und Umwelt, um mich nicht zu vergrämen, aber viel mehr sind sie an Humanbiologie interessiert. An diesem See lagern in jeder Bucht FKK-Anhänger, deren Kronjuwelen der Junisonne entgegenhängen. Mustafa und Kai wandern alles ab und betreiben intensive Körperstudien, bis ich sie auf den Weg zurückrufe. „Und steckt gefälligst die Handys weg. Wollt ihr Ärger bekommen?“ – „Darf man die nicht fotografieren?“, fragt Mustafa unschuldig. „Hier stehen gar keine Verbotsschilder.“ Ich knurre drohend.
Auf unserem Weg rund um den See treffen wir auf drei Sportvereine und zwei fröhliche Schulklassen. Die süßen Grundschulkinder reißen Zweige von jungen Bäumen ab und hauen sich damit gegenseitig auf die Waden. Vielleicht regt das die Durchblutung an? „Frau Frydrych, die machen die Bäume kaputt. Dürfen die das?“ – „Nein, eigentlich nicht“, erkläre ich. Eine Mutter-Kind-Gruppe rollt vorbei. Insgesamt zählen wir auf unserem Spaziergang durch die „unberührte Natur“ 35 frei laufende Hunde aller Größen, Formen und Farben. An der großen Badewiese müssen meine erschöpften Schüler eine Rast einlegen. Auch hier kann man viele Nacktbader betrachten. Woher Hochglanzmagazine immer diese makellosen Körper nehmen, ist mir schleierhaft. Hier möchte man den ein oder anderen Nackten gnädig mit etwas Textil verhüllen. „Ich würde es verbieten, dass die hier nackisch rumliegen“, meint Hülya. Mustafa, mein Künstler, hat immer seinen Skizzenblock dabei. Jetzt malt er einen dicken Mann und streicht ihn mit einem roten Edding durch: „Nackisch Baden streng verboten!“ Kichernd hängen die lieben Kleinen das Plakat an einen Pfosten. „Was machen Sie da im Schilf? Das ist verboten!“, ruft Felix ins Dickicht. „Da liegen zwei Nackische aufeinander!“, erklärt er mir. Es wird Zeit zurückzugehen. „Dürfen Sie eigentlich mit uns da rumlaufen, wo lauter Nackte liegen?“, fragt Hülya und zuppelt an ihrem Kopftuch. Das frage ich mich auch. Ob das Schulrecht darauf eine Antwort weiß?
Zwei weitere Klassen unserer Schule treffen an der Badestelle ein. Es gibt eine fröhliche Begrüßung und den Austausch von Marshmallows, giftgrünen Süßigkeiten und arabischem Gebäck. Und von heimlich aufgenommenen Nacktfotos. Eine Kollegin berichtet begeistert, dass morgen auch kein Unterricht stattfindet. Und übermorgen auch nicht. Und leider muss auch der ersehnte Elternsprechtag ausfallen. Die Bauaufsicht spricht von akuter Gefährdung. Wir freuen uns auf viele weitere Wandertage.

Gabriele Frydrych

Über Gabriele Frydrych

Biografie

Gabriele Frydrych arbeitet seit Jahren als Lehrerin an Berliner Brennpunktschulen. Die Einblicke, die sie in den verschiedenen Klassen und Kollegien gewann, hielt sie in ironischen Glossen fest - mit überwältigender Resonanz. Nun liegen Frydrychs gesammelte Texte im Piper Verlag vor.

Pressestimmen
magazin.-auswege.de

„Gabriele Frydrych hat wieder zugeschlagen. Die Autorin führt uns mit Geist, Witz und Sarkasmus ein reizendes Panoptikum penetranter Pauker, garstiger Gören und enervierender Eltern vor. Fern der üblichen Schulklischees und sprachlich brillant.“

GEW Zeitung

„Mit viel Humor, Gelassenheit und mit einem großen Herzen berichtet (Gabriele Frydrych) von ihrem Schulalltag.“

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