

Italienische Abgründe - eBook-Ausgabe Italienische Abgründe
Ein Gardasee-Krimi
— Packender Italien-Krimi mit viel RegionalflairItalienische Abgründe — Inhalt
Ein Toter kommt selten allein … Packender Italien-Krimi mit viel Lokalkolorit für Fans von Paolo Riva und Jürgen Seibold
Es ist Frühjahr, die Temperaturen steigen und stetig sinkt das Wasser des Gardasees – und so kommt plötzlich auch eine Leiche ans Licht. Der grummelige Commissario Francesco Tedesco, der sich eigentlich schon auf seinen Ruhestand vorbereiten wollte, wird nach Riva del Garda beordert, um die Kollegen vor Ort zu unterstützen. Doch kaum ist die Wasserleiche geborgen, wird ein zweiter Todesfall gemeldet: Die Hausdame eines edlen Apartmenthauses, dessen Gäste nun vorübergehend in der Villa Torrani unterkommen. Hängen die beiden Fälle zusammen? Und warum treffen sich hier drei sehr unterschiedliche Paare alljährlich für sechs Wochen, um sich gegenseitig ihrer Verschwiegenheit zu versichern?
Leseprobe zu „Italienische Abgründe“
Kapitel 1
Mittwoch, 10. April
Schuld an allem war der Regen, nein, besser umgekehrt, die Dürre. Es war immer gut, das Wetter für etwas verantwortlich zu machen: Das wehrte sich nicht.
Francesco Tedesco sah kopfschüttelnd in den blauen Himmel. Hätte es einfach mal wieder geregnet und wäre der Pegel des Gardasees nicht um historische achtunddreißig Zentimeter gesunken, so wäre all das nicht ans Licht gekommen, was ihm nun Kopfschmerzen bereitete. So viel zu den Worten „hätte“, „wäre“ und „würde“. Tatsächlich hatte Massimo Lumacino, der Leiter der [...]
Kapitel 1
Mittwoch, 10. April
Schuld an allem war der Regen, nein, besser umgekehrt, die Dürre. Es war immer gut, das Wetter für etwas verantwortlich zu machen: Das wehrte sich nicht.
Francesco Tedesco sah kopfschüttelnd in den blauen Himmel. Hätte es einfach mal wieder geregnet und wäre der Pegel des Gardasees nicht um historische achtunddreißig Zentimeter gesunken, so wäre all das nicht ans Licht gekommen, was ihm nun Kopfschmerzen bereitete. So viel zu den Worten „hätte“, „wäre“ und „würde“. Tatsächlich hatte Massimo Lumacino, der Leiter der Polizeidirektion Riva, ihn vor wenigen Minuten angerufen und um Hilfe gebeten. Und genau das war das Problem.
„Wir haben einen Selbstmord.“
„Für Suizide bin ich nicht zuständig.“
„Das stimmt, aber der Staatsanwalt besteht darauf, dass du noch mal einen Blick auf die Leiche wirfst. Du kennst ja unseren Dottore Scarpa.“
„Warum?“
„Weil Giorgia Marchetti, die Mitarbeiterin unseres Pathologen meint, dass der Mann schon vor sehr langer Zeit im See versenkt wurde. Zusammen mit einem Kanister, in dem Beton war.“
Tedesco trat an seine Küchenzeile, füllte den Espressokocher mit Wasser und Pulver, verschloss alles sorgfältig und stellte die Bialetti auf den Herd. Erst dann wandte er sich wieder an den Questore. „Möglicherweise wollte er ja ganz sichergehen.“
„So sehe ich das auch.“ Massimo Lumacino seufzte dramatisch. „Aber wie gesagt, der Staatsanwalt hat mal wieder Zweifel. Komm doch einfach schnell vorbei und bestätige das, was ich die ganze Zeit schon behaupte.“
Tedesco lachte. „Du machst es dir ganz schön leicht. Warum nimmst du nicht einen aus deiner Truppe? Nur zum Abnicken mache ich mich nicht auf den Weg.“
„Aber der Staatsanwalt hat genau deinen Namen genannt. Entweder hat Dottore Scarpa dich auf dem Kieker und will dich ärgern, oder er zweifelt an meiner Kompetenz.“
Tedesco nickte und schwieg. Vermutlich war Letzteres der Fall. Jeder Polizist im ganzen Trentino wusste, dass Massimo Lumacino dazu neigte, alle Aufgaben, für die er zuständig war, ganz schnell weiterzugeben. Glücklicherweise hatte er sehr gute Mitarbeiter.
Der Commissario aus Trento füllte nun eine Espressotasse mit dem noch sehr heißen Kaffee und setzte sich an seinen Küchentisch. „Eins verstehe ich nicht. Wenn der Körper sehr lange im See lag, woher wisst ihr dann, dass es ein Mann ist? Mehrere Jahre sind eine sehr, sehr lange Zeit. Da bleibt so gut wie nichts an Erkennbarem von einem Leichnam übrig.“
„Habe ich auch gedacht.“ Massimo schluckte. „Aber als der dann in der Bergungswanne lag, immer noch am viel zu niedrigen Seeufer und inmitten unseres ganzen Wohlstandsmülls, ausgediente Kühlschränke, Autos, Fahrräder, Möbel, sogar Laptops, also unter uns, da ist mir die Lust auf Frühstück vergangen.“
Tedesco gönnte sich eine zweite Tasse Espresso. Dass Lumacino über Umweltschutz nachdachte, war ihm neu. Hatte er sich etwa der grünen Partei „Europa Verde“ angeschlossen? Das wäre ein Fortschritt. Er rührte Zucker in seinen Espresso und wandte sich erneut an den Anrufer. „Also, erzähl, was ist das Besondere an der Leiche?“
„Der war noch einigermaßen zu erkennen – aber ich kannte ihn glücklicherweise nicht.“
„Du kannst ja auch nicht alle kennen“, bestätigte Francesco. „Bei fast achtzehntausend Einwohnern.“
Sein Gesprächspartner schien zu nicken. „Vermutlich ist es nur ein Tourist. Isetta soll mal nachschauen, ob in den letzten Jahren jemand als vermisst gemeldet wurde.“ Lumacino schien sich Notizen zu machen. Dann wandte er sich wieder an den Trentiner Kollegen. „Wusstest du, dass eine Wasserleiche manchmal zwischen zehn und dreißig Jahren braucht, um zu verwesen? Also mir hat das noch keiner gesagt. Aber hier haben wir so ein Exemplar. Bei einigen Toten bildet sich wohl nach einiger Zeit eine chemische Reaktion, die dafür sorgt, dass die Körperform erhalten bleibt. Die in der Pathologie sprachen von Adipocere. Also, schön anzusehen ist das nicht. Um es kurz zu machen: Unsere Leiche gehört wohl zu jenen Exemplaren, die eine wachsähnliche Schutzschicht gebildet haben und noch als menschliche Wesen erkennbar sind. Ganz schön hartnäckig.“ Massimo Lumacino schimpfte weiter vor sich hin: „Und stell dir vor, bevor ich mich überhaupt zu dem Leichnam runterbeugen konnte, hatte unser Kollege Ernesto den Toten schon untersucht. Dabei habe ich ihm gesagt, dass die mit dem Fund in ihrer Bergungswanne erst mal in die Pathologie fahren sollen, bevor wir uns der Sache annehmen. Aber du kennst ja Ernesto. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Und was das Schlimmste ist. Ich geb dem meinen Bericht zum Korrekturlesen, damit der fehlerfrei an Dottore Scarpa geht, und Carabiniero Neunmalklug fügt meiner Selbstmordthese selbstständig hinzu, dass der Tote sich nicht selbst gefesselt haben kann, dass da sicher noch ein zweiter Mensch mit im Spiel war.“
„Aber das hättest du doch wieder löschen können.“
Massimo Lumacino schnappte nach Luft. „Ich habe so viel Vertrauen zu meinen Mitarbeitern, dass ich ihre Arbeit nicht noch mal checke und die Mails grundsätzlich so weiterschicke. Aber aus diesem Schaden habe ich gelernt. Nun gut, jetzt haben wir den Salat. Che Stronzata!“ Der Fluch kam aus tiefster Seele. „Also, was ist? Wann kommst du?“
„Ich mach mich gleich auf den Weg. Sag euren Pathologen schon mal Bescheid. Vermutlich bin ich in einer guten Stunde bei euch.“
„Soll ich dir wieder ein Apartment zur Verfügung stellen?“
„Nein, das ist nicht nötig. Ich fahre heute Abend wieder heim.“
Im Laufe der Jahre hatte Francesco Tedesco festgestellt, dass er am besten zu Hause schlief. Jetzt, da seine Pensionierung quasi vor der Tür stand, wurde es ihm noch wichtiger. Er reiste nicht einmal mehr – so wie früher – in den Ferien in fremde Länder, sondern verbrachte seine freien Tage daheim, lesend, mit langen Spaziergängen und vielen Kaffeepausen. Ihm fehlte niemand, schließlich hatte er immer ein Buch dabei. Obwohl damals, als er mit Ernesto Constantini im Fall des verschwundenen Bürgermeisters von Riva ermittelte, hatte die Zeugin Viola Giallo sein Herz berührt. Mit ihr hätte er möglicherweise einen Neuanfang gewagt und mit ihr wäre er auch gern verreist. Allerdings wusste er nicht, ob auch sie das gewollt hätte. Damals lebte sie in einem Haus voller Bücher und schien die gleichen Autorinnen und Autoren zu mögen wie er. Und wenn es unbedingt hätte sein müssen, hätte er sich sogar mit Violas weißem Königspudel Bella angefreundet. Vorbei. Schade. Aber nun hatte er seine Leidenschaft für Bücher entdeckt und zum Lesen brauchte man bekanntlich ja keinen Partner. Höchstens dazu, um über das Gelesene zu sprechen.
Unvermittelt dachte er an seinen verwitweten Nachbarn zur Linken. Dieser hatte sich mit Beginn der Rente einen älteren Mischlingshund aus dem Tierheim geholt und war nur wenig später bei einem Tierarztbesuch der Liebe seines Lebens begegnet. Deren Hund war ein reinrassiger Dackel und je besser die beiden Menschen miteinander klarkamen, umso mehr stritten sich die Hunde. Fast hätte man meinen können, dass all die fürsorglichen und freundlichen Worte von Mann und Frau mit aggressivem Hundeknurren unterlegt waren. „Amore mio“, so nannte der Nachbar seine Liebste nun. Zuvor war der Hund mit ähnlichen Kosenamen bedacht worden. Langen Diskussionen auf dem nachbarlichen Balkon hatte Francesco entnehmen können, dass nun weder der Dackel noch der Mischlingsrüde mit ins gemeinsame Schlafzimmer oder gar ins Bett durften. Klar, dass die Tiere auf achtzig waren. Andererseits, auch Viola Giallo hatte im eigenen Bett an der Seite ihres Hundes geschlafen. Ob sie ihre Königspudeldame seinetwegen vor die Tür gesetzt hätte? Vermutlich nicht. Der Hund war ihr wohl lieber gewesen. Eine leichte Wehmut fiel ihn an.
Während der Fahrt nach Riva hoffte Francesco, dass Ernesto sich geirrt hatte. Falls der Selbstmörder sich eigenmächtig an einen Kanister gekettet hatte, so könnten sich die Ketten im Laufe der Zeit ja auch so miteinander verhaken, dass ein Laie auf die Idee käme, jemand habe dabei nachgeholfen.
Der Commissario überholte einen Lastwagen und beschloss, diese These im Hinterkopf zu behalten. So eine Wasserliegezeit war ja nicht statisch. Das galt weder für ertrunkene Menschen noch für Elektroherde, Computer und ausgediente Fahrräder. Sehr tiefe Strömungen verteilten die Dinge immer wieder neu. Und das hieß dann ja wohl auch, dass der aufgefundene Körper vielleicht gar nicht in Riva in den See gelangt war. Sicher wüssten sie heute Abend schon mehr. Er stellte sich vor, dass Isetta ihm zusätzlich zu ihrem wunderbar schaumigen Cappuccino und ihren selbst gebackenen Biscottini eine fünf Jahre alte Pressemeldung servierte. „Vermisst wird seit dem Frühjahr 2019 Signore xy. Er ist psychisch krank und es wird vermutet, dass er sich das Leben nehmen will.“ Da der Leichnam laut Lumacino eine sogenannte Wachsleiche war, bräuchte man nur noch jemanden, der die Identität des Toten bestätigte. Dass der Questore nicht einmal das selbst auf die Reihe brachte!
Während ihm das durch den Kopf ging, freute er sich fast auf seinen kleinen Ausflug und auf die allwissende Isetta Fusco. Obwohl Massimo Lumacinos rechte Hand fast so alt war wie der nun anreisende Francesco Tedesco, hatte sie vor der modernen Technik weder Respekt noch Angst. In Windeseile fuchste sie sich in alle existierenden Computerprogramme ein und surfte schneller als jede andere selbst durch die geheimen Akten des Innenministeriums und der Guardia di Finanza. Bestimmt verfügte sie auch über einen geheimen Weg zu den unter Verschluss gehaltenen Dossiers des Vatikans. Irgendwann würde er sie danach fragen.
Als er vor der Präfektur hielt, griff er wie immer an seine Brusttasche und erschrak. Nun hatte er doch tatsächlich eines seiner vielen Notizbüchlein vergessen. Seufzend ging er ein paar Straßen weiter und betrat eine Cartoleria. Ohne die Chance, etwas mitzuschreiben, war er nur ein halber Mensch.
Das junge Mädchen vor ihm erwarb Postkarten sowie Briefmarken. Die Art, wie sie „Francobollo“ aussprach, zeigte ihm, dass sie nicht aus dieser Gegend war. Außerdem hieß es Francobolli, wenn sie mehr als eine Marke wollte, und das war ja wohl der Fall. Anders als die meisten Touristinnen trug sie ein braves gelbes Baumwollkleid, Schnürschuhe sowie einen breitkrempigen Hut, der ihr Gesicht so gut wie komplett verdeckte. Eine mittelblonde Haarsträhne fiel ihr in den Nacken.
Wer schrieb denn heutzutage noch Postkarten? Da erledigte man doch alles per WhatsApp, Telefonat oder SMS. Vermutlich war er in ein klitzekleines Zeitloch gefallen. Riva schien gepflastert mit Zeitlöchern. Nirgendwo sonst schien sich die Struktur der Zeit so sehr zu verknoten wie hier, ganz plötzlich riss sie auf und führte zu Abstürzen in die Vergangenheit oder katapultierte einen für Sekundenbruchteile in eine unbegreifliche Zukunft. Francesco wusste noch, dass er einst mit Viola Giallo darüber hatte sprechen wollen. Damals. Zu jener Zeit las sie ein Buch von Stephen Hawking und schien ihm die beste Gesprächspartnerin für dieses Thema.
Kapitel 2
Regula Holtmannspötter trat mit ihren Postkarten aus dem Souvenirladen, blieb stehen und schnappte nach Luft. Jetzt ging also alles wieder von vorn los. Was für ein Segen! Sie hatte ja immer gewusst, dass die Sache ein gutes Ende nehmen würde. Vittorio lebte! Anders konnte es nicht sein. Sie hatte gesehen, was sie gesehen hatte. Und der Mann, der hinter ihr den Laden betreten hatte, war das eindeutigste Zeichen dafür. Nur, wie sollte sie das Ernesto erklären? Etwa mit den Worten: „Ich hatte mich für einen anderen entschieden, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Jetzt ist er wieder da.“
Regula sprach nicht gern in ganzen Sätzen. Sie sprach überhaupt nicht gern. Das war auch ein Grund, warum sie Handwerkerin geworden war. Andere sagten ihr, was sie sich wünschten, und sie, Regula, zeichnete einen Plan oder baute ein Modell, hörte sich Änderungswünsche an, nickte zustimmend und legte los. Immer ohne Widersprüche – denn das hieße ja zu diskutieren. Besonders erfolgreich hatte dieses Prinzip schon vor gut zwei Jahren hier in Riva am Gardasee gegriffen. Ihr italienischer Arbeitgeber Camillo Torrani redete und redete und sie, die Schreinerin, nickte und hörte zu. Noch immer fragte sie sich, wie der Sohn eines Mailänder Fabrikanten ausgerechnet auf sie gekommen war. Ob es ein Zufall war? Ihre sehr katholische und sehr gläubige Mutter glaubte nicht an Zufall. „Gott sorgt dafür, dass dir diese Chancen zufallen.“
Nun gut, dann hatte also Gott dafür gesorgt, dass sie direkt nach ihrer Meisterprüfung mit einer ganz profanen Mail darum gebeten wurde, die alte Villa des jungen Torrani wieder bewohnbar zu machen. Die Anfrage war über den Geschäftsaccount ihrer Eltern eingegangen; Regula besaß weder Laptop noch Handy. Gemeinsam mit ihrem Vater hatte sie die Anfrage studiert und beantwortet: „Ich bin nur Schreinerin“, doch ihr Vater hatte das „nur“ gelöscht und ihre Antwort dahingehend ergänzt, dass sie nur für reine Holzarbeiten antreten könne. „Das ist auch eine Frage der Versicherung.“
Gleich am nächsten Tag hatte dieser eigenartige Italiener, der, wie sie nun wusste, mit einer deutschen Mutter aufgewachsen war und daher perfekt beide Sprachen beherrschte, geantwortet: „Das ist kein Problem. Es kommt noch eine Elektrikerin aus Deutschland und die anderen Spezialisten finden sich hier vor Ort.“
Zweifelnd hatte Regula die Schultern gehoben. „Aber das ist so weit weg! Und die sprechen da eine andere Sprache! Und warum gerade ich?“
Natürlich hatte ihr Vater sofort eine Theorie gehabt. „Der Mann ist klug. Bestimmt hat er die Prüfungsergebnisse für Schreinerinnen und Schreiner bei der Handwerkskammer studiert und sich gleich die Beste rausgesucht. Nutz die Chance. Da du bei mir angestellt bist, stelle ich dich ein paar Monate frei und du bringst das Häuschen von dem auf Vordermann und sammelst dabei für dich etwas Lebenserfahrung.“
Lebenserfahrung. Dass so etwas grundsätzlich mit einem Strudel widersprüchlicher Empfindungen zusammenhing, hatte er ihr nicht gesagt. Also war sie mit Herzklopfen, einem Koffer voller Handwerkszeug und einer kleinen Tasche mit Sommerkleidung und T-Shirts sowie einem Rucksack voller Notizen angereist, in Rovereto aus dem Zug gestiegen und direkt dort von der Liebe ihres Lebens in Empfang genommen, genauer gesagt, erschlagen worden. Bedauerlicherweise hatte der aber lediglich von einem Plakat auf sie hinuntergestrahlt. Der ganze Bahnhof war mit seinen Porträts plakatiert, unter denen lediglich ein paar Worte in fremder Sprache standen: „Chi ha visto quest’uomo?“, was so viel hieß wie: „Wer hat diesen Mann gesehen?“
Bei dem Wort „visto“ war sie sich sicher gewesen, dass das nur was mit Visite zu tun haben könnte. Also würde dieser Mann hier schon bald zu einer Visite vorbeikommen. Eines der Plakate, das nicht besonders festklebte, hatte sie von der Wand entfernt und in ihrem Rucksack versteckt. Das trug sie heute noch bei sich. Der Mann, den sie zu lieben plante, hieß Vittorio Bordignono. Sie wusste, dass er mittlerweile Mitte 50 sein musste. Aber sie war ja auch schon 26.
Tatsächlich hatte sie voller Elan geholfen, die Villa des Camillo Torrani wieder bewohnbar zu machen. In ihrer Vorstellung jedoch renovierte und verschönerte sie jeden Raum für Vittorio. Dabei lächelte sie und war glücklich. Alles passte und alles funktionierte: große Räume, große Fenster, große Pläne. Einbauschränke und Parkettfußböden – und Camillo besorgte auf Anhieb so viel Holz und Arbeitsmaterial wie sie brauchte. Von all dem hatte sie ihrem Vater nach ihrer Rückkehr in die Ochtruper Schreinerwerkstatt erzählt. Nicht aber von Ernesto und erst recht nicht von Vittorio. Er hätte Fragen stellen können, doch wie um alles in der Welt beantwortete man solche Fragen? Besser gar nicht.
Und dann war, kaum zwei Jahre später, eine weitere Anfrage mit der elektronischen Post in den väterlichen Rechner hineingeflattert. Was war da nur passiert? Sie erinnerte sich noch, dass ihr ganz flau geworden war, als ihr Vater ihr diese Mail mit fast feierlicher Betonung vorlas. „Liebe Regula, du wirst hier gebraucht. Bitte melde dich. Camillo.“ Und sie erinnerte sich auch, dass die Mutter sie dabei ganz genau beobachtet hatte. Hätte sie etwa jubeln sollen? Die Mutter schien es zu erwarten.
Regula hatte an Riva gedacht und genickt. „Gut, ich fahre.“ In Riva könnte sie arbeiten und für sich sein. Dort säßen ihr nicht ständig die Eltern im Nacken. Und an manchen Abenden käme Ernesto vorbei. Ein guter Freund.
Camillo Torrani, der seinen Wohnsitz nun ganz nach Riva verlegt hatte und dort in seiner Villa wohnte, wollte sich eine komplette zweite Wohnung mit Dachgarten in das Obergeschoss seines Hauses einbauen lassen und zudem jedes seiner unzähligen Gästezimmer mit eigenem Bad ausstatten. Vor allem Letzteres kam Regula sehr gelegen, hatte sie sich doch bei ihrem ersten Aufenthalt in der Villa Torrani ein Bad mit Tamara teilen müssen. Da war es manchmal ganz schön eng geworden.
Tamara Stadlhuber war nicht nur genau das, was Regulas Mutter als „Powerfrau“ bezeichnen würde, sie nahm sich auch ungefragt Raum, Platz und Aufmerksamkeit – und davon immer ein bisschen mehr, als sie eigentlich brauchte … andererseits wusste Regula bei der wenigstens, woran sie war.
Tamara Stadlhuber kam aus Bayern und war Elektromeisterin. Für Camillo schienen die schüchterne Regula und die draufgängerische Tamara ein Dreamteam zu sein. Tamara allerdings sah das etwas anders. Ihr war die westfälische Schreinermeisterin zu still, zu verschlossen und zu eigenbrötlerisch. Sie wäre gern mit ihr nachts um die Häuser gezogen, inzwischen aber hatte sie glücklicherweise ihren eigenen Kreis und lästerte über die spießige Regula, die mit ihrem Ernesto regelmäßig ins Café des Hotel Sole ging, weil es dort die reinlichsten Toiletten gab, dann still auf das Wasser blickte und an einem Glas Wein nippte oder einen Aperol Spritz trank.
Ernesto ließ sich inzwischen all das, was er ihr zu erzählen hatte, von seinem Handy auf Deutsch übersetzen, reichte sein Telefonino an Regula weiter, die dann zustimmend nickte oder mit dem Kopf schüttelte. Sie selbst tippte so gut wie nie Worte in sein Handy. So war es auch jetzt wieder.
Nun stand Regula auf der Straße und betrachtete die Postkarten, die sie in wöchentlichem Abstand an ihre Eltern schicken würde. Das war besser als jedes Telefonat. Da hätte vor allem ihre Mutter nach Tamara gefragt. Nach der Powerfrau, die sie vor wenigen Wochen mit der Frage begrüßt hatte: „Na, wie war deine Zeit zwischen damals und jetzt“, und die nicht glauben wollte, dass Regula vor zwei Jahren nach Vollendung ihres ersten Auftrages einfach wieder in den Zug gestiegen und heimgefahren war, um in der Werkstatt ihres Vaters zu arbeiten.
„Ja, wolltest du denn gar nichts erleben? Jetzt, wo du endlich mal draußen warst?“
Regula hatte den Kopf geschüttelt. „Nein.“
„Du bist zurück in das kalte Westfalen, zurück ans Ende der Welt?“
Hätte Regula die richtigen Worte gefunden und auch Lust gehabt, mit Tamara zu reden, so hätte sie ihr sicher gestanden, dass Ochtrup für sie der Mittelpunkt der Welt war. Hier hatte sie ihre Kindheit verbrachte, hier lebten ihre Verwandten und hier stand, und das war das Allerwichtigste, die Schreinerwerkstatt ihres Vaters. Aber das wären viel zu viele Worte gewesen. Daher hatte sie nur genickt.
„Ich fass es nicht. Also ich,“ erklärte Tamara großspurig, „ich habe zum ersten Mal die ganz große Freiheit gerochen und Blut geleckt. Abenteuerblut. Du glaubst ja wohl nicht, dass ich nach Zorneding und zu diesem Sebastian Huber gefahren bin, mit dem ich zwar verheiratet bin, der aber nicht ein einziges Mal versucht hat, mit mir Kontakt aufzunehmen. Der hatte offensichtlich ebenso die Schnauze voll wie ich. Nein, ich bin nach unserem Einsatz hier durch ganz Europa gereist und habe nun meine Berufung als Wander-Handwerkerin gefunden. Das ist es!“ Sie hatte Regulas Hand genommen und ihr den ausgebauten Kleinbus vorgeführt. „Meine Werkstatt und mein Zuhause! Guck mal, sogar mit Strom und Internet und einem eigenen Chemieklo.“
„Da drin hast du gewohnt?“ Regula schüttelte sich.
„Fast nie. Fast immer bin ich von den Leuten, für die ich gearbeitet habe, mit Kost und Logis versorgt worden. Und Geld gab’s auch noch. Das solltest du auch machen. Man lernt so tolle Menschen kennen.“
Regula hatte immer nur einen kennenlernen wollen: Vittorio. Ob er noch lebte? Vermutlich. Sonst wäre der Commissario ja nicht hier. Damals hatte er nach Vittorio gesucht. Zusammen mit Ernesto. Jetzt würden sie ihn finden. Ihr Herz hüpfte. Sie hatte wieder Zuversicht.
Sie war ebenso zuversichtlich und voller Vorfreude wie Camillo Torrani, der nichts anderes wollte, als dass die Wohnung auf dem Dach ganz schnell fertig würde, denn da sollte seine Freundin einziehen: Flavia Ottalevi. Endlich. Seit mindestens fünf Jahren waren sie miteinander liiert und er sehnte den Tag herbei, an dem er sie allen als seine Moglie, also seine Frau, vorstellen könnte und nicht mehr als seine Freundin. Allerdings hatte Flavia darauf bestanden, in seinem Haus eine eigene Wohnung zu beziehen und damit erst die ganzen Umbauarbeiten in Gang gesetzt. Hinter der Villa, nicht einsehbar von der Straße, plante Camillo einen Außenaufzug, der in jedem Stockwerk Halt machen sollte. So war aus der anfangs kleinen Veränderung mit nur wenigen Nachbesserungen erneut ein Riesenprojekt geworden.
All das wollte Regula eigentlich ihren Eltern auf einer Postkarte schreiben. Doch ihre Hände zitterten nun vor Aufregung.
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