Ein Lord zu Weihnachten Ein Lord zu Weihnachten - eBook-Ausgabe
Roman
— New Adult Winterromance auf einem schottischen SchlossEin Lord zu Weihnachten — Inhalt
Royale Küsse vor dem Kaminfeuer und auf schneebedeckten Ländereien von Schloss Rosehill Hall – für Fans von Julie Caplin
Als sich Nola nach zehn Jahren Funkstille zur Winterhochzeit ihres Vaters auf einem schottischen Schloss wiederfindet, muss sie sich gleich zwei Herausforderungen stellen: Die Stimmung zwischen ihr und ihrem Vater ist nämlich genauso kühl, wie die eisigen Temperaturen um sie herum, und Liam, ausgrechnet der charmante Sohn eines ansässigen Lords, wühlt ihre Emotionen endgültig auf. Geplagt von Zweifeln, ob sie ihrem Vater je verzeihen kann, dass er sie als kleines Mädchen allein gelassen hat, überträgt sie ihre Ängste auf ihre Gefühle für Liam. Wir sich Nola ihm öffnen können? Als ein Schneesturm aufzieht, wird nicht nur ihre Beziehung zu Liam auf die Probe gestellt ...
Leseprobe zu „Ein Lord zu Weihnachten“
Prolog
Nola
Wir laden dich herzlich ein,
unser Glück mit uns zu feiern.
Seitdem ich die Einladung vor zwei Tagen aus dem Briefkasten meines Kölner Studentenwohnheims gezogen hatte, hatte ich sie Dutzende Male gelesen. Dennoch ergaben die goldenen Lettern, mit denen das Büttenpapier bedruckt worden war, für mich keinen Sinn.
Mein Vater lud mich aus heiterem Himmel zu seiner Winterhochzeit auf ein schottisches Schloss ein.
Meinem ersten Impuls nach hatte ich die Einladung zurück in den Umschlag gestopft und beides in den Papierkorb geworfen. Aber nun lag sie [...]
Prolog
Nola
Wir laden dich herzlich ein,
unser Glück mit uns zu feiern.
Seitdem ich die Einladung vor zwei Tagen aus dem Briefkasten meines Kölner Studentenwohnheims gezogen hatte, hatte ich sie Dutzende Male gelesen. Dennoch ergaben die goldenen Lettern, mit denen das Büttenpapier bedruckt worden war, für mich keinen Sinn.
Mein Vater lud mich aus heiterem Himmel zu seiner Winterhochzeit auf ein schottisches Schloss ein.
Meinem ersten Impuls nach hatte ich die Einladung zurück in den Umschlag gestopft und beides in den Papierkorb geworfen. Aber nun lag sie zwischen meiner Mutter Karin und mir auf dem Esstisch, an dem ich, seit ich klein war, mein Frühstücksbrot mit Honig und salziger Butter gegessen hatte.
Mit vor der Brust verschränkten Armen beäugte ich das Stück Papier.
„Nola, Schatz, willst du dir das nicht noch mal überlegen?“, fragte meine Mutter, Besorgnis sprach aus ihren braunen Augen.
Unter keinen Umständen hatte ich vor, nach Schottland zu fliegen, zu einem Vater, der meine Mutter und mich verlassen hatte, als ich zwei Jahre alt gewesen war und mich, bis auf eine Karte zu meinem elften Geburtstag vor zehn Jahren, völlig ignoriert hatte. Wenn die fünfhundert Kilometer, die München und Köln voneinander trennten, zu weit für ihn waren, dann war es eine Reise nach Schottland auf jeden Fall.
Ich schnaubte. „Was macht dich so sicher, dass er wirklich will, dass ich komme?“
Meine Mutter wich meinem Blick aus, knibbelte nervös an ihren Fingernägeln.
Ich runzelte die Stirn. „Mama? Ist was?“
Sie rang mit sich, öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder.
„Los, jetzt sag schon“, meinte ich ungeduldig.
Sie seufzte. „Ich muss gestehen, dass ich das mit der Hochzeit wusste. Thomas und ich haben ab und an Kontakt.“
„Was?“, entfuhr es mir lauter als beabsichtigt. „Und du hast mir nie etwas gesagt?“ Der Stich, den ihr Geständnis mir versetzte, hallte noch einige Wimpernschläge nach.
Die Augen meiner Mutter weiteten sich erschrocken. „Nola, wir dachten beide, dass es besser so wäre. Du warst erst im Abiturstress, dann kamen die Klausuren und Hausarbeiten für die Uni, deine Praktika und all die Projekte … Es erschien uns nie der richtige Zeitpunkt, Unruhe in dein Leben zu bringen.“ Sie senkte die Stimme. „Das war wohl ein Fehler, glaube ich.“
Wir starrten beide einen Moment schweigend auf die elfenbeinfarbene Karte zwischen uns.
„Die Einladung zu einer Hochzeit in Schottland erscheint euch passender? Zu einer Hochzeit mit einer Familie, Freunden, einer Frau, die ich nicht kenne? Bis gestern wusste ich nicht einmal, dass seine Freundin Mona heißt.“
Mama hob in einer hilflosen Geste die Schultern und ließ sie kraftlos wieder sinken. Dunkle Schatten umrandeten ihre Augen und die Falten in ihrem Gesicht waren wieder ein wenig tiefer geworden. Mit einem Mal tat es mir leid, sie so angegangen zu haben. Wenn jemand nur das Beste für mich wollte, dann meine Mama.
„Entschuldige“, sagte ich zerknirscht.
Sie griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand. „Nicht dafür, mein Schatz! Ich muss mich bei dir entschuldigen. Es war falsch von uns, dich außen vor zu lassen.“
Ich lächelte sie an. Meiner Mutter konnte ich nie lange böse sein. Seit mein Vater uns verlassen hatte, hatte sie alles dafür getan, dass es mir an nichts fehlte. Und das war, weiß Gott, nicht leicht gewesen.
„Er hat mich vor ein paar Monaten seit Langem mal wieder angerufen. Ich habe ihm erzählt, dass du vor einem Jahr ausgezogen bist, dass du im vierten Semester Englisch und Geschichte studierst. Auch von deinem Job im Institut für mittelalterliche Geschichte, obwohl du das viel besser erklären könntest. Es hat auf mich den Eindruck gemacht, als wäre er stolz auf dich.“
Überraschung und Unglaube rangen um die Oberhand in meinem Innern. Mein Vater? Stolz?
Meine Mutter schien erleichtert zu sein, endlich mit mir darüber sprechen zu können. Sie lächelte sogar ein wenig. „Und, was wirst du jetzt tun?“, fragte sie und deutete auf die Einladung.
Ich biss mir unschlüssig auf die Unterlippe. „Ich weiß es nicht. Ich finde, er hätte wenigstens anrufen können.“
Mama nickte. „Das hätte er wirklich. Aber reizt es dich nicht, nach Schottland zu reisen und für eine Woche auf einem Schloss zu wohnen? Du liebst doch alte Gemäuer.“
Das stimmte, und natürlich hatte ich bereits das Schloss gegoogelt, auf welchem mein Vater heiraten wollte. „Das Schloss sieht schön aus, vor allem die Landschaft drumherum“, gab ich widerwillig zu.
Rosehill Hall lag inmitten der Highlands im Norden Schottlands und war auf den wenigen Bildern, die ich im Internet gefunden hatte, von grünen Hügeln und dichten Wäldern umgeben. Da die Hochzeit aber auf zwei Wochen vor Weihnachten datiert war, standen die Chancen eher für Schnee.
„Na also, da hast du deine Antwort.“
Ich seufzte laut. „Wieso willst du so unbedingt, dass ich zusage? Hast du ihm verziehen, dass er uns im Stich gelassen hat?“
„Eine Beziehung scheitert immer an zwei Personen, nicht nur an einer.“ Ihr Blick fiel erneut auf die Einladung und doch hatte ich das Gefühl, dass sie direkt durch das dicke Papier hindurchsah. „Aber ich habe Thomas nie verziehen, dass er nicht für dich da war.“
Eine Weile schwiegen wir. Dann räusperte sich meine Mutter. „Du entscheidest, es liegt bei dir.“ Bedeutungsschwanger hingen ihre Worte in der Luft zwischen uns.
Eine Woche auf einem schottischen Schloss. Allein bei dem Gedanken schlug mein Herz ein wenig höher. Aber ich kannte niemanden von den Gästen, auch mein Vater war mir fremd. „Was, wenn wir uns nicht verstehen?“, fragte ich und erkannte selbst, wie kindisch ich mich anhörte.
Meine Mutter legte ihre warme, vertraute Hand auf meine und strich sanft darüber. „Dann genießt du das Schloss und gehst ihm aus dem Weg. Kommst nach Hause und machst einen Haken hinter die Sache. Nur dann kannst du dir niemals vorwerfen, du hättest es nicht versucht.“
Sie hatte recht. Ich seufzte. „Trotzdem habe ich kein Geld für Flugtickets.“
Ein feines Lächeln stahl sich auf das Gesicht meiner Mutter. „Thomas hat dich zwar nicht direkt kontaktiert, hat mir aber Geld für deine Flüge überwiesen, damit dein Kommen nicht daran scheitert.“
Ich hatte mich wohl verhört. „Ach so, auf einmal kann er dir Geld schicken?“ Ich zog die Brauen zusammen. „Verdient er so gut?“ Ich nickte zu der Einladung. „So eine Hochzeit im Ausland ist sicher teuer …“ Ich versuchte, gegen die Galle anzukämpfen, die in meinem Magen brannte.
Meine Mutter seufzte. „Er hat seit ein paar Jahren einen wirklich guten Job und arbeitet hart.“
„Und da konnte er dich nicht früher unterstützen?“, brummte ich.
Irgendwann, als ich alt genug gewesen war, um zu verstehen, dass Väter von Trennungskindern Unterhalt bezahlen mussten, hatte ich meine Mutter danach gefragt. Doch sie hatte mich abgewiegelt, dass es ihm nicht möglich gewesen sei. Mit vierzehn, als ein Schüleraustausch nach England angestanden hatte und meine Mutter das Geld dafür nicht hatte aufbringen können, hatte ich sie in einem pubertären Trotzanfall überreden wollen, gegen meinen Vater vorzugehen. Doch sie hatte sich geweigert. Seitdem hatte ich das Thema nicht mehr angesprochen.
„Das kannst du ihn ja fragen, wenn ihr euch trefft.“ Ihr Blick wurde weich. „Nola, es ist ihm wichtig, dass du kommst, da bin ich mir sicher.“
Jetzt war ich wirklich sprachlos. Hin und her gerissen zwischen der Enttäuschung, dass mein Vater meiner Mutter Geld schickte, statt mich direkt zu kontaktieren, und der zaghaften Vorfreude auf eine Woche Schottland, saß ich vor meiner Mama, die mich aufmunternd anlächelte.
Vielleicht würde ich es bereuen, aber ich würde mir nicht vorwerfen lassen, es nicht wenigstens versucht zu haben.
Ich gab mir einen Ruck. „Hat er dir auch gesagt, zu welchem Flughafen ich fliegen soll?“
Kapitel 1
Liam
„Noch ein Stückchen weiter nach links …“
Ich sah zu unserer Haushälterin Margie hinab, die mir mit Handzeichen zu verstehen gab, wohin ich den riesigen Weihnachtsstern schieben musste, damit er exakt mittig auf der fünf Meter hohen Tanne thronen würde.
„Ja, jetzt ist es perfekt, Liam.“ Margie klatschte begeistert in die Hände.
Vorsichtig stieg ich von der Leiter hinab und stellte mich neben sie. Gemeinsam betrachteten wir einen Moment schweigend den riesigen Weihnachtsbaum, der den Speisesaal die nächsten drei Wochen zieren würde. Wir hatten uns auf traditionell rote und grüne Kugeln geeinigt, in denen sich nun das Licht der sechs funkelnden Kronleuchter glitzernd brach.
„Margie, ist das nicht der schönste Weihnachtsbaum, den du je gesehen hast?“, fragte ich mit ironischem Unterton in der Stimme.
Sie seufzte. „Ach, Liam. Ich weiß, dass du Weihnachten nicht ausstehen kannst, aber dieser Baum ist wirklich schön. Und die Belegschaft freut sich sehr darüber, dass es endlich wieder einen gibt. Und dann einen so großen!“
„Die Tanne hätte spätestens nächstes Jahr gefällt werden müssen, irgendein Schädling hat sie befallen. Der Förster hatte den Vorschlag, sie als Weihnachtsbaum zu benutzen, das fand ich vernünftig“, erklärte ich achselzuckend.
„Den Gästen wird sie sicher auch gefallen.“ Margies graue Augen strahlten hinter ihrer dicken Brille.
„Hoffentlich wird die Hochzeit ein Erfolg“, erwiderte ich leise und sah mich in dem riesigen Speisesaal um, in dem ich schon als kleiner Junge gespielt hatte. Von den Wänden starrten mir die strengen Gesichter meiner Vorfahren entgegen, die ich selbst heute nicht alle benennen konnte. Bodentiefe Fenster an der Längsseite gaben den Blick frei auf den schneebedeckten Garten des Schlosses. Meines Zuhauses.
Zumindest noch. Alles fühlte sich seltsam fremd an, seit ich vor wenigen Wochen mit meinem Abschluss aus Oxford zurückgekommen war. Obwohl ich jeden Winkel von Rosehill Hall und seiner Umgebung kannte, spürte ich eine unüberwindbare Distanz, ein Frösteln, jedes Mal, wenn ich an meine Zukunft hier dachte. Und das lag mit Sicherheit nicht an den eisigen Temperaturen und den Schneemassen, die in den letzten Tagen gefallen waren.
„Steht es wirklich so schlecht um das Schloss?“, fragte Margie mit unverhohlener Sorge in ihrer Stimme.
Ich sah sie an, diese gute Seele von Rosehill Hall, die schon da gewesen war, als ich vor vierundzwanzig Jahren hier geboren worden war. Mittlerweile war sie fünfundsiebzig und wollte trotzdem nicht das Zepter aus der Hand geben. Das Schloss in Schuss zu halten, war ihre Lebensaufgabe, das hatte sie stets gesagt, wenn mein Vater sie in den Ruhestand hatte schicken wollen.
Margie war viel mehr als nur eine Haushälterin, vor allem für mich.
Statt einer Antwort griff ich nach ihrer dünn gewordenen, faltigen Hand und drückte sie einmal.
Sie nickte langsam und sah wieder zu dem Baum hinauf. „Wie geht es deinem Vater?“
Ich seufzte laut und fuhr mir mit einer Hand durch die Haare. „Heute kommt die Hochzeitsgesellschaft und nimmt das Schloss ein. Was glaubst du wohl? Er geht mir seit Wochen aus dem Weg.“
Eigentlich vermied er es seit vier Jahren, ein richtiges Gespräch mit mir zu führen. Dass er letzten Sommer, als ich für meine letzten Semesterferien auf Rosehill Hall gewesen war, nicht gegen die anstehende Hochzeit protestiert hatte, lag vermutlich daran, dass er sich nicht weiter mit mir auseinandersetzen wollte.
Margie nickte wissend. „Die Gäste kommen übrigens jeden Moment an.“
Ich unterdrückte ein Stöhnen.
Dann spürte ich Margies Hand auf meinem Arm. „Weißt du, Liam, dein Vater tut sich schwer mit Veränderungen. All die Fremden, die, seitdem wir die Tore für touristische Führungen geöffnet haben, hier umherlaufen und die antiken Wandteppiche befingern, sich abfällig über die strengen Porträts deiner Vorfahren äußern …“ Sie verzog das Gesicht und zeigte mir so deutlich, was sie selbst von respektlosen Touristen hielt. „Alles hier erinnert ihn an deine Mutter. Diesen Ort voller Erinnerungen eine Woche mit Fremden zu teilen, das ist ein großer Schritt. Für uns alle.“
Die Alternative wäre, diesen Ort voller Erinnerungen zu verlieren. Ich sprach den Gedanken nicht laut aus.
Margie führte den Haushalt, kaufte ein, verwaltete die meisten Ausgaben, seit ich für mein Wirtschaftsstudium nach England gegangen war und mein Vater sich mehr und mehr zurückgezogen hatte. Ich hatte die letzten Wochen damit verbracht, mir einen Überblick über die finanzielle Lage zu verschaffen, und das Ergebnis war niederschmetternd gewesen.
„Nicht nur ihn erinnert alles an Mom“, murmelte ich in die entstandene Stille hinein.
Ich spürte Margies Blick auf mir und wandte mich ihr zu. Sie wollte gerade etwas erwidern, als die Glocke der Eingangshalle läutete. Seufzend drückte sie kurz meinen Arm. Dann ließ sie mich allein und mein Blick fiel wieder auf dem monströsen Weihnachtsbaum, der mich mit seiner glitzernden Pracht zu verhöhnen schien.
Weihnachten … Dieses Fest war früher eines meiner liebsten gewesen. Aber das war vorbei. Und daran konnte weder der dekorierte Saal etwas ändern noch der Tannenduft, der die Luft erfüllte.
Ich riss meinen Blick von dem Baum los und überprüfte ein letztes Mal den Saal. In der Mitte hatten wir eine lange Tafel aufgebaut, die mit teurem Porzellan und brennenden Kerzen in goldenen Lüstern gedeckt war. Früher feierten meine Vorfahren hier rauschende Feste. Nun nahmen Touristen an der langen Tafel Platz, während mein Vater und ich uns in unserem privaten Teil ein kleines Esszimmer teilten. Wie sich die Zeiten doch geändert hatten!
Als sich aufgeregte Stimmen von der Eingangshalle her näherten, zog ich mich durch einen versteckten Seiteneingang zurück. Die Gruppe war bei Margie in den besten Händen und ich musste langsam los, wenn ich pünktlich am Flughafen sein wollte.
Nola
Bereits beim Landeanflug auf Inverness hatte ich fasziniert an der Scheibe des kleinen, ovalen Fensters geklebt und die weiß leuchtenden Hügel, Täler und Wälder betrachtet. Mein Herz hatte sogar einen Hüpfer gemacht, als das Flugzeug die Wolkendecke, in die es über dem verregneten Köln eingetaucht war, durchbrochen und den Blick auf eine Puderzuckerwelt preisgegeben hatte. Was für eine tolle Abwechslung vom Grau in meiner Heimat.
Nun wartete ich am Gepäckband und scannte unauffällig die Menschen um mich herum. Ob hier bereits Freunde oder gar Verwandte meines Vaters standen?
In den letzten Wochen hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie das erste Aufeinandertreffen mit meinem Vater verlaufen würde. Was mich daran am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass die anderen Gäste Zeugen davon werden würden, schließlich saßen wir eine Woche auf diesem Schloss fest. Wenn etwas schieflief oder ich überfordert war, konnte ich nicht einfach abhauen.
Ungeduldig stieg ich von einem Bein auf das andere und hielt weiter Ausschau nach meinem Koffer. Wieso kam der nicht? Die anderen Passagiere meines Flugzeuges liefen nach und nach mit ihrem Gepäck in Richtung Ausgang.
Ich ging zum Anfang des Gepäckbandes und starrte in das dunkle Loch, aus dem die Koffer nur noch vereinzelt kamen.
Zehn Minuten später folgten meine Augen einem einsamen Koffer, den bisher niemand abgeholt hatte und der stetig seine Runden fuhr. Leider war es nicht meiner.
Ich fluchte innerlich gegen das nervöse Flattern in meinem Magen an und machte mich auf den Weg zum Schalter für verloren gegangene Gegenstände, wo mir ein pickliger Mitarbeiter gelangweilt entgegensah. Ich erklärte ihm mein Anliegen noch einigermaßen hoffnungsvoll, vielleicht war mein Koffer auf dem Weg vom Flugzeug zum Gebäude in einem der Transportfahrzeuge liegen geblieben.
Doch der Mitarbeiter, dessen schottischer Dialekt dermaßen unverständlich war, dass ich mehrmals um Wiederholung bitten musste, schüttelte auf meine Vermutung hin nur müde mit dem Kopf. Nun telefonierte er bereits seit mehreren Minuten und warf mir hin und wieder einen wenig optimistischen Blick zu.
Das konnte nicht wahr sein! In dem Koffer befand sich alles, von meinen dicken Winterstiefeln, über meine Schneejacke, zu dem Kleid, welches ich mir extra für die Hochzeitsfeier gekauft hatte. Die Aussicht, ohne Koffer auf dem Schloss einzufallen, weckte in mir Panik. Vielleicht hatte ich das Schicksal herausgefordert, als ich in meinen Rucksack die wichtigsten Dinge wie Unterwäsche, Socken, Kosmetikartikel und mein Handyladekabel gepackt hatte, um genau auf diesen Worst Case vorbereitet zu sein.
Ich stöhnte laut auf, was mir einen irritierten Blick des Mitarbeiters am Schalter bescherte.
Endlich legte er auf. „Sorry, Miss, aber der Koffer wurde ins falsche Flugzeug geladen. Er landet in circa zwei Stunden auf Malta.“
Ein hysterisches Lachen entschlüpfte meiner Kehle, was mir einen missbilligenden Blick seinerseits einbrachte.
Als ich wieder zu Luft gekommen war, wischte ich mir die Tränen aus den Augen. „Gibt es eine Chance, ihn zu mir schicken zu lassen? So schnell wie möglich?“ Ich legte, wie ich hoffte, meinen zuckersüßesten Blick auf, doch der Mann sah mich nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Wohl kaum. Für diese Region ist in den nächsten Tagen ein Schneesturm angesagt. Außerdem sind es von hier bis Rosehill Hall mehr als drei Stunden mit dem Auto, und das nur, wenn das Wetter mitspielt.“
„Verdammt“, fluchte ich laut auf Deutsch und erreichte damit nur, dass die Augenbrauen des Mannes hoch bis zu seinem Haaransatz wanderten. „Tja, und was nun?“, fragte ich ihn resigniert. Diese Reise stand eindeutig unter keinem guten Stern.
„Wir werden selbstverständlich schauen, ob eine Maschine während ihres Aufenthalts hier eintreffen und den Koffer mitführen kann. Sie erhalten dann einen Anruf. Aber wenn ich ehrlich sein soll, wird der Koffer eher direkt zu Ihnen nach Hause geschickt. Also, nach Deutschland“, fügte er völlig überflüssigerweise hinzu.
„Zumindest ist er nicht komplett verloren gegangen, vielen Dank für die Auskunft.“ Ich griff nach meinem Rucksack, verabschiedete mich und stapfte frustriert auf den Ausgang zu.
Laut dem Infosheet, welches alle Hochzeitsgäste vor Abreise erhalten hatten, würde ein Fahrer des Schlosses auf alle Gäste warten. Genauso formlos und unpersönlich hatte ich meinem Vater mit meiner Zusage auch die Informationen zu meinem Flug geschickt und hoffte nun, den Fahrer schnell auszumachen. Nicht dass ich noch inmitten dieser Schneelandschaft auf einem schottischen Flughafen strandete.
Falls doch würde ich den Wink des Schicksals erhören und das nächste Flugzeug nach Hause nehmen.
Kapitel 2
Liam
Ungeduldig sah ich auf die Uhr. Wieso kam diese Nola Winter nicht? Hatte ich die falsche Uhrzeit notiert? Sie war die Einzige, die aus Köln anreiste, die restlichen Gäste waren aus München gekommen und bereits heute Mittag von einem extra gecharterten Kleinbus abgeholt worden.
Ich sah hinauf auf die Infotafel und zog mein Handy aus der Jackentasche, um die Flugnummern und Flugzeiten zu vergleichen. Kein Zweifel. Der Flieger aus Köln war vor etwas mehr als einer Stunde gelandet und normalerweise erfolgte die Abfertigung auf diesem kleinen Flughafen recht schnell.
Ob Margie sich beim Flug geirrt hatte? Nein, schalte ich mich sofort. So was passierte ihr nicht. Es war nicht die erste Veranstaltung im Schloss, die sie organisiert hatte, und niemals war etwas schiefgelaufen.
Ob ich Ms. Winter ausrufen lassen sollte? Vielleicht war sie an mir und dem Schild mit ihrem Namen vorbeigelaufen. Ich wollte mich gerade auf den Weg zu einem Infocounter machen, da öffnete sich die Schiebetür erneut.
Wunderschön war das Wort, welches mir durch den Kopf schoss, als eine junge Frau aus der Tür trat und sich zögernd umsah. Um ihren Kopf wirbelten dunkle Locken, die sich aus einem unordentlichen Dutt gelöst hatten und ihr blasses Gesicht einrahmten. Ich hielt die Luft an, als ihre ungewöhnlich hellen Augen meinen Blick streiften.
Verdammt, ich starrte sie völlig ungeniert an, während sie schnurstracks auf mich zu kam.
„Hi. Das da bin ich.“
Ihr Englisch war nahezu perfekt, im Gegensatz zu vielen anderen Touristen, mit denen ich sonst zu tun hatte, und ich suchte ein wenig überrumpelt nach meiner Stimme.
Sie kniff die Augen zusammen. „Sie sollen mich doch abholen? Ich bin Nola Winter.“ Sie deutete auf das Schild, welches ich immer noch hochhielt.
Schnell ließ ich es sinken und streckte ihr die Hand hin. „Äh, sorry, klar. Ich bin Liam. Freut mich, Nola.“ Ihre Hand war warm und weich. Ich riss mich von ihren atemberaubenden Augen los und sah an ihr hinunter. Sie trug einen Kapuzenpullover, eine Jeans und schwarze Stiefeletten, nicht gerade die wärmsten Sachen. „Hast du nur den Rucksack?“
Ihre Mundwinkel wanderten nach unten. „Mein Koffer macht Urlaub auf Malta.“ Sie lachte ein freudloses Lachen und zuckte in einer hilflosen Geste mit den Schultern. „Leider gemeinsam mit meinen Wintersachen und meinem Outfit für die Hochzeit.“
Das Wort Hochzeit war irgendwie schärfer als die anderen herausgekommen. Ob sie sich nicht darauf freute? „Haben sie dir gesagt, wann du deinen Koffer bekommst?“, fragte ich und griff nach dem Riemen ihres Rucksacks. „Darf ich dir den abnehmen?“
Sie ließ den Rucksack seufzend von ihren schmalen Schultern gleiten und reichte ihn mir. „Ach, den sehe ich nicht mehr in diesem Jahr.“ Sie warf einen derart finsteren Blick zurück Richtung Gepäckannahme, dass ich mir ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Bestimmt finden wir eine Übergangslösung“, versprach ich ihr und dachte dabei eher an Margie. Sie hatte immer für jedes Problem eine Idee.
Nolas Miene hellte sich ein wenig auf und sie schenkte mir ein halbwegs dankbares Lächeln.
Schweigend lotste ich sie aus der Ankunftshalle. Draußen stoben kleine Schneeflocken um uns herum und ich krempelte den Kragen meiner Winterjacke hoch. Nola war stehen geblieben. Sie blinzelte hinauf in das vom Schnee verhangene Grau des Himmels. Schneeflocken landeten auf ihren nun geröteten Wangen und verfingen sich in ihren dunklen Wimpern, die ihre hellblauen Augen einrahmten. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Sie war wunderschön.
Als sie den Kopf senkte und unsere Blicke kollidierten, wurde mir trotz der Kälte warm. Diesmal ließ ihr Lächeln ihre Augen leuchten.
„Sollen wir?“, fragte sie und ging beschwingt an mir vorbei. Dann blieb sie stehen. „Oh, ich weiß gar nicht, wo der Wagen steht.“ Sie lachte wieder und reckte ihr Gesicht noch einmal dem Schneegestöber entgegen.
„Folg mir einfach“, sagte ich und schlängelte mich eilig zwischen den geparkten Autos bis zu meinem eigenen hindurch, damit Nola nicht komplett durchnässt wurde. Als sie sich leise seufzend auf den Beifahrersitz fallen ließ und ihre Hände aneinanderrieb, stellte ich die Heizung auf die höchste Stufe und lenkte den Wagen auf die Straße, die vom Flughafen wegführte.
Nola
Staunend sah ich aus dem Fenster auf die weiße Landschaft. Nach wie vor schneite es frische Flocken und die Scheibenwischer sausten unentwegt über die Windschutzscheibe, während das Licht der Scheinwerfer über die schneebedeckte Landstraße vor uns flog. Das Radio schien aufgrund des Wetters keinen Empfang zu haben, sodass nur das Knirschen der Reifen auf der festen Schneedecke die Stille erfüllte.
Verstohlen warf ich nicht zum ersten Mal, seit wir den Flughafen hinter uns gelassen hatten, einen Blick auf Liam. Seine Augen waren mir als erstes aufgefallen, als ich ihn mit dem Schild in der Hand entdeckt hatte. Sie waren dunkel, aber nicht einfach braun, ich hatte die Farbe noch nicht definieren können. In ihnen lag eine Tiefe, die mich irgendwie anzog.
Nach dem halsbrecherischen Akzent des Airline-Mitarbeiters hatte ich mir Sorgen wegen der Verständigung gemacht, aber Liams schottischer Akzent war kaum hörbar. Aber vor allem … sah er unglaublich gut aus.
Er war groß und schien athletisch gebaut zu sein, das hatte ich trotz des dicken Mantels erahnen können. Außerdem hatte er die Art von Haar, in das man seine Finger vergraben wollte: ein wenig wild, dunkelbraun wie seine Augen, an den Seiten kürzer als oben und leicht gelockt. Ebenso dunkle Augenbrauen intensivierten jeden seiner Blicke und sein Mund … solche Lippen und so eine scharfe Kieferpartie sollten verboten sein.
Ich riss meinen Blick von seinem kantigen Profil und lenkte ihn auf seine freie Hand, die auf seinem Bein ruhte. Lange, aber starke Finger … Nola, reiß dich zusammen!
Ich schluckte und zwang mich, an etwas anderes zu denken. In diesem Moment entdeckte ich auf seinem Mantel unzählige, kurze Haare und tippte sofort auf einen Hund.
„Was ist?“, fragte Liam in diesem Moment und warf mir ein Lächeln zu.
Shit, ich hatte ihn viel zu lange unverhohlen angestarrt. Und ich konnte damit nicht aufhören. Seine Augen hatten die Farbe von Zartbitterschokolade, weich, zart und gefüllt mit süßen Versprechungen. „Äh, hast du einen Hund?“, fragte ich schnell. War es schon die ganze Zeit so heiß in diesem Auto gewesen?
Eine seiner Augenbrauen zuckte leicht, dann strich er kurz über den Ärmel seines Mantels, doch die Haare blieben kleben. Er seufzte. „Ja, ihr Name ist Bossy und sie liebt es, sich auf meinen Klamotten zu verewigen.“
Ein Kichern entwich meiner Kehle und ein Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln. Er war auch noch tierlieb. Himmel.
„Dein Englisch ist ziemlich gut“, bemerkte er irgendwann. „Woher kommt das?“
Das Kompliment entlockte mir ein Lächeln. „Ich studiere Englisch und Geschichte. Ich habe immer viel gelesen und irgendwann habe ich angefangen, englische Bücher zu lesen, aber das hat mir nicht gereicht. Ich wollte die Sprache noch besser lernen.“
„Ist dir gelungen“, meinte er und sein anerkennender Tonfall erwärmte meine Wangen erneut.
„Wieso sprichst du so normal?“
Wieder zuckte eine Augenbraue. „Normal?“, fragte er.
„Ähm … Na ja, Schottland hat unglaublich viele verschiedene Dialekte aus dem Gälischen und, soweit ich weiß, sprechen viele im Alltag auch Scots, den Airline-Mitarbeiter habe ich kaum verstanden“, erklärte ich schnell. „Aber du sprichst Englisch … Das wollte ich damit sagen.“ Himmel, ich redete mich um Kopf und Kragen. Warum sagte ich ihm nicht gleich, dass selbst sein Oxford-Englisch ziemlich heiß klang?
Liam lachte leise und der dunkle Ton ließ die Luft zwischen uns vibrieren. „Meinen Eltern war es wichtig, dass ich eine gute Schulbildung erhalte, deshalb haben sie mich früh auf ein Internat in England geschickt. Da ist scheinbar mein Akzent verloren gegangen. Scots spreche ich kaum noch, aber ich beherrsche es. Warum studierst du Geschichte?“
„Wie gesagt, ich habe immer gern gelesen. Alles Mögliche, Krimis, Romane, Fantasy …“ Mein Blick wanderte hinaus in das Schneegestöber. „Als ich älter wurde, habe ich immer häufiger erwähnte Ereignisse oder Personen gegoogelt. Mich haben die historischen Hintergründe und Fakten interessiert. Die Zusammenhänge zwischen Politik, gesellschaftlichen Strukturen und dem Zeitgeschehen …“ Ich holte Luft. Wie immer, wenn ich mit jemandem über mein Studium sprach, begann ich, haltlos zu plappern. Hier war ich in meinem Element, hier fühlte ich mich wohl. Was meistens dazu führte, dass ich mein Gegenüber in die Flucht schlug, weil diese Themen nicht attraktiv auf Gleichaltrige wirkten.
„Hast du eine Lieblingsepoche oder irgendein Lieblingsthema?“, fragte Liam zu meiner Überraschung und klang aufrichtig interessiert. Ich schielte zu ihm herüber und nichts an seinem entspannt wirkenden Profil wies darauf hin, dass er nur aus Höflichkeit fragte.
Ich räusperte mich. „Jede Epoche hat für mich ihren eigenen Reiz. Jedes Zeitalter hat dazu beigetragen, dass wir heute sind, wer wir sind, leben, wie wir leben.“
Jetzt sah Liam doch kurz zu mir und seine Augen blitzten im schwachen Licht der Armaturen. „Wow, so habe ich das noch nie betrachtet. Aber es stimmt schon. Gerade hier, in den ländlichen Gegenden Schottlands, gibt es unzählige Traditionen, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt haben. Ohne unsere Geschichte würde etwas fehlen …“
„Ganz genau“, erwiderte ich und hörte die Begeisterung in meiner Stimme. „Ich liebe es, in die Vergangenheit eines Ortes oder Landes einzutauchen. Wie lebten die Menschen damals? Wie sah ihr Alltag aus und was hat sie beschäftigt? Mit welchen Schwierigkeiten hatten sie zu kämpfen, welchen Verpflichtungen waren sie unterworfen? Oft fühle ich mich dann glücklich, heute leben zu dürfen. In einer Demokratie, mit denselben Rechten wie jeder andere Mensch in Deutschland und mit der Freiheit, zu tun, was ich möchte.“
Liam atmete geräuschvoll aus und ich hatte kurz das Gefühl, zu viel gesagt zu haben. Doch dann neigte er ein wenig den Kopf und nickte langsam. „Ich weiß genau, was du meinst.“ Da steckte mehr hinter seiner Antwort, aber bevor ich nachhaken konnte, wandte er sich wieder an mich. „Du hast mir noch nicht verraten, welche Epoche dich am meisten interessiert.“
„Am liebsten befasse ich mich mit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Burgen und Schlösser, erste technische Fortschritte und der Aufschwung der Wissenschaft und Kultur rund um den Buchdruck … Viele verbinden mit dem Mittelalter Keuschheitsgürtel und die Pest, aber weltweit ist unglaublich viel in diesen Jahrhunderten passiert. Das ist faszinierend.“
„Dann freust du dich sicher, die nächsten Tage auf einem authentischen schottischen Schloss zu verbringen.“
Mit einem Mal war ich nicht mehr mit einem gut aussehenden jungen Mann in einem Auto unterwegs und ließ meiner Begeisterung für mein Studium freien Lauf, sondern war auf dem Weg zur Hochzeit meines Vaters. Den ich nicht kannte. Ohne meinen Koffer. Trotz der warmen Heizungsluft schlug die Anspannung ihre kalten Krallen in meinen Rücken und ließ mich frösteln.
„Freust du dich nicht? Auf das Schloss, auf die Hochzeit?“, fragte Liam, weil ich nichts erwidert hatte.
Gequält verzog ich das Gesicht, was er aber nicht sehen konnte. Ich suchte nach den richtigen Worten. Wie erklärte ich einem Fremden meine Gefühle bezüglich des anstehenden Aufeinandertreffens?
„Darf ich fragen, wie du zum Hochzeitspaar stehst?“, fragte Liam irgendwann in die Stille hinein.
Fast hätte ich erleichtert geseufzt. Darauf konnte ich antworten. „Mein Vater heiratet.“
„Okay“, sagte er nur.
Ich hatte das Gefühl, dass er etwas dazu sagen wollte, tat es aber nicht. Deshalb ergriff ich erneut das Wort. „Er heiratet seine Freundin, nicht meine Mutter. Meine Eltern sind getrennt, seit ich ein Kind war.“
„Und was sagt deine Mutter dazu? Dass dein Vater heiratet?“
Ich dachte einen Moment über die Frage nach. „Wir haben darüber nicht gesprochen, wenn ich ehrlich bin.“
Liam warf mir einen überraschten Blick von der Seite zu.
„Na ja, wir haben schon geredet. Sie wollte, dass ich herkomme, also hatte sie zumindest nichts dagegen.“
„Du wolltest nicht?“
„Nicht direkt. Es ist etwas kompliziert.“
Wieder spürte ich seinen Blick auf mir, doch er hakte nicht nach. Und das rechnete ich ihm hoch an. Die meisten Leute hätten weiter gebohrt.
Ich kramte in meinem Hirn nach einem unverfänglicheren Thema. „Freust du dich schon auf Weihnachten?“ Wirklich einfallsreich, Nola.
„Wer freut sich nicht auf Weihnachten?“, kam die knappe Antwort.
Ich musterte ihn. War da ein Hauch Verachtung in seiner Stimme? Seine Augen waren starr auf die Straße gerichtet.
„Magst du Weihnachten nicht?“
Er schwieg lange, ehe er antwortete. „Sagen wir, ich mag die Erinnerungen nicht, die ich mit Weihnachten verbinde.“
Ich biss mir auf die Lippen. Wäre es sehr aufdringlich, weiter zu fragen? Irgendwie wollte ich es wissen. Alles, was mich vom bevorstehenden Aufeinandertreffen mit meinem Vater ablenkte, war mir willkommen. Allerdings hatte Liam mir eben eine Antwort erspart, als ich gezögert hatte. Es war also nur fair, wenn ich es dabei beließ.
Auf der Innenseite meiner Wange kauend, sah ich hinaus in die Dunkelheit und gab mich der Stille hin. Bisher waren uns kaum Autos entgegengekommen. Ob das am Wetter oder an der Abgeschiedenheit des Schlosses lag?
„Wir sind gleich da“, riss Liams Stimme mich irgendwann aus meinen Gedanken und eine Welle der Aufregung rauschte über mich hinweg. Die Zeit mit ihm war verflogen, obwohl wir kaum geredet hatten.
Zwischen dunklen, dichten Tannen schimmerte das Licht hell erleuchteter Fenster hindurch. Als das Auto auf eine Auffahrt einbog, hielt ich den Atem an. Das Schloss kannte ich zwar von Fotos aus dem Internet, doch der Anblick, der sich mir jetzt bot, war nicht mit den Bildern zu vergleichen.
Eingebettet in einen dichten Tannenwald und umgeben von einer makellosen Schneedecke lag Rosehill Hall. Es war kleiner als das Herrenhaus der Fernsehfamilie Crawley aus Downton Abbey, aber kaum weniger imposant. Drei Etagen, vermutlich aus lokalem rauem Sandstein, türmten sich vor uns auf. Unzählige schmale, hohe Fenster streuten warmes Licht in das Schneegestöber und ließen mich die hohen Decken erahnen.
Die Fenster im obersten Geschoss waren alle dunkel, vermutlich weil sich in den einstigen Gesindekammern der Bediensteten keiner aufhielt. Vier runde Türme mit spitz zulaufenden Dächern erhoben sich an jeder Ecke des rechteckigen Gebäudes, die Zinnen, die rund um das Dach verliefen, und die ehemaligen Schießscharten waren schneeverhangen. Das weitläufige Gelände um das Schloss lag im Dunkeln. Die Umgebung und Gärten würde ich erst am nächsten Tag erkunden können, vorausgesetzt, ich fand irgendwo ein paar warme Stiefel und eine Jacke.
Liam hielt direkt vor einem riesigen Eingangsportal aus Holz, über dessen Torbogen ein eingemeißeltes Wappen von einem Strahler angeleuchtet wurde. Ich blinzelte durch das Autofenster hinauf, doch ich konnte es wegen des Schnees nicht genau erkennen.
Die Eiseskälte, die mir beim Aussteigen sofort entgegenschlug, betäubte meine Aufregung. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und sah an der hellen Fassade hinauf. Von meiner Recherche wusste ich, dass Rosehill Hall im dreizehnten Jahrhundert errichtet worden war und seitdem viele Generationen von Lords und Ladys hier gelebt hatten. Über die aktuellen Besitzer hatte ich nichts herausfinden können, aber es schien nach wie vor in Besitz der ansässigen Adelsfamilie zu sein.
„Gefällt es dir?“, fragte Liam, der neben mich getreten war. Auf seinem Gesicht lag ein seltsam nachdenklicher Ausdruck und einzelne Schneeflocken verfingen sich in seinen so verdammt weich aussehenden Haaren.
„Und wie!“, gab ich zu. „Dieses Schloss stand schon, als Shakespeare Weltliteratur geschrieben hat oder als Europa von den Religionskriegen gespalten wurde. So viele Menschen haben hier gelebt und ihren Beitrag zur Geschichte dieser Region geleistet. Und genau wie wir jetzt sind sie über dieses Portal eingetreten.“
Ein schiefes Lächeln zupfte an Liams Mundwinkeln. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da wurde das große Eingangsportal geöffnet.
„Liam, da bist du ja! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Die Straßen sind sicher nicht geräumt.“ Im Portal war eine ältere Frau im adretten schwarzen Kleid erschienen, die erst Liam und dann mich anlächelte. Sie winkte uns zu sich. „Kommt besser rein, bevor ihr euch erkältet.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und stieg, mit Liam an meiner Seite, die wenigen Stufen des Eingangsportals hinauf. Dort angekommen nahm sie mich sanft am Arm und führte mich in eine riesige Eingangshalle, von der eine breite, mit roten Teppichen ausgelegte Treppe in die oberen Stockwerke führte.
Ich drehte mich um die eigene Achse, um alles auf mich wirken zu lassen. Die hellen Steinwände waren abwechselnd mit alten Wandteppichen und goldgerahmten Porträts dekoriert. Normalerweise handelte es sich dabei um Familienmitglieder der jeweiligen Schlossherren, die streng auf jeden hinabsahen, damit man sie ja nie vergaß.
„Ms. Winter, richtig?“
Ich drehte mich schnell wieder zu der Frau, die mich aus klaren, fast grauen Augen hinter einer dicken Brille geschäftig ansah. An einem schmalen Gürtel um ihre Taille hing ein gewaltiger Schlüsselbund mit unzähligen Schlüsseln, die bei jeder ihrer Bewegungen klimperten.
„Ich bin Ms. Hawthorne, aber bitte nennen Sie mich Margie. Ich bin die Haushälterin von Rosehill Hall“, erklärte sie und ich hatte den Eindruck, dass sie sich bei diesen Worten ein wenig größer machte. Sie schien stolz auf ihre Stellung zu sein.
„Ihr Zimmer befindet sich oben im ersten Stock, genau wie die anderen Gästezimmer. Ich habe die Rosen-Suite für Sie hergerichtet.“ Sie rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht und deutete mit einer Armbewegung nach oben. „Ich bringe Sie hin.“
„Äh, das kann ich doch machen, Margie.“
Ich hatte Liam für einen Moment vergessen.
„Nicht nötig, Liam, Ms. Winter hat ja kein schweres Gepäck.“ Vielsagend richtete sie ihren Blick auf den Rucksack, den Liam in der Hand hielt.
„Mein Koffer ist leider im falschen Flugzeug gelandet“, erklärte ich schnell.
Liam war neben mich getreten. „Ich bestehe darauf, Margie“, sagte er und lächelte die Haushälterin einnehmend an.
Diese bedachte erst ihn, dann mich mit einem fragenden Blick, dann faltete sie die Hände vor ihrem Bauch und nickte. „Schön. Ms. Winter, das Dinner beginnt um acht. Die restliche Hochzeitsgesellschaft ist bereits eingetroffen. Wie ich gehört habe, sind Sie die Tochter des Bräutigams. Möchten Sie vor dem Dinner zu ihm? Dann werde ich ihm Bescheid geben.“
Mein Herz setzte einen Moment aus. Man sollte meinen, dass ich nach den Wochen der mentalen Vorbereitung bereit gewesen wäre, aber der Schauer, der meinen Körper durchlief, sprach eine andere Sprache. Schnell schüttelte ich den Kopf, was mir ein leichtes Stirnrunzeln von Margie einbrachte.
„Nola, äh, Ms. Winter hatte eine anstrengende Anreise und der Stress mit dem Koffer hat sein Übriges getan. Ich werde ihr erst mal ihr Zimmer zeigen, damit sie in Ruhe ankommen kann.“ Liam warf mir einen bedeutungsschweren Blick aus seinen dunklen Augen zu, der mich nur stumm nicken ließ.
Danke, formten meine Lippen. Er nickte unmerklich, bevor er wieder Margie ansah. „Wärst du so lieb, und würdest nachsehen, ob wir bei den Fundsachen warme Kleidung haben, die Nola, äh, Ms. Winter, passen könnten?“
„Natürlich“, sagte Margie resolut und ich hatte keinen Zweifel, dass sie etwas finden würde.
„Danke, Margie. Dann wollen wir mal.“ Liam machte eine einladende Geste und schritt hinter mir die breite Treppe hinauf.
Oben wandte sich Liam nach rechts und wir passierten einen langen Gang, auf dem ein dicker Läufer unsere Schritte dämpfte. Elektrische Wandleuchten sorgten für ein mysteriöses Spiel aus Licht und Schatten, nur durchbrochen von verschiedenen Türen.
Vor einer braun lackierten Holztür blieb Liam schließlich stehen. Auf einem Messingschild stand mit goldener Schrift Rose Suite. Der Schlüssel steckte und Liam drehte ihn um. „So, da wären wir.“ Er öffnete die Tür und reichte mir meinen Rucksack.
Ein wenig unsicher warf er einen Blick in das Zimmer, dann lagen seine Augen wieder dunkel auf mir. Er war mindestens einen Kopf größer als ich, sodass ich meinen Kopf ein wenig in den Nacken legen musste, um seinen Blick zu erwidern.
„Danke fürs Abholen“, sagte ich und kam mir sofort dumm vor. Es war sein Job, mich abzuholen.
Wieder erschien dieses schiefe Lächeln. „Gern.“ Liam machte keine Anstalten zu gehen.
Plötzlich war die Luft zwischen uns unglaublich aufgeladen. Die Sekunden verstrichen, ohne dass einer von uns etwas sagte und nur mit größter Mühe gelang es mir, mich von ihm loszureißen und einen Schritt ins Zimmer zu machen. Die Bewegung ließ die Verbindung zwischen uns reißen und er blinzelte, als hätte er sich daran erinnert, wo wir waren.
„Ich wünsche dir einen schönen ersten Abend.“ Er wandte sich schon ab, drehte sich aber noch einmal um. „Viel Glück. Ich weiß nicht warum, aber irgendwas sagt mir, dass du es gebrauchen kannst.“ Er schenkte mir erneut dieses Grinsen und die Kombination mit seinen Worten erweckte ein angenehmes Flattern in meinem Innern.
„Danke, das kann ich wirklich“, antwortete ich.
Er nickte. „Wir sehen uns sicher noch, Nola.“ Ein letzter Blick aus seinen dunklen Augen, dann schlenderte er lautlos den Gang entlang.
„Hoffentlich“, murmelte ich leise und sah ihm nach, bis er um eine Ecke verschwunden war.
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