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Die Tage mit Dir Die Tage mit Dir - eBook-Ausgabe

Valerie Bendorf
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Roman

— Für alle Fans von „Zwei an einem Tag“!
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Die Tage mit Dir — Inhalt

Zwei Jahrzehnte, zwei Koffer, ein Versprechen ...
Es ist der Sommer 2001, ein Internat in den Highlands, Abschlussball. Hanna aus Berlin und der Schotte Neil sind Freunde. Als sie auseinandergehen, geben sie sich ein Versprechen: Sie werden einander immer Unterschlupf bieten, egal wann, egal unter welchen Umständen. Als Pfand für diesen Pakt behält Neil einen Notfallkoffer von Hanna, sie nimmt seinen mit nach Berlin.

Schon bald beschleicht sie die Ahnung, dass neben Zahnbürste und Lieblingskleid auch ihr Herz in Schottland geblieben sein könnte. Doch dann schlägt das Leben zu: Man sieht sich zu selten und die Jahre vergehen, es gibt viele kleine Notfälle, aber nicht den einen Ernstfall, und der Koffer wird vom Ziel brennender Sehnsucht zum fernen Trost und schließlich zum Staubfänger auf dem Schrank. Bis einer vor der Tür des anderen steht …

Eine herzerwärmende Geschichte über verpasste Chancen, übers Scheitern und Weitermachen, die Suche nach Heimat und diese eine Liebe.

Wer auf Netflix die Neuverfilmung von David Nicholls Bestseller „Zwei an einem Tag“ gesehen hat, wird diesen Roman lieben! 

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 27.06.2024
400 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06445-3
Download Cover
€ 4,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 27.06.2024
400 Seiten
EAN 978-3-492-60796-4
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Leseprobe zu „Die Tage mit Dir“

1999

Die Exkursion


Es war ein Dienstag im August, als sie das erste Mal miteinander sprachen und dann auch gleich die Nacht zusammen verbrachten. Wenn Neil nicht wegen seiner langen Beine auf dem Beifahrersitz platziert worden und Hanna nicht ganz hinten im Minibus gesessen und daher als Letzte ausgestiegen wäre, hätten sie sich kaum jemals näher kennengelernt. So aber stand Hanna damals auf dem Wanderparkplatz zwischen Glen Croe und Glen Kinglas rechts neben Neil, als Mr Drummond, ihr Fahrer, mit Zeige- und Mittelfinger seiner knorrigen, [...]

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1999

Die Exkursion


Es war ein Dienstag im August, als sie das erste Mal miteinander sprachen und dann auch gleich die Nacht zusammen verbrachten. Wenn Neil nicht wegen seiner langen Beine auf dem Beifahrersitz platziert worden und Hanna nicht ganz hinten im Minibus gesessen und daher als Letzte ausgestiegen wäre, hätten sie sich kaum jemals näher kennengelernt. So aber stand Hanna damals auf dem Wanderparkplatz zwischen Glen Croe und Glen Kinglas rechts neben Neil, als Mr Drummond, ihr Fahrer, mit Zeige- und Mittelfinger seiner knorrigen, sommersprossigen Hand nacheinander auf je zwei Internatsschüler zeigte: „Ihr beide, ihr, ihr, und ihr zwei.“ Solche banalen Zufälle sind es, die manchmal über ein ganzes Leben entscheiden. Oder zwei, in diesem Fall.

Während Neil am liebsten alleine losgegangen wäre, hatte Hanna eigentlich gehofft, mit dem Mädchen zusammen eingeteilt zu werden, mit dem sie sich gerade im Bus unterhalten hatte. Sie war erst seit zwei Wochen in Callander und befand sich noch in der aufregenden, aber auch etwas aufreibenden Phase des Beschnupperns und Positionierens, die jede kennt, die schon mal die Schule gewechselt hat.

Alice, die Tochter eines südenglischen Duftkerzenmagnaten, sollte mit der kleinen Kim Ling ein Team bilden und protestierte laut. „Och nö. Ich wollte mit Tabatha.“

„Keine Extrawürste. Ihr sollt sowieso nicht quatschen, sondern malen. Abendlicht und Perspektive, das sind die Stichworte, an die ich euch von eurer Kunstlehrerin erinnern soll. Um acht treffen wir uns wieder hier.“ Bei den letzten Worten drehte Mr Drummond, der sonst als Pförtner der Callander Chambers Boarding School arbeitete, wieder Richtung Fahrertür ab.

Kim Ling lächelte betont gleichmütig und deutete mit dem Kinn in Richtung des grünen Tals, das unter ihnen lag.

„Meinetwegen gern“, sagte Alice.

„Hast du einen Plan?“, wandte Hanna sich an ihren Begleiter, der nur einmal scheu herübergesehen hatte und abzuwarten schien, bis sie ihn ansprach.

Als er sich ihr zuwandte, wirkte er, als hätte er zwar einen, wäre aber noch unsicher, ob er ihn mit ihr teilen wollte.

„Ich bin Hanna“, erklärte sie. „Falls du das nicht weißt. Ich bin neu. Wie du heißt, hab ich leider auch vergessen. Ich bin nicht so gut mit Namen.“ Das stimmte nicht unbedingt, aber es klang netter. Sie mussten ja jetzt miteinander auskommen.

„Neil“, antwortete er. „Angenehm.“ Er nickte ihr zu.

Hanna wunderte sich ein wenig über die gewählte Ausdrucksweise.

Er blickte auf ihre knöchelhohen Turnschuhe, dann fragte er: „Da lang?“

An der Stelle, auf die er deutete, war erst auf den zweiten Blick ein Trampelpfad zu erkennen, der über eine leichte Senke in den Berg hineinführte. „Okay“, sagte Hanna.

Während sie schweigend nebeneinander den Parkplatz überquerten, klaubten sie beide in Gedanken zusammen, was sie übereinander wussten. Sie über ihn: so gut wie nichts. Neben Kunst hatten sie nicht viele Fächer miteinander, genau konnte sie es nicht sagen. Die anderen riefen ihn mit irgendeinem wenig liebevollen Spitznamen, der ihr auch gerade nicht einfiel. Durch mehrere Schulwechsel hatte sie jedoch ein intuitives Sensorium für das Geflecht unter den Schülerinnen und Schülern entwickelt, und wenn sie sich die Oberstufe von Callander Chambers auf einer Schießscheibe vorstellte, wie sie im Sportkeller hing, dann befand sich dieser Junge – zu groß, zu dünn, zu schweigsam – ziemlich weit außen auf einer Eins oder Zwei.

Er hingegen wusste über sie, dass sie aus Deutschland war und so hübsch und normal, dass sich jeder weitere Gedanke an sie erübrigte. Mädchen wie sie redeten in Callander normalerweise nicht mit ihm.

Sie ließen den Parkplatz hinter sich, und bald wurde der Pfad so schmal, dass sie nicht mehr nebeneinanderlaufen konnten. Neil bedeutete Hanna mit einer höflichen Geste vorzugehen.

Es war einer dieser schottischen Sommertage, an denen man im T-Shirt fror, solange die Wolken vor der Sonne hingen, aber mit Pullover oder Jacke anfing zu schwitzen, wenn sie herauskam. Oder wenn man richtig in Bewegung geriet, so wie jetzt, da es bergan ging.

Nach einer Dreiviertelstunde, in der sie nur wenige Worte wechselten, wenn sie an einen Abzweig kamen, eröffnete sich hinter einer Kurve ein prachtvolles Panorama. Zwischen den schroffen Hügeln, über denen sich Wolkenformationen in Schattierungen von leuchtend weiß bis dunkelgrau auftürmten, lag lang gezogen das Tal, das in Teilen auch vom Parkplatz aus zu sehen gewesen war, nur war jetzt, von weiter oben, der Blick darauf spektakulärer. In seiner Mitte lag ein See, der von den vereinzelt durch die Wolkendecke brechenden Sonnenfinger zum Leuchten gebracht wurde wie der Zauberstein einer Fee. Über den Bach, der ihn speiste, führte eine moosüberzogene Bogenbrücke aus Bruchsteinen, die direkt aus den Untiefen der schottischen Geschichte zu kommen schien. Man sah die englischen Truppen in ihren roten Uniformen förmlich vor sich, wie sie in Zweierreihen zum Klang der Trommeln darübermarschierten, um die Vorherrschaft ihres Königs über die schottischen Clans zu sichern. Sie hatten noch gestern in Mrs Abbots Geschichtsstunde davon gehört.

„Das ist ja der Hammer!“ Hanna blieb stehen und zog den Reißverschluss ihrer Windjacke auf.

Neil, der schon ein abgeklärtes „Nett“ befürchtet hatte, atmete auf. Schließlich hatte er den Weg vorgeschlagen. Und darüber hinaus war das sein Land. „Da ist der ›Rest and Be Thankful‹“, erklärte er und zeigte auf den höchsten Punkt des Passes mit dem Parkplatz. „Der Name kommt von der Inschrift auf dem Stein, der dort für die erschöpften Reisenden aufgestellt wurde.“

„Ha, und ich hab gestern gedacht, als es hieß, heute stünde der ›Raste und sei dankbar‹ auf dem Programm, das wäre wieder einer der Sprüche, mit denen sie uns die richtigen Werte vermitteln wollen.“

„So wie der Slogan auf unserem Bus: ›Live, learn, grow‹?“

„Genau. Komisch eigentlich, dass sie nicht gleich ›Live, learn, lead‹ geschrieben haben. Das wär eine schöne Alliteration und würde gleich klarstellen, wozu wir ausgebildet werden.“

„Stimmt.“ Er lachte und sah aus, als überraschte ihn das.

„Was ist dein Hausspruch?“

„Ich lebe nach dem Motto ›Das große Ziel der Bildung ist nicht Wissen, sondern Handeln‹. In Haus Spencer.“

„Ich Haus Yeats: ›Bildung bedeutet nicht, einen Eimer zu füllen, sondern ein Feuer zu entzünden.‹“

„Sind hier draußen wahrscheinlich nicht erlaubt.“

Hanna grinste. „Wollen wir uns trotzdem einen Platz suchen und unser Bild angehen?“

Er nickte. „Da vorn kannst du dich anlehnen.“ Er wies auf einen Felsen.

„Du hast ihn zuerst gesehen.“

„Nein, der ist für dich.“

„Extra hier aufgestellt?“

„Extra hier aufgestellt“, bestätigte er und lächelte.

„Na dann.“ Hanna gab gerne nach.

Sie öffneten ihre Rucksäcke, auf denen das Wappen des Internats eingestickt war: ein roter königlich-schottischer Löwe, der über ein Piktogramm des Schulgebäudes wachte. Je ein zerdrücktes Lunchpaket, eine Klappstaffelei, zwei Malkartons und eine Metallschachtel mit Ölkreiden waren darin.

Hanna klappte die Staffelei aus, stellte sie über ihren ausgestreckten Beinen auf, spannte den Karton ein und überlegte, wie sie ihr Bild angehen sollte. Ob sie Neil, der seitlich in ihrem Blickfeld saß, mit aufnehmen sollte, und wenn ja wie, sodass es der Komposition etwas gab.

Bei einem Casting, bei dem ein Darsteller für einen jugendlichen Sonderling gesucht wurde, hätte er die Rolle sicher, dachte sie, während sie ihn studierte, wie er unbequem über die kleine Staffelei gebeugt dasaß. Seine dunkelbraunen Haare sahen aus, als hätte er sich vor ein paar Monaten einfach den Kopf rasiert und sie dann wachsen lassen, jedenfalls waren sie hinten im Nacken genauso lang wie oben, eine seltsame Nichtfrisur. Das Brillengestell, das er sich zum Malen aufgesetzt hatte, machte die Sache nicht besser, und der beigefarbene Wollpullover, den er trug, stammte dem Schnitt der Ärmel nach zu urteilen noch aus den tiefen Achtzigern. Das alles war mehr als ungewöhnlich für einen Internatsschüler. Die meisten von ihnen demonstrierten schon jetzt mit teuren Polohemden ihren Führungsanspruch in der Wirtschaftswelt des neuen Jahrtausends. Wenn sie nicht gerade mit bunten Haaren und übergroßen Hosen gegen ihr Schicksal als reiche Erben aufbegehrten.

Neil sah auf, und sein Blick traf ihren.

„Ich überlege nur, ob du mit auf mein Bild kommst“, erklärte sie.

„Lieber nicht“, nuschelte er.

„Warum nicht? Ich glaube, ein Schotte fehlt hier noch in meinem Panorama. Du bist doch Schotte?“ Neil sprach mit einem ausgeprägten schottischen Dialekt.

„Ich bin zwar Schotte, aber nicht so … der Musentyp.“

Hanna lachte. „Na gut, dann lass ich dich weg.“ Betont streng sah sie auf ihr Blatt und öffnete schließlich die Schachtel mit den Kreiden. Sie waren noch ganz neu, nach Farben geordnet und sahen verlockend aus.

Seit sie in Callander war, war Hanna kaum zum Malen gekommen, obwohl sie sich eigentlich als junge Künstlerin verstand. Einmal hatte sie angesetzt, den Ausblick aus ihrem Zimmer in den Obstgarten zu zeichnen, aber dann war schon wieder ihre Mitbewohnerin mit zwei Freundinnen hereingekommen, und sie hatte das Gefühl gehabt, sie müsste sich mit unterhalten, um nichts zu verpassen.

Jetzt, während sie sich in den Ausblick vertiefte, überkam sie eine Ruhe wie schon seit Wochen nicht mehr. Die Abendsonne wärmte mit letzter Kraft, und nur der Wind war zu hören, wenn er durch die Gräser hauchte, hin und wieder ein unsichtbarer Vogel und schließlich die Kreide auf dem Karton. Sie übertrug die zwischen einem metallischen Braunrot und einem samtigen Dunkelgrün changierenden Oberflächen der Berge aufs Papier, verwischte sie mit dem Finger, verglich, legte einen Farbauftrag nach, verwischte wieder und so weiter, bis sie zufrieden war und zum nächsten Bildteil überging.

Als Neil einmal zu ihr hinübersah, während er seinen Rücken streckte, schien sie ihm gleichermaßen vollkommen entspannt und hoch konzentriert. Ihr Mund war leicht geöffnet, während ihre Augen hin und her wanderten und ihre Fingerkuppen über den Karton strichen. Irgendwie empfand er den Anblick, wie sie so versunken arbeitete, als intim. Er sah erst weg, dann verstohlen wieder hin.

Unterhalb ihres linken Auges prangte ein grüner Fleck, wo sie sich mit den Kreidefingern ins Gesicht gefasst hatte. Sie hatte eine kleine, etwas gerötete Nase, und ihre Wangen sahen sehr weich aus. Ihr Haar war zu einer komplizierten Frisur geflochten, die am Hinterkopf in einem blonden Puschel mündete. Wie lange sie wohl morgens dafür brauchte?

„Wow“, meinte Hanna irgendwann und lockerte ihre Beine. „Das hat mich jetzt richtig weggebeamt.“

Neil grinste.

„Was denn, hab ich gespeichelt?“ Hanna lachte und fuhr sich scherzhaft mit dem Handrücken über den Mundwinkel.

„Nur fast.“

„Ich bin sonst gar nicht so der Naturfreak, aber hier … Ich weiß nicht, was es ist. Es ist irgendwie …“ Der Satz hing in der Luft.

„… wie es ist“, sagte er.

Sie sah ihn an. „Genau. Genau so ist es. Es ist, wie es ist.“

„Die Berge hier wissen das. Früher mal waren sie von Wald überzogen.“

„Echt, und wo ist der hin?“

„Die Engländer sind gekommen und haben Schiffe für ihre kolonialen Feldzüge daraus gebaut, und dann haben sie auch noch Massen an Schafen angesiedelt, die alles weggefressen haben. Mal so zusammengefasst.“

„Krass. Die Engländer wieder.“ Sie kannte die schottisch-englische Rivalität vom Fußball her.

„Genau. Haben alles plattgemacht.“ Er grinste verhalten.

„Aber ihr habt was draus gemacht, das muss man sagen. Ich meine, guck dir nur mal diese Farben an.“

„Hellbraun. Dunkelbraun. Und Grün“, sagte er ironisch.

Sie ließ sich nicht darauf ein, was ihn insgeheim freute. „Und Blau. Und Silbern“, schwärmte sie, griff nach der weißen Kreide und verstärkte noch mal einen der Lichtreflexe auf dem See.

„Bald nicht mehr so blau. Von Westen her zieht es sich zu.“

Hanna lächelte. Dass es außerhalb von maritimen ­Kinofilmen Menschen gab, die Sätze mit „von Westen her …“ begannen, hatte sie auch noch nicht gewusst.

„Was ist daran witzig?“

„Gar nichts. Du scheinst einen guten Draht zur Natur zu haben. Zeig doch mal dein Bild!“

Er drehte es in ihre Richtung.

Hanna legte ihre Kreide in die Rille in der Schachtel zurück, stellte die Staffelei zur Seite und stand auf, um es von Nahem zu betrachten.

Es war eine brave, naturgetreue, aber nicht unzulängliche Arbeit. Die Vorzeichnung verriet, dass Neil die Perspektiven gut erfasste. Sicher würde er ein A oder B dafür bekommen. „Kompliment“, sagte sie. „Du hast es drauf. Willst du meins auch sehen?“

„Klar“, sagte er, und sie zeigte es ihm bereitwillig.

„Das sieht richtig nach Kunst aus.“

„Danke!“, erwiderte Hanna selbstbewusst. „Du … weißt du was?“ Ein Gedanke, der ihr vorhin schon gekommen war, drängte jetzt zur spontanen Umsetzung. „Ich geh noch mal etwas weiter den Berg da rauf und integriere eine zweite Perspektive in das Bild.“

„Kapier ich nicht, und ich glaube, bei Mrs MacMillan riskierst du damit dein A.“

„No risk, no fun“, sagte Hanna und räumte ihr Material zurück in den Rucksack.

„Bleib bloß nicht zu lange. Also … nur, weil …“

„Schon klar, von Westen her zieht es sich zu.“ Sie grinste ihn an, dann ging sie.

 

Als sie weg war, fühlte Neil sich zunächst seltsam zurückgelassen, dann jedoch arbeitete er effizienter als zuvor an seinem Bild, bis es zunehmend nach Regen aussah. Die Sonne war hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden, und man hätte meinen können, es dämmerte schon, dabei war es erst halb sieben. Das Tal starrte jetzt dunkel und abweisend zu ihm herauf. Vor etwa einer Dreiviertelstunde hatte er einmal Alice und Kim Ling von Weitem gesehen und einen Teufel getan, sich bemerkbar zu machen. Jetzt aber war auf den Wegen keine Menschenseele mehr unterwegs.

Zum wiederholten Mal sah er auf seine Armbanduhr. In einer guten Stunde wurden sie von Mr Drummond auf dem Parkplatz erwartet. Hanna sollte wirklich langsam zurückkommen. Oder hatte er sie falsch verstanden, und sie hatte gar nicht zurückkommen, sondern gleich zum Parkplatz gehen wollen? War er jetzt der Dumme, wenn er hier wartete, während Hanna querfeldein auf einige der anderen gestoßen und schon mit ihnen zurückgewandert war? Vielleicht klärten Alice und Co. sie just in diesem Moment darüber auf, was für ein peinlicher Typ er war.

Er war mittlerweile seit einem Jahr in Callander, und das nicht freiwillig. In den ersten Wochen, er war damals fünfzehn gewesen, hatte er solche Sehnsucht nach seinem verlorenen Zuhause gehabt, dass er mehrere Male im Unterricht zu weinen begonnen und sich daraufhin immer mehr zurückgezogen hatte. Seine Strategie in den folgenden Wochen: einfach nicht antworten, wenn er fürchtete, sonst wieder heulen zu müssen. Mrs Carstens wollte in Englisch wissen, ob er schon mal das Geburtshaus des schottischen Nationaldichters Robert Burns besucht habe, er komme doch aus der Gegend. Schon bei dem Gedanken an seine Antwort spürte er dieses würgende Stechen im Rachen als Vorbote der Tränen. Also schluckte er, schwieg und sah an Mrs Carstens vorbei aus dem Fenster. Nach einigen Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, zuckte sie die Achseln, ließ von ihm ab und fuhr mit dem Unterricht fort. Ging doch. Sein Banknachbar fragte ihn nach seinem Lieblingsfußballverein. Neil fürchtete, den Namen des Clubs, in dem er früher mal bei den C-Junioren gespielt hatte, nicht tränenfrei über die Bühne zu bekommen, und blieb die Antwort schuldig. Das mit dem Weinen legte sich, schweigsam und zurückgezogen blieb er jedoch.

Er war von den anderen zwar nie im Papierkorb gefesselt worden, und man hatte ihn auch nicht für wert erachtet, eines der verbotenen Aufnahmerituale an ihm zu vollziehen. Abgesehen von gelegentlichen groben Witzchen über seinen Vater, seinen Dialekt oder seine dörfliche oder sonst wie seltsame Art ließ man ihn eigentlich in Ruhe. Doch er war nie richtig in Callander angekommen, jedenfalls nicht als der Junge, der er früher gewesen war.

Plötzliche Windböen, wie sie einem Gewitter oder kräftigen Regenguss vorausgehen, machten das Malen auf der Staffelei unmöglich, und er packte ein. Mit lustlosen Bissen verschlang er noch das labbrige Schinken-Käse-Sandwich aus dem Lunchpaket, während seine Augen immer wieder die Umgebung absuchten.

Hanna könnte auch gestürzt sein, überlegte er, oder sie war einem Mann begegnet, der auf genau so eine Situation gelauert hatte … Er erinnerte sich an eine entsprechende Schlagzeile von vor ein paar Monaten. Der Gedanke war widerwärtig und hinterließ ein beklemmendes Gefühl.

Er würde ihr den Berg hinauf folgen. Vielleicht saß sie ja auch gleich hinter der nächsten Kurve.

Doch so war es nicht. Er lief zurück und nahm sich einen leeren Karton. Liebe Hanna, schrieb er.

Dann riss er das Liebe Hanna ab, stopfte es sich in die Hosentasche und begann von Neuem: Hi Hanna, ich sehe gerade nach, ob du noch hier irgendwo bist. Warte hier oder geh einfach schon zum Bus, wie es dir lieber ist.

Er ließ den Karton aus dem Reißverschluss seines Rucksacks herausragen, legte den Rucksack gut sichtbar auf den Stein, an dem Hanna vorhin gelehnt hatte, und machte sich erneut auf in die Richtung, in die sie verschwunden war. Er überlegte, ob er nach ihr rufen sollte. Aber wenn ein Fremder sie festhielt, würde er ihn damit nur auf sich aufmerksam machen und seinen Vorteil verspielen – an dieser Stelle rief er sich zur Ordnung. Das war ja lachhaft und er kein kampferprobter Highlander aus einem historischen Roman, der seiner Jungfrau zu Hilfe eilte. Mal davon abgesehen, dass Hanna bestimmt keine Jungfrau mehr war.

Es begann zu nieseln.

Er kam an eine Gabelung und vermutete, dass Hanna den linken, dem Tal zugewandten Pfad genommen hatte. Der Weg war uneben. Er musste aufpassen, wo er hintrat, und gleichzeitig nach unten schauen, ob Hanna mit verstauchtem Knöchel irgendwo lag.

Nach zwei weiteren Abzweigen sagte er sich, dass es keinen Sinn mehr hatte, und drehte um. Er glaubte nicht, dass sie so weit gelaufen war. Und wenn er selbst rechtzeitig zur Abfahrt am Parkplatz ankommen wollte, musste er sich beeilen.

Der Regen wurde dichter, Neil begann zu joggen, so schnell der Untergrund es erlaubte, und bereute, dass er seinen Rucksack an der Aussichtsstelle zurückgelassen hatte. Jetzt musste er wohl oder übel noch mal dort vorbei und konnte nicht auf direktem Weg zum Parkplatz zurückgehen.

Kurz darauf hörte er das Rufen.

„Neil!“

Hanna. Von oben. Er ließ seinen Blick über den Berg schweifen, und da war sie, hockte mit aufgesetzter Kapuze ein Stück oberhalb des Wegs, neben ihr der Rucksack.

„Bist du verletzt?“, rief er.

„Nein, ich hab mich nur verlaufen. Warte, ich komm zu dir runter.“

Sie lief den Hügel hinunter, und eine kleine Lawine aus Geröll folgte ihr. Ihre Wimperntusche war vom Regen verschmiert, und einige aus der Frisur gerutschten Haare klebten in ihrer Stirn, als sie vor ihm stand und erklärte: „Irgendwann hab ich eingesehen, dass ich nicht mehr zurückfinde, und mich wegen der besseren Übersicht da oben hingehockt und auf dich gewartet.“

Ein eigenartiges Hochgefühl überkam ihn. „Und wenn ich nicht gekommen wäre?“

„Ich dachte mir irgendwie, dass du kommst.“

Er war sich nicht sicher, ob das für ihn sprach oder gegen ihn. „Ich muss noch meinen Rucksack holen – willst du schon allein zurück zum Parkplatz gehen?“

„Auf keinen Fall. Ich weiche dir nicht mehr von der Seite.“

Er lächelte und drehte sich schnell um, damit sie es nicht sah. „Dann mir nach“, sagte er laut, um Regen und Wind zu übertönen, und stapfte los. Hanna folgte ihm.

Eine halbe Stunde später hätten sie den Rucksack längst erreichen müssen. Doch nicht einmal mehr das Tal war zu sehen, und das, was unter ihren Füßen zunächst noch wie ein Trampelpfad gewirkt hatte, war auch nicht mehr zu erkennen. Vom Boden stieg ein brackiger Geruch auf. Neil bahnte ihnen den Weg jetzt selbst durch die harten kniehohen Gräser, die auf dem sumpfigen Grund wuchsen. Die Jeans klebten nass an ihren Oberschenkeln, und hinter jeder Kurve erschien, verhüllt von grauen Regenbändern, nur dieselbe Hügellandschaft im schwindenden Tageslicht. Sie hatten es zwar noch nicht ausgesprochen, aber jedem für sich war ihnen inzwischen klar, dass sie sich verirrt hatten.

„Es ist schon zwanzig nach acht“, rief Hanna. „Falls Mr Drummond überhaupt auf uns gewartet hat, dann ist er es inzwischen sicher leid.“

„Bleibst du kurz hier? Ich prüfe noch mal die Lage hinter dem Hügel da vorn.“

Hanna sah ihm nach, wie er sich mit seinem eigentümlich aufrechten, fast etwas tänzerischen Gang entfernte und fragte sich, ob er vielleicht schwul war. Auch weil er so höflich sprach.

„Leider nichts“, erklärte er, als er zurückkam, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre das seine Schuld. „Ich kenn mich hier leider auch nicht so gut aus. Nur diesen Weg vom Parkplatz aus kannte ich, weil ich mal die Ferien bei Freunden in der Gegend verbracht hab.“

„Ich war doch die, die so blöd war, allein loszuziehen. Tut mir echt leid. Wenn ich nicht weggegangen wäre, säßen wir jetzt gemütlich im Bus auf dem Weg nach Hause.“ Nach kurzem Schweigen setzte sie hinzu: „Oder jedenfalls ins Internat.“

Neil wurde plötzlich klar, dass auch ein potenzielles Premier-League-Mädchen wie Hanna sich in den ersten Wochen auf einer neuen Schule fremd fühlen musste. „Ich hätte dich davon abhalten müssen. Ich weiß doch, dass hier ein Hügel wie der andere aussieht und man sich leicht verirren kann“, sagte er sanft.

„Ich hätte mich sowieso nicht abbringen lassen … Meinst du, die suchen uns?“

„Bestimmt.“ Sicher war er sich nicht.

„Wie kalt wird es denn hier nachts?“

„Vielleicht 9 oder 10 Grad.“ Neils Tonfall nach zu schließen, war auch das auf sein persönliches Versagen zurückzuführen.

„Noch ist es ja nicht so weit. Und zumindest mir macht der Regen auch gar nichts mehr aus, seit ich sowieso bis auf die Knochen durchnässt bin.“ Sie versuchte sich an einem aufmunternden Grinsen, doch dann überlief sie ihren Worten zum Trotz ein Frösteln.

„Siehst du, du frierst!“, stellte Neil fest, und noch ehe sie protestieren konnte, hatte er sich seinen Pullover über den Kopf gezogen und hielt ihr das schwach nach Schafswolle riechende Ding vor die Nase.

Wie ein dickes, nasses Lamm, das er für mich gejagt hat, dachte sie.

An ihm selbst klebte jetzt allerdings nur noch das ­T-Shirt von irgendeinem Sportteam, das sie nicht kannte, die Farben von der Dämmerung verschluckt. Es war ihm zu kurz und reichte nur knapp bis zu der Jeans, die ihm auf den schmalen Hüften hing.

„Wenn du erfrierst, habe ich auch nichts davon“, sagte Hanna und machte keine Anstalten, den Pullover entgegenzunehmen. Sie spürte das kalte Rinnsal, das aus ihren Haaren unter der Jacke ihren Rücken hinunterlief, und sehnte sich plötzlich schmerzlich nach Berlin.

Wenn das Leben nach Plan gelaufen wäre, würde sie jetzt vielleicht im warmen Licht der Abendsonne an dem Graffiti arbeiten, das sie in ihrem Zimmer in der Schöneberger Wohnung auf die große Wand gegenüber ihrem Hochbett hatte sprayen wollen. Auf dem Fensterbrett säße der schöne Sean, mit dem sie in diesen Sommerferien vor der Eisdiele am Nollendorfplatz angebandelt hatte. Er würde den Rauch seiner selbst gedrehten Zigarette in den Abendhimmel blasen und charmant darum betteln, dass sie bitte nackt malen solle. Aber ihr Leben war dem Plan ihrer Eltern gefolgt. Und so stand sie stattdessen mit diesem aus der Zeit gefallenen Gentleman im strömenden Regen mitten im schottischen Nirgendwo.

Nachdem Neils Kopf wieder im Halsausschnitt seines Pullovers erschienen war, liefen sie weiter. Ihre Lage konnte noch einigermaßen prekär werden: Unter Umständen würde es die ganze Nacht durchregnen, und hier waren, in welche Richtung man auch blickte, nichts als Berge. Kaum Bäume, unter denen man Schutz suchen konnte, höchstens mal ein Farn oder Felsen, hinter dem sie dem Wind nicht ganz so stark ausgesetzt wären. Es war beinahe dunkel, und sie hatten nur einen nutzlosen Rucksack mit Malutensilien bei sich. Kühe auf der Weide drängten sich in solchen Nächten aneinander und wärmten sich gegenseitig, aber Neil und sie? Falls es so weit käme, wäre es vielleicht gar nicht so verkehrt, sollte er schwul sein.

Doch dann schälte sich wie ein Geisterschiff auf hoher See ein kleines Haus vor ihnen aus der Dunkelheit.

„Wow, siehst du das auch?“, stieß Hanna überrascht hervor.

Neil, der ein permanentes Zittern nicht unterdrücken konnte, seit er vorhin kurz seinen Pullover ausgezogen hatte, wäre vor Erleichterung am liebsten auf die Knie gefallen. „Vielleicht eine Wunschhütte, die sich nur den Wanderern mit dem reinen Herzen zeigt.“

„Du glaubst an Märchen?“

„Gerade schon. Warte hier, ich geh mal drum herum. Vielleicht ist auf der Rückseite irgendwo Licht.“

„Und ich gucke, ob ich eine Klingel finde.“ Hanna fuhr mit der Hand über das nasse, moosige Mauerwerk, bereit, sie sofort wegzuziehen, falls sie auf etwas Ekelhaftes stoßen sollte, eine Fledermaus oder einen regenweichen Kokon halb fertiger Krabbeltiere. „Jedenfalls ist die Wand aus Stein und nicht aus Pfefferkuchen. Also wohnt sehr wahrscheinlich auch keine Hexe hier, die uns in einen Käfig sperren will“, plauderte sie weiter gegen das mulmige Gefühl an, das sich nach der ersten Erleichterung einstellte.

Neil fand geschlossene Fensterläden und seltsamerweise auf der Rückseite ein Dixie-Klo.

„Neil? Falls jemand hier sein sollte – vielleicht fragst lieber du nach dem Telefon, ich meine, weil du ja auch Schotte bist …“, rief Hanna mit dünner Stimme. Aber es schien ohnehin weder eine Klingel noch eine Glocke oder einen Türklopfer zu geben.

„Klar, mach ich. Obwohl dein Englisch tadellos ist“, meinte Neil, als er wieder neben ihr auftauchte.

Hanna atmete auf, am liebsten hätte sie jetzt seine Hand genommen. „Ich war die letzten Jahre in Vancouver auf der Schule. Mein Vater ist Diplomat“, erklärte sie und klopfte zaghaft gegen die Tür.

Als sich nichts rührte, klopfte sie noch einmal lauter. „Und warum bist du in Callander?“

„Ach, wir mussten letztes Jahr umziehen, und da meinte mein Vater, das wäre ein guter Moment, um auf eine bessere Schule zu wechseln.“

Hanna konnte Neils Gesicht nicht sehen, aber ihr fiel auf, wie ausweichend er formulierte. Sie nahm sich vor, später nachzuhaken. Dann hämmerte sie ein weiteres Mal gegen die Tür.

„Scheiße!“, stieß sie hervor, als von drinnen immer noch kein Geräusch zu vernehmen war. „Und ich hatte schon gehofft, heute Nacht doch noch ins Bett zu kommen.“

„Darf ich mal?“, fragte Neil dicht neben ihr, griff nach der Türklinke und drückte sie herunter. Leise quietschend ging die Tür nach innen auf.

„Krass.“ Hanna hielt den Atem an und hielt sich direkt hinter Neils Schafspullover, als er hineinging. „Und wenn jetzt einer kommt …? Oder vielleicht ist ja doch jemand hier“, flüsterte sie.

„Hallo?“, sagte Neil laut in das Dunkel hinein und blieb stehen. „Jemand da?“

Sie warteten auf eine Reaktion, aber es kam keine. Es roch muffig, nach klammen, alten Stoffen, außerdem hing ein Hauch kalter Asche in der Luft.

„Es gibt in den Highlands Ehrenamtler, die sich um die Instandhaltung alter Hütten kümmern, damit Wanderer bei Regen irgendwo unterkommen. Vielleicht ist das hier –“ Krachend stieß er gegen einen Gegenstand.

Hanna schrak zusammen, aber als sie merkte, dass er nur gegen einen Stuhl gelaufen war, stellte sie ihren Rucksack ab. „Licht wäre gut.“

Zwanzig Minuten vergingen, bis sie in einer Schublade eine Taschenlampe fanden. Ihr Lichtkegel war schon schwach, als Hanna sie einschaltete, aber immerhin sahen sie jetzt, was sie vorher nur hatten ertasten können: Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum mit einem gemauerten Kamin, neben dem etwas Feuerholz lagerte. Es gab einen Holztisch mit vier Stühlen, und in einer Nische standen längs der Wände zwei mit dünnen Matratzen belegte Pritschen, außerdem ein modernes zusammengeklapptes Feldbett, dem jedoch die Auflage fehlte. An den kleinen Fenstern hingen fleckige, mit englischen Rosen bedruckte Vorhänge und überall in den Ecken Spinnweben.

Doch weil sich ein Rest Wärme der vergangenen Sommertage in dem Gemäuer gehalten hatte, der Regen nur an einer mit einem Eimer gesicherten Stelle hineintropfte, und Neil und Hanna sechzehn und siebzehn Jahre alt und nach fast drei Stunden im Regen ohnehin nicht anspruchsvoll waren, entlockten ihnen die weiteren Entdeckungen im zunehmend schwächeren Lichtkegel der Taschenlampe einen euphorischen Ausruf nach dem anderen.

„Haferkekse! Oh, seit 12/98 abgelaufen, aber egal …“

„Eine Tütensuppe!“

Und dann: drei Teelichter und eine Packung langer Streichhölzer ganz oben in einem der Hängeschränke über der winzigen Küchenzeile sowie eine gefüllte Petroleumlampe an einem Haken über der Tür.

Nachdem Neil die Lampe entzündet hatte, trug er sie zur Feuerstelle. „Mal sehen, wie der Kamin zieht“, meinte er, schichtete einige der Hölzer zu einer kleinen Pyramide auf, sah sich suchend um und wandte sich schließlich an Hanna. „Hast du noch Malkartons übrig?“

Sie legte ihren Rucksack auf den Tisch in der Mitte des Raums und öffnete ihn. Es war Wasser eingedrungen, aber die Papiere, darunter ihr multiperspektivisches Landschaftsbild, hatten nur an den Rändern etwas abbekommen. Vorsichtig nahm sie ihr Werk heraus und legte es zum Trocknen auf den Tisch, dann riss sie von einem der Ersatzkartons die feuchten Stellen ab und reichte den Rest Neil, der derweil aufgestanden war und ihr Bild betrachtete.

„Interessant“, sagte er. „Toll.“ Er fand eigentlich, dass Hannas zweite Perspektive, wie sie es genannt hatte, seltsam aussah. Aber was wusste er schon.

„Danke“, antwortete Hanna mit Stolz in der Stimme.

Irgendwie gefiel es ihm, dass sie nicht bescheiden abwiegelte, sondern offen zeigte, dass sie einiges von ihren Fertigkeiten hielt.

Er kniete sich wieder vor den Kamin und riss den Karton in Stücke, die er zusammenknüllte und unter das aufgeschichtete Holz schob. Dann hielt er eines der Streichhölzer an den Karton. Er fing Feuer, und bald griffen die Flammen auf die Scheite über.

Hanna hatte sich neben ihn gesetzt und sah zu. Eine Weile starrten sie beide in die Flammen und spürten die aufsteigende Wärme an ihren Gesichtern.

„Der Rauch zieht ab“, meinte Neil. „Bald haben wir es warm.“

Hanna nickte und wies auf die nassen Flecken unter ihnen auf dem Fußboden. „Wir sollten mal aus unseren Klamotten raus.“

Sie stand auf und öffnete den Schrank, in dem Decken aus Wolle oder Fleece und ein eingerollter Schlafsack lagen.

Neil sah ihr nach, der Haarpuschel an ihrem Hinterkopf hing jetzt platt herab.

Hanna strich in der Präsentationsgeste einer Verkaufschannel-Moderatorin über die Faltkanten der Decken und verkündete: „Voilà, unsere neuen Mehrzweck-Bademäntel!“ Dann nahm sie die oberste und hängte sie mithilfe dreier Wäscheklammern an die quer durch den Raum gespannte Leine. Vermutlich waren sie wirklich nicht die ersten nass geregneten Wanderer, die hier unterkamen. „Bitte nicht durch die Mottenlöcher spannen“, wies sie Neil an.

„Ich kann auch rausgehen.“ Er machte Anstalten aufzustehen.

„Bist du verrückt?“

Neil antwortete nicht und ließ sich auf den kalten Steinboden zurücksinken. Sein Fuß begann rhythmisch auf die Fliesen zu tippen. Er hörte hinter der Decke das Platschen nasser Kleidungsstücke, die auf den Boden fielen, und betrachtete seine Hände, die ihm groß und fremd vorkamen. Als er einmal seinen Blick hob, sah er unterhalb der Decke Hannas Füße und ihre erstaunlich muskulösen Waden.

„Warte, ich hänge noch eben meine nassen Sachen auf, und dann kannst du.“

„Lady Campbell“, sagte er spontan, als sie wieder zum Vorschein kam, eine Decke wie ein Saunatuch unterhalb der Achseln festgesteckt.

„Was?“

„Äh … ich meinte nur, dass du jetzt in den Tartan des Campbell-Clans gekleidet bist.“

Hanna sah an sich hinab. „Tartans sind diese Schottenkaros, oder?“ Sie hielt ihr provisorisches Kleid aus Fleece oben an der Einsteckstelle fest und befestigte mit der anderen Hand etwas umständlich ihre nassen Klamotten an der Leine. Die Unterwäsche legte sie auf einen der Stühle und schob ihn beiseite.

Neil rieb über einen unsichtbaren Fleck auf seiner Jeans und flüchtete sich in sein Geschichtswissen. „Genau, Königin Victoria hat ihn im 19. Jahrhundert im ganzen Königreich bekannt gemacht. Es gibt sogar ein Wort dafür: die Tartanisierung. Schloss Balmoral, der schottische Sommersitz der Queen, ist noch aus der Zeit komplett mit Karos ausgekleidet. Inzwischen gibt es allerdings, wie wir hier sehen, sogar Tartandecken aus billigem Fleece in Ein-Euro-Shops.“

„Beleidige mein Kleid nicht.“ Hanna tat empört und warf ihm die zweite Fleecedecke aus dem Schrank zu. Dann verschwand sie wieder hinter ihrem Raumteiler.

Nachdem er sich so schnell ausgezogen hatte, wie die am Körper klebenden Klamotten es erlaubten, probierte er zunächst, die Decke ebenso wie Hanna unter den Achseln festzustecken. Als er an sich herabsah, kam er sich allerdings so blöd und weibisch vor, dass er beschloss, sie sich lieber um die Hüften zu binden und das Risiko einzugehen, dass er wieder den Highlander spielte, ohne die Figur dafür zu haben. „Ich kümmere mich dann mal um unser Betthupferl“, sagte er, warf mit steifen Bewegungen Jeans, T-Shirt und Pullover über die Wäscheleine und vermied es, Hanna dabei anzusehen. Dann ging er zur Küchenzeile hinüber, dankbar, dass sie die Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, einen Witz über Schottenröcke und die Frage nach dem Darunter zu machen.

In den Schränken entdeckte er noch einen Vorrat an schwarzem Beuteltee, Zucker und neben der Scheuermilch im Unterschrank eine halb volle Flasche Whiskey. Todesmutig nippte er daran – es war wirklich Whiskey. Er füllte einen Kessel mit Wasser, den man in einer entsprechenden Vorrichtung über das Feuer hängen konnte.

Hanna hatte sich auf einem der Betten ausgestreckt und beobachtete ihn. Sie fand, dass er eigentlich ganz niedlich aussah, wie er so in seinem Schottendress vor sich hin arbeitete. Er war sehr dünn und seine Haut schneeweiß, aber sein Rücken hatte eine schöne Form. Wie er wohl auf die Frage reagieren würde, ob er ihr für einen Akt Modell stünde? Sie lachte in sich hinein.

Laut sagte sie nach einer Weile: „Bestimmt haben sie schon unsere Eltern benachrichtigt, und die machen sich Sorgen.“

„Mein Vater nicht. Der wird nur in den Hörer brummeln, dass sie mir Hausarrest geben sollen, sobald ich wieder auftauche.“

„Meine Mutter nutzt wahrscheinlich die Gelegenheit, meinem Vater die Hölle heiß zu machen, und verlangt von ihm, dass er kraft seines Amtes als deutscher Konsul die Polizei unter Druck setzt, sofort eine Hundertschaft loszuschicken. Plus Hubschrauber.“

„Das wird peinlich, wenn die hier ankommen“, erwiderte Neil trocken.

„Es wird auch nicht klappen. Mein Vater hat so einen starken deutschen Akzent, dass man ihn kaum versteht. Und im Internat? Meinst du, da kriegen wir Ärger?“

„Keine Ahnung. Was hätten wir anderes tun sollen? Allerdings …“

„Was?“

Er zögerte. „Die Regeln bezüglich Jungs und Mädchen sind in Callander ziemlich streng …“ Hätte er bloß nichts gesagt, das hörte sich ja an, als würde er denken … Es war so, dass die Hausordnung sexuelle Kontakte unter Schülerinnen und Schülern verbot und Zuwiderhandlungen zum Ausschluss von der Schule führten.

„Stimmt. Hab ich ja erst kürzlich unterschrieben. Und mich sehr gewundert. Warum ist das eigentlich so? Ob sie glauben, dass uns das zu sehr vom Lernen ablenken würde?“

Neil kontrollierte das Wasser im Kessel. »Vielleicht auch das. Aber hauptsächlich geht es wohl um die mög­lichen Folgen.«

„Du meinst: Babys?“

„Ich meinte den Einbruch der Nintendo-Aktie.“

Sie musste kurz überlegen, bis sie begriff, dann lachte sie.

„Okay, ich meinte Babys“, gab er zu und blies ein paarmal ins Feuer.

„Das leuchtet ein. Aber wir machen ja nix.“

Neil spürte einen kleinen Stich. Natürlich hatte er nicht wirklich daran geglaubt, aber als eine vage körperliche Eingebung war ihm die Idee durchaus gekommen. Allerdings beliefen sich seine Erfahrungen auf dem Gebiet auf eine Knutscherei am Rande der Highland Games vor zwei Jahren, die überfallsartig hinter dem Festzelt von Mhairi McArran aus der Parallelklasse inszeniert worden war. Er hatte wenig mehr dazu beigetragen, als sich nicht zu wehren.

Als das Wasser heiß war, verteilte er es auf vier Tassen, je zwei für die Suppe und den Tee mit Whiskey. Dann riss er die Packung mit den Haferkeksen auf und legte jedem ein paar auf einen Teller.

Hanna erhob sich von ihrer Pritsche, stellte eins der Teelichter auf den Tisch, zündete es an und schob sich und Neil je einen Stuhl für die Füße zurecht. „Eigentlich ist es richtig heimelig jetzt.“

Die trockene Hitze aus dem Kamin erfüllte inzwischen den ganzen Raum. Der Whiskey wärmte von innen und verstärkte vielleicht noch dieses Glücksgefühl, das auf eine missliche Lage folgt, der man entkommen konnte.

Hätte man Hanna vor fünf Stunden gesagt, dass sie heute Nacht mit einem der Stufennerds in eine billige Fleecedecke eingerollt in einer muffigen Hütte festsitzen und auf einem abgelaufenen Haferkeks herumkauen würde, wäre sie entsetzt gewesen. Jetzt würde sie fast sagen, dass der Tag nicht besser hätte laufen können. Es hatte gutgetan, mal aus Callander rauszukommen, und ein Abenteuer wie dieses konnte sie auch als Künstlerin weiterbringen. Morgen, wenn sie zurück waren, wollte sie sich an einem Bild von der Hütte im Nebel versuchen. Verschiedene Grautöne, und das Haus sollte sich dem Betrachter erst auf den zweiten Blick erschließen. So wie Neil, dachte sie, der echt ganz witzig war. Auch wenn er sie immer so musterte, nachdem er etwas gesagt hatte, mit seinen dichtbewimperten schmalen blauen Augen, die sie ein wenig an die eines Welpen erinnerten. Als wollte er entschlüsseln, wie seine Worte bei ihr ankamen.

„Vielleicht bekommen wir nachträglich noch eine Lungenentzündung und müssen dann zwei Wochen lang auf der Krankenstation bei Mr Drummonds Frau Hühnerbrühe trinken. Sie braut sie selbst aus Knochen“, meinte er jetzt.

„Super, ich bin Vegetarierin.“

„Keine Extrawürste.“ Den Mr Drummond gab er mit seinem schottischen Slang sehr überzeugend. Und dann sah er sie wieder so an, auf seine eigentümliche Art, der Rücken kantig und gerade, der Kopf etwas schief gelegt, der Blick prüfend und ein bisschen unsicher. Vielleicht war er doch nicht schwul, sondern sogar ein bisschen aufgeregt wegen ihr. Sie mochte den Gedanken.


23:30 Uhr

Jeder eine aufgetrennte Plastiktüte über dem Kopf hatten sie nacheinander das Dixie-Klo aufgesucht, das hier so absolut unwahrscheinlich in der Landschaft stand. Zurück in der Hütte hatten sie die Decken unter sich aufgeteilt, wobei Neil darauf bestand, dass Hanna eine mehr und den Schlafsack bekam.

„Du bist ja ein richtiger Gentleman“, sagte Hanna, während sie ihr Bett richtete.

„Sind andere nicht so?“, sagte Neil, halb fragend, halb als Feststellung.

„Jerry hätte wahrscheinlich johlend versucht, das Dixie umzukippen, und während ich noch über und über mit Gülle bedeckt versuche, mich daraus zu befreien, hätte er mir alle Decken geklaut.“

Neil grinste. Sie mochte recht haben. Jerry war ein großmäuliger Amerikaner mit einem geschmacklosen Humor auf anderer Leute Kosten, das wusste er aus eigener Erfahrung.

Er stieg unter seine Decken, und kurz darauf steckte auch Hanna in ihrem Schlafsack. „Im Liegen merke ich erst so richtig die Erschöpfung“, meinte sie und pulte sich einen Rest Haferkeks aus dem Zahn.

„Nur der Regen hält durch …“ Immer noch trommelte es auf das Dach, von dem man von unten die Schindeln sehen konnte.

„Total gemütlich. Auch wenn diese Decken etwas muffig sind.“

„Du musst dich ja öfter an neue Betten gewöhnen, wenn dein Vater im diplomatischen Dienst ist?“ Neil war nicht müde. Im Gegenteil, gewissermaßen fühlte er sich gerade, als sei er aus einem langen Dämmerschlaf geweckt worden.

Hanna drehte sich auf die Seite zu ihm hin. An seinem Umriss erkannte sie, dass er auf dem Rücken lag und an die Decke sah. „Ja, alle drei Jahre, wenn er eine neue Position in einer anderen Botschaft annimmt. Vor Vancouver waren wir aber in Berlin, wo ich auch geboren bin.“

„Und jetzt, wolltest du nach Schottland?“

„Ehrlich gesagt nicht. Ich hätte lieber in Berlin Abi gemacht. Ich hätte an meine alte Schule zurückkehren können und so …“ Vielleicht hätten sie und Sean dann auch eine echte Chance gehabt.

„Tut mir leid. Ich hoffe, du lebst dich gut in Callander ein.“ Er wandte den Kopf jetzt halb in ihre Richtung.

„Geht schon, ich hab ja Übung.“

Eine Zeit lang war Stille. „Erzähl mal“, meinte er dann.

„Wie meinst du das?“

„Wie macht man das, immer wieder neu in einer Schule anzufangen?“

Sie dachte nach. „Erst mal viel beobachten, glaube ich. Sich ein Bild von den Leuten machen. Das ist wie bei einem großen Puzzle mit vielen Teilen. Man fängt irgendwo an, es zusammenzusetzen, manchmal an mehreren Stellen gleichzeitig. Dann fügt man immer mehr Teile hinzu und tauscht welche aus, die man zuerst falsch eingesetzt hat. Dich zum Beispiel hab ich zuerst für einen komischen Kauz gehalten.“

„Und jetzt?“ Er hielt den Atem an.

„Für einen komischen Kauz mit Vorzügen“, antwortete sie, und er konnte hören, dass sie grinste. Sie hatte manchmal etwas Selbstgefälliges, aber seltsamerweise fand er das anziehend.

„Ein paar Leute lernt man automatisch kennen, die Zimmergenossin und so“, erklärte Hanna. „Meine ist Bonnie, kennst du sie?“

„Vom Sehen.“

„Sie ist sehr lieb zu mir, und sie frisiert gern. Auch meine Zöpfe heute sind von ihr.“

Womit das geklärt war.

„Die halten immer noch, erstaunlich.“ Hanna betastete das Flechtwerk auf ihrem Kopf. „Ja, und wenn mir noch andere Leute auffallen, die ich näher kennenlernen möchte, dann muss ich mich um sie bemühen. Das ist natürlich nicht so leicht und klappt auch nicht immer.“

Neil überlegte, ob sie damit Jungs oder Mädchen meinte.

„Ich versuche zum Beispiel, mich in der Mensa neben meine Auserwählte zu setzen und gut rüberzukommen. Gut zuzuhören und beim nächsten Mal nachzufragen und so.“

Es ging also um Mädchen.

„Außerdem überlege ich, welche meiner Klamotten ihr gefallen könnten, und ziehe die an. Aber eher so normale Sachen.“

„Hast du auch unnormale Sachen?“ Er wollte gern noch weiter so fragen, nicht nur, um mehr über sie zu erfahren, sondern auch, weil sie ihre Antworten richtig gern zu geben schien.

„Hm … also, zum Beispiel mit meinem selbst gehäkelten Minikleid würde ich noch etwas warten.“

„Du kannst häkeln?“

„Ja, sogar in Regenbogenfarben.“ Sie kicherte.

Er drehte sich jetzt ganz in ihre Richtung auf die Seite.

„Und wenn ich dann mit einer angebändelt hab, mit dieser eventuellen neuen Freundin, meine ich, dann läuft das unter Frauen so: Man plaudert ein bisschen aus dem Nähkästchen, macht ein Geständnis, zeigt sich schwach.“

„So eine Art Unterwerfungsgeste, wie unter Hunden?“

Sie dachte nach. „Ja, genau. Exakt.“

„Und was gestehst du da?“

„Also meiner Nachbarin eben im Bus hab ich zum Beispiel erzählt, wie mir meine Tampons aus der Tasche gefallen sind, als ich für den Bibliotheksmann mein Anmeldeformular hervorkramen wollte. Aber wenn du wissen willst, wie das bei euch Jungs läuft … Wahrscheinlich ist das nicht dasselbe. Ich glaub nicht, dass du bei Jerry mit einem intimen Geständnis punkten könntest.“

„Da müsste ich dann wohl hoffen, dass ihm meine Klamotten gefallen“, sagte Neil trocken.

„Dein Strickpullover? Unwahrscheinlich“, rutschte es Hanna heraus.

„Den ich heute anhabe? Den hab ich von meinem Cousin geerbt.“

„Aha.“

„Ist ein netter Typ.“

„Ganz bestimmt.“

„Er wurde regelmäßig nachgefettet.“

„Der Cousin?“

„Haha. Der Pullover.“

„Wow, na dann. Wusste gar nicht, dass das geht.“

„Klar, mit Wollfett. Damit er seine wasserabweisenden Eigenschaften behält. Also, der Pullover ist nicht verhandelbar.“


0:39 Uhr

„Unser Haus musste dem Tagebau weichen, in Ayrshire“, erklärte Neil auf Hannas Frage hin, die sie schon die ganze Zeit hatte stellen wollen. Es hatte bestimmt fünfzehn Sekunden gedauert, bis seine Antwort kam, und sie klang wie ausgespuckt. Danach drehte Neil sich in einer ruckhaften Bewegung wieder auf den Rücken.

„Oh.“ Ayrshire sagte Hanna nichts. Sie hatte aber mal einen Fernsehbericht über ein Dorf in Deutschland gesehen, dessen Bewohner einem Braunkohletagebau Platz machen mussten. Bei manchen der dort gezeigten Häuser hatte sie mit jugendlicher Arroganz gedacht: Na ja, ein neuer Versuch kann doch nicht schaden. Was sich ihr allerdings eingeprägt hatte, war der Abriss der Kirche. Dieses Bild, wie ein Bagger eines der bunten Intarsienfenster aus der Wand herausbiss, das splitternde Glas. Über viele Jahrzehnte hinweg waren dort die Neugeborenen getauft, als junge Leute verheiratet und als alte betrauert worden, und dann machte so ein schnöder Bulldozer dem ein Ende, damit irgendwelche Konzerne Geld verdienten.

„Und wo seid ihr dann hingezogen?“, fragte sie vorsichtig.

„Mein Vater in eine Pension, mein Bruder und ich ins Internat.“

„Und wo wohnt ihr jetzt – also ich meine: richtig?“

„Nirgendwo, mein Vater ist immer noch in der Pension.“

„Was?“

Hanna hörte einen tiefen Atemzug aus dem gegenüberliegenden Bett. „Er sucht immer noch nach einem passenden Haus. Er hat vorher jahrelang prozessiert, es fällt ihm schwer, sich mit der Situation abzufinden.“

Hanna wusste nichts zu sagen, das Thema war ihr mehrere Nummern zu groß, vor allem, weil sie den Abgrund spürte, der hinter Neils dürren Worten lag. „Und deine Mutter?“, fragte sie schließlich.

„Die ist gestorben, als ich drei war, Autounfall.“

Hanna schluckte. Während sie noch um Worte rang, erklärte Neil schnell: „Das ist wirklich lange her, und meine Tante ist bei uns eingezogen und hat uns bemuttert. Weder ich noch mein Bruder haben überhaupt eine Erinnerung an unsere Mutter, und unsere Tante ist echt okay.“ Offenbar wollte er jeden Ansatz von Mitleid abwehren.

Hanna atmete aus. „Keine Erinnerung?“, fiepste sie, eher ein Echo als eine Frage. Es war ihr jetzt ziemlich unangenehm, dass sie vorhin über ihren eigenen Aufenthalt in Callander gejammert hatte.

Neil dachte nach. Hanna hatte ihm vorhin auch so gewissenhaft und ausführlich geantwortet. „Ich habe zwar ein paar Erinnerungen, aber zu denen gibt es Fotos. Deswegen glaube ich eigentlich nicht, dass es echte Erinnerungen sind. Ich kenne einfach die Fotos sehr gut. Zum Beispiel, wie ich als knapp Dreijähriger an ihrer Hand in der Kirche stehe, während mein Bruder getauft wird und fürchterlich schreit.“

„Vielleicht sind es schon echte Erinnerungen, nur dass du sie im Unterschied zu anderen nicht vergessen hast, weil es eben die Fotos dazu gibt.“

„Hm“, sagte Neil. „Das könnte sein. Wäre schön, wenn es so wäre.“ Er machte eine Pause. „Eine Erinnerung gibt es auf jeden Fall, von der ich glaube, dass sie ist, weil es dazu kein Foto gibt. Ich liege abends im Bett, unter meinen Füßen habe ich ein warmes Kirschkernkissen, und von unten höre ich die Schritte meiner Mutter und spüre, dass alles richtig und an seinem Platz ist.“ Wiederum hielt er inne. „Wahrscheinlich habe ich das behalten, weil es kurz darauf nicht mehr so war.“ Aus dem Nachbarbett kam ein unterdrücktes Schniefen, und sein Herz zog sich zusammen, aber nicht aus Schmerz.

Hanna selbst hatte ihre Mutter oft genug zum Teufel gewünscht. Aber bis vor ein paar Jahren, als sie länger aufzubleiben begann als ihre Eltern, hatte sie ihr abends beim Gutenachtsagen immer noch die Decke an den Seiten und unter den Füßen festgesteckt. „Dein Bruder ist also jünger?“ Ihre Stimme klang immer noch dünn.

„Zwei Jahre. Er ist auch in Callander. Wirst ihn noch kennenlernen.“


1:42 Uhr

Irgendwie waren sie bei der schottischen Geschichte gelandet, Neils Steckenpferd. Auf seine Frage hin, ob er das wirklich so detailliert erklären sollte, hatte Hanna Ja gesagt, wenn auch hauptsächlich deswegen, weil sie ihm gern zuhörte, wie er in seinem warmen schottischen Dialekt mit den weichen, lang gezogenen Vokalen und dem gerollten R referierte. „… Ich meine jetzt nicht den Jakobitenaufstand von 1715, sondern den von 1745, als …“, drang es wohlig an ihr Ohr. Sie begann in den Schlaf hinüberzudriften, nur ihre kalten Füße hielten sie zurück. Sie blinzelte noch einmal träge. Neils Lippen und seine Augen setzten sich im letzten Feuerschein als dunkle Flecke von seinem Gesicht ab. Kurz streifte sie der Gedanke, ob sie hinüber zu ihm unter seine Decke kriechen konnte. Aber das war nur einer dieser Impulse aus dem Unterbewussten. Vielleicht eine Nachwirkung des Whiskeys und des außergewöhnlichen Tages. Womöglich würde es falsch ankommen und wäre auch nicht fair gegenüber dem schönen Sean. Ihr Status war ja nicht ganz klar.

»Das Haus Hannover auf dem Thron wollte im ­18. Jahrhundert die schottische Kultur komplett ausrotten. Sie haben den Kilt verboten und auch alle traditionellen Lieder und Tänze«, erzählte Neil.

„Nicht meine Schuld“, murmelte Hanna, die Augen wieder geschlossen. „Ich war noch nie in Hannover.“

Und dann schlief sie ein.

Neil lauschte ihrem leisen, regelmäßigen Schnaufen, und eine Vorstellung von einer noch fernen gemeinsamen Zukunft überkam ihn, auf die er sich in diesem Moment fast feierlich vornahm hinzuarbeiten (obwohl er realistisch genug war, sich auf Rückschläge einzustellen).


6:50 Uhr

Jemand hämmerte gegen die Tür.

Valerie Bendorf

Über Valerie Bendorf

Biografie

Valerie Bendorf ist im Ruhrgebiet geboren und im Rheinland aufgewachsen. In Bonn und im schottischen St. Andrews hat sie Germanistik und BWL studiert, anschließend als Sachbuchlektorin und Social-Media-Managerin in Berlin, München und Duisburg gearbeitet. Mit ihrer Familie lebt sie inzwischen in...

INTERVIEW mit Valerie Bendorf

In Ihrem Roman „Die Tage mit dir“ spielen zwei Koffer eine wichtige Rolle. Was hat es damit auf sich? 

Die Koffer sind eine Art Lebensversicherung für Hanna und Neil, die Protagonistin und den Protagonisten. Sie tauschen sie aus, als sie nach dem Internat auseinandergehen, in eine unbekannte, unsichere Zukunft. So hat jeder einen Koffer mit ein paar wichtigen Sachen beim anderen.

Hätten Sie das nicht auch gern, eine Art Notfallkoffer für einen Neuanfang, falls im Leben mal alles schieflaufen sollte, und dann noch bei einem anziehenden Mann in einem wunderschönen Urlaubsland? 

Mit Hanna und Neil haben Sie zwei berührende Figuren geschaffen, die in einer jahrzehntelangen Freundschaft verbunden sind. Stellen Sie uns die beiden vor? 

Hanna stammt aus Berlin und ist, als sie und Neil sich zu Schulzeiten in einem Internat in den Highlands kennenlernen, selbstbewusst und unkompliziert und allgemein beliebt, aber auch ein bisschen entwurzelt. Ihre große Leidenschaft ist die Malerei. Neil ist Schotte, interessiert sich für schottische Politik und gilt als klug, aber uncool und nerdig. So gesehen ist ihre Freundschaft ziemlich unwahrscheinlich und entsteht auch nur, weil sie unfreiwillig eine Nacht miteinander verbringen müssen und da entdecken, dass sie sich gegenseitig doch ziemlich witzig und gut finden.

Aber das Buch erzählt auch von den folgenden zwei Jahrzehnten, davon, wie das Leben sie verändert. Man kennt das von Klassentreffen, manche Leute sorgen für Überraschungen.  

Würden Sie sagen, dass sich auch Eigenschaften von Ihnen in den Charakteren widerspiegeln? 

Nur im Detail, ich mag wie Hanna keine Deckenbeleuchtung und esse wie Neil gerne Chips der Sorte „Salt’n’Vinegar“ zum Beispiel. Und wie die beiden sich in den kritischen oder dramatischen Situationen fühlen, denen ich sie aussetze, das hab ich vielleicht auch schon mal so ähnlich gefühlt, auch wenn mein Leben ganz anders verlaufen ist als ihres.  

Sie haben während Ihres Studiums einige Zeit im schottischen St Andrews gelebt, später in Berlin. Nun spielt auch Ihr Roman „Die Tage mit Dir“ teils in Berlin, teils aber auch in den schottischen Highlands und in Edinburgh. Was macht diese Regionen zu passenden Schauplätzen für Ihren Roman?  

Sie stehen sozusagen für die unterschiedlichen Charaktere von Hanna und Neil. Hanna, ein bisschen hipsterig, obwohl man das damals noch nicht so nannte, ist viel im Berliner Nachtleben unterwegs, Neil engagiert sich in der schottischen Politik und ist mit der Landschaft verwurzelt. Der eigentliche Grund, aus dem große Teile des Buchs in Schottland spielen ist aber der, dass ich gern eine Recherchereise nach Schottland machen wollte :D

Das hab ich dann auch gemacht und fast alle Schauplätze besucht.  

Was hat Sie zu Ihrem Roman inspiriert? 

Ich wollte gern zwei Figuren über eine längere Frist, über ihre prägenden Erwachsenenjahre hinweg begleiten und erkunden, wie sie sich verändern – aufgrund ihrer eigenen Entscheidungen und dem, wie das Schicksal ihnen mitspielt. Und dann finde ich, dass die Bindungen zu Menschen, die man in der Jugend kannte, immer was ganz Besonderes sind. Die haben oft so eine besondere Selbstverständlichkeit, vielleicht weil man etwas teilt, das einen grundlegend geformt hat.

Manchmal kann das natürlich auch hinderlich sein, weil man sich in ihrer Gegenwart immer wieder so fühlt wie früher. Aber wenn es gut ist, dann hat es etwas besonders Geborgenes. 

Was wollen Sie den Leser:innen auf den Weg mitgeben? 

Es ist nicht aller Tage Abend, und das Leben ist eine Sinuskurve. Es kann sich fast jederzeit von Grund auf wandeln, und auch Menschen verändern sich – inklusive einem selbst.  

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