

Die gefährlichen Zauber des Salon Nocturne (Magie und Macarons 2) Die gefährlichen Zauber des Salon Nocturne (Magie und Macarons 2) - eBook-Ausgabe
Roman
— Urban Fantasy in Paris um ein magisches CaféDie gefährlichen Zauber des Salon Nocturne (Magie und Macarons 2) — Inhalt
Kann sie ihr Zuhause retten – und ihre Liebe? Romantische Urban Fantasy in Paris für Fans von Liza Grimm
„Über all dem stand eine Frage, die Jackie überallhin folgte, die sie in der Nacht wachhielt und am Tag ablenkte. Hatte sie all die Jahre falschgelegen? Konnte eine magische Bindung gebrochen werden?“
Die junge Jackie ist nach wie vor durch einen Zauber an den Salon Nocturne, ihr kleines magisches Café in Paris, gebunden. Bei ihren Nachforschungen stoßen sie und ihre Freunde auf ein seltsames Amulett, das den Bindungszauber brechen könnte. Doch in welchem Zusammenhang steht es mit der radikalen Gruppe Magiebegabter, die nicht nur für den Salon zur Bedrohung wird? Jackies „Es-ist-kompliziert“-Freund Gabriel könnte die Antwort kennen, aber er scheint plötzlich jede Erinnerung an sie verloren zu haben. Die Erklärung dafür liegt in Jackies Vergangenheit – kann sie ihrem Freund helfen und das Rätsel lösen, bevor es zu spät ist?
Leseprobe zu „Die gefährlichen Zauber des Salon Nocturne (Magie und Macarons 2)“
Kapitel 1
Ein eigenartiges Gefühl begleitete Gabriel den Weg zum felsigen Strand hinunter. Steine knirschten unter seinen Stiefeln und der Wind verfing sich in seinem Mantel. Wie lange war er nicht hier gewesen? Die Küste von Petit-Caux hatte sich kaum verändert, dennoch kam ihm der Ort vertraut und gleichzeitig fremd vor. Was waren schon dreizehn Jahre im Leben der Alabasterfelsen, in deren Schatten Gabriel aufgewachsen war? Nein, wenn sich etwas verändert hatte, dann er selbst.
Fünfzehn Jahre war er alt gewesen, als er zum letzten Mal hier war. Als er [...]
Kapitel 1
Ein eigenartiges Gefühl begleitete Gabriel den Weg zum felsigen Strand hinunter. Steine knirschten unter seinen Stiefeln und der Wind verfing sich in seinem Mantel. Wie lange war er nicht hier gewesen? Die Küste von Petit-Caux hatte sich kaum verändert, dennoch kam ihm der Ort vertraut und gleichzeitig fremd vor. Was waren schon dreizehn Jahre im Leben der Alabasterfelsen, in deren Schatten Gabriel aufgewachsen war? Nein, wenn sich etwas verändert hatte, dann er selbst.
Fünfzehn Jahre war er alt gewesen, als er zum letzten Mal hier war. Als er sich still vom Ort seiner Kindheit verabschiedet hatte, um danach nie zurückzublicken. Warum eigentlich? Warum war er nie zurückgekehrt, hatte nie zuvor dieses Bedürfnis verspürt, das nun an ihm zerrte? Der Abschied von damals kam ihm so verschwommen vor. In Dunst gehüllt wie der Horizont an diesem Abend. Er erinnerte sich, dass sein Vater die Anstellung als Koch in der Pension Beaumont verloren hatte, doch alles, was ihn mit diesem Ort, mit Jackie verband, war im Nebel in seinem Kopf verschwunden.
Gabriel trat näher an das Wasser heran, die Flut würde bald kommen. Ein orange-roter Streifen zog sich am Horizont entlang, wo die Sonne zwischen Wolken und Meer unterging. Gabriel atmete die salzige Luft ein, schloss die Augen. Zeige mir, was ich vergessen habe, flüsterte er in Gedanken zum Meer, doch nichts regte sich.
Die Ereignisse der letzten Wochen hatten ihn bis hierher begleitet, die Bilder klar in seinem Kopf. Jackie, an die er so lange nicht gedacht hatte und die schlagartig wieder in seinem Leben auftauchte. Ein Bindungsritual, das sie an ihr Café fesselte und das jemand in Paris für seine Zwecke missbrauchte. Er erinnerte sich an die kühle Dunkelheit der Katakomben, als Antoine ein Messer gegen Gabriels Haut presste, und an die Präsenz von Jackies Wesen in sich selbst, als sie von ihm Besitz ergriff. An diese hereinbrechende Flut einer anderen Person. Eine Leere war zurückgeblieben, als hätte Jackie in ihm einen neuen Raum geschaffen, der nun verlassen stand. Er erinnerte sich an diesen einen verzweifelten Moment, in dem er sie beinahe verloren hatte, und an das Gefühl ihrer weichen Lippen unter seinen eigenen.
Heute Morgen hatte er sie noch gesehen, war im Salon Nocturne gewesen. Obwohl er nach Petit-Caux gereist war, hatte sich nichts an seinem Versprechen geändert, in Paris bleiben zu wollen. Er wollte wissen, was sie zusammen sein könnten.
Und doch hielten ihn letzte unbeantwortete Fragen davon ab, sich ihr ganz zu öffnen. Warum und vor allem wer hatte eine magische Blockade in seinem Kopf geschaffen und die letzten Tage in Petit-Caux sowie Jackie dahinter verborgen? Gabriel brauchte diese Antworten – wie konnte er mit Jackie zusammen sein, wenn er nicht vollständig war?
Das war es, was ihn hierher zurückgeführt hatte. Vielleicht gab es hier etwas, das ihm half, durch die Blockade zu dringen. Was auch immer er vergessen hatte, musste mit diesem Ort zusammenhängen.
Gabriel blickte auf das Meer hinaus, während die Sonne langsam verschwand und die Welt ins Zwielicht tauchte. Die Alabasterfelsen ragten hell in die Dämmerung. Beinahe meinte er, die Meeresluft trage eine Spur seiner verlorenen Erinnerungen mit sich. Wenn er es nur schaffen würde, die schemenhaften Bilder festzuhalten, bevor sie entflohen …
Wie jedes Mal, wenn er sich zu erinnern versuchte, setzten mit einem Stechen die Kopfschmerzen ein.
Gabriel hob die Hände und massierte seine Schläfen. Was hatte er sich davon versprochen, herzukommen? Dass seine Erinnerungen blitzartig wieder da waren, als hätte er sie damals am Strand liegen lassen? Er wusste genug über Magie, um sich nicht solche Hoffnungen zu machen. Oft genug hatte er bei seiner Tätigkeit für die Agence den Auftrag gegeben, die Erinnerungen einer nichtmagischen Person zu blockieren.
Mit einem Seufzen wandte Gabriel den Blick vom Meer ab, gerade rechtzeitig, um eine dunkel gekleidete Person vom Pfad aus den Strand betreten zu sehen. Es wäre nichts Ungewöhnliches gewesen, ein abendlicher Spaziergänger vielleicht, hätte die Gestalt nicht jäh angehalten und geradewegs in seine Richtung geschaut. Niemand kannte ihn hier, nicht mehr. Zwar hatten Jackies Eltern vor ein paar Jahren die Pension Beaumont zurückgekauft und lebten oben im Ort, Gabriel bezweifelte jedoch, dass sie ihn nach dreizehn Jahren wiedererkennen würden. Nein, dies war jemand, der Gabriel beobachtete, ihm vielleicht gefolgt war. Der dafür sorgte, dass sich seine Muskeln anspannten, er in einen Modus höchster Aufmerksamkeit wechselte.
Er war darauf trainiert worden, potenzielle Gefahren zu erkennen. Zu unterscheiden, ob jemand ihn nach dem Weg fragen wollte oder womöglich eine dunklere Absicht hatte. Die Schritte der verhüllten Gestalt waren selbstsicher, zielstrebig. Gabriel rührte sich nicht. Der lange schwarze Mantel der unbekannten Person wehte im Wind, als sie näherkam. Wenige Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen. Die Kapuze hing ihr so tief ins Gesicht, dass nur die Konturen eines scharfkantigen Kinns darunter hervorschauten. Die Gestalt hob eine Hand. Der Ring an ihrem Finger blitzte auf und jagte ein Kribbeln über Gabriels Unterarme:
Magie.
Er hatte nichts, um sich zu verteidigen. War ohne magieabwehrende Talismane, ohne Waffen hierhergereist. Ein dummer Fehler. Aber er hatte sein Training. Vielleicht konnte er die Person zu Boden werfen, ehe sie ihre Magie gegen ihn richtete. Er verlagerte das Gewicht auf seinen rechten Fuß. Die Gestalt vor ihm hob die andere Hand und schob ihre Kapuze zurück. Gabriel erstarrte. Die Anspannung wandelte sich in Verwirrung. Und die war einen Augenblick so stark, dass er zu spät bemerkte, wie die Hand mit dem magischen Ring nach vorn schnellte. Wie aus einem blassen Leuchten ein gleißendes Licht wurde, das die Dämmerung zerschnitt und seine gesamten Sinne erfüllte. Drei Herzschläge lang, bevor die Welt in Dunkelheit fiel.
Kapitel 2
Drei Wochen später.
Regen trommelte unaufhörlich gegen das kleine Küchenfenster. Draußen war es so dunkel, wie es in einer eng besiedelten Großstadt wie Paris sein konnte. Straßenlaternen und die eingeschalteten Lichter in den Fenstern der Nachbarschaft, die Scheinwerfer von Autos, Mofas und Fahrrädern taten ihr Übriges, damit hier nie vollkommene Finsternis herrschte. Jackie erinnerte sich kaum an das letzte Mal, dass sie einen Sternenhimmel gesehen hatte, umgeben von undurchdringlicher Schwärze. Und Stille.
Insbesondere Letzteres sehnte sie sich gerade herbei. Es war nicht so, dass sie in ihrem Zuhause keine Momente der Stille finden konnte. Wenn sie am Abend das Café abgeschlossen hatte, bereitete sie sich oben in der Wohnung einen Tee zu, schloss die Vorhänge und setzte sich mit ihrem Rezeptbuch an den Küchentisch, um an ihren neuesten magisch-konditorischen Kreationen zu arbeiten. Nur sie allein beim schwachen Schein der Deckenlampe, während der Dampf über der Teetasse aufstieg und ihr Bleistift auf den Seiten des Notizbuches kratzte. Der Regen hätte ihre Schreibarbeit an diesem Abend zwar übertönt, aber gegen das aktuelle Stimmengewirr in der Küche kam er nicht an.
„Was schreibe ich, wenn ich keine Ahnung habe, was mein Vater ist?“, fragte Fatou gerade und hielt ein Formular hoch. Ihre zahlreichen silbernen Armreifen hoben sich klimpernd vor ihrer dunkelbraunen Haut ab.
Der Küchentisch war für drei, vielleicht vier Personen gemacht, wenn sie eng aneinanderrückten. Auf der einen Hälfte hatte Fatou die Seiten ihres Formulars ausgebreitet. Die andere Hälfte belagerte ein Karton voller Briefe, Postkarten und kleiner Päckchen; daneben Jackies Tante Florence, die den Inhalt mit makellos manikürten Fingern durchwühlte.
„Du meinst, welcher Art von magischer Abstammung er ist?“, meinte Roland. Jackies Cousin saß neben seiner Mutter und kommentierte jedes Teil ihres Posteingangs, während er mit den Fingern einen ungeduldigen Rhythmus auf die Tischplatte trommelte, der Jackie allmählich auf die Nerven ging.
„Vater. Name. Geburtsdatum. Geburtsort. Klassifikation“, las Fatou vor. „Magisches Erbe kurz beschreiben. Zutreffend ankreuzen.“
Sie tippte mit dem Stift auf das Registrierungsformular, das ihr ASRAM ungefragt zugeschickt hatte. Direkt in den Salon und persönlich an Fatou adressiert, was Jackie aus gleich mehreren Gründen nicht passte. Zum einen hieß es, dass irgendwer bei der Agentur zur Überwachung der Magie ein aufmerksames Auge auf den Salon hatte. Zum anderen lenkte dieser Haufen lächerlicher Bürokratie sie von ihren eigenen Projekten ab.
„Einfach leer lassen“, erwiderte Roland mit einem Schulterzucken. „Wen kennst du denn bitte in Lissabon, Maman?“ Er entriss seiner Mutter eine Postkarte, welche diese sich sogleich zurückholte.
„Nur ein alter Bekannter“, informierte Florence. „Keinesfalls leer lassen, Liebes, sie schicken es dir als unvollständig zurück.“
„Wie schafft man es, so viel Post zu bekommen?“, meinte Roland und nahm seinen Trommelrhythmus wieder auf.
„Das meiste sind Dankschreiben meiner zahllosen Liebhaber“, verkündete Florence und lächelte ihren Sohn an. „Möchtest du sie lesen?“
„Maman. Ernsthaft.“
Jackie rollte mit den Augen und schlug das Rezeptbuch auf ihrem Schoß mit einem vernehmbaren Knall zu. Sie hatte schon den Küchentisch verloren und war auf einen Stuhl beim Fenster ausgewichen, weil Tante Florence sich drei Tage nach ihrer Rückkehr aus Südamerika der Post zuwenden wollte. Von Liebhabern stammten die Briefe nicht – nicht alle, jedenfalls. Florence unterhielt vielmehr ein umfassendes Netzwerk magisch begabter Informanten.
Jackie schob das Rezeptbuch beiseite und rückte mit ihrem Stuhl zu Fatou. Die Studentin spielte nervös mit einem ihrer fein geflochtenen Zöpfe.
„Was, wenn ich seinen Namen kenne?“, fragte sie.
Verwundert hob Jackie die Augenbrauen. Als Fatou vor ein paar Monaten zum ersten Mal im Salon aufgetaucht war, weil plötzlich eine ihr bis dahin unbekannte Magie mit ihr durchging, hatte sie eisern daran festgehalten, nichts über ihren Erzeuger zu wissen.
„Das wäre hilfreich gewesen, als wir versucht haben, die Natur deiner Magie zu bestimmen“, entgegnete Jackie und entriss Fatou den Stift, um ihn in Rolands Richtung zu schleudern. „Kannst du bitte mit dem Getrommel aufhören?!“
„Es ist nur eine Vermutung … ich dachte bloß, wenn er bei ASRAM registriert ist … Vielleicht kann ich ihn dadurch finden?“
„Erneut. Wäre gut gewesen, das früher zu wissen.“ Vertraute Fatou ihr denn nicht? Immerhin hatte sie ihr nicht nur bei den ersten Schritten in die magische Gesellschaft geholfen, sondern bot ihr seit zwei Wochen ein Dach über dem Kopf – nachdem das Studierendenwohnheim aufgrund ihrer wiederkehrenden Magieausbrüche keine Option mehr darstellte.
Fatou senkte den Kopf und blickte auf ihre Hände.
„Ich habe das Foto erst vor einem Monat von Maman bekommen, als ich sie in Marseille besucht habe“, erklärte sie.
„Was für ein Bild?“ Roland warf den Stift zurück auf Jackie, die ihn mit einer flinken Handbewegung auffing.
Fatou seufzte und griff nach der hellgelben Handtasche unter ihrem Stuhl, um daraus ihre Geldbörse zu entnehmen. Hinter ihrer Métro-Jahreskarte steckte ein mehrfach zusammengefaltetes Foto, das sie nun aufklappte und auf der Tischplatte glatt strich. In leicht verblassten Farben zeigte es einen attraktiven jungen Mann, seine Haut eine Schattierung dunkler als Fatous. Ein Strohhut verdeckte seine Ohren und warf einen Schatten auf seine Stirn. Er stand auf vertrocknetem Gras vor einem hohen Engelstrompeten-Strauch, von dem zahllose cremefarbene Blütenkelche herabhingen.
Wortlos drehte Fatou das Foto herum. Exébias, Ihosy, August 1996, stand dort in geschwungenen Bleistiftlinien geschrieben.
„Dein Vater heißt Exébias Ihosy und du bist sicher, dass eine schnelle Suchmaschinen-Anfrage keine Resultate bringt?“, meinte Roland, während er sich über das Foto beugte.
„Ihosy ist eine Stadt“, korrigierte Fatou. „Genau genommen bin ich dort geboren. In Madagaskar“, ergänzte sie auf Rolands ratloses Gesicht hin. „Ein Jahr nachdem das Foto gemacht wurde.“
Sie seufzte und faltete es sorgfältig wieder zusammen, ehe sie es zurück in ihre Geldbörse schob.
„Ich schreibe ›Exébias‹“, entschied sie und griff nach dem Stift, den Jackie ihr hinhielt, um das entsprechende Feld im Formular auszufüllen. Hinter dem Feld für den Nachnamen ergänzte sie ein Fragezeichen. „Was meinen die mit ›Klassifikation‹?“
„Eine bürokratische Art zu fragen, wie viel Magie und wie viel Mensch in dir steckt“, erklärte Roland. „Und sagtest du nicht bereits, dass du keine Ahnung hast, was dieser Exébias ist?“
„Kreuz bei ›Mensch mit Magie‹“, erwiderte Jackie genervt, ohne einen Blick auf das Formular werfen zu müssen. ASRAMs Schubladen für magisch Begabte kannte sie auswendig.
„Hast du nicht gesagt, mein Vater könnte Fae sein?“, fragte Fatou.
„Könnte“, wiederholte Jackie – es war das, worauf sie am ehesten wetten würde, basierend auf dem, was sie von Fatous Magie kannte. Was nicht viel war. Wenn ihr mysteriöser Vater sich vor 21 Jahren gegen den Strohhut entschieden hätte, wüsste sie vielleicht mehr.
„Mensch mit Magie bringt die wenigsten Fragen mit sich“, erläuterte Jackie, denn auch wenn sie den genauen Ursprung von Fatous Magie nicht kannte, in einem war sie sich ziemlich sicher: Sie war nicht menschlich. Aber ein Kreuz an dieser Stelle im Formular garantierte eine persönliche Einladung von ASRAM. Nein, wenn Fatou schon zur Registrierung gezwungen war, dann würde ihr Formular so viele Notlügen wie möglich enthalten, um sie aus dem Visier der Agence zu holen.
„Wir lassen den Namen des Vaters besser weg“, sagte sie daher. Ein Fragezeichen war vollkommen ausreichend. Sie legte ihre Fingerspitzen auf die entsprechende Spalte im Formular und ließ ihre Magie in das Papier fließen, mit der klaren Intention, die von Fatou geschriebenen Buchstaben zu löschen.
Fatou presste die Lippen aufeinander. Sie sagte nichts, doch ihre Haltung versteifte sich, während sie die nunmehr leere Zeile auf dem Formular anstarrte und dann die Arme um die Körpermitte schlang, als versuche sie mit aller Macht, etwas in ihrem Innern zurückzuhalten. Dann vibrierte plötzlich die Luft mit magischer Energie. Der Kugelschreiber schoss über den Tisch und verfehlte Roland um Haaresbreite. Die Kiste mit Florence’ Korrespondenz spuckte sämtliche Briefe aus, die sich im Raum verteilten.
„Ich …“ Fatou betrachtete das Chaos, das ihr magischer Ausbruch verursacht hatte. „Das war keine Absicht, tut mir leid.“
„Schon gut“ Jackie seufzte. Bis Fatou ihre Magie im Griff hatte, sollten sie besser auf allzu viel Aufregung verzichten. „Vielleicht lassen wir das mit dem Formular für heute bleiben und schauen es uns morgen noch mal gemeinsam an?“
„Ich könnte stattdessen einen der Briefe von Mamas Liebhabern vorlesen“, schlug Roland vor, woraufhin Florence den Deckel des Kartons zuklappte.
„Postgeheimnis, Liebling.“
„Du hast Geheimnisse vor deinem einzigen Kind? Ich bin schockiert!“ Gespielt theatralisch drückte Roland die Hand gegen die Brust. „Schockiert, sage ich dir!“
Das brachte Fatou zumindest zum Kichern und Roland zwinkerte ihr über den Tisch hinweg zu. Jackie seufzte, las das Rezeptbuch auf und schob es an seinen Platz im Regal zurück. Sie fegte ein paar Briefumschläge zur Seite, die auf dem Herd gelandet waren, und verabschiedete sich für den Abend von der Versammlung in ihrer Küche. Rolands Lachen begleitete sie in den Korridor.
Jackie machte einen kurzen Umweg über den Salle de Séjour, ihr Wohnzimmer, wo jemand unnötigerweise die Stehlampe angelassen hatte. Roland vermutlich, der seit Ankunft seiner Mutter auf dem Sofa schlief. Florence und Fatou belegten die zwei Gästezimmer des Salon Nocturne. Ein zerknülltes Kopfkissen lag an einem Ende des Sofas und eine weiße Bettdecke, bedruckt mit hellblauen Blüten, hing halb über der Sofalehne. Auf dem Boden stand ein leeres Weinglas. Jackie stellte es auf den Beistelltisch und löschte das Licht der Stehlampe.
In ihrem eigenen Schlafzimmer fiel ihr Blick zuerst auf den Stapel Papier auf ihrem schmalen Eichenholz-Sekretär. Sie schloss die Tür hinter sich. Die Papiere lagen seit drei Wochen dort und trotzdem hatte sie das Gefühl, stets aufs Neue darum herumzuschleichen.
Sie zog die Vorhänge zu und schaltete die Leselampe auf ihrem Sekretär ein. Dann nahm sie Platz, zog den Papierstapel zu sich heran und fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Das Papier wirbelte etwas in ihr auf. Jackie hatte die Seiten mehrfach gelesen, sie studiert, und doch verfolgten sie sie weiter. Es half nicht sonderlich, dass sie in Antoines Handschrift verfasst waren.
Ihr Ex hatte wahrscheinlich keine losen Blätter beschriftet, sondern alles in einem Buch niedergeschrieben. Doch das hier waren nicht die Originale. Es handelte sich um Kopien, die Gabriel ihr gebracht hatte, einen Tag vor seiner Abreise.
Diese Seiten durchzublättern, rief die Ereignisse in Jackie wach, die sich einen Monat zuvor abgespielt hatten. Begonnen hatte alles mit dem Grund, warum sie sich an diesem Abend in ihr Zimmer zurückzog, anstatt auszugehen und dem Trubel in ihrer Küche auf diese Weise zu entkommen. Weil sie seit über zehn Jahren durch Bindungsmagie an dieses Haus gefesselt war. Die gleiche Bindungsmagie, zu der ihr Ex, Antoine, Nachforschungen angestellt, Experimente durchgeführt hatte. Und zwar die Art von Experimenten, die in Leichen endete.
Gemeinsam mit Gabriel hatte sie Antoine stoppen können. Sie wusste nicht, wo sie jetzt waren, weder Antoine noch Gabriel. Die Agence hatte Antoine verhaftet, er musste in einer ihrer geheimen Verwahranstalten sein. Nicht dass sie das Bedürfnis verspürt hätte, Antoine wiederzusehen. Und Gabriel … er hatte an einem Abend mit einem Stapel Kopien vor ihr gestanden und verkündet, in Paris zu bleiben – nur um sich am nächsten Tag doch zu verabschieden. Er müsse etwas erledigen, hatte er gesagt und war seitdem nicht wieder aufgetaucht. Wahrscheinlich hatte die Agence ihn für einen Auftrag fortgeschickt und er war zu dem Schluss gekommen, dass Jackie doch nicht in sein Leben passte. Es sollte ihr recht sein, immerhin machte es die Dinge weniger kompliziert. Sollte er doch wieder in sein altes Leben als loyaler ASRAM-Agent zurückkehren und im Namen der Agence gegen Regelmissachter wie Jackie vorgehen.
Mit Mühe lenkte sie ihre Gedanken zurück zu den Schriftstücken vor ihr. Es waren alle Erkenntnisse, die Antoine im Rahmen seiner Experimente mit Bindungsmagie gesammelt hatte. Jackie wurde schlecht, wenn sie darüber nachdachte, wie er dieses Wissen zusammengestellt hatte. Wie viele Opfer es gefordert hatte. Fast wäre es ihr lieber gewesen, wenn seine Versuche ins Nichts geführt hätten, aber dem war nicht so. Denn Antoine hatte etwas gefunden; Eigenheiten der Bindungsmagie aufgedeckt, von denen Jackie bislang nichts gewusst hatte. Über all dem stand eine Frage, die Jackie überallhin folgte, die sie in der Nacht wachhielt und am Tag ablenkte: Konnte eine magische Bindung gebrochen werden?
Jackie seufzte. Zu hoffen war gefährlich. Es gab einen Grund, warum sie sich das seit Jahren nicht erlaubte. Das Ganze führte zu nichts. Selbst wenn es einen Weg gäbe, würde er ihr tatsächlich offenstehen? Aus Reflex zerknüllte sie einen der Papierbögen, als sie die Hand zur Faust ballte. Rasch glättete sie das Papier und schob es beiseite. Darunter wurde eine Zeichnung sichtbar, die Jackie in den vergangenen Tagen öfter angestarrt hatte als alles andere.
Antoine hatte das Amulett nicht selbst gezeichnet, wahrscheinlich hielt Jackie die Kopie einer Kopie in den Händen. Zum einen war Antoine nie ein begabter Zeichner gewesen und das dargestellte Amulett zu detailliert, zu fein herausgearbeitet. Zum anderen konnte die handschriftliche Erläuterung der Zeichnung keinesfalls von ihm sein – nicht nur, weil sie Antoines Handschrift kannte, sondern auch, weil ihr Ex kein Gälisch sprach. Auch Jackie hatte die Zeilen erst übersetzen müssen.
In ihrer eigenen Schrift stand nun neben der Zeichnung: Dies ist Ainslies Geschmeide, das im Herzen das Blut der Sterne trägt.
Besagtes Geschmeide hatte die Form eines Amuletts, in dessen Mitte ein großer runder Stein eingelassen war. Um welche Farbe des Juwels es sich handelte, war unmöglich zu sagen, denn die Zeichnung war nicht koloriert. Um das Juwel herum zog sich ein Ring aus ineinander verflochtenen Linien. Ein zweiter Ring bildete den Rand des Schmuckstücks, wobei hier weitere, kleinere Steine eingelassen waren, acht an der Zahl.
Wann immer Jackie die Zeichnung betrachtete, überkam sie ein unerklärliches Déjà-vu-Gefühl.
Sie fuhr mit den Fingern die Konturen entlang. Hatte sie das Schmuckstück einmal in einem Buch gesehen? Davon geträumt? Sie wusste es nicht. Antoine hatte nur wenige Notizen daneben geschrieben, die Jackie dennoch erschaudern ließen. Magie entziehen, stand dort und: keine Magie = keine Bindung.
„Hast du wirklich etwas gefunden?“, fragte Jackie leise.
Die Seiten gaben ihr keine Antwort.
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