

Die Blumeninsel im Bodensee Die Blumeninsel im Bodensee - eBook-Ausgabe
Lennart Bernadotte verzichtete auf den Thron, um aus der Insel Mainau ein Paradies zu machen
— Historischer Roman nach einer wahren GeschichteDie Blumeninsel im Bodensee — Inhalt
„Die Blumeninsel im Bodensee“ | Schwelgerischer historischer Roman über die Geschichte der bezaubernden Insel Mainau
„Die Blumeninsel Mainau ist für mich seit vielen Jahren ein bisschen zur zweiten Heimat geworden, deshalb freue ich mich über den Roman von Eva-Maria Bast. Alle Bodensee-Liebhaber wird er mitreißen und an einen der schönsten Plätze der Welt entführen.“ GABY HAUPTMANN
Dieser Ort hat einen ganz besonderen Zauber! Das spürt der kleine schwedische Prinz Lennart Bernadotte gleich bei seinem ersten Besuch auf der familieneigenen Insel Mainau. Als er später der hinreißenden Karin Nissvandt begegnet und sich unsterblich in sie verliebt, ist für ihn klar: Die Mainau soll ihre Heimat werden. Allen Widerständen der Königsfamilie zum Trotz heiratet Lennart seine Karin, und gemeinsam macht sich das junge Paar daran, der Insel, die in den 1930er-Jahren ein wahrer Dschungel ist, zu ihrer alten Pracht zu verhelfen. Und mehr noch: Die Mainau soll eine Blumeninsel werden!
Die perfekte Lektüre für alle Gartenfreunde und Pflanzenliebhaberinnen
Die malerische Blumeninsel Mainau: Graf Bernadottes Lebenswerk ist ein einzigartiges Paradies, ein unwiderstehlicher Publikumsmagnet – und ein besonderer Ort für Eva-Maria Bast:
„Die Mainau ist für mich ein magischer und verwunschener Ort, vor allem außerhalb der Saison, wenn die Insel nicht von Touristen überflutet wird. Oft steige ich in meinem Wohnort Überlingen ins Boot, fahre hinüber und tanke auf. Bestaune die uralten Bäume, bewundere die Kraft der Natur. Und jedes Mal schweifen meine Gedanken in die Vergangenheit. Zu Lennart Bernadotte und seiner großen Liebe …“
Leseprobe zu „Die Blumeninsel im Bodensee“
Prolog
Sommer 1913
Mor! Bitte, Mor! Bitte geh nicht!«
Der Schrei des kleinen, vierjährigen Prinzen Lennart Bernadotte gellte durch den Stockholmer Palast. Gerade war seine Mutter, Maria Pawlowna, bei ihm im Kinderzimmer gewesen und hatte ihm erklärt, dass sie ihn und den Vater verlassen und in ihre russische Heimat zurückkehren würde.
Lennart hatte sie angestarrt. In seinem kleinen Kopf war ein einziges Durcheinander gewesen. Die Mor wollte fortgehen. Hatte sie ihn denn nicht mehr lieb?
„Lennart?“, hatte Maria Pawlowna gefragt und ihn dabei ganz komisch [...]
Prolog
Sommer 1913
Mor! Bitte, Mor! Bitte geh nicht!«
Der Schrei des kleinen, vierjährigen Prinzen Lennart Bernadotte gellte durch den Stockholmer Palast. Gerade war seine Mutter, Maria Pawlowna, bei ihm im Kinderzimmer gewesen und hatte ihm erklärt, dass sie ihn und den Vater verlassen und in ihre russische Heimat zurückkehren würde.
Lennart hatte sie angestarrt. In seinem kleinen Kopf war ein einziges Durcheinander gewesen. Die Mor wollte fortgehen. Hatte sie ihn denn nicht mehr lieb?
„Lennart?“, hatte Maria Pawlowna gefragt und ihn dabei ganz komisch angesehen. „Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich werde fortgehen. Wir werden uns vielleicht nie mehr wiedersehen.“
Ihr Blick war Lennart unheimlich. Der Blick und die Worte gaben ihm das Gefühl, das er oft abends beim Einschlafen hatte, wenn er sich vor dem endlosen dunklen Raum fürchtete, voller Angst den Geräuschen der Nacht lauschte und sich nach jemandem sehnte, der ihn in die Arme nahm und ihn hielt. Aber da war niemand. Er war ganz allein. Oder nicht? Plötzlich fühlte er Arme um sich, ein Schluchzen an seinem Ohr. Fiel es der Mor doch schwer, sich von ihm zu verabschieden? Ohne es zu bemerken, hatte er die Augen geschlossen, und als er sie nun öffnete, stellte er fest, dass seine Mor noch immer einige Meter von ihm entfernt an der Tür stand, schon im Gehen begriffen. Wer ihn da so im Arm hielt, war Asa, seine Kinderfrau. Und sie war es auch, die weinte.
„Reißen Sie sich zusammen“, fuhr seine Mutter Asa an. Dann nickte sie Lennart noch einmal zu. „Mach es gut, mein Junge.“
Damit war sie zur Tür hinaus. Und die weinende Kinderfrau hielt ihn noch immer umklammert. „Es ist eine Schande!“, murmelte sie. „Eine furchtbare Schande. Wie kann sie ihren kleinen Jungen allein lassen!“
Lennart starrte sie an. Asa hatte gesagt, was er dachte – das war erleichternd, und zugleich tat es weh. Furchtbar weh. Lennart liebte seine Mor, tagtäglich hatte er um ihre Liebe gebettelt, und wenn er mal ein kleines Stück Zuneigung bekam, dann zehrte er lange, sehr lange, davon. Die Kinderfrau durfte nicht so von ihr reden. „Meine Mor ist lieb!“, rief er trotzig, stampfte mit dem Fuß auf und jagte zur Tür, den Gang hinunter. An der Treppe holte er sie ein.
„Mor! Liebe Mor, bitte geh nicht. Lass mich nicht allein.“
Maria Pawlowna hielt für einen Augenblick inne. Wandte sich zu ihm um. Und dann geschah etwas, das Lennart fast den Atem raubte. Seine Mutter ging vor ihm auf die Knie und schloss ihn in die Arme. Wie gut sich das anfühlte, wie wundervoll! Jetzt war er zu Hause! Er sog ihren Duft tief in sich ein, schlang seine Ärmchen fest, ganz fest um ihren Hals und ließ sich in die mütterliche Geborgenheit fallen. Die Mor hatte ihn doch lieb. Und sie würde bei ihm bleiben. Seine Fingerchen strichen über ihr samtiges, weiches Haar. Wie wundervoll es sich anfühlte. Er hatte es erst einmal gewagt, das Haar seiner Mutter zu berühren, und sie hatte ihn auch sogleich gerügt mit Worten, die sie nun wiederholte. „Du zerstörst meine Frisur, Lennart.“ Sie löste sich aus der Umarmung ihres kleinen Jungen, und als der sie nicht freigeben wollte, zog sie seine Händchen von ihrem Hals.
Ihre Stimme wurde nun kälter und härter. „Lennart. Ich muss jetzt gehen.“
Ihre Worte erzeugten einen derartigen Schmerz in Lennart, dass er, wie von einem giftigen Pfeil getroffen, zurückwich und in sich zusammenfiel. Und während seine Mutter, ohne noch einmal zurückzublicken, die Treppen hinuntereilte, saß der kleine Prinz da und sah ihr nach. Seine Ärmchen hatte er nun um seinen eigenen Körper geschlungen, als wolle er sich selbst umarmen, sich schützen vor der mütterlichen Kälte und vor der Einsamkeit.
Er würde die Mor niemals wiedersehen. Er war jetzt ganz allein.
Ein Jahr später
Sommer 1914
Auf Schloss Stenhammar war Lennart glücklich. Hier, in diesem kleinen, schmucken Schlösschen, fühlte er sich, anders als im stets etwas kalten schwedischen Königshaus, geliebt und geborgen. Das hier war sein Reich, das er sich mit dem Vater teilte, wenn dieser einmal zu Hause war. Dann las Prinz Wilhelm von Schweden ihm Geschichten vor, die er selbst geschrieben hatte, sie spielten Verstecken und verbrachten viel Zeit miteinander. Oft streifte Lennart auch allein durch den weitläufigen Park, in dem im Sommer die herrlichsten Blumen blühten. Manchmal pflückte er eine, um dann aufgeregt damit nach Hause zu laufen und mit seinem Vater über ihre wunderbare Farb- und Formschönheit zu sprechen. Gemeinsam hatten sie auch eine kleine Blumenpresse gebastelt, in der sie die Fundstücke pressten. Anschließend klebten sie sie in ein kleines Buch, und Wilhelm von Schweden schrieb den Namen der jeweiligen Blume in seiner schwungvollen Handschrift darunter. Lennart liebte diese innigen Stunden, in denen sie auch manchmal über seine Mutter sprachen. Lennart konnte gar nicht oft genug hören, was der Vater ihm dann sagte: dass Maria nicht wegen Lennart, sondern wegen ihm, Wilhelm, und wegen der kalten Atmosphäre am schwedischen Hof fortgegangen sei. Und dass es ihr schier das Herz gebrochen habe, Lennart zu verlassen, und dass sie oft, so oft, nach ihm frage. Anfangs war Lennart wütend gewesen. Sein Vater und der Hof waren also schuld, dass die Mutter gegangen war. Sie hatten die Mor verjagt! Lennart hatte ganz genau wissen wollen, was der Vater denn getan hätte, und der hatte erklärt, seine Verpflichtungen als Offizier der Marine hätten ihn oft zur Abwesenheit gezwungen, wodurch Maria Pawlowna sich einsam gefühlt habe. Und das hatte Lennart nicht verstanden. Die Mutter hatte doch ihn gehabt! Wie konnte sie da einsam sein?
Nach und nach war es dem Vater aber gelungen, ihm zumindest ein kleines bisschen Trost zu spenden. Drei Monate, nachdem die Mor fortgegangen war, hatte er das erste Mal wieder gelacht. Der kleine Junge lebte für die Tage und Wochen, die er mit seinem Vater verbringen durfte. Am liebsten natürlich in Stenhammar.
Tief in seine Gedanken versunken, wäre Lennart beinah auf eine wunderschöne, aber unscheinbare blaue Blume getreten. „Du bist auch ganz klein und wirst oft übersehen, nicht?“, flüsterte er, während er vorsichtig den Stängel brach. „Aber keine Sorge: Ich übersehe dich nicht. Ich nehme dich jetzt mit nach Hause. Und dann presse ich dich und klebe dich in mein Buch. Dann sind wir für immer beisammen.“
Wie die Blume wohl hieß?
Mit einem Mal konnte er es gar nicht mehr erwarten, zum Schloss zurückzukommen, um seinem Vater seine Kostbarkeit zu zeigen. Er rannte über die Wiese, auf das Schloss zu, die Treppen hoch – und hielt abrupt inne. Auf der Terrasse stand sein Vater und wirbelte ein kleines Mädchen herum. Neben ihm stand eine Frau und sah ihnen glücklich lachend zu. Auch sie hatte ein Kind im Arm, zwei weitere Kinder spielten mit seinem, Lennarts, Ball. Lennart war wie erstarrt. Wieder stieg dieses Gefühl in ihm empor, das er auch schon beim Weggang seiner Mutter gehabt hatte. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit. Ein Gefühl, ausgeschlossen zu sein.
Er ballte die Hände zu Fäusten, weil er nicht wusste, wohin mit seiner Traurigkeit und seiner Wut. Da fiel ihm die Blume ein, und entsetzt öffnete er die rechte Hand, in der er sie gehalten hatte. Die kleine, blaue Blüte war vollkommen zerdrückt, die zarten Blätter zerquetscht.
Tränen quollen ihm aus den Augen, als er erst auf die Blüte und dann auf das Familienglück dort auf der Terrasse starrte.
Inzwischen hatte sein Vater seinen Sohn bemerkt. Er setzte das Mädchen ab, griff nach der Hand der Frau und kam mit ihr die Treppe hinunter. Lennart starrte sie an, während die drei Kinder auf der Terrasse inzwischen Position bezogen hatten und ihrerseits ihn anstarrten. Das vierte befand sich immer noch auf dem Arm seiner Mutter, die nun auf ihn zusteuerte. Hastig wischte er sich die Tränen weg. Sein Vater und die Frau waren bei ihm angekommen.
„Lennart“, sagte er. „Das ist Jeanne. Jeanne Leocadie de Tramcourt. Wir werden künftig zusammen hier auf dem Schloss leben. Du musst wissen, dass es einen Krieg gibt zwischen Deutschland und Frankreich. Und Jeanne ist Französin. Daher will sie lieber hier leben.“
Lächelnd sah er seinen Sohn an. „Und wie du siehst, hat sie vier Kinder. Du hast also jede Menge Spielkameraden, wenn du uns besuchen kommst.“
Wie schon beim Weggang seiner Mutter spürte Lennart auch jetzt wieder einen furchtbaren Stich in der Magengegend. „Wenn ich euch besuchen komme?“, fragte er entsetzt. „Aber … darf ich denn nicht bei dir wohnen?“
„Lennart.“ Sein Vater ging vor ihm in die Hocke. „Du musst das verstehen. Jeanne und ich brauchen einen Lebensmittelpunkt, aber du musst am schwedischen Königshof sein. Dort wirst du ab dem kommenden Jahr gemeinsam mit deinen Cousins und Cousinen unterrichtet werden. Dein Lehrer heißt Ivar Åkerfeldt. Du magst doch Edmund, Bertil, Sigvard und Ingrid, nicht wahr?“
Der Vater hatte recht: Er mochte seine Cousins und seine Cousine, aber auf Schloss Fyrkanten fühlte er sich nicht wohl. Zumal er stets ein wenig Angst vor Onkel Gusty, dem Kronprinzen und Thronfolger, hatte.
„Aber ich kann doch auch hier unterrichtet werden“, flüsterte Lennart. „Darf ich denn nicht bei dir bleiben?“
„Das hier ist nach wie vor dein Zuhause, und du wirst oft hier sein“, sagte sein Vater ausweichend. „In den Ferien, an den Wochenenden. Dann kannst du mit Jeannes Kindern spielen.“
Aber nie mehr mit dir allein, dachte Lennart traurig. Sein Vater, der doch so wenig Zeit hatte, würde seine Tage nun mit anderen Kindern verbringen. Wieder einmal war er nicht erwünscht.
Zaghaft flog sein Blick zu der Frau, die immer noch neben seinem Vater stand und bisher kein Wort gesagt hatte. Sie lächelte, aber auf Lennart wirkte das Lächeln wie eine Fratze. Ihre Hand krallte sich besitzergreifend in die Prinz Wilhelms.
Mit einem Aufschluchzen wandte sich Lennart ab und rannte davon.
Zwei Jahre später
Mainau, Sommer 1916
So stelle ich mir einen Urwald vor«, rief Lennart begeistert, als er mit seiner Großmutter Viktoria über eine schmale Brücke auf die Insel Mainau fuhr. Die Fahrt von Schweden durch das kriegsgebeutelte Deutschland war lang, anstrengend und nicht allzu erbaulich gewesen, doch sie hatte sich gelohnt. Lennart hatte das Gefühl, im Paradies angekommen zu sein. Zufrieden lächelte er in sich hinein. Wie sehr hatten ihn seine Cousins und Cousinen, mit denen er unter der Obhut Königin Viktorias auf Schloss Fyrkanten aufwuchs, um die Reise mit der geliebten „Amama“ beneidet. Lennart wusste, dass er der Liebling seiner als streng geltenden Großmutter war. Dabei war die Amama gar nicht so streng! Natürlich achtete sie darauf, dass den schwedischen Prinzen und Prinzessinnen eine gute Bildung zuteilwurde, dass sie sich benahmen und auf das Hofprotokoll achteten. Aber die Amama hatte auch immer Zeit für ein liebes Wort oder eine liebevolle Geste. Lennart, der kleine verlorene schwedische Prinz, dachte manchmal, dass seine Amama der erste Mensch war, der ihn wirklich und von Herzen liebte.
Jetzt lachte Königin Viktoria an seiner Seite, während die Kutsche auf das Schloss, das auf einer kleinen Anhöhe gelegen war, zusteuerte. „Das habe ich mir gedacht, dass es dir hier gefällt“, sagte sie.
„In der Tat“, erwiderte Lennart. „Jetzt verstehe ich auch, warum Urgroßvater diese Insel so geliebt hat.“
„Oh“, machte Viktoria, „da muss ich dich leider enttäuschen. Dein Urgroßvater liebte nicht den Dschungel. Anders gesagt: Zu Zeiten deines Urgroßvaters war die Mainau gar kein Dschungel. Es war alles sehr gepflegt. Aber als er dann vor neun Jahren starb, gab es niemanden mehr, der sich so recht darum kümmerte. Und die Natur eroberte sich das alles zurück. Hier, auf der Insel, bieten sowohl der Boden als auch das Klima ganz hervorragende Bedingungen für Pflanzen. Du wirst hier viel entdecken können, wo du Pflanzen doch so liebst. Ich hoffe, du hast dein Büchlein eingepackt?“
Lennart nickte. „Ja“, sagte er knapp. War sein Pflanzenbuch einst sein Ein und Alles gewesen, wurde er nun stets von merkwürdigen Gefühlen ergriffen, wenn er es aufschlug. Seit dem Moment, in dem sein Vater ihn verlassen hatte – denn so empfand Lennart es nach wie vor –, hatte er keine Blume mehr gepresst und eingeklebt. Es wäre zu schmerzhaft, dies ohne den Vater zu tun. Aber die kleine, blaue Blume, die er am Tag, an dem er Jeanne kennengelernt hatte, gepflückt und dann versehentlich zerdrückt hatte, die hatte er zumindest noch mit hineingelegt.
„Wenn du möchtest, können wir dein Pflanzenbuch gemeinsam weitermachen“, sagte seine Großmutter da leise an seiner Seite, während sie ihre Hand in die seine schob und sie sanft drückte. „Ich habe zwar keine ganz so schöne Handschrift wie dein Vater, aber sie kann sich durchaus sehen lassen.“
„Ja“, flüsterte Lennart, dankbar, sie zu haben, „ja, das wäre schön.“
„Allerdings“, sagte Viktoria, „wachsen hier eher Pflanzen als Blumen. Aber diese Pflanzen sind wirklich außergewöhnlich.“
Lennart nickte. Das wusste er. „Bananen, Palmen, Ginkgo …“
„Und Kornblumen wirst du hier auf jeden Fall finden. Die liebt deine Urgroßmutter doch so sehr. Man sagt, dass ihr Vater, der deutsche Kaiser Wilhelm I., Kornblumen auch deshalb so mochte, weil seine Tochter sie ständig pflückte und das Berliner Schloss damit schmückte.“
„Aber wenn Urgroßmutter Blumen doch so sehr liebt, warum kümmert sie sich denn dann nicht um Urgroßvaters Insel?“, fragte Lennart etwas ratlos.
„Sie wollte das nicht. Und du weißt, wie willensstark sie ist.“
„O ja“, bestätigte Lennart. In der Tat pflegte Großherzogin Luise, Tochter Kaiser Wilhelms I., ihren Willen durchzusetzen. In der Regel wurde alles so gemacht, wie sie es wollte. Zwar hatte Lennart seinen Urgroßvater nie kennengelernt – der Großherzog war zwei Jahre vor Prinz Lennarts Geburt gestorben –, aber man erzählte sich oft, dass die Urgroßmutter auch in ihrer Ehe Regie geführt hatte. Seine Großmutter hatte ihm einmal verraten, dass man den Großherzog, der die Mainau stets als „Mein Paradies“ bezeichnete, innerhalb der Familie auch „Wie-du-willst-Luise“ genannt hatte, weil er alles tat, was seine Frau von ihm forderte, und sie ihren Willen stets durchzusetzen pflegte. Und so hatte die lebenslustige Luise aus der abgeschiedenen Mainau einen Ort der Begegnung gemacht und jede Menge Menschen – Künstler, Literaten und andere Schöngeister – auf die Insel eingeladen, woraufhin der Großherzog stets seufzte „Jetzt hat das Hotel wieder geöffnet“, um sich sodann in sein Schicksal zu fügen.
„Geht es wieder mal darum, dass sie ihren Willen durchsetzen wollte?“, fragte Lennart nun neugierig. „Haben ihr die gepflegten Parkanlagen nicht gefallen?“
Doch Viktoria schüttelte den Kopf. „Nein, Lennart, so ist es nicht. Es ist eher die große Liebe zu meinem Vater, die in meiner Mutter den Entschluss hervorgerufen hat, die Anweisung zu erteilen, alles so zu lassen, wie es bei seinem Tod war.“
„Aber den Park weiter zu pflegen, wäre doch sicherlich in Urgroßvaters Sinne gewesen.“
„Und genau das glaubte sie eben nicht“, erwiderte die schwedische Königin. „Sie wollte ihn unverändert lassen – sozusagen als Denkmal für deinen Großvater. Er sei perfekt und dürfe nicht verändert werden. Herr Nohl ist darüber ganz unglücklich, weil sie ihm nicht mal gestattet, den Efeu von den Bäumen zu entfernen. Es nimmt den Bäumen das Licht.“
„Wer ist denn Herr Nohl?“, wollte Lennart wissen.
„Der Hofgärtner“, erwiderte Viktoria. „Dein Urgroßvater kennt ihn noch aus seiner Kindheit. Er ist der Nachfolger unseres lieben verstorbenen Herrn Eberling, der hier zweiundvierzig Jahre lang waltete. Aber Herr Nohl ist ein guter Mann, und er kann dir alle Fragen zu Pflanzen beantworten.“
Inzwischen war der Wagen auf dem Schlosshof, der an drei Seiten von dem erhabenen Gebäude umgeben war, angekommen. Vor dem Eingang stand eine schwarz gekleidete, sehr ehrwürdige alte Dame und sah ihnen mit einem Lächeln entgegen.
„Urgroßmutter!“, rief Lennart. Kaum dass die Kutsche zum Stehen gekommen war, riss er den Verschlag ungeduldig selbst auf und hüpfte an dem verblüfft dreinblickenden Diener vorbei, der mit einer Stufe herbeigeeilt war, um den hohen Herrschaften einen bequemen Ausstieg ermöglichen zu können, und rannte mit ausgebreiteten Armen auf Luise von Preußen zu.
Die alte Dame breitete die Arme aus und fing ihren Urenkel, der seine Geschwindigkeit inzwischen freilich etwas abgebremst hatte, auf.
„Lennart“, sagte sie. „Mein Junge. Da seid ihr ja.“
Und dann gab Luise von Preußen dem kleinen schwedischen Prinzen einen Kuss.
Früh am nächsten Morgen machte sich Lennart, gekleidet in einen schmucken, weißen Matrosenanzug, selbstverständlich mit passender Mütze, Seite an Seite mit seiner Amama auf den Weg zu einem Spaziergang über die Insel. Am Vorabend war die Großmutter zu erschöpft von der langen Reise gewesen, und alleine hatte sie Lennart noch nicht gehen lassen wollen. Doch sie hatte ihm versprochen, gleich nach dem Frühstück aufzubrechen, und Viktoria hielt sich stets an ihre Versprechen. Seite an Seite schritten sie an der Kirche vorbei, und Lennart bestaunte mit großen Augen all die exotisch wirkenden Pflanzen, als plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte. „Was ist denn das da für ein Turm?“, rief er aufgeregt und deutete in Richtung Wasser.
„Das, mein lieber Junge“, erwiderte Viktoria, „ist der Schwedenturm.“
„Heißt er so, weil wir Schweden sind?“, fragte Lennart und fügte dann hinzu: „Können wir hingehen?“
„Das können wir. Aber er heißt nicht Schwedenturm, weil wir Schweden sind.“
„Warum dann?“
„Bevor ich dir das erkläre, will ich dir etwas anderes sagen“, erwiderte die Großmutter. „Nämlich, dass dieser Turm einst zu einer echten Ritterburg gehörte.“
Lennart riss die Augen auf. Er war zwar ein Prinz, aber er wäre lieber ein Ritter gewesen. Das war viel spannender. „Wirklich?“, fragte er.
Seine Großmutter nickte. „Hier ragte einmal eine Burg in den Himmel. Und wie sich das für eine Burg gehört, war sie von einer hohen Mauer und mehreren Türmen umgeben.“
„Und hatte sie auch einen echten Burggraben?“
„Natürlich“, lachte Viktoria.
„Das ist ja praktisch“, überlegte Lennart.
„Weshalb ist das praktisch?“, erkundigte sich seine Großmutter.
„Na ja, bei einer Burg, die mitten im Bodensee steht, haben sie dann genug Wasser, um den Burggraben zu füllen.“
„Da hast du allerdings recht.“
„Und was waren das für Ritter?“
„Keine solchen, wie du sie dir wahrscheinlich vorstellst. Sie zogen nicht in glänzenden Uniformen ständig in den Kampf. Es waren sogenannte Deutschordensritter, die ihr Leben Gott geweiht haben. So wie Mönche in einem Kloster, nur manche von ihnen verteidigten den Glauben dann auch mit dem Schwert.“
„Und die waren aus Schweden? Und haben sie auf dem Turm gebetet?“ Lennart war hinsichtlich der Namensgebung des Turms ratlos.
Viktoria musste über die Überlegungen ihres Enkels lachen.
„Nein, sie waren nicht aus Schweden, sie kämpften gegen die Schweden. Und der Turm kam erst später ins Spiel. All das war Anfang des 17. Jahrhunderts, also vor ziemlich genau dreihundert Jahren. Damals führten die Ordensritter hier ein gutes Leben. Aber dann begann ein Krieg – nämlich gegen die Schweden, der ganz Europa erfassen und dreißig Jahre andauern sollte.“
„Dreißig Jahre!“, rief Lennart. „Das ist …“
„… unglaublich lang“, ergänzte seine Großmutter. „Hier auf der Mainau bekam man davon eine ganze Zeit lang nur wenig mit, aber dann, 1632, wurde es in der Region immer brenzliger. Wir Schweden waren in diesem Krieg unter anderem mit den Katholiken hier am Bodensee verfeindet.“
„Wir waren verfeindet?“, rief Lennart. „Aber warum haben wir dann eine Insel in Baden?“ Seine Augen wurden noch größer, und er flüsterte: „Haben wir sie den Deutschen etwa weggenommen?“
„Immer der Reihe nach“, mahnte seine Großmutter. „Für die Menschen am Bodensee wurde ab dem Jahr 1632 die Gefahr also immer größer, weil die Schweden weiter vorrückten. Sie haben Stadt um Stadt erobert und, das muss man leider sagen, auch Stadt um Stadt zerstört und unermessliches Leid über die Bevölkerung gebracht. Auf dem Bodensee fand in dieser Zeit ein Seekrieg statt.“
„Oje!“, rief Lennart. „Dann können uns die Deutschen also nicht gut leiden.“
„Aber sicher können sie das“, erwiderte Viktoria. „Zumal wir zu den wenigen gehören, die trotz des aktuellen Krieges noch mit Deutschland Handel treiben.“
„Außerdem ist es lang her“, merkte Lennart an.
„Richtig. Es ist viele Jahrhunderte her, und in der Zwischenzeit hat immerhin unter anderem ein schwedischer König eine deutsche Prinzessin geheiratet.“
„Großvater und du“, konstatierte Lennart zufrieden.
„Richtig – und so kam die Insel dann auch in den Besitz unserer Familie.“
„Also haben wir sie den Deutschen nicht in diesem Krieg weggenommen?“, vergewisserte sich Lennart.
„Nein, das haben wir nicht“, bestätigte sie.
„Und was hat das alles mit dem Turm zu tun?“
„Oh, natürlich, wir sind ein wenig abgeschweift. Also. Als die Schweden immer näher rückten, wurden überall die Verteidigungen verstärkt, um dem Feind etwas entgegenzusetzen. Auch hier auf der Mainau. Die Ordensritter haben Gräben gegraben, Mauern errichtet und Kanonen und Munition auf die Mainau gebracht. Und hier auf dem Turm haben sie ununterbrochen eine Wache postiert, die Alarm schlagen sollte, wenn ein Schwede im Anmarsch ist.“
„Deshalb Schwedenturm“, erkannte Lennart.
„Richtig“, bestätigte die Großmutter.
„Und diese bösen Männer?“, fragte Lennart und deutete auf die steinernen Fratzen, die an der Außenseite des Turms eingemauert waren und die er entdeckt hatte, während die Großmutter erzählte. „Vor denen habe ich Angst. Soll das ein Schwede sein? Die Schweden sehen nämlich viel netter aus!“
Wieder musste seine Großmutter lachen. „Das ist eine sogenannte Abwehrfratze“, erklärte sie. „Es gibt einen Aberglauben, dass man Gleiches mit Gleichem bannen kann. Dass das böse Gesicht also die bösen Schweden abwehren kann.“
„Ach so“, sagte Lennart. „Aber sie zeigen ja in die falsche Richtung! Schweden ist doch da hinten!“ Er drehte sich um und deutete gen Norden.
„Stimmt“, sagte Viktoria. „Aber damals gab es viele solcher Abwehrfratzen, und die waren alle nach Westen ausgerichtet, in die Himmelsrichtung, in der die Sonne untergeht. Nach dem Glauben der Menschen damals ist das die Himmelsrichtung der Dunkelheit und des Bösen. Jedenfalls hat die Fratze der Mainau nicht geholfen: Vermutlich im Oktober 1632 haben die Schweden die Insel von Meersburg aus“, Viktoria deutete in Richtung Osten, „erstmals angegriffen. Aber die Ritter lenkten ihre Aufmerksamkeit in die falsche Richtung.“
„Und dann wurden sie von den Schweden überrannt?“
„Nein, sie wussten sich trotzdem zu wehren“, sagte die Großmutter. „Die Schweden kamen ja mit dem Schiff über den Bodensee – und die Ritter konnten sie mit den Kanonen in die Flucht schlagen. Und seit dem Tag sollen sie den Turm Schwedenturm genannt haben.“
„Die Schweden kehrten um und ließen die Mainau in Ruhe?“, vergewisserte sich Lennart.
„Nicht ganz. Im Februar 1647 kamen sie erneut. Am Abend hatte der Komtur, er hieß übrigens von Hundbiss,“ – Lennart musste lachen – „am Meersburger Ufer mehrere Lagerfeuer brennen sehen. Das war schon eine Warnung, denn es war keineswegs die Gewohnheit der Meersburger Bürger, am Ufer mehrere Feuer anzuzünden. Zumal die Zeiten wegen des Krieges schwer waren, und Brennholz war ein kostbares Gut.“
„Und das waren die Schweden?“, mutmaßte Lennart gespannt.
„Richtig, das waren die Schweden. Von Hundbiss und seine Männer nutzten die ganze Nacht, um sich auf einen möglichen Angriff vorzubereiten. Allerdings waren die Voraussetzungen nicht die allerbesten: Die Komturei war trotz des Krieges nicht sonderlich gut aufgestellt, was die Verteidigung anbelangt. Von Hundbiss schickte rasch einen Boten nach Konstanz mit der Bitte, um Hilfe zu ersuchen, doch dieser kehrte unverrichteter Dinge zurück.“
„Die Ordensritter, die hier lebten, müssen furchtbare Angst gehabt haben“, flüsterte Lennart. „Weshalb sind sie nicht geflohen?“ Doch bevor seine Großmutter antworten konnte, hob er die Hand und sprach weiter. „Klar, sie waren ja Ritter. Und Ritter fliehen nicht einfach so vor dem Feind.“
„So ist es“, bestätigte Viktoria. „Tatsächlich stellte sich von Hundbiss den Schweden, die unter dem Kommando eines Mannes namens Feldmarschall Wrangel herbeisegelten, entgegen und versuchte, sie mit Kanonenfeuer davon abzuhalten, an der Insel anzulanden. Doch sie hatten keine Chance gegen den übermächtigen Feind. Es waren so viele, dass die Ritter sich ergaben und von Hundbiss ein Dokument unterzeichnen musste, auf dem er die Kapitulation anerkannte.“
„Und damit hatten die Schweden den Deutschen die Insel also doch weggenommen?“, fragte Lennart, während er schaudernd auf den See hinausblickte. Wie friedlich er dalag! Kaum vorstellbar, dass hier einst eine kriegerische Flotte unter schwedischer Flagge herbeigesegelt war.
„Ja“, bestätigte Viktoria, „wenngleich das nicht der Grund ist, warum wir sie besitzen. Wir kauften sie ganz legal, nachdem sie viele Jahrhunderte wieder den Deutschen gehört hatte. Aber die Schweden haben im Dreißigjährigen Krieg auch viele Schätze geraubt – man sagt, sie hätten sie hier noch irgendwo auf der Insel versteckt.“
„Hier auf der Insel gibt es noch Schätze?“, fragte Lennart mit großen Augen.
„Das weiß ich nicht“, erwiderte seine Großmutter. „Es gibt Stimmen, die so etwas behaupten.“
„Wenn, dann werde ich sie finden“, sagte Lennart eifrig. „Ich hole mir nachher gleich von diesem Herrn Hofgärtner eine Schaufel und fange an zu graben.“
Viktoria lachte. „So machst du es“, sagte sie. „Und anschließend gehen wir zu Frau Walser ins Brückenhaus. Die backt die besten Kuchen, die du dir vorstellen kannst.“
„Das klingt lecker“, freute sich Lennart. Dann fragte er: „Wenn der Krieg 1618 begann und dreißig Jahre dauerte, dann war er doch aber im Jahr drauf vorbei?“
„Ganz genau“, bestätigte seine Großmutter. „1648 wurde der Krieg mit dem sogenannten Westfälischen Frieden endgültig beendet, und die Schweden zogen sich zurück. Allerdings hatten sie hier ziemlich gewütet, alles verwüstet und die Insel geplündert.“
„So was“, murmelte Lennart. „Wie kann man so einen schönen Ort verwüsten.“
„So ist das leider im Krieg“, sagte Viktoria. „Man will dem anderen nichts gönnen und verwüstet, was dem Feind gehört.“
„Und jetzt haben wir schon wieder einen Krieg.“ Lennart runzelte besorgt die Stirn. „Wird der auch dreißig Jahre dauern?“
Viktoria schüttelte den Kopf. „Sicher nicht“, sagte sie. „Aber hier am Bodensee ist die Lage besonders. Konstanz grenzt ja direkt an die Schweiz.“
„Und die Schweiz ist gegen die Deutschen?“
„Die Schweiz ist neutral“, erklärte Viktoria. „Aber die Grenzen sind dicht – und das ist für viele schwer, da die Schweizer und die Konstanzer wie Nachbarn sind. Früher sind wir ganz selbstverständlich immer hinübergefahren, und die Schweizer kamen nach Konstanz zum Einkaufen, und die Kreuzlinger Bauern bestückten den Wochenmarkt mit Milch und Gemüse. Und viele Konstanzer haben auch in der Schweiz gearbeitet.“
Lennart nickte beklommen. „Dann ist Konstanz aber ziemlich allein“, sagte er, „auf der einen Seite die Schweiz, auf der anderen der See.“
„Ja“, bestätigte Viktoria, „das kann man so sagen. Aber nicht zuletzt deshalb ist es auch ziemlich sicher.“
„Hm“, machte Lennart und sah seine Großmutter ängstlich an. „Du meinst also nicht, dass wieder jemand die Insel verwüstet?“
„Nein, das glaube ich nicht“, bekräftigte sie und sagte dann, wohl, um ihrem Enkel die Angst zu nehmen: „Übrigens haben die Deutschordensritter die Insel ja wieder ganz wunderbar aufgebaut und sie Schritt für Schritt zu der Mainau gemacht, die wir heute kennen. Sie brachen die Burg ab und bauten die Kirche und das Schloss. Allerdings hatten sie keine große Wahl: Die Schweden hatten damals nämlich auch die Burg ziemlich zerstört, und weil die Ritter nicht so viel Geld hatten, hat es dann eine ganze Weile gedauert, bis sie sich dessen annehmen konnten.“
„Schade, dass sie die Burg abgerissen haben“, überlegte Lennart. „Es wäre bestimmt spannender gewesen, in einer Burg zu wohnen als in einem Schloss.“
„Also ich für meinen Teil bin froh um diesen Schritt“, gestand Viktoria. „In einem Schloss lebt es sich doch wesentlich komfortabler.“
„Da seid ihr ja wieder!“, rief Luise von Preußen ihrer Tochter und ihrem Urenkel entgegen, als die beiden nach ihrem ausgedehnten morgendlichen Spaziergang wieder zum Schloss zurückkehrten. „Ihr wart aber lange unterwegs.“
„Es gibt ja so viel zu sehen, Urgroßmutter!“, rief Lennart eifrig. „Und so viel zu erfahren.“
„Lennart ist an jeder Pflanze stehen geblieben“, berichtete Viktoria mit einem Schmunzeln. „Er wollte alles, aber auch wirklich alles, wissen. Leider musste ich viele seiner Fragen unbeantwortet lassen. So weit reicht meine Kenntnis dann doch nicht.“
„Da kann ich vielleicht Abhilfe schaffen!“, klang eine Stimme hinter ihnen. Lennart und die beiden Damen wandten sich um, und Lennart sah einen drahtigen Mann auf sich zukommen, den er etwa auf das Alter seines Großvaters schätzte. Der Mann trug typische Gärtnerkleidung – grüne Hose, grünes Hemd und grobe, braune Schuhe – und wirkte ungemein vital.
„Eure Hoheiten“, sagte er und neigte ehrerbietig den Kopf, „ich hoffe, Sie verzeihen die Störung. Aber ich war doch so gespannt auf den kleinen Prinzen, der Pflanzen so liebt.“
„Sie sind Herr Nohl!“, rief Lennart. „Haben Sie einen Spaten?“
Verdutzt sah Nohl ihn an. „Ein Gärtner sollte einen Spaten besitzen“, sagte er dann augenzwinkernd. „Möchtest du gleich einen Baum mit mir pflanzen?“
Lennart schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Ich will einen Schatz suchen. Großmutter erzählte mir, dass es hier vielleicht noch welche gibt, die die Schweden seinerzeit vergraben haben.“
„Ich gehe gern mit dir auf die Suche“, versprach Nohl. „Aber ich sage dir, die eigentlichen Schätze dieser Insel sind die Pflanzen.“
„Ja“, bestätigte Lennart. „Das glaube ich auch.“ Dann fragte er: „Kannten Sie meinen Urgroßvater gut?“
„O ja“, sagte Nohl, dessen Lächeln sich noch etwas vertiefte. „Er war ein wunderbarer Mann.“
„Ja“, Lennart nickte. „Kam er gleich nach den Rittern?“
„Na hör mal!“, mischte sich da die Großherzogin ins Gespräch. „So alt war dein Urgroßvater auch nicht. Und ich“, fügte sie hinzu und warf sich ein klein wenig in die Brust, „ich ebenfalls nicht. Die Ritter waren schließlich nur bis zur Säkularisation 1806 hier.“
„Du hast dich hervorragend gehalten, Mutter“, bestätigte Viktoria. Lennart überlegte, was die Säkularisation wohl war, doch er entschied sich, diese Frage auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, denn vielmehr wollte er stattdessen wissen: „Wem gehörte die Insel denn zwischen den Rittern und Urgroßvater?“
„Mit der Säkularisation wurde Baden zum Großherzogtum, und damit fiel die Mainau an Baden. Großherzog war damals Karl Friedrich, und der interessierte sich nicht sonderlich für die Insel.“
„Wie kann man sich für die Mainau nicht interessieren!“ Lennart war empört.
„Na ja, ich denke, er hatte andere Sorgen.“
„Welche denn?“, fragte Lennart.
„Krieg“, erwiderte Viktoria von Schweden.
„Schon wieder?“, rief Lennart.
„Nun ja, schon wieder ist relativ“, erwiderte seine Großmutter. „Der Dreißigjährige Krieg war hundertfünfzig Jahre her.“
„Trotzdem“, murmelte Lennart. „Was war das denn diesmal für ein Krieg?“
„Gleich mehrere. Das waren die Napoleonischen Kriege.“
„Und wann kam dann endlich Urgroßvater?“
„Erst kam noch der Enkel von Karl Friedrich, aber der hatte ebenfalls kaum was für die Mainau übrig. Und dessen Nachfolger verkaufte die Mainau 1827 an den ungarischen Fürsten Nikolaus von Esterházy. Immerhin, der begann, sie in unserem Sinne zu kultivieren.“
„Was hat er denn gemacht?“
„Er hat die Zypressen gepflanzt. Und die Feigen am Schloss auch“, mischte sich nun Nohl ins Gespräch. Er lächelte dem Jungen zu. „Wenn du möchtest, können wir nachher welche ernten. Magst du Feigen?“
„Erdbeeren mag ich lieber“, gestand Lennart. „Aber Feigen sind in Ordnung.“
Nohl lachte. „Nun, Erdbeeren werden wir sicher auch für dich finden.“
Lennart nickte zufrieden. „Und dieser Fürst verkaufte die Insel dann Urgroßvater?“, fragte er, ungeduldig zu erfahren, wann denn nun endlich seine Familie ins Spiel käme.
„Immer noch nicht“, bremste Viktoria, „aber wir kommen der Sache schon näher. Fürst Esterházy hatte einen außerehelichen Sohn. Diesen erhob er zum Freiherrn von Mainau und schenkte ihm die Insel.“
„Das wäre ich auch gern“, sagte Lennart. „Freiherr von Mainau. Das würde mir viel besser gefallen, als ein schwedischer Prinz zu sein.“
„Lennart!“, schalt seine Großmutter. „So etwas darfst du nicht sagen. Du bist ein Mitglied des schwedischen Königshauses.“
„Entschuldigung“, sagte Lennart artig und zog ein wenig den Kopf ein. Hastig fügte er hinzu: „Selbstverständlich bin ich gerne ein schwedischer Prinz. Aber ich hab die Mainau halt so lieb.“
„Dann sei froh, dass du beides haben kannst“, sagte Viktoria versöhnlich. „Die Mainau lieb haben und ein schwedischer Prinz sein.“
„Ja“, erwiderte Lennart. „Ja, das bin ich auch.“
„Und die Mainau hat es verdient, dass man sie weiterhin so liebt, wie wir das tun“, fuhr Viktoria fort. „Es gab noch einige Besitzerwechsel, und dann, 1853, konnte dein Urgroßvater die Insel kaufen.“
„Endlich“, sagte Lennart. „Und ab dem Moment ging es der Mainau wieder gut.“
„Ja“, bestätigte Viktoria. „Mein Vater hat sich wirklich sehr um die Insel gekümmert und sie sehr geliebt.“
Sie wechselte einen traurigen Blick mit ihrer Mutter. Da mischte sich Nohl wieder ins Gespräch: „Wenn Eure Hoheiten erlauben, kann ich Prinz Lennart auf den Spuren seines Urgroßvaters über die Insel führen.“
„Das ist eine hervorragende Idee“, pflichtete Luise von Preußen ihm bei. „Wobei er ja gerade eben erst eine Inselführung von seiner Großmutter bekommen hat.“
„Herr Nohl kann mir bestimmt noch mehr zeigen“, sagte Lennart eifrig. „Darf ich?“
„Du darfst“, erwiderte Viktoria.
„Aber vorher“, bremste Luise und winkte einen Diener herbei, der eine große, schwarze Schachtel in der Hand hielt, „vorher möchte ich dir noch dein Willkommensgeschenk überreichen.“
„Ein Geschenk?“, rief Lennart. „Für mich?“
„Mach es auf.“
Lennarts Herz schlug ein wenig schneller, als er den Deckel von der Schachtel hob. Was hatte seine Urgroßmutter sich da für ihn ausgedacht? Und dann glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen, denn vor ihm lag eine Kamera! Und er wusste auch genau, um was für ein Modell es sich handelte: eine schwarze Brownie Box im Format 9x12. Schon oft hatte Lennart seiner Großmutter beim Fotografieren zugesehen. Und manchmal hatte Königin Viktoria ihrem Enkel die Kamera gereicht. Lennart war jedes Mal fasziniert gewesen von der Möglichkeit, wunderbare Momente auf diese Art und Weise für die Ewigkeit festzuhalten. Wie oft hatte er sich eine eigene Kamera gewünscht, die ihm immer zur Verfügung stünde, wenn er etwas besonders Schönes entdeckte. Und nun war sein Traum Wirklichkeit geworden.
Er wurde sich bewusst, dass die beiden Frauen ihn anstarrten, auf eine Reaktion warteten. Und dass er noch gar nichts gesagt hatte.
„Lennart?“, fragte Königin Viktoria mit milder Schärfe. „Findest du nicht, es wäre angebracht, sich zu bedanken?“
„Ich …“, stammelte Lennart, „ich … ich bin nur so …“
„Lass ihn“, sagte Großherzogin Luise leise zu ihrer Tochter. „Der Junge freut sich so, dass er keine richtigen Worte findet.“
Nun, da seine Gefühle benannt worden waren, kam Leben in Lennart. „Danke!“, rief er. „Danke, danke! Danke!“ Und dann fiel er seiner sichtlich gerührten, altehrwürdigen Urgroßmutter um den Hals.
„Verstehst du nun, warum ich dir dein Geschenk überreichen musste, bevor du dich mit Herrn Nohl erneut auf den Weg über die Insel machst? Ich wollte es dir eigentlich schon heute Morgen geben, aber Viktoria sagte, nach dem Spaziergang sei der richtige Moment.“
„Soll ich sie dir erklären?“, bot Viktoria ihrem Enkel eifrig an, doch Lennart lehnte ab. „Ich weiß schon, wie das geht“, sagte er. Wie zum Beweis hob er die Kamera vor das Gesicht, stellte das Objektiv auf seine Amama und seine Urgroßmutter ein und drückte ab.
„Du musst uns schon die Gelegenheit geben, uns in Pose zu werfen“, protestierte Luise von Preußen, lachte dabei aber glücklich über den Eifer ihres Urenkels.
„Dazu bin ich viel zu ungeduldig“, bekannte Lennart. „Ich kann es kaum erwarten, endlich mit Herrn Nohl loszugehen.“
„Na dann“, rief Viktoria und fügte an Herrn Nohl gewandt hinzu, „zeigen Sie meinem Enkelsohn alles, was mein Vater erschaffen hat: das Arboretum, den Italienischen Rosengarten, die Orangerie und die Schutzhäuser, in denen empfindliche exotische Pflanzen die kalte Jahreszeit überdauern können.“
„Selbstverständlich, Eure Hoheit“, erwiderte Nohl.
Lennart wandte sich an den Gärtner. „Herr Nohl?“
„Ja?“
„Ich glaube, ich brauche gar keine Schaufel mehr.“
„Warum das denn?“, fragte Nohl verblüfft. „Willst du die Schatzsuche etwa schon aufgeben?“
„Das nicht“, erwiderte Lennart und hob die Kamera leicht an. „Aber den größten Schatz halte ich ja schon in meinen Händen.“
Außerdem, überlegte der Prinz, während er neben Nohl über die Insel ging, würde er das Angebot seiner Großmutter annehmen und sein Blumenbuch weiterführen. Gleich heute Abend würde er die zerquetschte kleine Blume, die er in Händen gehalten hatte, als sein Vater ihm eröffnete, er werde nun künftig ohne ihn auf Stenhammar leben, einkleben und ihr damit einen Platz zwischen den anderen zuweisen. Und dann würde er hier auf der Insel weitere Blumen suchen und finden, die in seinem Buch verewigt würden. Die kleine, blaue Blüte, die für ihn Einsamkeit und Verlorenheit ausdrückte, sollte nicht die letzte in seinem Buch sein. Es sollten viele weitere folgen. Blüten, die symbolisierten, wie reich und schön das Leben sein konnte!
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