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Der Wüstengänger

Der Wüstengänger

Bruno Baumann
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Meine Reisen durch die Sandmeere der Welt

„Baumanns Begeisterung über eine Welt, 'in der es nichts mehr Größeres als ein Sandkörnchen gibt', ist ansteckend. Gerne würde man auch gleich loswandern.“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Der Wüstengänger — Inhalt

„Die Welt hatte sich auf zwei Elemente reduziert: Sand und darüber Himmel.“ Fasziniert von der großen Stille, durchstreift der bekannte Abenteurer und Fotograf Bruno Baumann seit zwanzig Jahren gewaltige Naturlandschaften. Die Sand- und Gebirgswüsten der Erde – Sahel, Sahara, Tibesti und Transhimalaja – hat er so intensiv erlebt wie kaum ein anderer Europäer. In der als Todeswüste gefürchteten Takla Makan begab er sich auf historische Spurensuche und stieß dabei auf ein „Pompeji der Wüste“, eine vom Sand verwehte Stadt aus der Zeit der Seidenstraße. In der Gobi schaffte er, was noch niemandem zuvor gelang: ihr sandiges Herzstück mit eigener Kraft zu überwinden.

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 16.01.2012
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95348-1
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Leseprobe zu „Der Wüstengänger“

>KAPITEL I


Der Wüste begegnen


Die Augen und die Wüste fanden
zueinander,
die Wüste legte sich über die Netzhaut,
lief davon, wellte sich näher heran,
lag wieder im Aug’, stundenlang, tagelang.
Immer leerer werden die Augen,
immer aufmerksamer, größer,
in der einzigen Landschaft,
für die Augen gemacht sind.


Ingeborg Bachmann


Ç Blick von einem der Felstürme im Ennedi über die Wüste, die sich als ein Raum ozeangleicher Weite offenbart – Widerschein meiner Sehnsucht


Es war noch dunkel, als ich aus dem Schlafsack kroch. Ringsum im Lager schien alles fest zu [...]

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>KAPITEL I


Der Wüste begegnen


Die Augen und die Wüste fanden
zueinander,
die Wüste legte sich über die Netzhaut,
lief davon, wellte sich näher heran,
lag wieder im Aug’, stundenlang, tagelang.
Immer leerer werden die Augen,
immer aufmerksamer, größer,
in der einzigen Landschaft,
für die Augen gemacht sind.


Ingeborg Bachmann


Ç Blick von einem der Felstürme im Ennedi über die Wüste, die sich als ein Raum ozeangleicher Weite offenbart – Widerschein meiner Sehnsucht


Es war noch dunkel, als ich aus dem Schlafsack kroch. Ringsum im Lager schien alles fest zu schlafen. Selbst die Kamele rührten sich nicht. Mit ihren massigen Leibern, die sich schemenhaft gegen den Sternenhimmel abhoben, wirkten sie wie Schiffe, die im Hafen lagen, um aufgetakelt zu werden. Der Sand war kalt wie Schnee, und mich fröstelte, während ich mit klammen Fingern die Liegematte einrollte. Die wenigen Habseligkeiten waren schnell zusammengepackt. Ich nahm nur das Allernotwendigste mit, gerade so viel, um für eine mehrstündige Wüstenwanderung gerüstet zu sein. Eigentlich wollte ich mit der Karawane gehen, aber jetzt, wo es nur noch weniger Schritte bedurfte, um der Wüste zu begegnen, drängte es mich, allein loszuziehen. Wie lange hatte ich davon geträumt, in die Wüste zu gehen, hatte es mir in meiner Phantasie ausgemalt; nun würden sich zum ersten Mal Vision und Wirklichkeit begegnen. Ohne störenden Tross, so glaubte ich, würde ich die Wüste intensiver erfahren, mich mit allen Sinnen darauf einlassen können. Vielleicht hatte ich letzte Nacht einfach nur von jenem Zaubertrank gekostet, der einen nötigt, unter den Sternen durch die Wüste zu wandern.
Stundenlang hatte ich wach gelegen, hatte nichts anderes getan, als in den Sternenhimmel hineinzuschauen. Und ich wurde nicht müde dabei. Wo hatte ich Vergleichbares gesehen? Nicht einmal auf dem Dach der Welt. In der Wüste gibt es keinen Berg, der das Blickfeld begrenzt, nichts, was die Augen daran hindert, von Horizont zu Horizont zu schauen. Über diese Weite spannt sich der Himmel auf, tagsüber von grellem Licht erfüllt und nachts mit Sternen übersät, die wie die Splitter eines zerstäubten göttlichen Spiegels wirken. In der trockenen Wüstenluft, aus der alle Feuchtigkeit entwichen war, erweckten sie in jener Nacht den Anschein, als wären sie um Lichtjahre näher gerückt. Und es waren so viele, dass ich meinte, neben den bekannten Sternbildern immer wieder neue zu entdecken.
Jeder Handgriff war Routine: Sturmbekleidung, Sonnenschutz, Kompass und Karte, alles stopfte ich nacheinander in den Rucksack. Schlafsack und Matte blieben bei den Kamellasten zurück. Zuletzt füllte ich meine Wasserbehältnisse ab. Drei Liter. Damit musste ich auskommen. Das war die Menge, die jedem in der Karawane als Tagesration zustand. Dann schulterte ich den Rucksack und zog los. Er fühlte sich nicht schwer an, stellte ich erleichtert fest, sodass er mir auch im weichen Sand nicht zur Last fiele. Vor mir dehnte sich eine flache Steppe aus, die das Mondlicht in ein weiches, seidenes Blau tauchte. Da und dort zeigten sich Sträucher, die sich als dunkle Flecken abhoben. Dann jedoch der radikale Bruch: Sand, kein Grashalm mehr, nichts Lebendiges. Gegen den Horizont zeichneten sich silhouettenartig die gerundeten Formen der Sanddünen ab. Ein ganzer Sternenregen schien auf sie herabzufallen. Immer näher traten die Dünen heran, und bald umzingelten sie mich zu allen Seiten. Anfangs versuchte ich noch, einen möglichst geraden Kurs zu halten, doch rasch wuchsen die Sandgebilde höher und zwangen mir mehr und mehr einen Zickzackweg auf. So gut es ging, bemühte ich mich dabei, den Dünentälern zu folgen. Das sparte nicht nur Kraft, sondern diente auch meiner Sicherheit, denn ich musste darauf achten, dass ich der nachfolgenden Karawane eine erkennbare Spur hinterließ. In diesem Meer der Wanderdünen, wo es keine markanten Geländemerkmale gab, an denen man sich hätte orientieren können, blieb diese Spur die einzige Verbindung zur Karawane. Ohne sie wäre ich hier schnell verloren gewesen. Auf den Höhen und Kämmen der Dünen konnte der Wind die Spuren leicht verwehen. Am ehesten würden sich die Abdrücke in den Senken erhalten. Bei einem Sturm freilich würden selbst dort alle Spuren im Nu verwischt sein. Aber daran mochte ich nicht denken.
Von Zeit zu Zeit aber musste ich, um meine Richtung zu peilen, auf einen der hohen Sandberge steigen. Oben angekommen, nahm ich den Kompass zur Hand, visierte die Richtung an, der ich folgte, prägte mir eine markante Düne ein, die in dieser Richtung lag, und lief auf sie zu. Hatte ich sie erreicht, orientierte ich mich von dort auf dieselbe Weise weiter. So bewegte ich mich zwar in einer Schlangenlinie fort, doch stets in eine Richtung, die mich beherrschte.
Meine anfängliche Befürchtung, ich könnte mich bei Nacht im Dünengewirr verirren, erwies sich als unbegründet, denn ich hatte den Mond unterschätzt. Sein Silberschein verlieh der Wüste Konturen. An manchen Stellen funkelte und glitzerte die Sandoberfläche sogar, als würden Millionen Eiskristalle darauf tanzen. Wann wusste ich zu Hause, wie es dem Mond ging? Selten genug. Hier wurden die Gestirne wieder zu natürlichen Begleitern, zum Maßstab für Zeit.
Allmählich wechselte die Wüste ihre Farben. Sterne und Mond verblassten an einem Himmel, der ein immer tieferes Blau annahm. Im Osten – der Richtung, aus der ich kam – zeigte sich über dem gezackten Horizont bereits ein schmaler Querbalken in Rot, der den neuen Tag ankündigte. Die Sonne warf schon lange ihren Schein voraus, wie eine senkrecht aus dem Dunkel aufsteigende Fackel. Dann begann sich der Horizont zu verfärben. Er wurde orange, dann gelb, und schließlich ging die Sonne auf, ihre Glut erhob sich zitternd über dem Sand. Sonnenaufgang im Morgenland. Jetzt wusste ich, woher der Name kam. Mir gefiel der Gedanke, dass ich mich nun vom Morgenland ins Abendland bewegte – Tag für Tag.
Die plötzliche Lichtfülle erweckte den Sand zum Leben. Jede kleinste Sandrippel, die der Wind zu einem Wellenmuster millionenfach auf die Oberfläche gezaubert hatte, warf ihren Schatten. Und wo Schatten ist, ist auch Kontur. Immer plastischer traten die Formen der Dünen hervor. Sie sahen aus wie nebeneinanderliegende nackte Frauenkörper. Wüste und Düne sind nicht nur sprachlich weiblichen Geschlechts. Mit goldbrauner Haut streckten sich die Leiber in der Sonne aus. Riesenhafte Torsos, die bis zu hundert Meter und mehr hoch waren, mit Brüsten und Gesäßen – und dazu noch die langen Beine, die endlos langen Beine, über die ich hinwegsteigen musste. Einige Dünen fielen durch kupferfarbene oder gar rötliche Rundungen auf: das waren die ältesten. Andere schienen noch ganz jung zu sein, denn sie zeigten noch nicht die prallen gerundeten Formen, sondern hatten scharfe Kanten, an denen sich das Licht wie an der Schneide eines Messers brach. Manche lagen auch übereinander: das waren die gefährlichsten, denn an ihnen konnten die Kamele straucheln und abstürzen – um sich nicht mehr zu erheben.
Für mich aber hatte die Wüste jegliche Bedrohung verloren. Ich wähnte mich in ihrem Schoß geborgen und sicher. Wohin ich auch blickte, von überall her schien sie mir zuzulächeln. Die Dünen badeten im Licht der Morgensonne, und der Sand präsentierte sich so rein und unbefleckt, als hätte ihn noch nie eines Menschen Fuß berührt.
Selbst die Gefahren durch Hitze und Durst schienen hier gebannt. Die Reduktion auf wenige Elemente wirkte wie Balsam auf die geplagte Seele. Ich fühlte mich frei, losgelöst von all den Zwängen und kleinlichen Sorgen des Alltags, die den Geist terrorisierten. Wie berauscht lief ich immer weiter in die Wüste hinein.
Die völlige Abwesenheit vertrauter Geräusche verstärkte noch den Eindruck, in eine andere Welt geraten zu sein. Wenn mich in diesem Moment jemand gefragt hätte, was denn nun die Erfahrung in der Wüste sei, dann hätte ich ohne zu zögern geantwortet: Licht, Sand und Stille. Es gibt nur den klaren blauen Himmel mit seinem Überfluss an Licht. Es gibt den Sand, den der Wind zu immer neuen Formen modelliert. Und es gibt die große Stille. Sie schneidet tiefer ins Herz als alles andere. Die Stille der Wüste ist nicht von der Art Stille, die man empfindet, wenn man in die Natur geht. Am Wasser, im Wald, im Gebirge, überall gibt es Geräusche. In der Wüste jedoch herrscht eine Art Endzustand der Materie, der kein Geräusch mehr verursacht. Ihre Stille ist auch nicht wie jene beklemmende Stille, die man nach einem Donnerschlag empfindet, nach einer Lawine oder dem Schrei einer Kreatur. Die Stille der Wüste ist eine schöpferische Stille, denn sie ist frei von Assoziationen und lässt die eigenen Gedanken von der Kette los. Es ist eine Stille, die einen den Quellen des Lebens näherbringt, denn man hört nichts als den eigenen Pulsschlag und Atem.
Wobei Kopf, Füße und Atem sich anfangs wie widerstreitende Kräfte verhielten. Der Kopf eilte den Füßen weit voraus, und die Füße wollten schneller laufen, als der Atem es zuließ. Allmählich aber fanden sie zueinander, und das Gehen selbst wurde zum Weg der Erfahrung. Die Wüste lässt sich nur im Gehen erfahren. Mit einem Fahrzeug käme man zwar schneller voran, sähe aber weniger. Die Wüste wäre dann nur noch Wegwerfwüste, nichts weiter als eine rasante Abfolge vorbeihuschender Eindrücke. Der Motorlärm würde die Stille vertreiben, und von der grenzenlosen Weite bliebe nur ein Ausschnitt in der Windschutzscheibe übrig. Freilich wäre das Fahren viel bequemer, und im Auto könnte man problemlos seinen Hausrat mitbefördern. Wer geht, muss sich bescheiden, denn jedes Gramm Gewicht zählt. Aber das ist kein Nachteil. „Minimierung der Ansprüche ist Optimierung der Freiheit, Reduktion ist Gewinn“, resümierte Otl Aicher, der das Gehen in der Wüste zur Lebensphilosophie kultiviert hat.
Ich hatte mir das Gehen im Sand viel mühsamer vorgestellt, so ähnlich wie das Laufen am Meeresstrand. Aber das war nur einer von vielen Irrtümern, die vom Bild der Wüste existieren. Wüstensand ist erstaunlich fest, freilich nicht überall, sondern immer nur an den der jeweiligen Windrichtung zugekehrten Stellen. Ich hatte bald gelernt, schon an der Struktur der Oberfläche zu erkennen, wo ich laufen musste, um harten Sand zu finden. So ließen sich selbst hohe Dünen ohne große Kraftanstrengung überwinden.
Ich kenne keine andere Landschaft, die so von Klischeebildern geprägt ist wie die Wüste. Die meisten Menschen stellen sich darunter nur eine trostlose Öde vor, wo einen nichts als lähmende Hitze und quälender Durst erwarten. Wer sich freiwillig an einen solchen Ort begebe, heißt es oft, der müsse in der Tat verrückt sein. Nicht von ungefähr steht die Redewendung „jemanden in die Wüste schicken“ für die Trennung von einem, den man loswerden möchte – sei es der Lebenspartner, dessen man überdrüssig wurde, sei es der erfolglose Mitarbeiter. Die Klischees sind zwar nicht falsch, aber sie werden der Wüste nicht gerecht, weil sie nur eines ihrer vielen Gesichter widerspiegeln. Sie ignorieren ihre Schönheit und die zwingende Kraft, die von ihr ausgeht, die tiefer in die menschliche Seele greift als bei jeder anderen Landschaft.
Die meisten waren jedoch noch nie in der Wüste, und sie bedienen sich Stereotypen, die von anderen geschaffen wurden, die oftmals selbst nie einen Fuß in eine Wüste gesetzt haben. Wer kennt sie nicht, die Wüste als Schauplatz für die Helden in den Abenteuerromanen von Jules Verne und Karl May, ausgestattet mit all ihren Attributen wie Sand, Palmen, Kamelen und verschleierten Beduinen, geheimnisvoll und schrecklich zugleich?


Die Wüstenväter


Noch etwas fällt auf: Die Wüste polarisiert. Während die einen sie verteufeln, ist sie anderen heilig. Den einen gilt sie als Ort des Schreckens, den anderen als Ort der Verheißung. Schon in der Vergangenheit schieden sich an ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Geister. Den alten Ägyptern galt die Wüste westlich des fruchtbaren Niltales als Reich der Dunkelheit und des Todes, die schaurige Feuerhölle des Seth, der durch Sandstürme Chaos verbreitete.
Auch den Chinesen war und ist die Wüste ein Feindbild. Aus deren Tiefen brachen regelmäßig Reiternomaden hervor, gegen die sie sich mit einer gigantischen Mauer zu schützen suchten. Für die Inkas gehörte die Atacama-Wüste ebenfalls mehr dem Reich des Todes an als der Welt, in der sie lebten. Sie wagten sich nur hinein, um Opfer darzubringen und ihre Toten zu bestatten.
Im Gegensatz dazu spielte die Heil bringende und offenbarende Kraft der Wüste erst im Judentum und später auch in Christentum und Islam eine wichtige Rolle. Den Überlieferungen zufolge zeigte Gott sich Moses in einem brennenden Dornbusch in der Wüste und versprach den Israeliten die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten; Jesus suchte vor Beginn seines öffentlichen Wirkens die Wüste auf, um dort zu fasten und zu meditieren; der Prophet Mohammed lebte zwar in Mekka, aber der Koran wurde ihm erstmals in einer nahe der Stadt gelegenen Berghöhle offenbart.
Die biblischen Propheten gingen zwar in die Wüste um der spirituellen Erfahrung wegen, und manchmal war sie ihnen auch Zufluchtsort, aber sie blieben nicht dort. Erst frühe Christen in Ägypten waren es, die zu Anfang des vierten Jahrhunderts Haus und Hof verließen, um sich in dieser lebensfeindlichen Zone dauerhaft niederzulassen. Obwohl die ersten dieser „Wüstenmönche“ es eher notgedrungen taten – sie flohen vor religiöser Verfolgung oder suchten sich den Nachstellungen römischer Steuereintreiber und dem Militärdienst zu entziehen –, erkannten sie doch schnell die den Geist läuternde und reinigende Kraft der Wüste. Andere folgten ihrem Beispiel in der Hoffnung, dort ihrem Gott zu begegnen und den wahren Glauben zu finden. Die Abbas – die Wüstenväter, wie diese Generation christlicher Gottessucher genannt wurde – errichteten Einsiedeleien oder taten sich zusammen, tauschten regelmäßig ihre Erfahrungen aus und spendeten einander Trost, wenn Zweifel und Ängste sie überkamen. Denn der Pfad der Erkenntnis war steinig und entbehrungsreich wie die Wüste selbst – und mit zahlreichen Abgründen versehen. Glaubt man den Überlieferungen, dann führte der Weg zum Licht der Wahrheit zunächst durch das Schattenreich profaner Sinneslust. In den einsamen Tagen und Nächten rangen die frommen Brüder mit Anfechtungen aller Art. Mal erschien die Versuchung in Gestalt einer lüsternen Frau, dann wieder überkam sie ungeheure Fresslust, die von wirren Gedanken begleitet war. Je strenger sie sich der asketischen Zucht unterwarfen, desto heftiger wurden die Dämonenkämpfe. Eine lebhafte Schilderung davon hat Athanasius, der Bischof von Alexandria, mit der um das Jahr 360 verfassten Biografie Antonius’ des Großen, des bedeutendsten dieser Wüstenheiligen, hinterlassen. Antonius hatte bewusst die Nähe des Todes in der extremen Herausforderung der Wüste gesucht. Was er dort erlebte, ließ wenige Jahre nach seinem Tod auch seinen Biografen noch erschaudern. Hinter immer neuen Masken erschien ihm der Teufel. Als er sich vor Angst nachts in einem Grab verkroch, trieben ihn schreckliche Visionen und Gruselbilder erst recht an den Rand seelischer Abgründe. Sein Glaube wurde immer härteren Prüfungen unterzogen. „Wo warst du?“, fragte er einmal vorwurfsvoll seinen Gott, nachdem er erschöpft nach einer schrecklichen Nacht aus seinem Grab gekrochen war. „ Ich wartete, um deinen Kampf zu sehen “, lautete die Antwort. Schließlich gelang es ihm, den illusionären Charakter der Versuchungen zu durchschauen und das göttliche Prinzip zu erkennen, das sich gleichsam auf sandigem Grund abzeichnete.
Es folgte die Zeit der Wunder und Visionen. Antonius zog sich weiter in das Innere der Wüste zurück und fand auf dem Berg Kolzim eine dauerhafte Bleibe. Von dort schmetterte der wortgewaltige Rufer seine Botschaft in die Welt hinaus. Und sie wurde weithin vernommen. Christliche Glaubensbrüder, Priester, Bischöfe, Philosophen und Gelehrte kamen von überall her, um seine Weisheit aus der Wüste zu hören. Selbst Kaiser sandten ihm Briefe aus der Ferne. Die Anfechtungen aber hörten nie ganz auf, nur besaßen sie keine Macht mehr über seine Geistesruhe. Er hatte sie als notwendigen Bestandteil des Weges erkannt. Kurz vor seinem Tod vertraute er einem Freund die tröstende Erkenntnis an: „Keiner kann unversucht in das Himmelreich eingehen. Nimm die Versuchung weg, und es ist keiner, der Rettung findet.“
Was ist aus den so hart erkämpften Weisheiten der christlichen Wüstenväter geworden? Sie sind auf der Strecke geblieben. Anstelle der individuellen Gotteserfahrung trat das Dogma, statt der Suche die Ausschließlichkeit derer, die die absolute Wahrheit für sich beanspruchten und verrieten. Für Grenzgänger war kein Platz mehr in einer institutionalisierten Glaubensgemeinschaft. Die Erfahrungen der Wüstenmönche wären nicht möglich gewesen ohne die Überschreitung der Grenze zwischen Stadtkultur und Leere, wobei sich das Leere letztlich als das Volle erwies.
Und Antonius selbst, der „Stern der Wüste“ und die „Erstlingsausgabe dieser Mönche und Einsiedler“? Er hat seinen Tod überdauert. Durch Gustave Flauberts „ Die Versuchung des heiligen Antonius“ und in den Bildern von Tintoretto, Max Beckmann und Max Ernst wurde er unsterblich. Doch am lebendigsten ist er noch bei den Brüdern des koptisch-orthodoxen Antoniusklosters in der Weite der Wüste Sinai. Sie schwören darauf, dass „der Vater“, wie sie ihn schlicht nennen, nicht nur lebt, sondern in Sturmnächten leibhaftig über die Klostermauern steigt, mit einer Laterne in der Hand, erschreckend und beschützend zugleich. „ Abba Antonius trägt ein Gewand aus Tierfell, und er kommt von jenseits des Berges“, erzählen sie den Touristen, die heute scharenweise von den Tauchstränden des Roten Meeres einfallen. Tatsächlich ist zwar das Leben des seltsamen Wüstenheiligen gut dokumentiert, doch über die Umstände seines Todes existieren nur vage Andeutungen. Es gibt kein Grab, keine Reliquie – ein Beweis für die Mönche, dass er noch lebt.
Den Ansturm der sonnengebräunten Strandurlauber, die Fotosafaris in den ehrwürdigen Gemäuern veranstalten, ertragen die Mönche mit stoischer Gelassenheit. Vielleicht ahnen sie, dass es womöglich ihre Vorväter waren, die die heutige Faszination der Wüste in der westlichen Welt begründet haben – in ihrer ganzen Ambivalenz zwischen Göttlichkeit und Dämon, Wahnsinn und Vision, zwischen Furcht und Verheißung, Angst und Geistesklarheit, zwischen unendlicher Freiheit und quälenden Entbehrungen.
Diese Ambivalenz hat auch Literaten wie Antoine de Saint-Exupéry inspiriert, der die Wüste mit überbordender Poesie befrachtete. Dabei fühlte er sich, ähnlich den Wüstenmönchen, zwischen dem Gefühl der Bedrohung und Bewunderung hin- und hergerissen – und erlag doch ihrer Faszination. „Ich war verloren in der Wüste und furchtbar bedroht, nackt zwischen Sand und Steinen, fern von meinem Leben einem Übermaß von Stille ausgeliefert“, schrieb er einmal. Aber auch: „… Und dennoch liebten wir die Wüste. Zuerst ist sie nur Leere und Schweigen, denn sie gibt sich nicht zu Liebschaften von einem Tag her. “
Saint-Exupéry war auch Pilot und lernte die Wüste aus der Luft kennen. Von einem seiner Flüge – er startete im Juli 1944 als Luftwaffenaufklärer von Korsika aus Richtung Frankreich – kehrte er nicht mehr zurück. Seitdem umweht seinen Tod jene Aura des Geheimnisvollen, aus der Legenden gestrickt werden. Mittlerweile wurde das Wrack seiner Maschine vor der französischen Mittelmeerküste gefunden, doch die Ursache des Absturzes bleibt nach wie vor ungeklärt. War es ein technischer Defekt? Stürzte der stark depressive Saint-Exupéry sich mit seiner Maschine womöglich in den Freitod? Oder wurde er wirklich von einem deutschen Jagdflieger abgeschossen, wie es vor einigen Jahren Recherchen zufolge hieß?

Bruno Baumann

Über Bruno Baumann

Biografie

Bruno Baumann, geboren 1955 in der Steiermark, Ethnologe und Historiker, bereist seit Jahrzehnten den Himalaya und gilt als einer der besten Kenner Tibets und der Wüsten Asiens. 1989 gelang ihm die Durchquerung der Takla-Makan-Wüste zu Fuß, 1994 die Durchquerung der Gobi. Dem legendären Königreich...

Pressestimmen
Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Baumanns Begeisterung über eine Welt, 'in der es nichts mehr Größeres als ein Sandkörnchen gibt', ist ansteckend. Gerne würde man auch gleich loswandern.“

Globetrotter

„Bruno Baumann dokumentiert eine aufsehenerregende Expedition in die Wüsten Afrikas und Asiens. Eindringlich lotet er das Grenzerlebnis Wüste aus, Schönheit und Gnadenlosigkeit, Lebensfülle und Kargheit, Faszination und totale Exposition.“

Neue Luzerner Zeitung

Der Österreicher Bruno Baumann dokumentiert aufsehenerregende Expeditionen in den Wüsten Afrikas und Asiens. (...) Höhepunkt des Wüstengängers ist die Durchquerung der Wüste Gobi, des `Himalaya des Sandes´(...) Er verwebt gekonnt persönliche Erlebnisse mit profunder Kenntnis der jeweiligen Kultur.

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