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Chaosmage (Tage des Krieges 3)

Chaosmage (Tage des Krieges 3)

Stephen Aryan
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Tage des Krieges 3

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Chaosmage (Tage des Krieges 3) — Inhalt

Einst war die Stadt Voechenka für ihre Musik, Kunst und Schönheit bekannt, aber nun ist sie verwüstet und trostlos. Die einstige Metropole steht unter Belagerung, und manche sagen, sie sei verflucht. Der Krieg des irren Königs Taikon und seines dunklen Hexenmeisters ist zwar vorüber, doch nicht alle Kriegsopfer sind so tot, wie man geglaubt hat ... In jeder Nacht seit dem Ende des Krieges greifen ruhelose Untote Voechenka an und locken die Lebenden in ihre Welt jenseits der Gräber. Die junge Friedenswächterin Tammy, die Verräterin Zannah und der Kriegsmagier Balfruss müssen sich zusammentun, um gegen die Untoten zu kämpfen. Können sie Voechenka vor einem grausamen Schicksal bewahren?

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 01.08.2018
Übersetzt von: Andreas Decker
480 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99075-2
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Leseprobe zu „Chaosmage (Tage des Krieges 3)“

Kapitel 1

 

Zannah stieg die siebenundzwanzig Stufen bis zu ihrem Posten hinauf. Der tote Mann wartete bereits unten auf der Straße.

„Zannah, komm runter!“

Bis Mitternacht waren es noch zwei Stunden, und der pechschwarze Himmel schien erdrückend auf ihr zu lasten. Weit entfernt lockerte das Licht einiger Sterne im Osten die ansonsten grenzenlose Leere über ihr auf.

Früher einmal war Voechenka als Stadt der Musik, Kunst und Schönheit berühmt gewesen, inzwischen aber war sie zu einer trostlosen Landschaft verkommen. Eingehüllt in eine grimmige Stille [...]

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Kapitel 1

 

Zannah stieg die siebenundzwanzig Stufen bis zu ihrem Posten hinauf. Der tote Mann wartete bereits unten auf der Straße.

„Zannah, komm runter!“

Bis Mitternacht waren es noch zwei Stunden, und der pechschwarze Himmel schien erdrückend auf ihr zu lasten. Weit entfernt lockerte das Licht einiger Sterne im Osten die ansonsten grenzenlose Leere über ihr auf.

Früher einmal war Voechenka als Stadt der Musik, Kunst und Schönheit berühmt gewesen, inzwischen aber war sie zu einer trostlosen Landschaft verkommen. Eingehüllt in eine grimmige Stille erstreckten sich ihre Ausläufer in alle Richtungen. Die Trostlosigkeit der zerstörten Gebäude und Straßen blieb aus dieser Sicht größtenteils verborgen, aber hier und da flackerten doch ein paar Talgkerzen in den leeren Fenstern. Dichte Schatten klammerten sich an das skeletthafte Gebälk einst imposanter Bauten und verbargen eine Vielzahl von Sünden.

An mehreren Stellen der Stadt brannten Fackeln. Der Windhauch, der vom See herüberwehte, ließ ihre Flammen zwar tanzen, aber sie konnten kaum die Schrecken verjagen, die nachts in der Stadt lauerten. Und über mehr verfügten die Bewohner auch nicht. Zwei ähnliche Fackeln steckten unterhalb von Zannah in der Mauer, jeweils an einer Seite des schiefen Tors. Auf dem Hof blockierte ein stabiler, mit schweren Felsbrocken beladener Karren den Eingang zu ihrer Fluchtburg. Doch er war nicht mehr als eine Illusion, die Sicherheit vorgaukeln und die Furcht unter Kontrolle halten sollte. Ob die Kinder noch immer glaubten, in Sicherheit zu sein, nachdem sie hatten mitansehen müssen, wie einige ihrer Freunde in Stücke gerissen wurden?

Zannah betrachtete die Fackeln nicht lange. Den Blick vom Licht abzuwenden bewahrte ihre Nachtsicht. Als Morrin konnte sie in der Dunkelheit beinahe so gut sehen wie am Tag. Bevor sie nach Shael gekommen war, in diese Stadt mit ihren Schrecken, die den meisten verborgen blieben, hatte sie ihr Sehvermögen noch als einen Segen betrachtet. Diese entsetzlichen Dinge aber jetzt erblicken zu müssen, war zu einem Teil ihrer Buße geworden, nämlich zu einer weiteren Last, die man stoisch tragen musste, und über die man sich auf keinen Fall je beklagen durfte. So hätte Zannah auch niemals jemandem all das erzählt, was sie während der langen Nachtstunden auf ihrem Posten zu Gesicht bekam: die Geister, die Verlorenen und die hochgewachsene Frau, die immer in den Schatten stand.

Das alles würgte Zannah wie eine der Mahlzeiten in dieser verfluchten Stadt einfach herunter. Das Essen sollte ihren Körper am Leben erhalten, und die Albträume sorgten dafür, dass ihre Aufmerksamkeit niemals erlahmte. Sie dienten einem Zweck. Außerdem erinnerten sie Zannah an die Rolle, die sie dabei gespielt hatte, das Volk von Shael an den Rand der Vernichtung zu bringen.

„Komm runter, Zannah!“, rief Roake.

„Ist er schon wieder da?“ Müde stieg Alyssa die Stufen hinauf. Sie lehnte sich gegen die Brüstung und spähte auf die Straße hinunter. „Wird er es denn niemals leid?“

„Nein. Niemals.“

Alyssa starrte auf die Stadt ihrer Geburt, und Zannah musterte ihr Profil. Blonde Haarbüschel wuchsen auf einem Schädel voller schwindender Blutergüsse und alter dunkelroter Narben. Früher einmal war diese Frau wegen ihres langen blonden Haars von vielen beneidet worden, aber das war inzwischen schon Jahre her. Ihre goldene Haut hatte den größten Teil ihres Glanzes verloren, und auch wenn sie so dünn wie ein Besen war, die eingefallenen Wangen lenkten doch nicht von dem wunderschönen Gesicht und den auffälligen grünen Augen ab.

„Du starrst schon wieder.“

„Tut mir leid.“ Zannah wandte sich ab. „Bist du Dichterin gewesen?“

Alyssas herzliches Lachen passte nicht zu ihrem ausgemergelten Körper. „Nein, das nicht. Aber diese Vermutung kommt der Wahrheit näher als die anderen.“

Dieses Spiel spielten sie jede Nacht. Alyssa erlaubte Zannah einen einzigen Rateversuch, um herauszubekommen, was sie vor dem Krieg gemacht hatte. Vor vier Jahren war ihr Leben nämlich noch ein ganz anderes gewesen. Ein Dasein voller Komfort, in dem es ihr an nichts gemangelt hatte. Dann war ein Heer aus Vorga und Morrin in Shael einmarschiert, und die Ausrottung ihres Volkes hatte seinen Anfang genommen. Alyssa hatte den Krieg in einem Folterlager verbracht, in dem man sie ausgehungert, geschlagen und missbraucht hatte, während um sie herum Männer, Frauen und Kinder erschlagen wurden.

Als der Krieg schließlich ein Ende gefunden hatte, überließ man sie und viele andere sich selbst. Die Königin war tot. Das Land war zerstört, aber einige der Feinde waren nirgendwo hingegangen. Diejenigen unter den Überlebenden, die noch bei Kräften waren, versuchten ihre Heimat zurückzuerobern. Schließlich vertrieb eine Allianz der Königinnen von Seveldrom und Yerskania auch noch die letzten Invasoren. Endlich begann der langsame Prozess des Wiederaufbaus.

Hilfe kam nach Shael, aber Voechenka lag so weit von der Hauptstadt entfernt, dass es immer ganz zuletzt auf der Liste stand. Vor zwei Jahren hatte sich die verzweifelte Situation dann verändert. Jetzt war sie viel schlimmer.

Zuerst war niemandem aufgefallen, dass da gewisse Wesen waren, die sich in die Schatten eingenistet hatten. Im ersten Jahr nach dem Krieg konzentrierten sich die Bürger von Voechenka darauf, ihre Häuser wieder aufzubauen und Getreide zu pflanzen, das sie durch den Winter bringen sollte. Als dann im Frühling ein paar Gesichter fehlten, gab man dem schlimmen Wetter und der mangelnden Nahrung die Schuld. Aber nachdem das Eis geschmolzen war, fand man die Leichen. Das in die Gesichter eingegrabene Entsetzen hatte nichts mit Hunger zu tun.

„Hier.“ Alyssa reichte Zannah eine kleine Stofftasche. Die empfindliche Nase der Morrin witterte Graubrot, gesalzenen Fisch und wilden Knoblauch.

„Ich habe keinen Hunger.“

„Lügnerin. Ich kann deinen Magen doch von hier aus knurren hören.“

Mit einem dankbaren Lächeln nahm Zannah die Tasche entgegen und holte die leicht angesengte Holzschüssel hervor. Sie hatte die Größe ihrer Faust und die Aushöhlung war mit Fisch, strähnigem Wurzelgemüse und wildem Knoblauch gefüllt.

Zannah bedachte den Fisch mit einem Stirnrunzeln. „Du hättest das Risiko des Sees lieber nicht eingehen sollen. Er ist viel zu gefährlich.“

„Das habe ich auch nicht. Jemand anders fuhr hinaus.“

„Und er hat ihn dir einfach gegeben?“

Alyssa zuckte mit den Schultern.

Zannah wollte fragen, was die Frau dem Fischer wohl dafür gegeben hatte, aber sie wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde. Also nahm sie einen Bissen und richtete den Blick wieder auf die leeren Straßen. Roake wanderte dort unten auf und ab und rief gelegentlich ihren Namen. Sie tat ihr Bestes, ihn nicht zu beachten. Am liebsten hätte sie seinen Körper mit Pfeilen gespickt, aber das hatte sie bereits versucht. Und es hatte nichts genützt. Er würde in der nächsten Nacht einfach wieder zurückkehren. Pfeile waren ein knappes Gut, da durfte sie sie doch nicht für Roake verschwenden. Dennoch war sie versucht, ihm einen durch den Hals zu jagen, nur damit er für den Rest der Nacht das Maul hielt.

„Hast du geschlafen?“, fragte Alyssa.

„Etwas schon.“

„Hat jemand mit dir gesprochen?“

„Nein, aber man hat auch nicht versucht, mich im Schlaf zu ermorden, was man immerhin als Fortschritt bezeichnen kann“, sagte Zannah. Alyssa verzog das Gesicht und errötete. „Schon gut.“

„Nein, gut ist es nicht“, beharrte Alyssa und knirschte mit den Zähnen.

Ein angespanntes Schweigen trat ein, das nur gelegentlich von Roake gebrochen wurde. Zannah konnte ihren Mitbewohnern in der Zuflucht nicht verübeln, wie sie sie behandelten. Schließlich war es ihr Volk gewesen, die Morrin, die Shael zusammen mit den Vorga überfallen hatten. Ihr Volk hatte sie niedergemetzelt, ihre Städte niedergebrannt und sie in Lager getrieben, in denen man sie aushungerte, schlug und Experimente mit ihnen veranstaltete. Ihr Volk hatte sie dazu aufgestachelt, gegeneinander zu kämpfen, nur um etwas zu essen zu bekommen. Manchmal auch nur aus reinem Vergnügen. Ihr Volk hatte sie am Ende des Krieges im Stich gelassen und der Gnade der wilden Vorga überlassen.

Hätte sich die Wucht dieses Hasses allein auf ihr Volk konzentriert, hätte sich Zannah leichter vergeben können. Aber sie hatte während des Krieges zu den Invasoren gehört.

Sie hatte die Befehle befolgt, wie es sich für eine gute Soldatin gehörte. Also hatte sie Gefangene umgebracht. Dabei hatte sie nicht einmal gezögert oder über ihre Taten oder deren Preis nachgedacht. Die Einwohner Shaels waren keine Morrin, also was spielte es schon für eine Rolle, wie viele von ihnen starben?

Als aber gegen Ende des Krieges die Städte in Trümmern lagen und die Massengräber so groß waren, dass man sie mit Hügeln verwechseln konnte, hatte sich etwas in Zannah verändert. Die Nachricht von einer Spaltung des Rates, die Morrinow zu zerreißen drohte, war sogar bis ins ferne Voechenka gedrungen. Ihr Land – ihre ganze Welt – war in Gefahr. Dabei wurde es nicht von einem anderen Heer bedroht, sondern von einem Feind in den eigenen Reihen.

Die Befehle trafen ein, und die Morrin-Krieger kehrten geordnet in die Heimat zurück. Zannahs Einheit gehörte zu denen, die zum Schluss abrücken sollten. Am letzten Tag erhielt sie den Befehl, eine Abteilung zu kommandieren, die die restlichen Gefangenen töten und Voechenka niederbrennen sollte. Danach würden sie nach Norden segeln und sich um die Probleme in der Heimat kümmern.

Zannah sah noch immer den überraschten Ausdruck in den Augen ihres Kommandanten vor sich, als er mit ihrer Klinge im Hals gestorben war. Er hatte gerade ein paar Anschuldigungen herausquetschen wollen, vielleicht auch einen Befehl, dann aber nicht mehr als ein mühsames Würgen zustande gebracht.

Zannah verbrannte den Vernichtungsbefehl, gab die Anweisung, sämtliche Gefangene freizulassen, und wies ihre Leute an, nach Hause zu segeln. Die meisten begaben sich auch widerspruchslos zur Flotte, aber ein paar weigerten sich doch, ließen ihre Posten im Stich oder täuschten Krankheit vor, um bleiben zu können. Sie hatten sich daran gewöhnt, ihren Trieben freien Lauf zu lassen, und zeigten nicht die geringste Lust, zu dem geregelten Leben eines Soldaten zurückzukehren.

Sobald die Flotte den Hafen verlassen hatte, durchsuchte Zannah die Stadt und die Umgebung nach ihren Leuten. Sie jagte einen nach dem anderen. Sie verfluchten sie, als sie starben, jeder Einzelne von ihnen tat es. Sie sagten ihr, die Gesegnete Mutter werde sie verstoßen. Das musste sich Zannah nicht von ihnen sagen lassen. Sie wusste längst, dass sie verdammt war. Nur einer der Deserteure war ihr entkommen, und jetzt war es zu spät, sich um ihn zu kümmern.

Von den eigenen Leuten wurde sie für den Verrat an ihnen gehasst – und von den Shael für ihre Kriegsverbrechen verabscheut. Zannah konnte niemals nach Hause zurückkehren, und noch bis zum gestrigen Tag hatten jene, die sie zu beschützen versuchte, täglich versucht, sie zu töten. Aus irgendeinem Grund hasste Alyssa sie nicht. Zannah hatte keine Ahnung, warum das so war.

Eine Bewegung auf der Straße erregte ihre Aufmerksamkeit.

„Ich komme wieder“, versprach Roake, bevor er davonschlurfte und in einer Seitenstraße verschwand. Für einen Toten konnte er sich – wenn es denn nötig war – wirklich schnell bewegen.

„Da kommen sie“, rief Zannah. „Hol die anderen.“

Alyssa rannte die Treppe hinunter und rief um Hilfe. Beinahe sofort strömten Menschen aus dem Hauptgebäude auf den Hof. Eilig griffen sie nach den Waffen, bevor sie sich zu Zannah auf die Mauer gesellten. Die Verteidiger trugen Schwerter, Äxte, Stangenwaffen und sogar ein paar Speere. Jede Waffe war rasiermesserscharf geschliffen worden. Viel hatten die Invasoren nicht zurückgelassen, aber Stahl gab es mehr als genug.

Mit mühelosen, geübten Bewegungen spannte Alyssa ihren langen Bogen. In ihrem Körper lag eine Kraft verborgen, die ihre schlanke Gestalt Lügen strafte.

Ein Blick auf die Straße zeigte Zannah, dass heute Nacht nur ein Dutzend Leute kamen. Normalerweise rückten sie in wesentlich größeren Gruppen an. Die meisten waren ihr unbekannt, aber unglücklicherweise befand sich auch Jannek unter ihnen. Gestern hatte er noch entsetzt geschrien, als man ihn von der Mauer zerrte, und um seinen Tod gefleht, statt lebendig gefangen genommen zu werden. Heute Nacht sah er dagegen glücklich und schon viel gesünder aus. Die einstmals matte Haut glänzte wie poliertes Gold, und die hohlen Wangen waren aufgefüllt worden. Es war erstaunlich. Ein Wunder. Er musste vernichtet werden.

Tote wie Roake wieder zum Leben erweckt zu sehen, das war die eine Sache. Aber dies hier, das war etwas völlig anderes. Man hatte angefangen, sie die Verlorenen zu nennen, obwohl das in dieser Stadt eigentlich auf jeden zutraf.

Ein Stück weiter schluchzte Liselle, Janneks Schwester, und dann hob sie mit eiserner Entschlossenheit den Bogen.

„Wartet“, warnte Zannah. Sie wusste, dass die Verlorenen noch außer Reichweite waren. Dies würde nur die erste Welle sein. Alles andere war unmöglich. Aber warum denn bloß ein Dutzend? Das reichte nicht aus, um ihre Verteidigung zu überwinden.

Alyssa ließ die Angreifer nicht aus den Augen und wartete, bis sie näher herangekommen waren, bevor sie den Bogen hob. Die anderen ignorierten die Morrin und nahmen sie zum Vorbild, bereiteten sich darauf vor, das Feuer zu eröffnen. „Jetzt“, flüsterte Zannah.

„Schießt“, befahl Alyssa. Sechs Bögen summten gleichzeitig.

Mit außergewöhnlicher Anmut hakte Alyssa den nächsten Pfeil an die Sehne und schoss auf den nächsten Verlorenen. Vielleicht war sie ja Tänzerin gewesen. Falls sie die Nacht überlebten, würde das morgen eine gute Antwort für ihr Ratespiel sein.

Alyssas Pfeil traf eine Verlorene ins rechte Auge. Er riss die Frau von den Füßen, und sie schien tot zu sein. Zumindest für den Augenblick.

Den meisten anderen Verlorenen ragten ebenfalls Pfeile aus dem Körper. Doch keine der Verletzungen hielt sie auf, sie machten sie nur langsamer.

Jannek und die anderen eilten zwei notdürftig zusammengezimmerte Leitern hinauf und versuchten sich einen Weg auf die Mauer zu bahnen. Die Verteidiger ließen die Bögen fallen und griffen nach Schwertern, Speeren und Äxten, um die Angreifer mehr durch ihre Überzahl als durch das Kampfgeschick zurückzudrängen. Sie waren allesamt unterernährt, und bis vor einem Jahr hatten nur wenige von ihnen jemals eine Waffe in der Hand gehalten. Dies war keine gute Kombination, besonders dann nicht, wenn es um einem Kampf um ihr Leben ging.

Ein Mann stieg über die Mauer und Zannah stieß ihm ihr Kurzschwert in den Rücken und durchtrennte seine Wirbelsäule. Ohne Zeit zu verschwenden riss sie die Klinge aus dem Körper und beförderte ihn mit einem Tritt über die Brüstung. Auf dem Weg nach unten riss er zwei weitere Verlorene mit sich.

Zannah stürmte den Laufgang entlang, trennte weitere Gliedmaßen ab, und wo sie konnte, köpfte sie die Angreifer sogar. Das würde ihr später Zeit ersparen. Mit einem Kurzschwert in jeder Hand schnitt sich die Morrin einen blutigen Weg durch die Angreifer. Andere folgten ihr, stießen und hieben zu, kämpften zwar mit weniger Energie und Wildheit, erledigten aber schließlich ihre Arbeit. Die meisten Verlorenen stürzten nach unten auf die Straße.

Am anderen Ende der Mauer hatten sich vier Angreifer zu einer dicht beieinanderstehenden Gruppe zusammengedrängt. Sie bremsten Zannahs Schwung. Die Morrin wich einem ungeschickten Hieb aus, hackte einen Arm oberhalb des Ellbogens ab und beförderte den Verletzten mit einem Tritt in die Tiefe. Zwei weitere Verlorene starben, bevor sie endlich Jannek erreichte. Liselle hockte zusammengekrümmt am Boden und schrie vor Entsetzen. Ihre Axt lag zwar in Reichweite, aber jeder Gedanke daran war vergessen. Jannek beschwor sie, ihn zu begleiten. Er legte das Schwert nieder, um seinen guten Willen zu zeigen, und streckte die leere Hand nach seiner Schwester aus. Selbst mit einer Klinge wäre sie willkommener gewesen. Liselles angsterfülltes Kreischen wurde lauter und ließ Zannah zusammenzucken.

Jannek wollte sich gerade umdrehen, als ihm Zannah das Schwert durch den Hals stieß. Keine Worte mehr. Keine Lügen. Kein Versprechen von Freiheit und etwas noch Besserem. Das hatten sie alles so oft gehört.

Janneks Blut spritzte seiner Schwester ins Gesicht, und ihre Schreie wurden schriller. Er starrte sie in seinen letzten Sekunden an und versuchte eine allerletzte Botschaft zu übermitteln. Schließlich rutschte er von Zannahs Klinge und fiel in Liselles Schoß. Sie umarmte die Leiche ihres Bruders und schluchzte.

Die Mauer war gesäubert. Im Augenblick waren sie in Sicherheit, und kein Verlorener war entkommen, um jemanden zu verschleppen. Mit methodischen Bewegungen warf Zannah die Leichen und auch die abgetrennten Gliedmaßen auf die Straße, obwohl sie sich ihretwegen weniger Sorgen machte. Die anderen Verteidiger zogen sich auf den Hof zurück. Sie wollten nicht sehen, was nun kam, und taten lieber so, als würde es nicht geschehen.

„Hol das Seil“, bat Zannah. Alyssa nickte. Sie begab sich auf den Hof und kam mit einem langen Seil voller Knoten zurück, das an dem beladenen Karren befestigt war. Sie schleuderte es über die Brüstung und nahm ihren Wachtposten wieder ein, während sich Zannah Liselle näherte.

„Bleib von ihm weg“, schrie die Frau und drückte die blutige Leiche an die Brust. „Habt ihr nicht schon genug angerichtet? Hast du noch nicht genug von meinem Volk ermordet?“

Zannah erwiderte nichts. Es gab auch gar nichts, das sie sagen konnte. Jannek war bereits tot, und er war es schon eine ganze Weile gewesen, lange bevor sie ihn in den Hals gestochen hatte. Wann immer jemand von den Verlorenen verschleppt wurde, kehrte er verändert zurück. Sie bewegten sich und sprachen genauso wie zuvor. Zwar hatten sie dasselbe Gesicht und dieselbe Stimme, aber sie waren verändert. Etwas war aus ihnen herausgeschnitten oder herausgegraben worden.

Monella, eine stämmige Frau mit einem entzündeten Auge, kam die Treppe herauf. Geflissentlich übersah sie Zannah und begab sich direkt zu Liselle, die sich in ihre Arme warf. Schließlich konnte Monella die jüngere Frau auf die Beine ziehen und sie nach unten auf den Hof führen. Zannah wartete, bis sie außer Sichtweite waren, bevor sie Janneks Leiche auf die Straße warf.

Dann kletterte sie an dem Seil nach unten. Die tiefen Schatten verbargen zwar das meiste von dem, was sie tat, aber die Laute konnten sie nicht unhörbar machen. Die anderen Shael taten ebenfalls so, als könnten sie es nicht hören.

Zannah köpfte jede Leiche, Janneks eingeschlossen, bevor sie dafür sorgte, dass die Körper ein gutes Stück von den Köpfen entfernt lagen. Nur so konnte man sichergehen, dass sie nicht immer wieder zurückkehrten.

Dann kam der eigentlich schwierigste Teil der Nacht. Zannah griff nach dem Seil und begann mit dem langsamen Aufstieg. Eines Nachts würde das Seil dabei reißen. Einer der Eingeschlossenen würde Alyssa entwaffnet oder abgelenkt und das Seil durchtrennt haben.

Ein Sturz aus dieser Höhe würde sie gewiss nicht umbringen, aber möglicherweise brach sie sich dabei einen Arm oder ein Bein. Dann würde sie für den Rest der Nacht zusammen mit den Verlorenen auf der Straße gefangen sein. Die anderen wollten sie unbedingt in Stücke gerissen und tot sehen. Vielleicht wollten einige auch sehen, wie sie verschleppt wurde, nur um in der darauffolgenden Nacht zurückzukehren. In manchen Nächten wollte Zannah das ebenfalls. Nicht, weil sie der Ansicht war, dass sie mehr als ihre derzeitige Situation verdient hatte. Sie wollte einfach nur wissen, wo man die Leute hinbrachte und wie man sie veränderte.

Schließlich erreichte Zannah den Mauerrand, zog sich darüber und landete mitten im Blut. Sie setzte sich eine Minute hin, kam zu Atem und starrte in die endlose Leere des Himmels.

„Du solltest mehr Vertrauen haben“, sagte Alyssa, streckte die Hand aus und zog Zannah auf die Füße. Die Morrin sparte sich eine Erwiderung, denn sie wollte niemanden beleidigen.

Eine Weile standen sie schweigend da und beobachteten die Straße.

„Glaubst du, sie kommen heute Nacht noch einmal?“

„Mindestens noch einmal.“

„Wie lange können wir das deiner Meinung nach noch durchhalten?“, fragte Alyssa.

Diese Frage hatte sich Zannah schon oft gestellt. In der Stadt war jede Verteidigung geduldig ausgeschöpft worden, und die Zahl der Verlorenen stieg unaufhörlich. Einst hatten Dutzende Fackeln in der Nacht gebrannt und die Finsternis zurückgetrieben. Jetzt waren vielleicht noch sechs Schutzunterkünfte übrig.

Zannah antwortete nicht, denn sie beide kannten die Wahrheit. Ihnen ging die Zeit aus.

Stephen Aryan

Über Stephen Aryan

Biografie

Stephen Aryan ist im Nordosten Englands aufgewachsen und lebt heute in Yorkshire, wo er im Marketing einer Softwarefirma arbeitet. Schon seit seiner frühesten Kindheit ist er begeisterter Fantasyleser. Er hat sich als Buchblogger ebenso betätigt wie als Kolumnist bei Tor.com und als Podcaster. Neben...

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