Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*
Blick ins Buch
Zone

Zone

Jan Valetov
Folgen
Nicht mehr folgen

Zu jung, um zu sterben

E-Book (9,99 €)
€ 9,99 inkl. MwSt.
sofort per Download lieferbar
In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei

Zone — Inhalt

Aus einem Militärlabor ist ein Virus entkommen. Jeder Infizierte über 18 Jahren beginnt innerhalb weniger Wochen zu altern und stirbt – die Welt der Erwachsenen ist ausgelöscht. Die unerfahrenen Kinder und Jugendlichen kämpfen einen aussichtslosen Kampf ums kurze Überleben. Zusammengerottet in Banden, versuchen sie, ihren jeweiligen Ruinensektor der untergegangenen Welt zu schützen. Seit Tim von seinem Stamm verstoßen wurde, ist er auf der Flucht. Er schließt sich der gnadenlosen Einzelkämpferin Belka an. Von verfeindeten Banden gejagt begeben sie sich auf eine gefährliche Reise durch das verstrahlte Land – denn Tim hat Bruchstücke von Wissen zusammengetragen und ist einem Antivirus auf der Spur ...

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 16.03.2020
Übersetzt von: Christiane Pöhlmann
528 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99604-4
Download Cover

Leseprobe zu „Zone“

Kapitel 1
Die Flucht


Nerd konnte Waffen nicht ausstehen.

Oh, er respektierte sie unbedingt! Wie auch nicht – wo sich mit diesen Dingern jeder Gegner auch aus großer Entfernung töten ließ! Trotzdem nahm er sie nicht gern in die Hand. Er reparierte sie auch nicht, obwohl er sonst an allem herumbastelte, was ohne elektrischen Firlefanz auskam. Aber an den Pistolen und MPs, die alle anbeteten, scheiterte er. Dabei kriegte er sogar wesentlich kompliziertere Sachen wieder hin. Einen schrottreifen Generator nahm er problemlos auseinander, um ihn anschließend [...]

weiterlesen

Kapitel 1
Die Flucht


Nerd konnte Waffen nicht ausstehen.

Oh, er respektierte sie unbedingt! Wie auch nicht – wo sich mit diesen Dingern jeder Gegner auch aus großer Entfernung töten ließ! Trotzdem nahm er sie nicht gern in die Hand. Er reparierte sie auch nicht, obwohl er sonst an allem herumbastelte, was ohne elektrischen Firlefanz auskam. Aber an den Pistolen und MPs, die alle anbeteten, scheiterte er. Dabei kriegte er sogar wesentlich kompliziertere Sachen wieder hin. Einen schrottreifen Generator nahm er problemlos auseinander, um ihn anschließend einwandfrei wieder zusammenzubauen und ihn bei der Gelegenheit gleich noch an ein Fahrrad anzuschließen, damit die verstaubte, altersschwache Glühbirne endlich mit gelbem Licht brannte. Aber MPs und Gewehre fasste er nur an, wenn es unbedingt sein musste.

Und ebendas verlangte das Gesetz: Sobald ein Junge alt genug war, musste er an Jagd und Krieg teilnehmen, da kannten die Bosse kein Erbarmen.

Ein Mädchen musste im entsprechenden Alter Kinder zur Welt bringen, Essen kochen, die Felder bestellen und sich um die Nachkommen sowie die Haustiere kümmern, während sie, die Männer, dafür sorgten, dass alle im Stamm genug zu essen hatten und sicher waren. Dafür töteten sie die Männer von den anderen Stämmen, ehe diese sie umbrachten. Trotz seiner miserablen Augen, seiner schwachen Konstitution und seines Horrors vor Waffen bestand deshalb auch für Nerd die Pflicht, auf die Jagd zu gehen.

Die Waffe, die ihm die Bosse zugeteilt hatten, passte im Grunde bestens zu seinem Schießvermögen: ein geborstener Schaft, abgegriffene rostige Läufe und Patronen in verblichenen Plastikhülsen. Immerhin hatte man ihn den Treibern zugewiesen, nicht den Schützen. Gerettet hatte ihn das am Ende aber auch nicht.

Denn er war und blieb ein Pechvogel.

Der sogar einen Hirsch verfehlte.

Das Fleisch dieses prachtvollen Burschen hätte mindestens vier Tage lang für den ganzen Stamm gereicht …

Das Tier war so überraschend aus dem Dickicht herausgesprungen, dass Nerd, obwohl nur lächerliche zehn Schritt entfernt, gar nicht erst auf die Idee gekommen war zu schießen, sondern zurückstolperte und auf seinem Hintern landete. Seine Flinte flog in hohem Bogen zu Boden, wobei sie mit einem ohrenbetäubenden Knall ihre Kugeln aus beiden Läufen zugleich ausspuckte. Die verrosteten Drahtstückchen, mit denen die Patronen gestopft waren, prasselten auf die Sträucher und zerfetzten die Blätter und das spröde Geäst. Der Hirsch schnaubte, und Nerd hätte schwören können, dass es ein verächtliches Schnauben war. Mit einem gewaltigen Satz sprang das Tier vom Pfad ins dichte Grün des Unterholzes.

Entsetzt stierte Nerd auf die am Boden liegende Flinte. Nie im Leben würde er sich herausreden können, von wegen, er habe den Hirsch gar nicht gesehen und nicht die geringste Ahnung, wo überhaupt einer sein soll. Das würde ihm ja doch niemand glauben! Es hatte geknallt, also hatte er ihn gesehen, geschossen – und verfehlt. Nun war das Tier verschwunden, da sollte er sich schon mal auf seine Strafe gefasst machen. Wie die ausfallen würde, war noch unklar, aber da Rubbish ihn auf den Tod nicht ausstehen konnte, musste er mit dem Schlimmsten rechnen. Wem Beute entwischt, der muss bestraft werden. So verlangte es das Gesetz.

Allein bei dem Gedanken daran kniff Nerd voller Panik die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, stand Rubbish bereits in seiner ganzen Größe und voller Wut vor ihm. Der Boss würde ihn bestimmt nicht glimpflich davonkommen lassen. Nerd fühlte sich wie ein gefällter Baum.

Und Rubbish war nicht allein, sondern hatte zwei weitere Bosse im Schlepptau. Leg und Pig. Fehlte bloß noch Runner, und der Viererrat des Stammes wäre komplett.

Rubbish sah auf Nerd herab, der halb saß, halb am Boden lag, ließ den Blick dann zu der abgefeuerten Flinte wandern, von dort aus wieder zurück zu Nerd, um diesen schließlich mit breitem Grinsen die Stiefelspitze unters Kinn zu rammen. Wahrscheinlich war das noch nicht mal der heftigste Tritt, zu dem Rubbish in seiner Wut fähig gewesen wäre, aber um mit Nerd fertigzuwerden, reichte er. Voller Wucht schlug dieser mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf.

„Was bist du bloß für ein nutzloses Stück Scheiße!“, brüllte Rubbish, und seine Stimme überschlug sich. „Zu nichts zu gebrauchen! Einfach ein nutzloses Stück Scheiße! Ein elender Wurm! Die reinste Missgeburt!“

Er trat noch näher an Nerd heran und verpasste ihm einen zweiten Tritt, diesmal in die Rippen.

Rubbishs Stiefel waren derb, aus dickem Leder, mit geriffelter Sohle – ein Wunder, kein schlichter Schuh. Diese Stiefel musste er sich entweder in City besorgt oder einem Toten vom Fuß gezogen haben. Die steinharte Spitze bohrte sich in Nerds Seite, der japste und wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte.

„Nicht mal einen verschissenen Hirsch erledigst du!“, stieß Rubbish hasserfüllt aus. „Dir über deinen stinkenden Büchern einen runterholen, das kannst du, mehr aber auch nicht! Was sollen unsere Frauen und Kinder jetzt futtern? Von Ratten angefressenes Papier? Verrat mir das mal, du dämliches Dreckstück!“

„Der war viel zu schnell!“, jammerte Nerd, der sich selbst verachtete für die widerwärtige Angst, die tief in seinen Eingeweiden brodelte, und auch für die zitternde Stimme, die in keiner Weise zu einem echten Mann passte. Der würde niemals jaulen und winseln … „Deshalb habe ich danebengeschossen!“

Brüllend holte Rubbish aus, um Nerd seinen Gewehrkolben vor die Brust zu pfeffern, doch dieser riss instinktiv beide Arme vor, sodass sein Boss ihn nur am Unterarm erwischte, der allerdings sofort taub wurde. Vor Nerds Augen tanzten schwarze Flecken.

Mit einer Geste befahl Rubbish Leg und Pig, sie sollten Nerd unter den Achseln packen und hochreißen. Benommen und zu Tode erschrocken hing dieser in den Armen seiner Folterknechte.

Nerd war längst über siebzehn, wie viel genau, wusste er allerdings nicht. Wahrscheinlich genauso viel wie Rubbish und die anderen Bosse, vielleicht auch einen oder zwei Monde mehr. Trotzdem wirkte er neben ihnen wie ein kleiner Junge, der kaum acht Winter auf dem Buckel hatte. Eine lädierte Marionette in den Händen kräftiger Männer.

Und er war ja in der Tat ein Nichts, ein Bücherwurm, dessen Leben sich in der Bibliothek abspielte, die außer ihm niemanden interessierte. Sie dagegen waren die Bosse. Sie sorgten dafür, dass keiner im Stamm hungerte. Sie waren streng wie das Gesetz, das sie von ihren Vorfahren übernommen hatten, und genauso unbarmherzig.

Er hatte ein Tier entkommen lassen, hatte seine eigenen Leute um Fleisch gebracht. Er verdiente seine Strafe, denn er hatte nichts, um diesen Verlust wettzumachen.

Es sei denn …

Er setzte an, etwas zu sagen, doch Rubbish fegte ihm mit dem Handrücken übers Gesicht. Nerd ertrank geradezu in Blut. Eine Fontäne glutroter Tropfen spritzte Leg ins Gesicht, sodass dieser plötzlich irritiert den Griff lockerte, woraufhin Nerd etwas nach unten sackte. Sofort nutzte er die Gelegenheit, um sich dem Griff vollends zu entwinden, und raste in einem Tempo davon, das er sich selbst nicht zugetraut hätte.

Die drei in seinem Rücken johlten und pfiffen, nahmen dann aber die Verfolgung auf. Nerd preschte den Pfad weiter hinunter. Nach den Tritten tat ihm alles weh, er war über und über mit Blut beschmiert und gab nur noch einen lächerlichen Anblick ab. Trotzdem stürmte er mit aberwitzigen Bewegungen weiter, auch wenn er fast losgewinselt hätte wie ein kleines Mädchen. Gar nicht wegen der eingeschlagenen Nase oder den malträtierten Rippen, sondern weil ihm sein Verhalten unendlich peinlich war. Er, ein intelligenter Mann, der als Einziger in Park – ach was, nicht bloß in Park, ganz City konnte er getrost dazunehmen – lesen und schreiben konnte, rannte jetzt wie eine Ratte vor wilden Katzen vor irgendwelchen hirnlosen, dafür aber muskelbepackten Debilen davon! Seine Beine trugen ihn automatisch immer weiter, ohne dass er irgendetwas hätte dagegen tun können. Er kannte sogar den Fachbegriff für sein Verhalten: Selbsterhaltungstrieb. Eigentlich traf ein anderes Wort den Nagel aber noch besser auf den Kopf, doch klang dieses Wort längst nicht so gut: Feigheit.

Das Getrampel seiner Verfolger kam mit jeder Sekunde näher. Rubbish, Pig und Leg hätten zwar aus Buchstaben kein einziges Wort bilden können – das wäre bereits daran gescheitert, dass sie überhaupt keine Buchstaben kannten –, liefen dafür aber unglaublich schnell und ließen sich ihre Beute niemals entgehen.

Da Nerd ahnte, dass sie ihn gleich packen würden, schlug er abrupt einen Haken und bog vom Pfad in den kümmerlichen jungen Espenwald ab. Dort stolperte er jedoch über einen im Gras verborgenen Baumstumpf und setzte buchstäblich Hals über Kopf zu einem Sturzflug den flachen Hang hinunter an.

In seinem Rücken grölte es, und ein weiterer Pfiff durchschnitt die Luft.

Nach diesem schwindelerregenden Salto versuchte Nerd vergeblich, wieder auf die Beine zu kommen. Er schlitterte weiter auf dem Bauch in die Tiefe, überschlug sich noch ein paarmal, verlor endgültig die Orientierung und rutschte dann mitten in eine feuchte, warme und klebrige Masse hinein, die nach ausgeweidetem Fleisch und Fäkalien stank. Er wollte losschreien, brachte jedoch keinen Ton heraus, sondern zappelte bloß wie ein halb verreckter Käfer und versuchte krampfhaft, sich aus irgendwelchen Schlingen zu befreien. Nach einer Ewigkeit gelang es ihm endlich.

Er rieb sich die Augen, denn die Wimpern waren völlig verklebt. Etwas von der widerlichen Jauche war ihm sogar in den Mund geraten. Nachdem er sich auf alle viere hochgerappelt hatte, sah er vor sich den offenen Bauch des Hirschs, der seine Rutschpartie gestoppt hatte. Nerd war in dem wirren Knäuel rotblauer Därme gelandet. Der Kopf des Tieres war zurückgedreht, die Zunge hing zwischen den Zähnen heraus. Nun wurde Nerd auch klar, was er im Mund hatte.

Er kotzte. Einmal, zweimal.

Die Stimmen seiner Verfolger verstummten jäh.

Nerd ließ sich gegen den Kadaver sacken, wischte sich die zähe Masse aus Tierblut und dem Inhalt der zerfetzten Eingeweide vom Gesicht und richtete den Blick auf seine drei Bosse, die knapp zwanzig Meter vor ihm standen. Sie versuchten nicht länger, sich ihn zu schnappen, sondern warteten ab. Sie zielten nicht einmal auf ihn, sondern hatten die Gewehre gesenkt.

Zwischen den Bossen und Nerd stand nun nämlich breitbeinig und angriffsbereit eine Gestalt in hohen Boots. Sie war nicht sehr groß, trug über einem schwarzen Hoody eine Jacke im Camouflagemuster und hatte kurz geschnittenes rotes Haar. Und sie war bewaffnet, in der rechten Hand hielt sie ein imposantes, blutbeschmiertes Beil, in der linken eine Pistole, deren Lauf aber – das registrierte Nerd sofort – ebenfalls zu Boden gesenkt war. Dennoch ließ die Körperhaltung dieser Gestalt keinen Zweifel daran, dass sie beim geringsten Anlass im Bruchteil einer Sekunde einen Schuss abgeben würde.

Der sein Ziel garantiert nicht verfehlen würde …

Die Bosse schwiegen.

Die unbekannte Gestalt schwieg.

Und Nerd sollte diesem Beispiel wohl am besten folgen.

„Der Hirsch gehört uns“, ergriff Rubbish schließlich das Wort. „Wir haben ihn gejagt …“

Keine Reaktion seitens der Person ihnen gegenüber.

Nerd behielt die ganze Zeit ihren Rücken im Auge. Plötzlich beobachtete er entsetzt, wie aus der Kapuze des Hoodys ein rot-schwarzes Tier mit buschigem Schwanz herausgehuscht kam. Schon in der nächsten Sekunde hatte es seinen Platz auf der Schulter der Gestalt gefunden und hockte wie zur Salzsäule erstarrt da.

„Belka …“

Sie also stand zwischen ihnen.

Belka. Eichhörnchen.

Seit dem letzten Herbst hatte Nerd sie nicht mehr gesehen.

Ihren Namen hatte sie wegen ihres roten Haars, ihrer breiten Zähne und ihrer Geschicklichkeit erhalten: Sie kletterte leidenschaftlich gern durch Bäume und vollführte dabei derart riskante Sprünge von Ast zu Ast, dass allen, die ihr zusahen, unweigerlich das Herz stockte.

Irgendwann hatte Belka ein von Krähen zerstörtes Eichhörnchennest entdeckt und eines der Jungen durchgefüttert. Seitdem hatte dieses Tag und Nacht auf ihrer Schulter gesessen und sogar in der Kapuze ihres unzählige Male geflickten Hoodys geschlafen.

Ihre Geschicklichkeit brachte Belka bei allen Spielen Vorteile, vor allem da sie ihre Zeit lieber mit Jungen verbrachte als mit ihren langweiligen Altersgenossinnen. Für die Jungen war das kein Problem.

Jedenfalls eine ganze Weile nicht.

Doch am Gesetz kommt nun mal niemand vorbei. Als Belka mit dem ersten Monatsblut vom Mädchen zur Frau wurde, änderte sich ihre Situation schlagartig.

Nach einer Geschichte, über die kein Boss je ein Wort verlor, verließ Belka den Stamm.

Für immer.

Seit drei Wintern, also seit Sun-Wins Tod, kam sie nicht mehr nach Park. Es hieß, sie habe einen Unterschlupf in der Nähe gefunden, aber bisher war es noch niemandem gelungen, diesen aufzuspüren.

Nachdem man dann Schlitzohr gefunden hatte, wie er kopfüber an der alten Ulme neben der Achterbahn baumelte, war auch dem Letzten die Lust vergangen, Belkas Versteck zu suchen.

Sogar die Bosse – damals waren es noch andere – akzeptierten, dass Belka sich abgesetzt hatte. Wäre eine wie sie bei den Frauen geblieben, hätten sie auch gleich mit einer Granate herumspielen können. Außerdem würde Belka mit Sicherheit nur Monster zur Welt bringen! Nein, lieber gingen sie kein Risiko ein …

Sie lebte nun ihr Leben, der Stamm seins – und damit waren alle zufrieden, Belka ebenso wie die Bosse.

Als sich irgendwann der Gnadenlose die alten Bosse geholt hatte, ging die Macht im Stamm an Rubbish, Leg, Pig und Runner über. Damals war Belka extra nach Park gekommen, um klarzustellen: Lasst mich bloß weiterhin in Ruhe!

Bei der Gelegenheit hatte Nerd sie das letzte Mal gesehen.

Er hatte sie bereits als Mädchen gekannt, ein kleines, kantiges Geschöpf, das schnell wie der Blitz war. Ihrer beider Mütter – möge der Gnadenlose sie nicht quälen! – lebten damals noch, und Nerd war sogar eine Weile mit Belka befreundet gewesen.

Das war allerdings, bevor Nulpe ihm das Lesen beigebracht hatte. Danach waren Nerds einzige Freunde Bücher. Seitdem hatte er mindestens zehn Winter erlebt. Ob Belka sich überhaupt noch an ihn erinnerte, wusste er nicht, Illusionen gab er sich jedoch nicht hin. Denn selbst wenn sie es tat – würde das etwas ändern? Natürlich nicht! In einer Welt, in der ein Kind vom ersten Schrei an mit der bitteren Wahrheit aufwuchs, dass seine Jahre gezählt sind, ist die Freundschaft eines anderen Kindes nicht unbedingt das, was es sich am sehnlichsten wünscht.

„Pass auf, Belka“, brachte Pig hervor, der darauf achtete, jede abrupte Bewegung zu vermeiden. „Du … Also den … Lass ihn uns!“

Pig war noch nie ein großer Redner gewesen, doch dieses Gestammel war selbst für ihn unfassbar. Nerd spürte nahezu körperlich, dass dieser ausgewachsene Eber, dieser gedrungene Typ, am liebsten im Boden versunken wäre. Er dürfte nicht vergessen haben, wie Schlitzohr ausgesehen hatte, als er da am Baum hing, und was für einen ekelhaften Tod Sun-Win gestorben war, sodass selbst Pig sich vor Belka lieber nicht als starker Mann aufspielte.

„Du kannst den Burschen doch allein gar nicht wegschleppen“, mischte Rubbish sich ein. „Schneid dir also ein Stück raus, egal welches, und dann verdufte!“

Belka sagte noch immer kein Wort, aber das Eichhörnchen auf ihrer Schulter stieß einen lauten Zischlaut aus, der ohne Zweifel unfreundlich, wenn nicht gar bedrohlich klang.

„Du willst dich doch nicht mit uns wegen ein paar Brocken Fleisch anlegen, oder?“, fragte Leg.

Belka zuckte die Schulter, und das Eichhörnchen huschte sofort zurück in die Kapuze.

Die Bosse behielten sie nervös im Auge. Als Belka die Hand mit der Pistole hob, wären alle drei beinahe blindlings davongestürzt, das hätte Nerd schwören können. So sah es also aus, wenn einem der eigene Ruhm vorauseilte …

„Ich nehme die Leber“, teilte Belka den Bossen leise mit. „Und ein Stück vom Rücken.“

„Abgemacht“, sagte Rubbish sofort. „Überlässt du ihn uns, wenn wir noch ein Stück Fleisch draufpacken?“

Damit meint er mich, schoss es Nerd durch den Kopf.

„Was sollte ich mit ihm schon anfangen?“, entgegnete Belka und zuckte die Achseln. „Aber ich mag es nicht, wenn jemand ohne Grund getötet wird.“

„Er hat gegen das Gesetz verstoßen und …“, setzte Leg an.

„Verreck doch noch heute!“, fiel Belka ihm ins Wort, und ihre Stimme klirrte wie Metall. „Ich scheiß auf eure Gesetze! Und auf euch! Verpisst euch!“

„Wir sorgen dafür, dass unser Stamm Essen hat“, sagte Rubbish beschwichtigend. „Wir beschützen unsere Frauen und Kinder. Wir erziehen die Jungen und machen echte Männer aus ihnen. Ohne das Gesetz wäre in Park heute niemand mehr am Leben. Das Gesetz garantiert Leben. Wer das Gesetz nicht achtet, muss sterben, sonst stirbt der Stamm. Bei den anderen Stämmen ist es genauso, das weißt du selbst. In City ist das Gesetz sogar noch strenger. Du hast also gar keinen Grund, auf uns zu schießen, Belka, denn wir halten uns bloß an das Gesetz. Dir hat unser Gesetz nicht gepasst, deshalb bist du weggegangen und lebst dein eigenes Leben. Aber wir bleiben bei unserem.“

„Verreck doch noch heute, Rubbish!“, wiederholte Belka. „Mir ist scheißegal, was du in deiner Herde abziehst! Aber verpiss dich von hier, oder du kriegst eine Kugel in den Bauch! Ihr könnt euch den Hirsch holen, wenn ich weg bin!“

„Komm her, Nerd“, verlangte Leg. „Sonst knallt sie dich auch noch ab! Und auf dich wartet doch noch deine Strafe!“

„Aber …“, brachte Nerd heraus. „Aber sie überlässt euch doch den Hirsch!“

„Das war unser Tier“, zischte Rubbish. „Und jetzt muss sie ihn uns überlassen. Kapierst du eigentlich den Unterschied, du Wurm? Wann holt dich Stück Scheiße bloß endlich der Gnadenlose?! Ich ertrage deine widerliche Visage einfach nicht mehr!“

„Du kannst bei mir bleiben“, sagte Belka, ohne sich zu Nerd umzudrehen.

„Wag es ja nicht!“, fauchte Rubbish. „Meine Geduld hat ihre Grenzen! Wenn du nicht sofort aufstehst und mit uns mitkommst, bring ich dich um!“

„Das macht er sowieso“, bemerkte Belka, wobei ihre Stimme völlig gleichgültig klang und nichts über ihre Gefühle verriet. „Er bringt dich um, weil er nichts lieber tut als töten. Da braucht er gar keinen besonderen Anlass.“

Nerd wusste, dass es auch Belka nicht interessierte, ob Rubbish ihn tötete oder nicht. Sie war lediglich aus Prinzip nie einer Meinung mit den Bossen. Selbst ihr Rücken verkündete, dass sie die drei hasste und verachtete. Ob Nerd bestraft wurde, war ihr egal, aber Rubbish und seine Kumpane vorzuführen – das war ganz nach ihrem Geschmack.

Er stand auf.

Die Nacht würde bald anbrechen, da sollte er besser wieder in Park sein. Im Wald würde er niemals überleben, der war nicht sein Element. Belka hatte hier ihren Unterschlupf, er nicht. Er hatte nur die Bibliothek. Und er würde mit Sicherheit kein anderes Dach über dem Kopf mehr finden, dazu blieb ihm zu wenig Zeit. Schon bald würde der Gnadenlose ihn holen …

„Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr mich nicht totprügelt?“, fragte er.

Im Mund hatte er immer noch den bitteren Geschmack von Scheiße und Kotze. Seine aufgeschlagenen Lippen taten ihm weh, der Schmerz in seiner Seite war kaum zu ertragen, und an seinem Unterarm – an der Stelle, wo Rubbish ihn mit dem Schaft erwischt hatte – wölbte sich eine knallrote Beule.

Trotzdem würde Nerd niemals gegen die Bosse kämpfen.

Er wollte Frieden, sogar um den Preis der eigenen Selbstachtung. Er wollte in das Schummerlicht jenes Raums zurückkehren, wo nachts Ratten durch das alte Papier raschelten, wo es nach feuchten Einbänden und der Pisse der Nager roch. Nur dort, inmitten der unzähligen, längst angefressenen Bücher, die wie durch ein Wunder noch existierten, fühlte er sich sicher. Dort war sein Zuhause.

„Wenn ihr mir nichts tut, verrate ich euch den Ort, wo es eine Medizin gegen den Gnadenlosen gibt“, sagte er und hoffte inständig, seine Stimme möge fest klingen.

Pig brach in schallendes Gelächter aus.

Dabei demonstrierte er allen die Lücke, die an der Stelle des rechten oberen Eckzahns klaffte. Den Zahn hatte er bei den Kämpfen verloren, in denen die neuen Bosse ermittelt wurden.

„Du willst mit uns feilschen?“, fragte Rubbish und sah ihn finster an. „Dann hast du endgültig den Verstand verloren, du Wurm! Der Stamm entscheidet, was mit dir geschieht …“

Nerd schluckte die Galle hinunter, die ihm die Kehle hochstieg.

„Der Stamm macht, was du …“, sagte er tapfer.

„Spar dir deine Lügen!“, spie Rubbish verächtlich aus. „Es gibt kein Mittel, um den Gnadenlosen aufzuhalten. Wenn die Zeit da ist, holt er sich jeden.“

„Das stimmt nicht … Es gibt eine Medizin.“

„Gegen den Tod gibt es keine Medizin“, fuhr Rubbish ihn an. „Und jetzt versteck dich gefälligst nicht länger hinter dem Rücken einer Frau, sondern verhalte dich wenigstens einmal wie ein Mann, du Stück Scheiße!“

„Aber in den Büchern …“

„Was steht in Büchern schon drin, was irgendwie von Wert ist?! Wird dort beschrieben, wie man auf die Jagd geht? Wie man im Winter überlebt, wenn es keine Tiere mehr gibt? Eben! Bücher sind Müll! Genau wie du!“

Nerd ging an Belka vorbei, blieb dann aber stehen und drehte sich zurück, um ihr in die Augen zu sehen.

Damit stand er in der Schusslinie und deckte seine drei Bosse.

„Erinnerst du dich noch an mich?“, fragte er Belka.

Ihr Gesicht war hager, mit hohen Wangenknochen, ihre grauen Augen blickten ihn durchdringend und feindselig an. Sie schien nur aus Sehnen zu bestehen: die Unterarme, der Hals – nichts als Muskeln, nicht ein Gramm Fett, nichts Überflüssiges. Sogar die dicken rotgrauen Zöpfe, an die er sich aus irgendeinem Grund am besten erinnerte, hatte sie mit dem Messer abgesäbelt, sodass ihr Haar nun eine Art schiefen Helm bildete.

„Ja“, sagte sie fast tonlos. „Du bist Tim.“

„Ich hatte schon gedacht, du würdest mich nicht mehr erkennen …“

Nerd wandte sich von ihr ab und humpelte zu seinen Bossen.

Pig verpasste ihm noch einen Kinnhaken, allerdings nicht mit voller Kraft, sondern nur um neuerlich klarzustellen, wer hier das Sagen hatte. Nerd duckte sich nicht einmal. Er torkelte kurz, trabte dann aber weiter, schüttelte jedoch voller Verzweiflung den Kopf.

Um Belka beim Abzug auch nicht eine Sekunde aus den Augen zu lassen, bewegte sich Rubbish im Krebsgang von ihr weg. Bevor er in den Sträuchern verschwand, drohte er ihr noch einmal mit der Faust.

Erst nachdem Rubbishs Figur vom Laub geschluckt worden war, steckte Belka die Pistole in ihr Gürtelhalfter. Das Eichhörnchen kam wieder aus der Kapuze herausgehuscht und suchte sich einen bequemen Platz auf Belkas Schulter.

„Du willst nach Hause, stimmt’s?“, murmelte Belka, während sie sich über den aufgerissenen Bauch des Hirschs beugte. „Aber keine Angst, wir verschwinden gleich …“

Ihr Messer drang mühelos in die Eingeweide des Wilds vor. Mit einer geschickten Bewegung hob Belka die Leber an, trennte das blutige Organ ab. Die glatte, glibberige Delikatesse landete im Gras.

Als Nächstes schnitt Belka ein schönes Stück aus dem Rücken heraus. Das würde sie für den Winter dörren oder räuchern. Ihre Hände troffen bereits vor Blut, während der Griff des Messers extrem glitschig war. Belka riss ein Büschel Gras aus, um erst ihre Hände und anschließend die Waffe abzuwischen.

Plötzlich blieb ihr Blick an einem länglichen Objekt hängen, das neben dem Kadaver lag. Ein schmaler Holzstab mit schwarzem Kern.

Nach einigem Grübeln fiel ihr die Bezeichnung dafür ein: Bleistift.

Damit schrieb man Buchstaben. Oder zeichnete. Belka konnte weder lesen noch zeichnen. Genauer gesagt, sie hatte Ersteres noch nie, Letzteres seit ihrer Kindheit nicht mehr ausprobiert.

Dieser Bleistift musste Nerd gehören. Er war schon immer ein ängstlicher und scheuer Junge gewesen, der außerstande war, sich oder andere zu verteidigen. Daran hatte sich offenbar nichts geändert. Damit war er für den Stamm nutzlos.

Belka schnaubte und steckte den Bleistift in ihre Tasche.

Wie viel leichter war es doch, mit einem Messer zu hantieren! Und wie viel vertrauter!

Was sollte man überhaupt mit einem Bleistift anfangen?! Ließ sich damit etwa Fleisch aus einem Kadaver säbeln?

Ihre Klinge drang mit einem Knacken erneut am Rücken des Tiers ein …

 

Nerd hoffte bis zur letzten Sekunde auf ein gutes Ende, auch wenn er tief in seinem Innern wusste, dass er nicht ungeschoren davonkommen würde, nachdem er im Wald miterlebt hatte, wie die drei unbesiegbaren Bosse vor Belka in die Knie gehen mussten. Aber würden sie ihn deshalb wirklich töten?

Er würde alles ertragen, das hatte er gelernt. Alles, bis auf den Tod.

Als die Männer unter der Aufsicht von Leg und Pig den erlegten Hirsch nach Park brachten, beobachtete Nerd die Prozession vom zweiten Stock der früheren Bibliothek aus.

Vor dem Gebäude hatte es in der Vergangenheit, vor rund achtzig Jahren vielleicht, einen Platz gegeben, heute ließ er sich jedoch kaum noch erahnen.

Im Laufe der Jahre hatte die Vegetation das Territorium der untergegangenen Zivilisation erobert. Gras hatte den Asphalt zernagt und Risse in den Beton gefressen. Zwischen den Bäumen wucherte Gestrüpp, aber immerhin gingen die Frauen aus dem Kampf gegen das Unterholz bislang noch als Siegerinnen hervor.

Den einstigen Platz säumten die Gebäude, in denen die Menschen aus Park lebten. In der alten Bibliothek, die zu Nerds Unterschlupf geworden war, wollte sonst niemand wohnen, denn sie war kalt und ungemütlich. Die Dielen und das Parkett aus den Räumen und Gängen im ersten Stock hatte man wahrscheinlich schon in einem der ersten Winter verfeuert, nachdem der Gnadenlose sie heimgesucht hatte. Zum Glück hatte jedoch niemand die Fenster eingeschmissen.

Später, als sich allmählich herausstellte, dass niemand wusste, wie man neue Häuser baute, achtete man darauf, die alten wenigstens einigermaßen in Schuss zu halten. Da warf niemand mehr Fenster ein. Allerdings verheizte man, was man fand, und oft genug brachen Brände aus.

In City zeugten heute nur noch Ruinen von dem Feuer, das vor langer Zeit die meisten Häuser verschlungen hatte. Nerd hatte diese Ruinen mit eigenen Augen gesehen. Vor einem Jahr. Da war sein Stamm in City eingefallen. Von diesem Raubzug hatte er außer Angst und Ekel einen dicken Straßenatlas mitgebracht.

Dieser Atlas hatte im obersten Fach eines Regals in einer demolierten Tankstelle gelegen, wo sie die Nacht abgewartet hatten. Er war in dickes Plastik eingeschweißt gewesen, sodass er in all den Jahren keinen Schaden genommen hatte.

Mit einem Auto fuhr schon lange niemand mehr, die Straßen waren zugewachsen …

Die Menschen, die früher Autos bauen konnten, waren längst tot, die Wagen selbst hatten sich in nutzlose Schrotthaufen verwandelt. Nur der Atlas hatte noch in dieser Tankstelle gelegen und geduldig auf einen neuen Besitzer gewartet.

Wieder zu Hause, hatte Nerd seine Beute wochenlang studiert.

Da die einstigen Namen der Städte nach wie vor auf den schiefen Autobahnschildern zu lesen waren, gewann er mit der Zeit ein genaues Bild von der Lage der Orte.

Bisher hatte er nicht gewusst, wie groß das Land war, in dem sie lebten. Dass es geradezu riesig war. Ein Highway verband Park und City. Von ihm zweigten kleinere Straßen ab, von diesen noch mal schmalere. Auf den letzten Seiten des Atlas entdeckte Nerd Pläne einiger Städte.

Dieser Straßenatlas fesselte ihn wie ein spannender Roman und gab seiner Fantasie neue Nahrung. Dumm war nur seine Naivität, denn er hatte tatsächlich angenommen, es würde sich außer ihm noch irgendwer für seinen Fund interessieren. Mit seinem frisch erworbenen Wissen war er deshalb gleich zu den Bossen geeilt, doch die hatten nur Unverständnis für ihn übrig gehabt. Warum belästigst du uns damit? Hat der Stamm etwas davon, wenn er weiß, wo irgendwelche Städte liegen? Außerdem legt niemand freiwillig etliche Meilen zurück, um an einen Ort zu gelangen, von dem man fürchten muss, dass er böse Überraschungen bereithält!

Nerd hätte beinahe losgeheult. Warum verstand bloß niemand den Wert von Karten und Büchern?! Dabei war doch sogar Park in diesem Atlas eingetragen. Eine Viertelseite nahm er ein. Erst dadurch hatte Nerd überhaupt erfahren, dass er früher Kidland geheißen hatte.

Und noch mehr: Park war mehrere Hundert Yard groß. Früher hatte es am Eingang ein Tor gegeben, mit dem Namen in bunten Großbuchstaben. Heute zeugte davon nur noch ein Metallskelett, das mittlerweile rostrot war, seine halbrunde Form aber behalten hatte. Im Sommer fielen Pflanzen über das Ganze her, sodass der Bogen fast ein wenig feierlich wirkte, im Winter erinnerte er jedoch an abgenagte Rippen, um die sich verdorrte Triebe wanden.

Neben dem Eingang verbrannten sie in einem runden Beet die Opfer des Gnadenlosen. So verlangte es das Gesetz. Zwar wussten alle, dass sie sich an den Leichen nicht ansteckten und der Gnadenlose sich zu gegebener Zeit trotzdem jeden Einzelnen von ihnen holen würde, dennoch hielt man sich an das Gesetz. Ohne Wenn und Aber.

Rechts vom Hauptweg lag der Friedhof für alle, die an einer Krankheit oder bei einem Streit gestorben waren oder während eines Kampfs gegen andere Stämme den Tod gefunden hatten. In den letzten zehn Jahren war er enorm angewachsen.

Überhaupt hatte sich der Vergnügungspark völlig verändert. Die Fahrgeschäfte waren eingestürzt und verrottet. Wenn irgendwo wie durch ein Wunder noch Konstruktionen aufragten, glichen auch sie Skeletten, die von Rost und Farbflatschen überzogen waren.

Nerd hatte sein ganzes Leben in Park verbracht, hatte hier gespielt, als er noch klein war, und wusste daher ganz genau, wo man aufpassen musste, damit man nicht in einen alten Brunnen fiel, oder wo man sich den Hals brechen konnte, weil unter dem dichten Gras Schienen verliefen.

Jenseits des alten Vergnügungsparks begann der eigentliche Wald. Nerd fürchtete ihn. Sein Zuhause war hier, zwischen den alten Regalen voller Bücher, und das beste Bett, das er sich vorstellen konnte, war die alte, nach Mäusepisse stinkende Matratze in der Ecke.

Abrupt wurde die Tür zur Bibliothek aufgerissen. Rubbish polterte herein, wütend wie ein tollwütiger Wolfshund. Ihm auf dem Fuße folgte Runner, der fies grinste. Er war der kleinste und brutalste der vier Bosse, schnell wie der Blitz, ein Kerl mit kantigem Gesicht und schiefen Zähnen.

„Steh auf, du Dreckswurm!“, befahl Rubbish, fegte ihn aber noch im selben Atemzug mit seiner Pranke vom Fensterbrett. „Wird’s bald?! Der Stamm wartet!“

Nerd wollte schon um Gnade betteln, doch da traf sein Blick den Runners, und er biss sich auf die Zunge.

Auf dem Platz hatten sich neben dem blutigen Hirschkadaver in der Tat bereits etliche Männer, Frauen und Kinder versammelt. Dass es nicht der ganze Stamm war, bedeutete gar nichts. Nerds Schicksal war besiegelt.

Rubbish stieß ihn in den Rücken, sodass er beinahe gefallen wäre.

„Menschen aus Park!“, keifte Runner in schrillem Falsett. „Dieser verschissene Dreckswurm Nerd hat heute einen Hirsch entkommen lassen. Dafür muss er bestraft werden!“

Nerd stand mit gesenktem Kopf da und ließ das empörte Gemurmel über sich ergehen.

„Als wir das Tier endlich wiedergefunden hatten“, ergänzte Rubbish, „da hatte sich bereits jemand die schönsten Stücke gesichert. Die sind euch durch die Lappen gegangen. Einige von euch werden deshalb sogar hungern! Und das alles nur wegen einem Stück Scheiße, das nicht mal einen Hirsch trifft, wenn er vor ihm steht!“

„Er frisst unser Fleisch, ohne etwas dafür zu tun“, giftete Runner und schüttelte verurteilend den Kopf. „Er hält sich nicht an unser Gesetz …“

Die Menge tobte.

Ich habe doch keinem Einzigen von ihnen etwas getan, dachte Nerd, der immer noch nicht aufsah. Ich wollte ihnen doch nur helfen und etwas beibringen … Schnelle Füße und ein Knüppel reichen doch manchmal nicht …

„Was verlangt das Gesetz?“, brüllte Rubbish. „Das Gesetz verlangt, dass ein Mann, der bei der Jagd versagt, keinen Anspruch auf unser Essen hat. Wer dem Stamm nichts nutzt, hat kein Recht zu leben.“

Sie bringen mich um, hielt Nerd für sich fest. Trotzdem versuchte er nicht zu fliehen, sondern blieb mit gesenktem Kopf stehen und seufzte nur schicksalsergeben.

„Was sollen wir mit diesem nutzlosen Bücherscheißer bloß anfangen? Ihn töten?“

Gegröle antwortete ihm, das dann von der schrillen Stimme einer Frau zerrissen wurde: „Ja! Töten!“

Nerd bekam so weiche Knie, als wären ihm sämtliche Knochen aus den Beinen gerissen worden.

„Ruhe!“, schrie Runner. „Hört jetzt unsere Entscheidung! Dieser Mann hat immer bei uns gelebt, deshalb werden wir ihn nicht töten. Soll der Gnadenlose das zu gegebener Zeit übernehmen! Aber wir füttern ihn auch nicht länger durch! Er gehört nicht mehr zu uns.“

„Raus! Raus!“, johlte die Menge.

Nun hob Nerd den Blick. Leg grinste ihn an.

„Soll dieser verschissene Widerling bloß von hier verschwinden!“, keifte jemand in der Menge. „Soll er verrecken!“

Rubbishs Pranke schloss sich um Nerds Nacken, um ihn durch die grölende Menge zu schleifen. All diese Menschen waren Nerd völlig fremd, obwohl er sie von klein auf kannte.

Sie prügelten auf ihn ein, wenn auch nicht so heftig, wie sie es gern gewollt hätten, denn sie trugen keine Knüppel bei sich. Trotzdem war jeder Schlag schmerzhaft und demütigend. Es fehlte nicht viel, und Nerd wäre in Tränen ausgebrochen.

Sobald Rubbish die Menge durchquert hatte, packte Leg mit an, und die beiden Bosse trugen Nerd zum Tor. Die Menschen aus Park folgten ihnen. Nerd nahm nur Teile von ihnen wahr, Beine, Brüste und Fäuste, aufgerissene Münder, schreiende Babys und schadenfrohe Kinder. Alle beschmissen ihn mit dem, was sie gerade in die Finger kriegten. Ein Ast traf allerdings Leg an der Schulter. Er wollte das Kind, das ihn geschleudert hatte, sofort wegschubsen, doch da hatte es sich schon grölend in Sicherheit gebracht.

Nerd hoffte inständig, dass Rubbish und Leg ihm zum Abschied nicht noch sämtliche Knochen brechen würden. In dem Fall würde er die Nacht im Wald mit Sicherheit nicht überleben. Der Wald kannte kein Erbarmen, schon gar nicht mit Schwächlingen.

Doch die beiden holten nur aus und schleuderten ihn voller Schwung aus Park, aus dem Stamm und seinem alten Leben heraus.

Als Nerd aufschlug, schoss jäher Schmerz durch seinen Oberschenkel. Dennoch stand er sofort auf und drehte sich noch einmal humpelnd zurück.

Die Menge hatte sich hinter den Bossen aufgebaut. Die Kinder johlten nach wie vor, die Frauen spuckten bei seinem Anblick aus, die Männer bedachten ihn mit unzähligen obszönen Gesten.

Irgendwann hob Rubbish die Hand. Sofort verstummten alle.

„Du bist nicht länger unser Fleisch und Blut“, sprach er die traditionelle Formel der Vertreibung aus. „Du bist nicht länger Teil unseres Stammes. Du bist ein Fremder. Jeder hat das Recht, dich ungestraft zu töten, sobald du in Park auftauchst. Du wirst nie wieder mit uns gemeinsam essen. Du wirst nie wieder mit uns gemeinsam trinken. Dein Haus ist nicht mehr hier. Verschwinde und verreck als Erster!“

Am liebsten hätte Nerd Rubbish gesagt, dass, wenn einer verrecken solle, dann doch er, am Ende brachte er aber nur ein Krächzen heraus, das klang, als würde ein wütender Fuchs bellen.

Leg zeigte ihm daraufhin wiehernd den Stinkefinger, drehte sich um und bahnte sich seinen Weg zurück durch die Menge. Rubbish folgte ihm. Kurz darauf war niemand mehr aus Park zu sehen.

Nerd war allein.

Er hatte keine Waffe mehr – die ihm bei seinem Geschick zwar eh nur zur eigenen Beruhigung, nicht zur Verteidigung gedient hätte – und trug bloß leichte Kleidung. Das Schlimmste war jedoch, dass er für immer von seinen Büchern getrennt war.

Die Sonne ging bereits hinter der grünen Waldfront unter. Die Menschen in Park würden nun in ihre Häuser verschwinden, wo sie es warm und sicher hatten. Überhaupt würde jeder seinen Unterschlupf aufsuchen, Mensch genau wie Tier. Nur er musste die Nacht im Wald überstehen, obwohl dieser ihm eine Heidenangst einjagte, nur er konnte sich nirgends mehr verkrauchen.

Er machte einen Schritt, dann noch einen, doch seine Beine knickten weg. Im dichten, bereits gelben Gras fing er wie ein kleiner Junge zu weinen an.

Die Tränen gruben schmale Furchen in den Dreck auf seinen Wangen. Nerd wischte sie nicht ab.

„Verreck du doch als Erster!“, brachte er nun endlich heraus, was er schon vorhin hatte sagen wollen. „Verreck als Erster, du Wurm!“

Doch obwohl seine Stimme diesmal fest und laut klang, hörte ihn Rubbish natürlich nicht. Nerd schlug mit den Fäusten auf den Boden, bis er blutete.

„Ich hasse dich! Euch alle!“

„Hör auf zu schreien!“

Jemand hatte sich von hinten an ihn angeschlichen. Nerd kriegte eine Gänsehaut, warf sich aber tapfer auf die Seite und tastete nach einem Ast, fand jedoch keinen.

Dann erkannte er, wer ihn angesprochen hatte.

Belka. Wahrscheinlich war sie von dem Baum, vor dem er saß, heruntergesprungen. Völlig lautlos, ohne ein einziges Geräusch zu verursachen. Nicht einmal ein Ast hatte geknackt. Der Gnadenlose soll sie holen! Dieses Gespenst …

Sie trug dieselbe Kleidung wie vorhin, nur die Jacke fehlte, sonst war alles da: die mehrfach gestopfte Jeans, der schwarze Hoody, die soliden Boots mit der geriffelten Sohle, dazu die Pistole im offenen Gürtelhalfter und das Messer in der Scheide. Das Eichhörnchen saß ebenfalls wieder auf ihrer Schulter. Es blickte Nerd feindselig an.

Etwas war aber neu: An einem Riemen aus Segeltuch baumelte eine MP um Belkas Hals. Die Waffe war extrem gut gepflegt und wirkte fast neu.

„Hast du dich jetzt endlich beruhigt?“, fragte Belka kalt. „Bestens. Vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Wenn du jemanden fürchten solltest, dann die Schweine in Park.“

„Was willst du von mir?“

„Mit dir reden.“

„Worüber?“

„Ich will wissen, wie man den Gnadenlosen austricksen kann“, sagte Belka und beobachtete Nerd genau. „Falls das nicht gelogen war.“

Jan Valetov

Über Jan Valetov

Biografie

Jan Valetov wurde 1963 im ukrainischen Dnepropetrowsk (heute Dnipro) geboren. Er absolvierte ein Studium als Raketenbauingenieur. Nach langen Jahren als Ingenieur und später als privater Geschäftsmann begann er Mitte der 2000er-Jahre zu schreiben. Seither hat er sieben Bücher veröffentlicht, teils...

„Der Roman zeigt, wie schnell ein vertrauter Alltag zusammenbrechen kann"

Übersetzerin Christiane Pöhlmann über den dystopischen Roman „Zone"

Du hast das Buch vor einem ¾ Jahr übersetzt, hättest du zu dem Zeitpunkt gedacht, dass die Welt sich wirklich mal Sorgen um ein Virus machen wird?

Kurz davor habe ich den Roman sogar begutachtet – und er hat mich als Gedankenspiel überzeugt. Bestimmt hätte damals niemand eine Situation wie die vorausgesehen, die wir heute erleben. Jetzt ist ja viel von der Spanischen Grippe die Rede, zu der es am Anfang des 20. Jahrhunderts gekommen ist. Das scheint unglaublich weit weg zu sein. Interessanterweise wird die Hongkong-Grippe 1968 kaum erwähnt, obwohl es doch sicher in vielen Familien Mitglieder gibt, die diese Zeit und damit diese Pandemie miterlebt haben. Situationen wie diese sind schrecklich, aber eben nicht völlig neu. 

Würdest du sagen, das Buch hat nützliche Tipps für die aktuelle Situation? 

ZONE ist zwar der Roman der Stunde, aber nicht im Sinne einer Gebrauchsanweisung für Pandemie. Er zeigt, wie schnell ein vertrauter Alltag zusammenbrechen kann. Was zuvor in einer Gesellschaft schiefgelaufen ist, wird dann plötzlich verhängnisvoll. ZONE spielt in einem amerikanischen Milieu, da sind es dann vor allem die Waffen. Packend ist aber auch, wie wegweisend die ersten Reaktionen sind. Das hört sich theoretisch und nicht unbedingt neu an, ist aber hier plastisch und mitreißend geschildert. Deshalb kann man sich damit auseinandersetzen, was es eigentlich bedeutet, wenn alle über 18 wegsterben, aber man muss es nicht. Mich überzeugt diese Art von Literatur, die nicht als Ratgeber, sondern als Einladung daherkommt. 

Was ist deiner Meinung nach das Besondere an dem Buch?

Abgesehen davon, dass es grundsätzlich sehr gut erzählt und unglaublich spannend ist? Vermutlich der Cliffhanger am Ende des ersten Teils. Zusammen mit den beiden anderen Teilen wird das dann eine richtig runde Sache. 

Jan Valetov kommt aus der Ukraine – was macht den ukrainischen Stil aus?

Im Moment ist ja viel von Globalisierung die Rede, und ich glaube, hier haben wir auch ein Beispiel dafür: Der Roman spielt in einem Amerika der Zukunft, das überzeugend gestaltet ist. Die Figurenzeichnung ist sozusagen international, es gibt noch nicht mal die komplizierten russischen Namen. 

Was unterscheidet ZONE von anderen Dystopien?

ZONE ist in drei Teile geteilt. Der erste spielt lange nach Ausbruch des Virus, der zweite geht dann zurück und schildert den Zusammenbruch der alten Welt, und, um nicht zu viel zu verraten, der dritte führt sie geschickt zusammen. Für mich ist diese Konzeption das Besondere an dem Roman, denn dadurch werden die Wege gut erkennbar, die eine Gesellschaft nach einem solchen Zusammenbruch gehen kann. Der Plural ist hier entscheidend. Es geht nicht darum, dass ein Virus freigesetzt wird und danach nur noch ein einziger Weg in die postapokalyptische Welt führt, sondern darum, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt und Entscheidungen getroffen werden müssen. 
 

Kommentare zum Buch
Kommentieren Sie diesen Beitrag:
(* Pflichtfeld)

Jan Valetov - NEWS

Erhalten Sie Updates zu Neuerscheinungen und individuelle Empfehlungen.

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Jan Valetov - NEWS

Sind Sie sicher, dass Sie Jan Valetov nicht mehr folgen möchten?

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Abbrechen