Weil ich dich liebe — Inhalt
Bei einem Flug von Los Angeles nach London treffen die 15-jährige Evie, die frisch getrennte Nicole und die exzentrische Milliardärstochter Alyson aufeinander. Sie kennen sich nicht und erzählen sich doch ihre Lebensgeschichten, als wären sie alte Bekannte. Im Laufe der Gespräche tun sich Abgründe auf, die allen dreien die Tragik des Lebens vorführen. Denn die Schicksale der drei Frauen sind auf dramatische Weise miteinander verbunden ...
Leseprobe zu „Weil ich dich liebe“
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Die Nacht, in der alles begann
Dezember 2006
Am Weihnachtsabend im Herzen von Manhattan
Schon seit dem Morgen hatte es unaufhörlich geschneit. Die verschwenderische Fülle von Lichtern an diesem Weihnachtsabend trog – das Leben in der „Stadt, die niemals schläft“ schien allmählich in einer Art Zeitlupe zu gefrieren.
Für einen Heiligabend war erstaunlich wenig Verkehr, nur wenige wagten sich auf die schneeverwehten Straßen hinaus, wo jedes Vorwärtswollen zum kühnen Unterfangen geriet.
Nur an der Ecke Madison Avenue/36. Straße fuhren pausenlos Limousinen vor, [...]
1
Die Nacht, in der alles begann
Dezember 2006
Am Weihnachtsabend im Herzen von Manhattan
Schon seit dem Morgen hatte es unaufhörlich geschneit. Die verschwenderische Fülle von Lichtern an diesem Weihnachtsabend trog – das Leben in der „Stadt, die niemals schläft“ schien allmählich in einer Art Zeitlupe zu gefrieren.
Für einen Heiligabend war erstaunlich wenig Verkehr, nur wenige wagten sich auf die schneeverwehten Straßen hinaus, wo jedes Vorwärtswollen zum kühnen Unterfangen geriet.
Nur an der Ecke Madison Avenue/36. Straße fuhren pausenlos Limousinen vor, aus denen Menschen auf den Vorplatz eines wunderschönen Renaissancebaus entlassen wurden. Es war der Sitz der Morgan Library, einer der glanzvollsten kulturellen Einrichtungen New Yorks, die an diesem Abend ihr hundertjähriges Bestehen feierte.
Auf der großen Freitreppe wirbelten Smokings und prächtige Abendkleider durcheinander, überall schimmerten Pelze und glitzerte Schmuck. Die Menge steuerte auf einen Pavillon aus Glas und Stahl zu, einen Anbau, der das Gebäude auf harmonische Art im 21. Jahrhundert verankerte. Im obersten Stockwerk führte ein langer Korridor zu einem weitläufigen Saal, wo in Vitrinen einige Schätze der Bibliothek ausgestellt waren: eine Gutenberg-Bibel, kolorierte Manuskripte aus dem Mittelalter, Zeichnungen von Rembrandt, Leonardo da Vinci und van Gogh, Briefe von Voltaire und Einstein, und nicht zuletzt der Fetzen einer Papiertischdecke, auf den Bob Dylan einst den Text von Blowin’ in the Wind gekritzelt hatte.
Nachdem auch die letzten verspäteten Besucher ihre Plätze eingenommen hatten, erfüllte eine angespannte Stille den Raum. Ein Teil des Lesesaals war eigens für diesen Abend umgebaut worden – damit ein paar Privilegierte in den Genuss der Brahms- und Mozart-Interpretationen der Violinistin Nicole Hathaway kamen.
Unter großem Applaus betrat die Musikerin die Bühne: eine junge Frau um die dreißig, sie bestach durch schlichte Eleganz. Mit ihrem strengen Haarknoten à la Grace Kelly sah sie aus wie die perfekte Hitchcock-Heldin. Auf internationalem Parkett jubelte man ihr zu, sie war mit den größten Orchestern weltweit aufgetreten und wurde, seit sie im zarten Alter von sechzehn Jahren ihre erste Platte aufgenommen hatte, mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft. Ein Bilderbuchleben – bis plötzlich, fünf Jahre zuvor, ein furchtbares Drama über ihr Dasein hereingebrochen war. Ein Drama, auf das sich die Medien gierig gestürzt hatten und das ihr über den Kreis der Musikliebhaber hinaus zu trauriger Berühmtheit verholfen hatte.
Mit unaufdringlicher Freundlichkeit begrüßte Nicole das Publikum, bevor sie ihr Instrument ansetzte. Ihre klassische Schönheit fügte sich bestens in das elegante Ambiente des aristokratischen Anwesens, als wäre ihr Platz schon immer hier zwischen den antiken Stichen und Renaissance-Manuskripten gewesen. Der Einsatz war lupenrein, er ging unter die Haut. Vom ersten Takt an fanden Bogen und Saiten zu einem meisterhaften Dialog, der bis zum Ende der Vorstellung anhielt.
Während man sich hier drinnen genussvoll dem Wohlklang der feinen Kunst hingab, fielen draußen immer noch dicke Schneeflocken durch die kalte Nacht. Unweit von diesem erlesenen Ort, nahe der U-Bahn-Station Grand Central, hob sich lautlos ein Kanaldeckel. Ein zerzaustes Etwas kam zum Vorschein – ein Mann, dessen Gesicht durch Schläge entstellt war. Scheu und mit leerem Blick schaute er sich um, bevor er seinen schwarzen Labrador in die Dunkelheit entließ. Schwerfällig hievte er sich auf den verschneiten Bürgersteig. Als er schließlich, wacklig zwar, aber immerhin auf beiden Beinen stand, lief er auf die Straße und taumelte im Zickzackkurs über die Fahrbahn. Um ein Haar wäre er überfahren worden, ein ohrenbetäubendes Hupkonzert von aufgebrachten Autofahrern scheuchte ihn zurück auf das Trottoir.
Er war abgemagert und schwach, hatte kein Dach über dem Kopf und besaß, was er am Leib trug: einen schmutzstarrenden, abgewetzten Mantel. Sobald er sich näherte, beschleunigten die Passanten ihren Schritt und wichen instinktiv aus. Er verstand das, er wusste, dass er den Leuten Angst einjagte, dass er nach Urin, Schweiß und Dreck stank.
Er war erst fünfunddreißig, sah jedoch aus wie fünfzig. Früher hatte er einen Job, eine Frau, ein Kind und ein Haus gehabt. Aber das war lange her. Heute war er nur noch ein herumirrender Schatten seiner selbst, ein in Lumpen gehülltes Gespenst, das unzusammenhängendes Zeug vor sich hin murmelte.
Nur mühsam konnte er sich aufrecht halten, schlurfend schleppte er sich durch die Straßen.
Welchen Tag wir wohl heute haben? In welchem Monat? Wie viel Uhr mag es sein?
In seinem Kopf schwirrte alles durcheinander. Vor seinen Augen verschwammen die Lichter der Stadt. Eisige Schneeflocken schnitten ihm unbarmherzig ins Gesicht. Seine Füße waren eiskalt, sein Magen schmerzte vor Hunger, es fehlte nicht viel, und er wäre am Ende.
Bald zwei Jahre war es her, dass er sich aus der Gesellschaft der Menschen verabschiedet hatte, um in die Eingeweide der Großstadt abzutauchen. Wie so viele andere Obdachlose hauste er in U-Bahn-Schächten, streifte durch die unterirdischen Gänge der Bahnhöfe und suchte Unterschlupf in den Tiefen der städtischen Kanalisation. Die unbescholtenen Bürger und arglose Touristen brauchten sich indes nicht zu fürchten: Die von der Verwaltung ausgerufene Null-Toleranz-Politik trug Früchte, an der Oberfläche blinkte und blitzte Manhattan. Doch unter den strahlenden Wolkenkratzern bebte die Erde vom Treiben eines Paralleluniversums, in dem menschliche Wracks ein unüberschaubares Netz aus Tunneln und Löchern überfluteten. Wie die Maulwürfe suchten Tausende von der Politik Ausgegrenzte zwischen Ratten und Exkrementen Zuflucht in den dunkelsten Winkeln dieser Unterwelt.
Der Mann wühlte in seiner Tasche und förderte eine Flasche billigen Fusels zutage. Natürlich trank er, wer würde das in seiner Situation nicht tun?
Einen Schluck, und noch einen.
Gegen die Kälte, gegen die Angst und all den Dreck.
Um zu vergessen, was sein Leben einmal ausgemacht hatte.
Nicole Hathaway setzte zum letzen Bogenstrich an. Zwei Takte, und dann – Stille. Die berühmte Stille nach jedem Mozartstück, eine Stille, die von Mozart mitkomponiert zu sein schien, bevor sie von tosendem Applaus verjagt wurde.
Die Violinistin verbeugte sich, nahm einen Blumenstrauß und nicht enden wollende Gratulationen entgegen. Trotz der euphorischen Beifallsbekundungen wusste Nicole, dass ihre Darbietung alles andere als grandios gewesen war. Sie hatte die Sonaten mit technischer Perfektion bewältigt, ihr Spiel war sauber und dynamisch gewesen.
Doch ohne Seele und Herzblut.
Mechanisch schüttelte sie die Hände, die sich ihr entgegenstreckten, nippte abwesend an ihrem Champagnerkelch und versuchte, eine günstige Gelegenheit abzupassen, um bloß zu verschwinden.
„Möchtest du los, Chérie?“
Die vertraute Stimme hinter ihr gehörte Eriq. Langsam drehte sie sich um. Mit einem Glas Martini stand er vor ihr, der Mann, mit dem sie seit einigen Monaten mehr oder weniger ihr Leben teilte. Ein äußerst zuvorkommender Business-Anwalt, der zur Stelle gewesen war, als sie ihn gebraucht hatte.
„Ja, mir platzt gleich der Schädel. Bringst du mich nach Hause?“
Anstelle einer Antwort stürzte er zur Garderobe und stand kurz darauf mit einem grauen Flanellmantel wieder vor ihr, in den sie rasch hineinschlüpfte. Eilig verabschiedeten sie sich von den Gastgebern und verließen den feierlichen Empfang, noch bevor er richtig angefangen hatte.
„Ich rufe dir ein Taxi“, schlug Eriq vor, während sie die imposante Marmortreppe hinunterstiegen. „Mein Auto steht an der Kanzlei, ich komme nach.“
„Lass nur, ich begleite dich die paar Schritte dorthin.“
„Bei dem Sauwetter? Das ist doch Quatsch.“
„Ich glaube, ein bisschen Bewegung und die frische Luft werden mir guttun.“
„Das ist viel zu gefährlich!“
„Seit wann ist es gefährlich, dreihundert Meter zu Fuß zu gehen? Außerdem bist du doch bei mir.“
Eriq seufzte.„Wie du meinst.“
Schweigend durchquerten sie das Foyer. Als sie auf die Fifth Avenue hinaustraten, schnitt ihnen ein eisiger Wind ins Gesicht. Sie beschleunigten ihren Schritt. Immer noch schien alles wie ausgestorben, dicke Schneeflocken senkten sich auf die nächtliche Stadt und erstickten allmählich jedes Geräusch.
Keine hundert Meter trennten sie mehr von Eriqs Wagen, es stand gleich hinter dem Bryant Park, einer wohltuenden grünen Insel inmitten des Häusermeers, die bei schönem Wetter zum Sonnenbaden und Picknicken oder zu einer Partie Schach am Brunnen einlud. An diesem Abend jedoch lag der Park verlassen und finster da … „Deine Kohle!“ Eine Klinge blitzte im Dunkeln auf.
Nicole stieß einen spitzen Schrei aus.
„Deine Kohle, sagte ich!“, herrschte der massige Kerl sie an. Er erschien ihr merkwürdig alterslos und äußerst robust. Sein rasierter Schädel ragte aus einer unförmigen Windjacke hervor, die ihm bis an die Knie reichte. In seinem Gesicht, das der Länge nach von einer angeschwollenen Narbe gespalten war, klafften seine Augen wie zwei kleine, dunkle Krater, aus denen ein flackernder Blick sprühte.
„Na los, schneller, mach schon!“
„Okay, okay.“ Nervös zückte Eriq sein Portemonnaie und überließ dem Fremden in vorauseilendem Gehorsam auch noch seine Breitling und sein Handy.
Hastig steckte der Mann die Beute ein und machte einen Schritt auf Nicole zu. Mit ein paar groben Handgriffen brachte er ihre Tasche und den Violinkoffer an sich.
Die Musikerin versuchte ihre Furcht zu verbergen, doch es gelang ihr nicht, dem irren Blick des Kerls standzuhalten. Sie schloss die Augen. Während der Räuber ihr die Perlenkette vom Hals riss, sagte sie sich in Gedanken das Alphabet rückwärts auf. So wie sie es als Kind immer getan hatte, wenn Angst ihr die Kehle zuschnürte.
Z, Y, X, W, V, U …
Es war das einzige Mittel, das ihr half, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, bis der Augenblick nur noch böse Erinnerung war.
T, S, R, Q, P, O …
Er würde verschwinden, er hatte bekommen, was er wollte: Geld, Schmuck, ein Handy…
N, M, L, K, J, I, H …
Er würde verschwinden. Eriq und sie zu töten, brächte ihm nichts.
G, F, E, D, C, B, A …
Doch als sie die Augen wieder aufschlug, war der Mann immer noch da. Langsam hob er den Arm und wollte mit dem Messer auf sie losgehen.
Eriq stand wie gelähmt neben ihr und machte keinerlei Anstalten, sie zu verteidigen.
Warum war sie nicht einmal überrascht über seine Feigheit?
Ihr blieb keine Zeit, dem Angreifer auszuweichen. Wie eine ohnmächtige Zuschauerin sah sie die Hand mit der Klinge auf sich zukommen, die Klinge, die ihr in wenigen Sekunden die Kehle durchtrennen würde.
Sollte das alles gewesen sein? Ihr Leben hatte vielversprechend begonnen, auf den glanzvollen Aufstieg allerdings war schnell der Abstieg in die Hölle gefolgt. Und nun dieses schäbige Ende, ohne die geringste Vorwarnung. Als wäre sie die Heldin einer nur halbfertigen Geschichte.
Seltsam. Hieß es nicht, dass im Moment des Todes die wichtigen Augenblicke des Lebens noch einmal im Zeitraffer vor dem inneren Auge vorbeizogen? Nicole sah eine einzige Szene vor sich: Ein weiter Strand liegt vor ihr. Nur zwei Menschen befinden sich außer ihr an diesem einsamen Ort und winken ihr fröhlich zu. Sie erkennt ihre Gesichter. Das eine gehört dem einzigen Mann, den sie je geliebt hat und den sie nicht halten konnte. Das andere ihrer Tochter, die sie nicht zu beschützen wusste.
Ich bin tot.
Nein.
Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts jemand auf.
Ein Obdachloser.
Nicole fürchtete eine weitere Attacke, ehe sie begriff, dass dieser Jemand ihr zu Hilfe eilte. Im allerletzten Augenblick trat er zwischen sie und den Straßenräuber, das Messer traf ihn und nicht sie, es traf ihn an der Schulter. Doch trotz der Verletzung rappelte sich der fremde Samariter erstaunlich schnell wieder auf die Beine und stürzte sich verbissen auf ihren Angreifer. Es gelang ihm, den Kerl zu entwaffnen und ihn zu zwingen, seine Beute fallen zu lassen. Es folgte eine heftige Schlägerei, nackte Fäuste wirbelten durch die Luft. Der Retter, obschon er schmächtiger als sein Gegner war, gewann die Oberhand, und mit Unterstützung eines schwarzen Labradors schlug er den Übeltäter in die Flucht.
Der Triumph hatte indes seinen Preis. Kraftlos brach Nicoles Schutzengel auf dem Gehweg zusammen und vergrub sein Gesicht im Schnee.
Sie hastete zu dem Mann hin, wobei sie einen ihrer Lackpumps verlor. Erst als sie vor ihm kniete, bemerkte sie die rote Blutspur im Schnee. Warum war dieser Fremde so ein Risiko eingegangen, um ihr das Leben zu retten?
„Wir werden ihm zwanzig Dollar in die Hand drücken, als Dank für seinen Einsatz.“ Geschäftig sammelte Eriq sein Portemonnaie und das Handy wieder ein – die Gefahr war vorüber, der Anwalt hatte zu seiner gewohnten Arroganz zurückgefunden.
Nicole blickte ihn voller Verachtung an. „Siehst du nicht, dass er verletzt ist?“
„Ich rufe die Polizei.“
„Du solltest nicht die Polizei rufen, sondern lieber einen Krankenwagen organisieren!“ Mit einiger Mühe drehte sie ihren Retter auf den Rücken. Seine Schulterverletzung blutete und blutete. Sie presste ihre Hand auf die Wunde und betrachtete das bärtige Gesicht des Mannes.
Sie erkannte ihn nicht gleich. Erst als sie seinem fiebrigen, ungläubigen Blick begegnete, fuhr sie erschrocken zusammen.
Etwas in ihr zersprang. Ein heißer Strom erfüllte ihr ganzes Wesen. Sie wusste nicht, ob es Schmerz war, oder Erleichterung. Eine Brandwunde, oder eine Hoffnung, die plötzlich in dieser Nacht aufleuchtete.
Sie beugte sich über ihn, näherte ihr Gesicht dem seinen, wie um ihn gegen das Schneegestöber abzuschirmen.
„Was machst du da?“, erkundigte sich Eriq verwirrt, während er eine Nummer in sein Handy eingab.
„Leg auf und hol deinen Wagen“, sagte Nicole bestimmt und richtete sich auf.
„Darf man fragen, was du vorhast?“
„Ich … ich kenne diesen Mann.“
„Was soll das heißen, du kennst diesen Mann?“
„Hilf mir lieber, wir bringen ihn zu mir“, gab sie zurück, ohne seine Frage zu beantworten.
Eriq schüttelte den Kopf. „Würdest du mir bitte erklären, wer dieser Typ ist?“
Nicole richtete den Blick in die Ferne. Nach einer Weile sagte sie leise: „Es ist Mark, mein Mann.“
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