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Totenspieler (Mark-Heckenburg-Reihe 5)

Totenspieler (Mark-Heckenburg-Reihe 5)

Paul Finch
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Thriller

„Paul Finchs Reihe um den eigensinnigen Ermittler garantiert bei jedem Fall Höchstspannung. (...) Nervenkitzel von der ersten bis zur letzten Seite.“ - Cellesche Zeitung

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Totenspieler (Mark-Heckenburg-Reihe 5) — Inhalt

Eine Serie tödlicher Unfälle im Süden Englands macht Detective Mark Heckenburg misstrauisch: Kann es sich bei einer Reihe derart skurriler Unglücke noch um einen tragischen Zufall handeln? Oder hat Heck es tatsächlich mit einem Mörder zu tun, der Schicksal spielt? Sein Verdacht, die vermeintlichen Unfälle seien makabere Inszenierungen, bekräftigt sich mehr und mehr. Doch mit jedem Schritt, dem er sich dem Killer nähert, droht er selbst sein Opfer zu werden …

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.08.2016
Übersetzt von: Bärbel Arnold, Velten Arnold
480 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97312-0
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Leseprobe zu „Totenspieler (Mark-Heckenburg-Reihe 5)“

Kapitel 1


Dazzer und Deggsy scherten sich einen Dreck um irgendjemanden. Das erzählten sie zumindest, wenn sie sich auf Partys vor ihren Kumpels aufspielten. Oder wenn die Bullen sie aufgriffen und ihnen einzureden versuchten, sie hätten etwas ausgefressen.
Sie taten, was ihnen gerade in den Sinn kam. Sie zogen nicht los, um irgendjemandem etwas anzutun, aber wenn ihnen je­­mand in die Quere kam, hatte der Störenfried eben verdammt noch mal Pech gehabt. Sie klauten Autos und hatten ihren Spaß mit ihnen. Das war ihr Ding. Und sie würden damit weitermachen, [...]

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Kapitel 1


Dazzer und Deggsy scherten sich einen Dreck um irgendjemanden. Das erzählten sie zumindest, wenn sie sich auf Partys vor ihren Kumpels aufspielten. Oder wenn die Bullen sie aufgriffen und ihnen einzureden versuchten, sie hätten etwas ausgefressen.
Sie taten, was ihnen gerade in den Sinn kam. Sie zogen nicht los, um irgendjemandem etwas anzutun, aber wenn ihnen je­­mand in die Quere kam, hatte der Störenfried eben verdammt noch mal Pech gehabt. Sie klauten Autos und hatten ihren Spaß mit ihnen. Das war ihr Ding. Und sie würden damit weitermachen, denn es machte ihnen einen Heidenspaß. Niemand würde sie aufhalten, und wenn irgendein Typ sich aufregte, weil er gerade hatte mit ansehen müssen, wie sein ganzer Stolz in einen Schrotthaufen verwandelt worden war, was machte das schon? Dazzer und Deggsy scherten sich einen Dreck darum.
Dieser Abend war wie geschaffen für ihr Lieblingshobby.
Na schön, es war nicht bitterkalt, was schade war. Doch auch wenn Dazzer und Deggsy es kaum fassen konnten, kamen tatsächlich ein paar Vollidioten aus ihren Häusern, sahen ein bisschen Schnee und Eis, starteten ihr Auto und ließen den Motor dann fünf Minuten lang laufen, während sie noch einmal nach drinnen gingen und sich eine Tasse Kaffee oder Tee genehmigten. Man brauchte sich nur hinters Lenkrad zu setzen und konnte laut johlend losbrettern. Es war zwar nicht eisig, aber feuchtnass und neblig, und da Ende Januar war, wurde es früh dunkel, weshalb sich nicht allzu viele Leute draußen herumtrieben, die ihnen hätten in die Quere kommen können.
Nicht, dass die Leute es darauf anlegten, Dazzer und Deggsy in die Quere zu kommen.
Dazzer war für sein Alter recht groß. Er maß gut einen Meter achtzig und war breit gebaut, die Mitte seines Kopfes zierte ein Streifen strohblondes, sorgfältig gestyltes Haar, den Rest hatte er sich kahl rasiert. Wenn seine brutalen Gesichtszüge nicht mit Akne übersät gewesen wären, hätte man ihn für achtzehn oder sogar zwanzig halten können – und nicht für sechzehn, was sein tatsächliches Alter war. Wobei man dieser Tage natürlich sogar von einem Sechzehnjährigen eine Tracht Prügel beziehen konnte, wenn man es wagte, ihn falsch anzusehen. Dem zweiten Mitglied des kriminellen Duos, Deggsy, sah man sein Alter schon eher an, auch wenn er seinem Kumpan an Niederträchtigkeit in nichts nachstand. Er war kleiner und dünner, hatte ein wieselartiges Gesicht und war stolzer Besitzer eines keinesfalls beeindruckenden flaumigen Schnauzbarts. Auf seiner schmierigen schwarzen Mähne saß normalerweise eine schmutzige Baseballkappe, deren vorderes Logo längst entfernt worden und mit einem orangefarbenen Day-Glo-Leuchtstift in großen Lettern durch den Schriftzug Fuck off ersetzt worden war.
Beide zusammen brachten es nicht einmal ganz auf dreißig Jahre Lebenserfahrung, doch sie trugen beide das großkotzige Gehabe und das abfällige höhnische Grinsen von Typen zur Schau, die sich einbildeten zu wissen, wo es langgeht, und die nicht den geringsten Zweifel daran hegten, dass ihnen zustand, was sie sich nahmen.
Es war gegen neun Uhr an diesem Abend, als sie ihr erstes Beutestück erspähten, das sich ihnen förmlich aufdrängte: einen Volkswagen-Kombi. Laut dem A auf dem Nummernschild war er in East Anglia registriert und insgesamt in schlechtem Zu­­stand: dreckig, um die Radkästen herum verrostet und mit einigen Dellen in der Karosserie, aber der Wagen erfüllte alle Kri­terien.
Schicke Schlitten konnte man sich dieser Tage kaum noch unter den Nagel reißen. All diese Nobelkarossen waren nur noch etwas für Profi-Autoschieber, die ein Vermögen damit verdienten, indem sie die Nummernschilder austauschten, die Papiere fälschten und die Autos weiterverkauften. Nein, wenn man nur darauf aus war, ein bisschen Spaß zu haben, musste man sich mit diesen minderwertigen Fahruntersätzen zufriedengeben – aber das konnte auch von Vorteil sein, denn wenn man mit einer alten Rostbeule loszog und die Straßen unsicher machte, schleppten die Bullen den Wagen zwar hinterher ab, machten sich jedoch kaum die Mühe, groß zu ermitteln. Außerdem stand das Beutestück, das sie auserkoren hatten, an einem guten Ort. Der alte VW-Kombi parkte an einer Stelle, die von keiner Überwachungskamera erfasst wurde, wie Dazzer und Deggsy wussten, weil sie es sich zur Aufgabe gemacht hatten, genau darüber Bescheid zu wissen, wo sich diese Kameras befanden.
Sie beobachteten den Wagen von einer Ecke aus und achteten auf jedes Anzeichen einer Bewegung, doch der natriumgelbe Schein einer einsamen Straßenlaterne erhellte nur eine rollende Bierdose und ein paar Papierfetzen, die in der schlaffen Brise herumflatterten.
Doch sie warteten noch. Sie hatten an dieser Stelle schon ein paar Mal erfolgreich zugeschlagen – es war eine einspurige Gasse, die zwischen den Hintertüren einer Reihe alter Laden­lokale und einer hohen Backsteinmauer verlief und vor drei Be­­tonpollern endete. Dort trieb sich am Abend nie jemand herum. In den Wohnungen über den Ladenlokalen wohnten keine Mieter, und selbst ohne den düsteren Januarnebel war es ein dunkler, schäbiger Ort. Doch gerade die Tatsache, dass die Gelegenheit so günstig schien, machte Dazzer und Deggsy stutzig und gebot ihnen, noch vorsichtiger zu sein als sonst. Hier waren schon einige andere Autos gestohlen worden, da war es doch merkwürdig, dass dieser Wagen genau dort stand. Lernten die Leute denn nie dazu? Vielleicht nicht. Aber vielleicht lag es auch daran, dass dieser Straßenzug total runtergekommen war. Nur in zwei Läden herrschte tagsüber Betrieb, die meisten standen leer und waren laut Schildern „ZU VERMIETEN“. Einige waren mit Brettern verrammelt, als wären sie gerade erst aufgegeben worden. Hatten sie der Rezession zu verdanken.
Die beiden setzten sich in Bewegung. Sie stapften kühn los und spitzten dabei die Ohren, achteten auf das leiseste ungewöhnliche Geräusch – aber niemand rief nach ihnen, niemand trat aus einem dunklen Eingang hervor.
Der Volkswagen war natürlich abgeschlossen, doch Deggsy zückte seinen Schraubenzieher, und in weniger als fünf Se­­kunden hatten sie die Fahrertür aufgebrochen. Keine Alarm­anlage schrillte. Genau das hatten sie angesichts des maroden Zustands der Karre auch erwartet – ein weiterer Vorteil dessen, wenn man es auf die weniger wertvollen Gefährte abgesehen hatte. Sie kicherten krächzend, sprangen in den Wagen und stellten fest, dass sich schon mal jemand über die Lenksäule her­gemacht hatte – sie wurde von etlichen Streifen silbernem Klebeband zusammengehalten. Ein paar Schnitte mit Dazzers Teppichmesser reichten, und das Klebeband war durch. Selbst in der pechschwarzen Finsternis und trotz der Handschuhe fanden ihre flinken Finger die erforderlichen Kabel, und in null Komma nichts war der Kontakt hergestellt.
Der Motor erwachte dröhnend zum Leben. Sie lachten aus vollem Halse und traten aufs Gas.
An diesem Abend war Dazzer mit dem Fahren dran, und Deggsy saß auf dem Beifahrerplatz, aber wer wo saß, war sowieso egal – hinter dem Steuer war der eine so verrückt wie der andere. Sie bretterten rücksichtslos die Straßen entlang, schlingerten mit quietschenden Reifen um Kurven, rasten über rote Ampeln und ignorierten Stoppschilder. Die anderen Autofahrer zeigten zu­­nächst keinerlei Reaktion, und es gab sowieso kaum Gegenverkehr. Sie rissen die Handbremse hoch, rutschten seitlich über eine normalerweise stark befahrene Kreuzung und wurden von dem Gestank nach verbranntem Gummi eingehüllt. Dann gaben sie wieder Gas und rasten aus der Stadt die A246 entlang. Sie hatten einen halb vollen Tank zur Verfügung und eine beinahe schnurgerade Straße vor sich. Vielleicht würden sie es bis Guildford schaffen, wo sie sich für den Rückweg einen neuen Wagen krallen konnten. Aber im Moment hatten sie einfach nur einen Heidenspaß. Wahrscheinlich würden sie unterwegs ein paar Ab­­stecher machen und in einigen Wohnsiedlungen, die sie kannten, ein bisschen Chaos und ein paar Lackschäden verursachen, indem sie an teuren Karossen entlangschabten, die deren un­­kluge Besitzer offen auf der Straße hatten stehen lassen.
Direkt vor ihnen tauchten ein paar Baustellen auf und rasten auf sie zu. Dazzer johlte, als er den Volkswagen direkt durch sie hindurchjagte. Leitkegel flogen zu allen Seiten – einer krachte gegen das Erkerfenster eines Hauses am Straßenrand und schoss geradewegs durch die Scheibe. Sie mähten ein „Links-halten“-Schild um und rasten frontal in eine Baustellenampel hinein, die Funken sprühend auf dem Dach ihres Wagens landete.
Der Asphalt spulte sich vor ihnen ab. Sie waren mit 130, 145, ja beinahe 160 Sachen unterwegs und wie hypnotisiert von ihrer Furchtlosigkeit. Ihre Aufmerksamkeit war voll und ganz auf die Kegel der Scheinwerfer gerichtet, die sich vor ihnen in die Finsternis bohrten. Es hätte schon etwas sehr Aufsehenerregendes passieren müssen, um sie aus ihrem todesmutigen Bann zu reißen – und genau das passierte etwa sieben Minuten später während dieser letzten Fahrt ihres Lebens in einem gestohlenen Auto.
Sie hatten die Stadt inzwischen hinter sich gelassen und jagten auf dem Land dahin, als sie mit 135 Stundenkilometern einen Randstein rammten. Das war für sich genommen kein Problem, aber Deggsy, der gerade sein Handy aus seiner Jackentasche gefischt hatte, um ihre jüngste Eskapade zu filmen, wurde so heftig zur Seite geschleudert, dass ihm das Handy aus der Hand fiel und im Fußraum landete.
„Scheiße!“, fluchte er und tastete den Fußraum nach dem Handy ab. Da er es nicht auf Anhieb fand – da unten lag ziemlich viel Kram herum –, streifte er sich mit den Zähnen seinen Handschuh ab und tastete mit bloßen Händen weiter den Fußraum ab. Diesmal fand er das Handy, doch als er die Hand wieder hochzog, sah er, dass er auch noch etwas anderes gefunden hatte.
Es saß auf seiner nackten Faust. Im ersten Moment dachte er, dass er mit der Hand ein Paar alte Stiefel gestreift und sich dabei mit Öl oder Farbe beschmiert hatte. Doch jetzt spürte er das Gewicht von diesem Etwas und dieses nadelstichartige Kribbeln an der Stelle, an der es ihn offenbar gepackt hatte. Aber er war sich immer noch nicht dessen bewusst, worum es sich tatsächlich handelte, nicht einmal, als er sich die Hand direkt vor die Nase hielt. Aber vielleicht war das auch nicht überraschend, denn bisher hatte Deggsy nur im Fernsehen Skorpione gesehen. Und selbst im Fernsehen hatte er noch nie einen Skorpion mit so einem hellen, schimmernden Panzer gesehen, wie dieser ihn hatte – er glänzte im immer wieder aufblitzenden Schein der vorbeihuschenden Straßenlaternen wie poliertes Leder. Der Skorpion maß vom Kopf bis zum Schwanz mindestens zwanzig Zentimeter, der Schwanz war in Drohhaltung zum Zustechen aufgerichtet, die Scheren, die so groß waren wie die eines Krebses, waren in der typischen Verteidigungsposition erhoben.
Das konnte kein echter Skorpion sein, fuhr es Deggsy durch den Kopf.
War das ein Spielzeug? Es musste ein Spielzeug sein.
Aber dann stach er ihn.
Im ersten Moment war der Schreck größer als der Schmerz; es war, als ob eine glühend heiße Reißzwecke bis zum Anschlag in sein Fleisch und den darunter liegenden Knochen gedrückt worden wäre. Doch dieser geringfügige Schmerz weitete sich rasch aus, füllte seinen plötzlich erstarrten Arm mit einem Brennen wie von glühend heißem Feuer, das immer heftiger wurde – und dann schrie Deggsy hysterisch. Inzwischen hatte er sich das achtbeinige Monster von der Hand geschlagen und zurück in den Fußraum befördert, doch er wand sich in seinem Sitz, warf sich hin und her und hatte Schaum vor dem Mund, während er verzweifelt versuchte, seinen Sicherheitsgurt zu lösen, der ihn auf einmal einzuzwängen schien. Im ersten Moment dachte Dazzer, dass sein Kumpel nur eine Show abzog, doch er wies ihn laut schreiend zurecht, als Deggsys Krämpfe ihn am Fahren zu hindern drohten.
Und dann ließ sich etwas auf Dazzers Schulter nieder.
Obwohl das Auto wie wild hin und her schlingerte, hatte sich dieses Etwas geduldig und langsam heruntergelassen – an einem einzigen seidenen Faden –, und als Dazzer den Kopf umwandte, um zu sehen, was es war, verspannte es sich und umklammerte ihn wie eine Hand. Im immer wieder aufblitzenden halluzinogenen Schein der Straßenlaternen erhaschte Dazzer einen kurzen Blick auf kräftige tigerstreifenartige Farben und eng beieinanderliegende dämonische Augen, die ihn aus unmittelbarer Nähe anstarrten.
Der Biss in seinen Hals fühlte sich an wie ein Faustschlag.
Dazzers Fuß trat das Gaspedal durch, während sein ganzer Körper von Krämpfen geschüttelt wurde. Die Bisswunde wurde sofort taub, doch durch den Rest von ihm schoss brennender Schmerz, als ob immer wieder Blitze in ihn einschlügen.
Keiner der beiden merkte, wie der Wagen mit heulendem Motor eine Böschung hinaufraste und mit qualmenden Reifen Grasfetzen aufwirbelte. Er krachte durch den Lattenzaun, der sich auf dem Damm der Böschung befand, raste auf der anderen Seite durch Buschwerk und Gestrüpp wieder nach unten, überschlug sich dabei mehrfach und landete auf dem Fahrzeugdach in einem tiefen Einschnitt auf einem Feldweg.
Einige Sekunden lang war nahezu kein Laut zu hören, nur das eigentümliche Ächzen sich verziehenden Metalls und das Zischen des Dampfes, der kräuselnd den zahlreichen Rissen der ramponierten Karosserie entstieg.
Die beiden durchgeschüttelten Gestalten im Inneren des Wagens atmeten zwar noch, aber sie waren wohl kaum noch als lebendig zu bezeichnen. Blutüberströmt und übel zugerichtet hingen sie verdreht und starr in ihren Sitzen und waren regelrecht gelähmt. Sie nahmen ihre Umgebung noch wahr, waren jedoch unfähig, Widerstand zu leisten, als diverse kleine Kreaturen, die den Aufprall in Nischen und Spalten unbeschadet überstanden hatten, aus ihren Zufluchtsorten erschienen und über das warme geschundene Fleisch der beiden Autodiebe huschten. Deggsys Kiefer war starr; er konnte keine Klage herausbringen – nicht einmal ein Murmeln oder einen Schrei –, als er erneut Bekanntschaft mit dem hell gepanzerten Skorpion machte, der mit seinen gelenkigen staksigen Laufbeinen langsam seinen Körper hinaufkrabbelte und sich schließlich auf seinem Gesicht niederließ, wo er, wie es schien, mit Bedacht Deggsys Nase und dessen linkes Ohr zwischen seine Scheren nahm, erneut seinen Schwanz aufrichtete – und seinen Stachel tief in Deggsys starrenden Augapfel bohrte.


Kapitel 2


Heck stürmte aus dem türkischen Imbiss, in der einen Hand einen halb aufgegessenen Döner, in der anderen einen Papp­becher mit Coca-Cola. Ein Hupkonzert ertönte, als Dave Jowitt seinen unverwechselbaren weinroten Astra von der äußeren Spur herumriss, mitten im dichten Abendverkehr eine Hundert­achtzig-Grad-Wende hinlegte und am Bürgersteig zum Stehen kam. Heck stopfte sich noch eine Handvoll Lammfleisch und Brot in den Mund, kippte einen letzten Schluck Cola hinterher und warf die Reste in den nächsten Abfalleimer, bevor er schnell in den Astra einstieg und sich auf dem Beifahrersitz niederließ.
„Stellt Grinton ein Verhaftungsteam zusammen?“, fragte er.
„Genau in diesem Moment“, entgegnete Jowitt, stieß Heck einen Stapel Papiere hin und gab Gas. Trotz des eingeschalteten Blaulichts auf dem Dach des Astras ertönten weitere Hupen. „Wir stoßen auf der zentralen Polizeiwache von St. Ann’s zu ihnen.“
Heck nickte und blätterte durch die offiziellen Unterlagen der Nottinghamshire Police. Die SMS, die er soeben von Jowitt er­­halten hatte, war kurz und knapp, aber es war seit ziemlich langer Zeit die wichtigste Nachricht gewesen, die ihm jemand ge­­sendet hatte.

Hucknall-Mord passt zum Muster des Ladykillers
Hauptverdächtiger – Jimmy Hood
Aufenthaltsort BEKANNT
Heck beziehungsweise Detective Sergeant Mark Heckenburg, wie seine offizielle Anrede bei der National Crime Group lautete, bebte innerlich vor Aufregung, als er das Licht anmachte und die Unterlagen durchging. Selbst jetzt, mit siebzehn Dienstjahren als Ermittler auf dem Buckel, schien es ihm unglaublich, dass ein Fall, der allen Analysen getrotzt, sich acht zähe Monate lang hingezogen und ihm lähmende Frustrationen beschert hatte, mit einem Mal kurz vor der Aufklärung stehen sollte.
„Wer ist Jimmy Hood?“, fragte er.
„Ein Albtraum auf zwei Beinen“, erwiderte Jowitt.
Heck kannte Jowitt erst seit dem Beginn der Ermittlungen in diesem Fall, doch gleich bei ihrer ersten Begegnung hatte die Chemie zwischen ihnen gestimmt, und seitdem war es so geblieben. Dave Jowitt, der gebürtig aus der Gegend stammte, war ein gewiefter und unglaublich gut aussehender Schwarzer mit regelmäßigen Gesichtszügen. Mit dreißig war er ein bisschen jung, um schon Detective Inspector zu sein, aber was ihm vielleicht an Erfahrung fehlen mochte, machte er durch seine schnelle Auffassungsgabe und seinen Scharfblick mehr als wett. Nach den äußerst anstrengenden intensiven Ermittlungen der zurückliegenden Monate hatte selbst Jowitt erste Anzeichen von Ermüdung gezeigt, doch an diesem Abend war er wieder in Höchstform und schlängelte sich mit aufgeknöpftem Hemdkragen und gelockerter Krawatte gekonnt und schnell durch den chaotischen Verkehr.
„Er hat als Kind in Hucknall gelebt“, fuhr Jowitt fort. „Doch die meiste Zeit seiner Kindheit war er weggesperrt.“
„Nicht nur als Kind“, stellte Heck fest. „Wie hier steht, ist er erst vor sechs Monaten aus Roundhall entlassen worden.“
„Ja, und was sagt uns das?“
Heck konnte sich die Antwort sparen. Roundhall war ein Gefängnis der niedrigen Sicherheitsstufe in den West Midlands. Dem Vorstrafenbericht zufolge hatte Jimmy Hood, der inzwischen Mitte dreißig war, eineinhalb Jahre dort eingesessen, bevor er unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen worden war. Doch zuvor war er in Durham hinter Gittern gewesen, nachdem er wegen Einbruchdiebstahls und Vergewaltigung eine vierzehnjährige Haftstrafe kassiert hatte. Die Details seiner ursprünglichen Verbrechen passten bereits hinlänglich zu dem Muster des Falls, an dem sie zurzeit arbeiteten, doch dass er die zurückliegenden Monate auf freiem Fuß gewesen war, ließ ihn eindeutig als Täter für die Verbrechen des Ladykillers infrage kommen.
„Er ist noch immer ein Schlägertyp wie früher“, stellte Jowitt fest. „War schon mit siebzehn ein Riese von einem Meter neunzig und dazu kräftig gebaut. Alle, die ihn kannten, hatten Schiss vor ihm. Wurde mal festgenommen, weil er ein Kätzchen in einen Betonmischer geworfen hat. Bei einem anderen Zwischenfall war er der Anführer einer Gruppe Jugendlicher, die auf einer Baustelle über zwei Bauarbeiter hergefallen sind, die ihnen die Meinung gesagt hatten, weil sie Werkzeuge gestohlen hatten – die beiden Arbeiter wurden mit Ziegelsteinen bewusstlos geschlagen. Einer musste sein Gesicht wiederherstellen lassen. Dafür ist Hood in den Knast gewandert.“
Das Polizeifoto in den Berichten zeigte Hood mit schwarzen Zottelhaaren und einem breiten, bärtigen Gesicht, das durch eine übel gebrochene Nase entstellt wurde – und hatte eine verstörende Ähnlichkeit mit dem Phantombild, das sie vor einigen Tagen veröffentlicht hatten. Aus den Berichten erfuhr Heck, dass Hood diese spezielle Jugendbande, die in Hucknall schwere Verbrechen begangen hatte, bereits seit seinem zwölften Lebensjahr angeführt hatte. Doch sexuelle Vergehen hatte er sich erst in seinen späten Teenagerjahren zuschulden kommen lassen, meistens im Verlauf von Einbrüchen.
„Also kommt er aus dem Knast und macht genau da weiter, wo er aufgehört hat?“, fragte Heck.
„Nur dass er seine Opfer diesmal umbringt“, entgegnete Jowitt.
Heck verwunderte das nicht sonderlich. Bestimmte Typen von Gewaltverbrechern hatten gar nicht die Absicht, resozialisiert zu werden. Sie waren dem, was sie taten, so verfallen, dass sie Gefängnisaufenthalte – selbst sehr lange – sozusagen als Be­­rufsrisiko ansahen. Er kannte jede Menge solcher Typen, die für lange Zeit hinter Gitter gewandert waren und diese Zeit genutzt hatten, um fit zu werden und sich mit den neusten kriminellen Techniken vertraut zu machen, und in denen sich nach und nach ein Druck aufbaute, der mit verheerender Kraft ex­­plodierte, sobald sie aus dem Gefängnis entlassen wurden. Er konnte sich gut vorstellen, dass dieses Muster auch auf Jimmy Hood zutraf, und, was noch wichtiger war, die Beweise schienen darauf hinzudeuten. Bei allen vier Mordopfern, die in letzter Zeit zu beklagen gewesen waren, hatte es sich um ältere alleinlebende Frauen gehandelt. Als Hood ein Teenager gewesen war, waren die meisten seiner Opfer ebenfalls ältere Frauen ge­­wesen. Die Opfer der jüngsten Zeit waren allesamt zuerst vergewaltigt und dann mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden. Als Jugendlicher hatte Hood seine Opfer verprügelt, nachdem er sich unsittlich an ihnen vergangen hatte.
„Komisch, dass wir seinen Namen nicht sofort auf dem Radar hatten, als er zum ersten Mal seinen Bewährungshelfer versetzt hat“, sagte Heck.
Jowitt zuckte mit den Schultern. „Hinterher ist man immer klüger.“
„Da haben Sie wahrscheinlich recht.“ Heck erinnerte sich an etliche Gelegenheiten im Laufe seines Polizistendaseins, bei denen es von Vorteil gewesen wäre, eine Kristallkugel gehabt zu haben.
Diesmal verdankten sie ihren Durchbruch einem aufmerk­samen Bürger.
Die vier Einbruchmorde, in denen sie ermittelten, hatten sich alle im östlich der Innenstadt von Nottingham gelegenen Stadtteil St. Ann’s ereignet, einem armen, dicht besiedelten Gebiet, das auch so schon mehr als genug mit Kriminalitätsproblemen zu kämpfen hatte. Die einzige Beschreibung, über die sie verfügten, war, dass sie es mit einem kräftig gebauten bärtigen Mann zu tun hatten, der schäbige Sportklamotten trug und da­­rüber einen zerlumpten Dufflecoat, was die Vermutung nahelegte, dass er sich nicht regelmäßig waschen und umziehen konnte und im Freien schlief. Doch erst am Tag zuvor hatte sich ein weiterer Mord in Hucknall ereignet, einem Stadtteil, der ­un­­mittelbar nördlich an die City angrenzte und bei dem die Tatdetails denen der Morde von St. Ann’s stark ähnelten. In diesem Fall gab es keine Täterbeschreibung, doch früher an diesem Tag hatte ein Mann, der schon seit Langem in Hucknall lebte – und Jimmy Hood gut kannte, genau wie dessen Verbrechen –, der Polizei gemeldet, dass er ihn kurz nach dem Mord in der Nähe des Busbahnhofs Pommes essen gesehen habe. Er habe einen Trainingsanzug getragen und darüber einen Dufflecoat. Einen Bart habe er nicht bemerkt, den könnte er aber abrasiert haben.
»Und er ist in der Bude von diesem Alan Devlin unter­geschlüpft?«, fragte Heck.
„Vielleicht zeitweise“, entgegnete Jowitt. „Was halten Sie von der Sache?“
»Tja … Ich hätte es wahrscheinlich nicht ›Aufenthaltsort be­­kannt‹ genannt. Aber es ist ein verdammt guter Ausgangspunkt.«
Alan Devlin, der als Jugendlicher Mitglied von Hoods Gang gewesen war und aus dieser Zeit ein langes Vorstrafenregister hatte, wohnte in einer Sozialwohnung in St. Ann’s. Dieser Tage war er der einzige bekannte Komplize von Hood, der im zentralen Stadtgebiet von Nottingham wohnte, und dass seine Adresse sich in so unmittelbarer Nähe der jüngsten Morde befand, konnten sie nicht ignorieren.
„Was wissen wir über Devlin?“, fragte Heck. „Ich meine, über das hinaus, was in den Akten steht.“
„Mischt offenbar nicht mehr mit. Sein Sohn Wayne ist ein bisschen zwielichtig.“
„Inwiefern zwielichtig?“
„In jeder Hinsicht Abschaum. Prügelt sich bei Fußballspielen. Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung. Raub.“
„Raub?“
„Hat einem anderen Jungen das Fahrrad weggenommen, nachdem er ihm zuvor eine Abreibung verpasst hat. Ist aber schon ein paar Jahre her.“
»Klingt so, als wäre der Apfel nicht weit vom Stamm ge­­-
fallen.«
Als Mitarbeiter der National Crime Group oder, genau genommen, des Dezernats für Serienverbrechen, gehörte es zu Mark Heckenburgs Aufgabenbereich, sämtliche Polizeidienststellen in ganz England und Wales bei Ermittlungen in Mordfällen zu unterstützen. Er und die anderen Detectives des Dezernats für Serienverbrechen wurden anderen Dienststellen normalerweise in Fällen einer Häufung schwerer Gewaltverbrechen, zwischen denen eine Verbindung zu existieren schien, als beratende Er­­mittler zur Seite gestellt. Es waren große oder komplexe Fälle, die die örtlichen Polizeidienststellen überforderten und bei de­­nen die Beamten des Dezernats für Serienverbrechen ihr Fachwissen und ihre Erfahrung zur Verfügung stellten. Normalerweise wurden sie den jeweiligen Dienststellen zu viert oder fünft zugewiesen, manchmal auch in noch größeren Gruppen. Doch in diesem Fall konnte die Nottinghamshire Police bereits auf die Unterstützung erfahrener Beamter der East Midlands Special Operations Unit zählen, weshalb Heck allein nach Nottingham abkommandiert worden war.
Die Zuweisung von Abgesandten des Dezernats für Serienverbrechen war bei den Beamten der regionalen Polizeidienststellen nicht immer willkommen, einige sahen in der Anwesenheit Außenstehender eine Geringschätzung der eigenen Fähigkeiten. Allerdings wurde der Rat des Dezernats in einigen Fällen – wie in diesem – auch aktiv gesucht. Detective Chief Superintendent Matt Grinton, der Leiter der Sonderkommission, hatte sich persönlich mit Detective Superintendent Piper, der Leiterin des Dezernats für Serienverbrechen, in Verbindung gesetzt. Grinton hatte die von Gemma und ihrem Team nach allen Regeln der Kunst durchgeführten Ermittlungen der zurückliegenden Jahre als aufmerksamer Beobachter begleitet. Er hatte nicht speziell nach Heck gefragt, doch Gemma Piper, die Heck erst vor Kurzem wieder in ihr Team aufgenommen hatte, nachdem dieser vorübergehend dem Cumbria Crime Command zugeteilt gewesen war, hatte es für eine gute Idee gehalten, Heck hinzuschicken, damit er sich wieder einlebte. Die Kollegen aus Nottinghamshire hatten nur um einen Mann als Unterstützung gebeten, jemanden, der Sachverstand und Erfahrung mitbrachte und in ihrem eigenen Team mitarbeiten sollte, anstatt gleich einen ganzen Haufen Scotland-Yard-Beamter zugeteilt zu bekommen, die die Ermittlungen an sich rissen und komplett übernahmen.
Detective Chief Superintendent Grinton war ein großer Mann mit silbrigem Haar, einem wohlgeformten, jung gebliebenen Gesicht und einem Hang zu elegant geschnittenen Anzügen, doch sein markantestes Merkmal war die Augenklappe, die er über seiner linken Augenhöhle trug, nachdem er sein Auge fünfzehn Jahre zuvor bei einer Verfolgungsjagd im Laufe einer Schießerei beim Überholen des verfolgten Wagens durch herumfliegende Glassplitter verloren hatte. Im Moment stand er im grellen Schein der Halogenstrahler auf dem Parkplatz hinter der zen­tralen Polizeiwache von St. Ann’s und hielt Hof. Uniformierte Beamte in voller Einsatzmontur und Detectives, die unter ihren Jacketts und Mänteln Stichschutzwesten trugen, standen gruppenweise um ihn herum und hörten ihm aufmerksam zu.
„Die Nummer läuft also so ab“, stellte Grinton klar. „Wir schlagen sofort zu, anstatt bis zum Morgengrauen zu warten, und zwar erstens, weil unser Observierer, der Devlins Wohnung überwacht, uns mitgeteilt hat, dass der Kerl momentan zu Hause ist, und zweitens, weil die Abkühlungsphase zwischen den Morden immer kürzer wird, was bedeutet, dass Jimmy Hood, falls er unser Mann ist, von Minute zu Minute mehr durchknallt. Nach allem, was wir wissen, könnte er bis morgen früh ohne Weiteres zwei oder drei weitere Morde begangen haben. Wir müssen ihn heute Nacht schnappen, und Alan Devlin ist die beste Spur, die wir bisher hatten. Und denken Sie daran … trotz seiner kriminellen Vergangenheit ist Devlin kein Verdächtiger, sondern ein Zeuge. Er wird eher geneigt sein, uns zu helfen, wenn wir als Freunde bei ihm aufkreuzen.“
Die Umstehenden bekundeten mit allgemeinem Nicken, dass sie verstanden hatten. Die Angehörigen des Einsatzteams kniffen den Mund zusammen, als ihnen bewusst wurde, was auf dem Spiel stand. Jeder der anwesenden Männer und Frauen wusste, was er oder sie zu tun hatte, aber es war entscheidend, dass niemand einen Fehler machte.
„Eine Sache noch, wenn Sie gestatten“, meldete sich Heck zu Wort. „Ich empfehle dringend, dass wir alles, was Alan Devlin uns sagt, mit Vorsicht genießen.“
„Gibt es dafür einen speziellen Grund?“
Heck wedelte mit Devlins Kriminalakte. »Seit dem Jugend­alter ist er zwar nicht mehr verurteilt worden, aber sauber war er nicht – er war Jimmy Hoods rechte Hand, als sie in der Ge­­gend um Hucknall ganze Wohnsiedlungen terrorisiert haben. Und dieser Tage ist sein Sohn Wayne auf bestem Wege, hier in St. Ann’s in die Stapfen seines Vaters zu treten. Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann in Alan Devlin einfach keinen gesetzestreuen Bürger sehen.«
„Sie glauben, er würde einen Mörder decken?“, fragte Jowitt skeptisch.
Heck zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Sir. Mal angenommen, Hood ist der Mörder – und nach allem, was wir wissen, glaube ich, dass er es ist –, finde ich es merkwürdig, dass Devlin, der ihn besser kennt als irgendjemand sonst, nicht zu dem gleichen Schluss gekommen ist wie wir und sich von sich aus mit uns in Verbindung gesetzt hat.“
„Vielleicht hat er Angst?“, schlug jemand vor.
Heck versuchte, die Skepsis, die er dieser Annahme entgegenbrachte, nicht zu zeigen. „Hood ist ein Schlägertyp, aber er verstößt gegen seine Haftentlassungsauflagen, die ihm strikt untersagen, sich in Nottingham aufzuhalten. Das bedeutet, dass er den Kopf einziehen und seinen Aufenthaltsort ständig wechseln muss. Er hat nur die Kleidung, die er am Leib trägt, und ist auf sich allein gestellt. Ihm ist kalt, seine Klamotten sind klamm, und er muss sich von Essensabfällen aus Mülleimern an Busbahnhöfen ernähren. Stellt er für einen Typen wie Devlin, der selbst imstande ist, kräftig zuzuschlagen, wirklich eine Bedrohung dar? Der zudem einen erwachsenen Hooligan als Sohn hat und der, auch wenn er offiziell nicht mehr mitmischt, in seinem Viertel wahrscheinlich nach wie vor ziemlichen Respekt genießt und jederzeit ein paar Leute zusammentrommeln kann, wenn er Hilfe braucht?“
Die Mitglieder des Teams dachten darüber nach und bezogen es in ihre Erwägungen mit ein.
„Wir werden sehen, was passiert“, stellte Grinton klar und zog den Reißverschluss seines Anoraks hoch. „Wenn Devlin sich dumm stellt, lassen wir ihn wissen, dass das Fahndungsfoto von Hood heute Abend in den Zehn-Uhr-Nachrichten gesendet wird und ihn nur ein paar Anwohner als jemanden zu erkennen brauchen, der sich in der Gegend von Devlins Wohnung herumgetrieben hat. Der Ladykiller wandert für den Rest dieses Jahrhunderts in den Knast, meine Damen und Herren. Devlin mag immer noch einen Ruf haben, den er glaubt, verteidigen zu müssen, aber mit dieser Sache will er bestimmt nichts zu tun haben. Die Chancen stehen gut, dass er reden wird.“
Sie fuhren mit fünf nicht gekennzeichneten Autos zu der betreffenden Adresse, darunter Hecks kastanienbrauner Peugeot 308 sowie ein ebenfalls nicht markierter gepanzerter Polizeitransporter. Sie fuhren, ohne großes Aufsehen zu erregen und ohne eingeschaltete Martinshörner. St. Ann’s war kein Viertel, das ­jeg­licher Kontrolle entglitten war, aber es war keine Gegend, ­in der um­­fangreichere Polizeiaktivitäten unbemerkt bleiben würden, und wenn die Nachricht die Runde machte, dass „einer der Jungs“ in Schwierigkeiten steckte, konnte sich schnell eine Meute zu­­sammenrotten. Von der Anlage her glich die Ge­­­gend einem Ka­ninchenbau aus zerbröckelnden Sozialwohnungsblocks, die durch schmutzige Fußwege miteinander verbunden waren – nachts ein Paradies für Straßenräuber. Diese unheilvolle Atmosphäre wurde noch dadurch gesteigert, dass sich eine winterlich-feuchte Finsternis herabgesenkt hatte und dichter Nebel durch die engen Gassen waberte.
Als sie die Lakeside View Nummer 41 erreichten, fanden sie ein kastenförmiges rotes Backsteingebäude vor, dessen Zugang aus einer kurzen Betonrampe mit einem schmiedeeisernen Ge­­länder bestand. Ein einzelner Gang zog sich der Länge nach an dem Wohnkomplex entlang, von dem die einzelnen Wohnungstüren – 41a, 41b, 41c und 41d – abgingen.
Heck, Grinton und Jowitt musterten das Haus aus kurzer Entfernung. In der abendlichen Finsternis war nur der gewölbte Eingang zu erkennen, in dessen Bogen eine einzelne schwache Lampe brannte. Vom Rest des Gebäudes war nur ein düsterer Umriss zu sehen. Einige Meter hinter ihnen wartete eine Gruppe Detectives und mit Schutzwesten gesicherter uniformierter Beamter, während der Transporter mit der Verstärkung etwa fünfzig Meter weiter hinten in der nächsten Sackgasse stand. Keiner sagte etwas.
Schließlich drehte Grinton sich um und wandte sich mit ge­­dämpfter Stimme an seine Leute. »Also gut, alle mal herhören. Roberts und Atherton … Sie bleiben bei uns. Alle anderen be­­geben sich auf die Rückseite des Gebäudes. Sichern Sie alle Erdgeschossfenster und alle Feuertüren. Schnappen Sie sich jeden, der versucht, das Gebäude zu verlassen.«
Die Angesprochenen bekundeten mit einem Nicken, dass sie verstanden hatten, dann setzte sich die Gruppe bis auf zwei Uniformierte in Bewegung und verschwand im Nebel. Grinton warf einen Blick auf seine Uhr und ließ ihnen fünf Minuten Zeit, damit sie in ihren jeweiligen Positionen Stellung beziehen konnten. Dann sah er Heck und Jowitt an und nickte. Sie traten aus der Einmündung der Gasse hervor, stiegen die Rampe hinauf und bogen in den Backsteingang ein, der nur schwach von zwei flackernden nackten Glühbirnen erhellt wurde und von einem Ende bis zum anderen mit aufgesprayten Obszönitäten ver­unstaltet war. Vier der drei Haustüren waren mit gleichartigen Graffitis verziert. Die einzige Haustür, die nicht dem Vandalismus zum Opfer gefallen war, war die Tür von Nummer 41c – des Zuhauses von Alan Devlin.
Da es keine Klingel gab, pochte Grinton mit der Faust gegen die Tür. Es vergingen einige Sekunden, dann wurde auf der anderen Seite der Tür herumhantiert, und sie öffnete sich so weit, wie es die Sicherheitskette zuließ. Das Gesicht, das in dem Schlitz auftauchte, gehörte zu einem Mann, der Mitte dreißig sein mochte, doch es war aufgedunsen und pockennarbig, eine Augenbraue war von einer alten Narbe in zwei Hälften unterteilt. Es gehörte unmissverständlich dem einstmals harten Burschen Alan Devlin, doch dieser Tage war er untersetzt und hatte eine Wampe und einen kahl rasierten Kopf. Er war in einem schmuddeligen T-Shirt und einer lilafarbenen Herrenunterhose an der Tür erschienen, und selbst durch den schmalen Schlitz sahen sie Halsketten und billige, geschmacklose Ringe an nikotingelben Fingern. Er wirkte eher verdutzt als feindselig, was wahrscheinlich vor allem daran lag, dass das Erste, was er sah, Grintons Augenklappe war. Er setzte sich eine Metallbrille mit dicken Gläsern auf, um die Augenklappe besser in Augenschein nehmen zu können.
„Alan Devlin?“, fragte der Chief Superintendent.
„Wer zum Teufel sind Sie?“
Grinton stellte sich vor und zeigte seinen Dienstausweis. „Das ist Detective Inspector Jowitt, und das ist Detective Sergeant Heckenburg.“
„Ich nehme an, ich darf mich geehrt fühlen“, grummelte Devlin, sah jedoch alles andere als das aus.
„Dürfen wir reinkommen?“, fragte Grinton.
„Worum geht’s?“
„Das wissen Sie nicht?“, entgegnete Jowitt.
Devlin bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Hab mich gerade gefragt, ob Sie es überhaupt selbst wissen.“
Heck betrachtete den Mann aufmerksam. Er war zwar sichtlich ungehalten über die abendliche Störung, doch seine entspannte Körpersprache wies darauf hin, dass er nicht allzu beunruhigt war. Entweder hatte Devlin nichts zu verbergen, oder er war ein guter Schauspieler. Letzteres war gut möglich, denn als Jugendlicher hatte er jede Menge Gelegenheit gehabt, die Kunst der Täuschung zu erlernen.
„Jimmy Hood“, sagte Grinton. „Sagt Ihnen der Name was?“
Devlin sah sie weiter ausdruckslos an, jedoch einige Sekunden länger, als es vielleicht normal gewesen wäre. Dann löste er die Sicherheitskette und öffnete die Tür.
Heck sah die beiden uniformierten Beamten an, die hinter ihnen standen. „Sie warten hier draußen, okay? Wir müssen ihm ja nicht alle auf die Pelle rücken.“ Sie nickten und blieben auf dem Außengang stehen, während die drei Detectives einen schwach beleuchteten Flur betraten, der mit Unrat und Bündeln miefender, verschmutzter Kleidung übersät war. Von dem Flur ging eine offen stehende Tür in ein von einer Lampe erleuchtetes Zimmer ab, aus dem das Geräusch eines eingeschalteten Fernsehers drang. Es roch intensiv nach Pommes mit Ketchup.
Devlin sah sie direkt an und rückte seine Brille mit den bullaugendicken Gläsern zurecht. „Ich nehme an, Sie wollen wissen, wo er ist.“
„Nicht nur das“, stellte Grinton klar. „Wir wollen auch wissen, wo er war.“
Plötzlich war über ihnen ein donnerndes Stampfen von Schritten zu hören – das Geräusch von jemandem, der rannte. Heck spannte sich instinktiv an. Er wirbelte herum und erblickte den Fuß einer in der Dunkelheit liegenden Treppe, die genau in diesem Moment jemand hinunterstürmte. Aber es war nicht der brutale Riese Jimmy Hood, sondern ein Jugendlicher. Er war höchstens siebzehn, hatte mausbraunes wuscheliges Haar und einen flaumigen Schnäuzer. Er war nur mit einer kurzen Hose bekleidet, die einen schlanken, muskulösen Oberkörper offenbarte, der mit diversen scheußlichen Tätowierungen übersät war – und hatte einen Baseballschläger in der Hand.
„Was ist hier los, verdammte Scheiße?“ Er ging wütend auf die Polizeibeamten zu und kam ihnen bedrohlich nahe.
„Entspann dich, Mann“, sagte Devlin und setzte ein Lächeln auf. „Sie haben nur ein paar Fragen, dann ziehen sie wieder ab.“
„Was für verschissene Fragen?“
Jowitt zeigte mit einem Finger auf den Jungen. „Nimm den Schläger runter, Kleiner.“
„Wollen Sie sich mit mir anlegen?“ Der Ausdruck des Jungen war angespannt, sein Blick aggressiv.
„Willst du das Ganze für deinen alten Herrn noch schlimmer machen, als es sowieso schon ist?“
Es folgte ein kurzer Moment atemlosen Schweigens. Der Junge sah von einem zum anderen, sichtlich unbeeindruckt von der Phalanx an Polizeibeamten, die ihm gegenüberstand, obwohl er es erkennbar nicht gewohnt zu sein schien, dass seine Gegner nicht das Weite suchten, wenn er mit seinem Schlagwerkzeug auf sie zukam. „Da draußen lungern noch mehr von diesen Arschlöchern rum, Dad. Schleichen durch die Gegend und bilden sich ein, niemand könnte sie sehen.“
Sein Vater schnaubte verächtlich. „Und all das, weil Jimbo gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hat?“
„Die Sache ist ein bisschen ernster als das“, entgegnete Jowitt. „So ernst, dass ich mir wirklich nicht vorstellen kann, dass Sie unsere Arbeit in der Weise behindern wollen, wie Sie das hier gerade tun.“
„Ich behindere Ihre Arbeit nicht … Ich habe Sie soeben in meine Wohnung gelassen.“
Ein ziemlich kluger Schachzug, wie Heck bewusst wurde.
„Wir werden sehen.“ Grinton ging in Richtung Wohnzimmer. „Reden wir.“
Devlin grinste höhnisch und folgte ihm. Jowitt ging ebenfalls hinter ihnen her. Heck wandte sich Wayne Devlin zu. „Dein Vater möchte es so aussehen lassen, als würde er kooperieren, Junge. Indem du mit dieser Offensivwaffe herumwedelst, erleichterst du ihm das nicht gerade.“
Mit finsterem Blick, aber inzwischen auch ein wenig hilflos dreinschauend – als ob die Anwesenheit anderer Männer, die den großen Macker heraushängen ließen, eine derartige He­­rausforderung für seine Männlichkeit darstellte, dass er keine Antwort darauf wusste –, schleuderte der Junge den Baseballschläger schließlich mit voller Wucht gegen den Pfosten des Treppengeländers. Der Schlag hallte ohrenbetäubend durchs Haus, im nächsten Moment drängte der Junge sich an Heck vorbei ins Wohnzimmer. Als Heck es ebenfalls betrat, sah er, dass es dort genauso aussah wie im Flur, nämlich als ob eine Bombe eingeschlagen wäre. Überall flogen Zeitschriften herum, eine war aufgeschlagen und zeigte das Foto einer breitbeinigen nackten Frau; der Tisch und sämtliche Abstelloberflächen wa­­ren mit leeren Bierdosen und schmutzigem Geschirr voll­gestellt; auf dem Kaminsims standen überquellende Aschenbecher auf der Kippe. Zu dem Gestank nach Ketchup gesellte sich der abgestandene Geruch nach kaltem Zigarettenqualm.
„Kommen wir direkt zur Sache“, sagte Grinton. „Hält sich Hood gegenwärtig hier auf?“
„Nein“, entgegnete Devlin, immer noch völlig ungerührt.
Er ist ganz entspannt, dachte Heck. Geradezu unnatürlich entspannt.
„Wenn ich also mit einem Durchsuchungsbeschluss zurückkäme, um die ganze Bude auf den Kopf stellen zu dürfen, würde ich ihn definitiv nicht finden, Mr Devlin?“, fragte Grinton.
Devlin zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie Gründe hätten, anzunehmen, dass er hier ist, hätten Sie bereits einen Durchsuchungsbeschluss. Aber egal. Von mir aus können Sie auch ohne diesen Fetzen Papier nach ihm suchen.“
„Weshalb ich davon ausgehe, dass wir uns das schenken können. Aber wir könnten uns ja trotzdem mal umsehen.“ Grinton nickte Heck zu, der vor die Tür ging und die beiden uniformierten Beamten hereinließ. Ihre schweren Stiefel stapften laut die Stufen hinauf, als sie in die obere Etage stiegen.
„Wie oft war Jimmy Hood hier?“, fragte Jowitt. „Ich meine, in letzter Zeit?“
Devlin zuckte erneut mit den Schultern. „Hin und wieder. Hat auf dem Sofa gepennt.“
„Und das haben Sie nicht gemeldet?“
„Er ist ein alter Kumpel, der versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Wegen so was verpfeife ich ihn doch nicht.“
„Wann war er zum letzten Mal hier?“, fragte Heck.
„Vor ein paar Tagen.“
„Was hatte er an?“
„Was er immer anhat … Trainingshose, Sweatshirt, Dufflecoat. Der arme Teufel lebt aus einer Plastiktüte.“
Die Detectives vermieden es, einander anzusehen. Sie waren vorab übereingekommen, die wahre Absicht ihres Besuchs erst preiszugeben, wenn Grinton es für erforderlich hielt; wenn Devlin wusste, was im Gange war, und seinem alten Kumpan trotzdem Unterschlupf gewährt hatte, machte ihn dies zu einem Komplizen all der Morde – und es würde ihnen helfen, Beweismaterial gegen ihn zusammenzutragen, wenn er von sich aus Wissen preisgab, ohne dazu gedrängt worden zu sein.
„Wann erwarten Sie ihn zurück?“, fragte Heck.
Devlin setzte angesichts der Dümmlichkeit einer solchen Frage einen amüsierten Gesichtsausdruck auf (der auch diesmal wieder vorgetäuscht war, das konnte Heck deutlich spüren). „Woher soll ich das wissen? Ich bin doch nicht sein verdammter Aufpasser. Er weiß, dass er jederzeit willkommen ist, aber er will es nie übertreiben und unsere Gastfreundschaft ausnutzen.“
„Hat er ein Handy, sodass Sie sich mit ihm in Verbindung setzen können?“, fragte Jowitt.
„Er hat gar nichts.“
„Ist er jemals sehr spät abends gekommen?“, hakte Grinton nach. „Also … ungewöhnlich spät?“
„Was sind das für Scheißfragen?“, meldete sich Wayne Devlin zu Wort, den die Geräusche intensiver Aktivität, die aus der oberen Etage nach unten drangen, zusehends beunruhigten.
Grinton sah ihn an. „Fragen, die ehrliche Antworten erfordern, mein Junge … ansonsten werden du und dein Vater ganz tief in einem Riesenhaufen Scheiße sitzen.“ Er ließ seinen Blick wieder zurück zu Devlin wandern. „Also … irgendwelche spätabendlichen Besuche?“
„Gelegentlich“, gab Devlin zu.
„Wann?“
„Ich führe kein verdammtes Tagebuch.“
„Hat er je nervös gewirkt?“, fragte Jowitt.
»Wann wohl nicht? Immerhin versteckt er sich vor der ­Polizei.«
„Und war er mal blutverschmiert?“, hakte Grinton nach.
Im ersten Moment schien Devlin verwirrt, doch dann wurde sein Gesicht langsam – ganz langsam – immer länger. »Sie meinen doch nicht … Sie spielen doch wohl nicht auf diese Lady­killer-Geschichte an?«
„Sie machen wohl Witze, verdammt!“, platzte Wayne Devlin heraus und sah bestürzt aus.
„Mir kommt da gerade ein interessanter Gedanke, Wayne“, wandte sich Heck an den Jungen. „Ist das da draußen im Flur eigentlich dein Baseballschläger – oder gehört er Jimmy Hood?“
Der Mund des Jungen klappte auf. Auf einmal war er nicht mehr so sehr der draufgängerische Teenager, der den dicken Macker spielte, sondern eher ein beunruhigtes Kind. „Es ist … es ist meiner, aber das heißt nicht …“
„Wenn wir ihn für eine kriminaltechnische Untersuchung sicherstellen und Blutspuren an ihm finden, müssen wir also dich festnehmen und nicht Jimmy?“
„So läuft das nicht, Detective“, schaltete sich der ältere Devlin ein, dem jedoch zum ersten Mal seit ihrer Ankunft etwas Farbe in die Wangen geschossen war – vielleicht dämmerte ihm, dass sein Sohn womöglich etwas ausbaden musste, das ein anderer begangen hatte. »Sie können uns keine Angst ein­jagen.«
Doch der jüngere Devlin sah verängstigt aus. »Sie werden kein verdammtes Blut an dem Schläger finden. Er lag seit Mo­­naten unter meinem Bett. Jimbo hat ihn nicht angerührt. Dad, erzähl ihnen, was sie verdammt noch mal wissen wollen.«
„Wie ich bereits sagte, Jimbo war nur ein paar Male hier“, stellte Devlin affektiert klar. Er spielt immer noch den Ruhigen, dachte Heck. „Und ist nie lange dageblieben.“
„Und Ihnen ist nicht durch den Kopf gegangen, dass er vielleicht in diese Morde verwickelt sein könnte?“, fragte Grinton.
„Oder verschließen Sie einfach nur die Augen vor der Wahrheit?“, fragte Jowitt.
„Er war immer ein guter Kumpel …“
„Sie verschließen also tatsächlich die Augen vor der Wahrheit? Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass der Richter sich davon beeindrucken lässt.“
„Vielleicht ist es mir ein- oder zweimal durch den Kopf gegangen“, erwiderte Devlin scharf. „Aber man will nicht glauben, dass ein Kumpel zu so etwas in der Lage sein könnte …“
„Obwohl er es schon mal gemacht hat?“, hakte Grinton nach.
„Nicht so etwas Schlimmes.“
„Schlimm genug.“
„Sie sollten zu seiner Tante fahren!“, mischte sich Wayne Devlin ein.
Dieser Hinweis ließ alle verstummen. Sie sahen ihn neugierig an. Er erwiderte den Blick mit ausdruckslosen Augen und er­­rötenden Wangen.
„Wovon redest du?“, fragte Heck.
„Er hat immer von seiner Tante Mavis gefaselt …“
„Wayne!“, wies der ältere Devlin ihn zurecht.
„Wenn Jimbo irgendwas Übles im Schilde führt, wollen wir damit nichts zu tun haben.“
Die beiden sind gut, dachte Heck. Die beiden sind wirklich gut.
„Gibt es irgendetwas, was Sie uns erzählen wollen, Mr Devlin?“, fragte Grinton.
Devlin richtete den Blick zu Boden und entblößte die Zähne. Er riss sich die Brille vom Kopf und putzte sie wie wild an seinem schmutzigen T-Shirt – als ob er unschlüssig und hin- und hergerissen wäre, als ob er wütend wäre, in diese Lage gebracht worden zu sein, jedoch nicht unbedingt wütend auf die Poli-
zei.
„Wayne könnte recht haben“, sagte er schließlich. „Vielleicht sollten Sie mal hinfahren. Ihr Name ist Mavis Cutler. Und bevor Sie fragen – ansonsten weiß ich nichts über sie. Sie ist nicht seine richtige Tante. Sie ist irgendein altes Miststück, das Jimbo als Kind in Pflege genommen hat. Muss heute mindestens zwischen siebzig und achtzig sein. Keine Ahnung, was zwischen den beiden vorgefallen ist – er hat nie darüber geredet, aber ich glaube, sie hat ihn behandelt wie einen Hund.“
Also war Hood in Wahrheit jedes Mal über seine böse Tante hergefallen, wenn er eine dieser anderen Frauen attackiert hat­­te, schlussfolgerte Heck, seine Grundkenntnisse an Forensischer Psychologie hervorkramend. Es ist eine schlüssige Erklärung. Wenn auch natürlich ein bisschen zu schlüssig.
„Und warum sollten wir ihr einen Besuch abstatten?“, fragte Jowitt.
Devlin hob den Kopf wieder in Normalposition, seine Schultern sackten nach unten, als ob er auf einmal froh wäre, sie von einem Gewicht befreien zu können. „Als… als Jimbo hier vor einigen Monaten zum ersten Mal aufgekreuzt ist, hat er gesagt, er wäre zurück nach Nottingham gekommen, um ihr einen Besuch abzustatten. Und als er gesagt hat, ›um ihr einen Besuch abzustatten‹, klang das nicht so, als wäre er auf ein nettes Familientreffen aus, falls Sie verstehen, was ich meine.“
„Und warum hat er sich dann so viel Zeit gelassen?“, wollte Jowitt wissen.
„Anfangs konnte er sie nicht ausfindig machen. Ich glaube, dass er gestern vielleicht nach Hucknall gefahren ist, um sie zu suchen. Dort haben sie gelebt, als er ein Kind war.“
Ganz schön clever, dachte Heck. Devlin benutzt reale Ereignisse, um die Geschichte glaubhaft zu machen.
„Irgendjemand da oben hat es ihm wahrscheinlich gesagt“, fuhr Devlin fort.
„Hat ihm was gesagt?“
„Dass sie inzwischen in Matlock lebt. Wo genau, weiß ich nicht.“
Matlock in Derbyshire. Vierzig Kilometer weit entfernt.
„Woher wissen Sie das alles?“ Grinton klang argwöhnisch.
Devlin zuckte mit den Schultern. „Er hat mich heute angerufen – aus einer Telefonzelle. Um mir zu sagen, dass er die Stadt heute Abend verlassen will und wir uns wahrscheinlich nicht wiedersehen werden.“
„Und trotzdem haben Sie uns nicht informiert?“ In Jowitts Stimme schwang äußerstes Missfallen mit.
„Ich informiere Sie doch gerade, oder etwa nicht?“
„Es könnte zu spät sein, Sie schwachsinniger Volltrottel!“ Jowitt stürmte in den Flur und beorderte die beiden uniformierten Beamten aus der oberen Etage nach unten.
„He, er hat nie ausdrücklich gesagt, dass er vorhatte, dieser alten Schachtel etwas anzutun“, stellte Devlin gegenüber Grinton klar. „Vielleicht ist er nicht mal auf dem Weg nach Matlock. Er kann genauso gut in diesem Moment das verdammte Land verlassen! Das ist alles pure Spekulation.“
Und für Spekulationen kannst du nicht belangt werden, dachte Heck. Du bist ein schlaues Kerlchen.
„Machen Sie keine Dummheiten, Mr Devlin“, stellte Grinton klar und bedeutete Heck, dass es Zeit war aufzubrechen. „Wie zum Beispiel Jimmy zu warnen, dass wir auf dem Weg sind. Wir brauchen bei Hood nur ein Handy mit Anrufen zu finden, die sich zu Ihnen zurückverfolgen lassen, und schon können wir Sie als Komplizen einbuchten.“
Draußen auf dem Gang vor den Wohnungen brüllte Jowitt bereits in sein Funkgerät. „Ist mir scheißegal, wie ungeneigt sie sind – bring sie dazu, die Wählerverzeichnisse und die Telefonbücher zu checken. Sie sollen jede Frau in Matlock ausfindig machen, die Mavis Cutler heißt, verdammt noch mal … Ende der Durchsage!“ Er wandte sich zu Grinton und Heck um. „Wir sollten dieses Arschloch von Devlin wegsperren.“
Grinton schüttelte den Kopf und ignorierte die Tatsache,
dass die Tür zu Wohnung Nummer 41c hinter ihnen zugeknallt wurde. „Wir könnten ihn immer noch dazu kriegen, als Zeuge für uns auszusagen. Wenn wir ihn jetzt schon verhaften, verlieren wir jede Möglichkeit, Druck auf ihn auszuüben.“
„Was ist, wenn er abhaut?“
„Wir setzen jemanden auf ihn an.“
„Entschuldigen Sie, Sir“, sagte Heck. „Aber ich werde nicht mit Ihnen nach Matlock mitfahren.“
Grinton sah überrascht aus. „Nach all dieser Vorarbeit wollen Sie nicht dabei sein, wenn wir ihn uns schnappen?“
Heck zuckte mit den Schultern. „Ich will ehrlich sein, Sir: Devlin hat da drinnen eine gute Show abgezogen, aber ich glaube nicht, dass Hood auch nur die leiseste Absicht hat, sich nach Derbyshire zu begeben. Ich glaube, dass wir losgeschickt werden, um einem Phantom nachzujagen.“
Jowitt sah ihn verdutzt an. „Warum sollte Devlin das tun?“
„Es ist nur eine Vermutung, aber eine, die nicht aus der Luft gegriffen ist. Obwohl Jimmy Hood zuletzt wegen schwerer Verbrechen verurteilt wurde, lässt Alan Devlin ihn auf seinem Sofa übernachten. Nicht nur einmal, sondern etliche Male. Dieser Kerl ist nicht besonders pingelig, wenn es darum geht, mit Sexualstraftätern zu verkehren.“
„Na kommen Sie schon, Heck“, wandte Jowitt ein. „Devlin steckt auch so schon tief genug in der Scheiße – da wird er nicht auch noch einem Serienmörder Beihilfe leisten.“
„Er steckt allenfalls in einem Häufchen Matsch, Sir. Was hat er denn schon zugegeben, außer dass er einem Straftäter Unterschlupf gewährt hat? Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass er uns auf eine falsche Fährte gelockt hat … er hat sich abgesichert. Alles, was er von sich gegeben hat, steht unter dem Vorbehalt ›Ich bin mir da nicht sicher‹ oder ›Ich vermute es nur‹. Wir haben nicht einmal etwas in der Hand, um ihn wegen Behinderung einer Ermittlung dranzukriegen.“
„Aber nach dem, was er uns erzählt hat, können wir auch nicht einfach nichts tun“, stellte Grinton klar.
»Da stimme ich Ihnen zu, Sir. Aber während Sie nach Matlock fahren, werde ich auf eigene Faust ein paar Hinweisen nach­gehen. Ist das in Ordnung?«
„Kein Problem … Vergessen Sie nur nicht, über alles einen schriftlichen Bericht zu verfassen.“
Während Grinton dafür sorgte, dass zwei seiner Zivilbeamten als verdeckte Observierer an der Lakeside View die Stellung hielten, gingen die anderen zurück zu ihren Autos und stiegen ein, um schnell in das nächste County zu fahren. Jowitt hatte wieder sein Funkgerät vor der Nase, setzte die Einsatzzentrale von Derbyshire ins Bild und stieg hastig in seinen Wagen. Heck blieb auf dem Bürgersteig stehen und tätigte seinerseits einen schnellen Anruf – in seinem Fall galt das Telefonat der Recherche-und-Analyseabteilung der Wache von St. Ann’s. Was die Arbeit von Recherche-und-Analyseabteilungen anging, war diese ziemlich effizient.
„Heck?“, meldete sich die beherzte Stimme von Police Con­stable Marge Propper, einer stämmigen uniformierten Beamtin, deren schnelle, akkurate Recherchen der Sonderkommission Ladykiller bereits Dienste von unschätzbarem Wert erwiesen hatten.
„Marge – gehe ich recht in der Annahme, dass Jimmy Hood, abgesehen von Alan Devlin, im inneren Bereich von Nottingham keine weiteren uns bekannten ehemaligen Komplizen hat?“
„Das ist korrekt.“
„Okay … Ich möchte mal etwas anderes versuchen. Könnten Sie sich mit dem Roundhall-Gefängnis in Coventry in Verbindung setzen? Finden Sie heraus, wer Hood in den vergangenen eineinhalb Jahren besucht hat. Mich interessieren alle Namen regelmäßiger Besucher, die im Laufe dieser Ermittlungen noch nicht aufgetaucht sind.“
„Wird gemacht, Heck. Um diese Zeit könnte es aber ein paar Minuten dauern, eine Antwort zu erhalten.“
„Kein Problem. Rufen Sie mich zurück, wenn Sie was für mich haben.“
Er hielt einen Moment inne, bevor er in seinen Peugeot stieg. Die anderen Polizeifahrzeuge waren allesamt bereits losgefahren und hatten eine düstere, absolute Stille hinterlassen. Die Ge­bäude, die ihn umgaben, waren kaum mehr als undeutliche, eckige Umrisse, nur hier und da war das eigenartig anmutende blasse Quadrat eines beleuchteten Fensters zu sehen, doch in den meisten Fällen wurde der schwache Schein, der aus den Fenstern fiel, sofort von der Dunkelheit verschluckt. Der Zugang zu dem Haus an der Lakeside View war ein schwarzes Rechteck, das niemanden einlud, es noch einmal zu betreten.
Heck stieg in seinen Wagen und startete den Motor.
Es war unmöglich zu sagen, ob sie auf der richtigen Spur waren oder nicht, aber es fühlte sich so an, als ob sie richtig­lägen. Er traute Alan Devlin immer noch nicht, doch das partielle Eingeständnis des Kerls hatte ihnen zumindest die Gewissheit verschafft, dass Hood sich sowohl in dieser Gegend als auch in Hucknall aufgehalten hatte – womit klar war, dass er sich in etwa zur Tatzeit in unmittelbarer Nähe aller bekannten Mord-Tatorte aufgehalten hatte. Im Rückblick erschien natürlich alles so vorhersehbar und erbärmlich. Als er aus der Sackgasse fuhr, wurde ihm bewusst, dass diese heruntergekommene Umgebung mit den kaputten Fenstern und dem Labyrinth aus seelenlosen Gassen, die von mit Graffiti übersäten Backsteinwohnblöcken gesäumt waren, ihm schmerzlich vertraut vorkam. So viele seiner Fälle hatten ihn in hoffnungslose Gegenden wie diese ge­­führt.
Sein Handy klingelte, und er klatschte es sich ans Ohr. „Hallo, hier Heckenburg!“
„Wir könnten was haben, Heck“, sagte Marge Propper. „In seinem letzten Jahr in Roundhall wurde Jimmy Hood neunmal von einer gewissen Sian Collier besucht.“
„Der Name sagt mir nichts.“
„Nein … Wir hatten sie bisher nicht auf dem Radar, obwohl sie wegen Drogenbesitzes und Ladendiebstahls aktenkundig ist. Sie ist weiß, zweiunddreißig Jahre alt und stammt gebürtig von hier. Ihre letzte Verurteilung liegt schon über fünf Jahre zurück, also hat sie inzwischen vielleicht Ordnung in ihr Leben gebracht.“
„Abgesehen davon, dass sie sich mit Sexualmördern einlässt, oder?“
„Genau …“
Heck hantierte an seinem Navi herum. „Wo wohnt sie?“
„Mountjoy Height Nummer achtzehn – das ist in Bulwell.“
„Kenne ich.“
„Heck, wenn Sie da hinfahren, sollten Sie vielleicht erst mal mit der hiesigen Kripo sprechen. Es ist eine unruhige Gegend.“
„Danke für die Warnung, Marge. Aber ich peile nur mal die Lage. Und ich habe ja auf jeden Fall mein Funkgerät dabei.“
Die Finsternis des Winterabends war für Heck jetzt von Vorteil – vor allem, weil sie dafür sorgte, dass die Straßen frei waren, aber auch, weil er auf diese Weise, wenn er erst einmal in Bulwell war, die nebligen, heruntergekommenen Straßen entlangfahren konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Als er die Mountjoy Height schließlich ausfindig gemacht hatte, fand er eine Reihe zweistöckiger, mit Kieselrauputz verputzter Reihenhauswohnungen vor. Die Anlage befand sich auf erhöhtem Grund, von dem aus man eine weitere labyrinthartige Wohnsiedlung überblickte. Als Erstes fuhr Heck an der Front der Häuser entlang und sah matschige Rasenflächen, die als gemeinschaftlich genutzte Vorgärten dienten. Auf den Rasenflächen standen Mülltonnen auf Rädern, dazwischen lag achtlos verstreut jede Menge Unrat. Auf der Straße parkten ein paar Autos, hinter den meisten Fenstern der Wohnungen brannte Licht. Anschließend erkundete er die Rückseite der Reihenhausanlage, wo er in eine tiefer gelegene, gewundene Gasse hineinfuhr, die an einigen Garagen vorbeiführte. Einige Garagentore standen offen, andere waren geschlossen. Die Garage von Nummer achtzehn verfügte über kein Tor, erweckte jedoch sein ganz besonderes Interesse, da in ihr ein großes, ansehnliches Motorrad stand.
Heck ließ den Wagen ausrollen und stellte den Motor ab.
Er stieg aus und lauschte aufmerksam; in der Nähe war ein Streit im Gange. Die Stimmen der Beteiligten waren gedämpft und nur undeutlich zu hören, aber sie klangen wie die Stimmen eines erwachsenen Paars. Im ersten Moment war er nicht sicher, woher sie kamen – möglicherweise sogar direkt aus dem Haus Nummer achtzehn, das hinter der Garage in der Dunkelheit aufragte und zu dem eine schmale Treppe hinaufführte.
Er musterte das Motorrad von der Garagenzufahrt aus und konnte trotz der Dunkelheit erkennen, dass es sich um eine neue Suzuki GSX handelte, ein teures Modell für diese Gegend.
„Detective Sergeant Heckenburg für Charlie Six“, sprach er in sein Funkgerät. „Eine Überprüfung in der nationalen polizeilichen Datenbank, bitte. Kommen.“
„Detective Sergeant Heckenburg, Charlie Six hört“, ertönte die knisternde Antwort.
„Ich brauche alles über eine schwarze Suzuki GSX, Kennzeichen Julius-Zürich-sieben-drei-Berta-Friedrich-Anton. Ende.“
„Bleiben Sie auf Empfang. Ende.“
Heck ging zur Seite der Garage und blickte die Treppe hinauf. Das vor ihm aufragende Gebäude war in wabernden Nebel gehüllt, doch drinnen brannten noch Lichter, und der Streit ging weiter. Es klang, als wäre er noch heftiger geworden. Glas ging zu Bruch, was gar nicht mal unbedingt schlecht war – es konnte ihm das Recht verschaffen, sich Einlass zu erzwingen.
„Nationale polizeiliche Datenbank für Detective Sergeant Heckenburg, kommen.“
„Ich höre.“
„Eine schwarze Suzuki GSX, Kennzeichen Julius-Zürich-sieben-drei-Berta-Friedrich-Anton, wurde gestern Abend in Hucknall als gestohlen gemeldet. Kommen.“
„Verstanden. Danke für die Information. Was weiß man über die Umstände des Diebstahls? Kommen.“
„Die waren ziemlich ernst, Sergeant. Der Diebstahl wird als Raub behandelt. Ein Motorradkurier wurde vor einem Zeitschriftenladen mit einer Flasche niedergeschlagen, anschließend wurden ihm sein Helm und sein Motorrad entwendet. Zurzeit liegt er auf der Intensivstation. Bisher gibt es keine Täterbeschreibung. Kommen.“
Heck dachte darüber nach. Das klang von Minute zu Minute mehr nach Jimmy Hood. Davon ausgehend, dass er nun im Begriff war, eine Verhaftung aufgrund einer schweren Straftat vorzunehmen, hatte er die Berechtigung, die Garage zu betreten – was er auch umgehend tat. In den ölverschmierten Winkeln und Ecken der Garage fand er allen möglich Unrat vor: mit jeder Menge Krimskrams vollgestopfte Kartons; kaputte, verdreckte Haushaltsgeräte; sogar ein Haufen Ketten, von denen einige um einen senkrechten Stahlträger gewickelt waren, der das Garagendach trug.
„Detective Sergeant Heckenburg … wollen Sie damit sagen, dass Sie dieses Fahrzeug gefunden haben? Kommen.“
„Das kann ich bestätigen“, entgegnete Heck und zog sich seine Handschuhe an, während er sich weiter umsah. »In einer offenen Garage auf der Rückseite von Haus Nummer achtzehn an der Mountjoy Height in Bulwell. Der Verdächtige, von dem ich vermute, dass er sich in dem Haus aufhält, heißt Jimmy Hood. Männlich, weiß, Anfang dreißig, eins neunzig groß und gebaut wie ein Kleiderschrank. Hood ist wegen schwerster Körperverletzung vorbestraft und gilt als Verdächtiger für die Ladykiller-Morde. Deshalb brauche ich umgehend Verstärkung. An­­fahrt ohne Martinshorn. Kommen.«
„Verstanden, Sergeant … Verstärkungseinheiten sind auf dem Weg. Voraussichtliche Ankunftszeit in fünf Minuten. Ende.“
Heck schob sein Funkgerät zurück in seine Jackentasche und bahnte sich einen Weg durch die Garage zu einer hinteren Tür, die sich problemlos aufdrücken ließ. Er folgte einem gepflas­terten Weg, der seitlich am Fuß des steilen, matschigen Hangs entlangführte und an der Treppe zum Haus endete. Er stieg die Treppe vorsichtig hoch. Eigentlich brauchte er jetzt nur noch zu warten, bis die Verstärkung eintraf – doch dann passierte etwas.
Und das änderte alles.
Das Geschrei und Gebrüll, das aus dem Haus drang, war massiv angeschwollen. Haushaltsgegenstände flogen umher, knallten an Wände und zerschmetterten. Heck entschied, dass er immer noch warten konnte, denn so ein Streit in dieser Gegend war vermutlich nichts Ungewöhnliches, doch dann, als er die Rückseite des Hauses beinahe erreicht hatte, hörte er ein Baby schreien.
Es schrie nicht nur.
Es brüllte sich die Seele aus dem Leib.
Regelrecht hysterisch und angsterfüllt.
„Detective Sergeant Heckenburg für Charlie Six. Dringende Mitteilung!“ Er stürmte die restlichen Treppen hoch und passierte einen Zugang, der zur Vorderseite des Hauses führte. „Bitte richten Sie der Verstärkung aus, dass sie sich beeilen soll – in dem Haus kommt es zu Gewalttätigkeiten, und ich höre ein Kind in einer Notlage. Ende!“
Unter dem Dach der Veranda hielt er kurz inne. Durch das mit einer Eisschicht überzogene Fenster in der Haustür drang Licht, doch dahinter war bis auf kurze rasche Bewegungen kaum etwas zu erkennen. Von drinnen hallte nach wie vor Gebrüll nach draußen.
Heck zog sich den Reißverschluss seiner Jacke zu und klopfte laut. „Polizei! Öffnen Sie bitte die Tür!“
Drinnen wurde es schlagartig still – abgesehen von dem Baby, dessen lautes Schluchzen zu einem leisen, kraftlosen Jammern verebbt war.
Heck klopfte noch einmal. „Hier ist die Polizei. Machen Sie sofort die Tür auf!“ Durch die vereiste Scheibe erhaschte er einen Blick auf weitere verschwommene Bewegungen.
Als er das nächste Mal die Tür bearbeitete, tat er dies mit seiner Schulter.
Es bedurfte drei kräftiger Stöße, dann zersplitterte das Holzwerk. Riegel und Scharniere wurden aus den Angeln gerissen, und die Tür fiel krachend nach innen und offenbarte den Blick auf einen schmalen, mit Trümmern übersäten Flur, der in eine kleine Küche führte. Dort war ein großer Mann in einem Duffle­coat gerade im Begriff, das Haus durch eine Hintertür zu ver­lassen. Heck stürmte den Flur entlang. Im gleichen Moment erschien eine Frau aus einem Zimmer, das ebenfalls vom Flur abging. Sie hatte überall blaue Flecke, wirres Haar und war tränenüberströmt, Wimperntusche lief ihr in schmierigen Streifen die Wangen hinunter. Sie trug einen abgetragenen orangefarbenen Bademantel und drückte sich ein Baby an die Brust, dessen Gesicht knallrot gefleckt war.
„Was wollen Sie?“, schrie sie und stellte sich Heck in den Weg. „Sie können nicht einfach hier eindringen!“
Heck trat um sie herum. „Aus dem Weg bitte, Miss!“
„Aber er hat nichts getan!“ Sie packte Heck am Kragen, ihre scharfen Fingernägel kratzten über seinen Hals. „Könnt ihr Arschlöcher nicht endlich aufhören, ihn zu belästigen?“
Heck musste sich mit aller Kraft losreißen, um sich aus ihrem Griff zu befreien. „Hat er Sie nicht gerade grün und blau geschlagen?“
„Das hat er bloß getan, weil ich ihn nicht gehen lassen wollte …“
„Er ist ein verdammter durchgeknallter Irrer!“
„Unsinn … Das macht mir nichts aus.“
„Anderen schon!“ Heck riss sich los – woraufhin die Frau und das Baby erneut losheulten –, stürmte in die Küche, weiter durch die Hintertür nach draußen und landete auf einem mit Spielzeug übersäten Hof. Im gleichen Moment stürmte nur wenige Meter vor ihm eine kräftige Gestalt die Treppe zur Garage hinunter. Der Kerl hatte etwas in der Hand, das Heck im ersten Moment für eine Tasche hielt, doch dann sah er, dass es ein Motorradhelm war. „Jimmy Hood!“, rief er und stürmte die Treppe hinunter hinter ihm her. „Polizei! Bleiben Sie auf der Stelle stehen!“
Hood reagierte darauf, indem er in einem Satz die restlichen drei oder vier Stufen hinuntersprang, sich den Helm aufsetzte, die Hintertür der Garage aufriss und durch sie verschwand. Heck nahm die letzten Stufen ebenfalls mit einem Satz und ge­­riet auf dem Erdhang ins Rutschen und Taumeln, erreichte die Garagentür jedoch nur Sekunden nach dem Mann, hinter dem er her war. Er rammte die Tür mit der Schulter auf und sah, dass Hood bereits auf der Suzuki saß und den Motor antrat. Die grellen Scheinwerfer blitzten auf und strahlten über die Gasse hinweg. Das Dröhnen des Motors erfüllte das ramponierte Gemäuer der Garage.
„Machen Sie doch nicht so einen verdammten Scheiß!“, schrie Heck.
Hood sah sich zu ihm um – gerade lange genug, um ihm den Stinkefinger zu zeigen. Dann gab er Gas, und die Suzuki schoss so schnell los, dass sie beinahe auf dem Hinterrad fuhr.
Doch der Flüchtige kam nur gut zehn Meter weit, dann ertönte ein ohrenbetäubendes KLONG!, und unter ihm wurde das Hinterrad zurückgerissen. Hood flog über die Lenkstange, überschlug sich in der Luft und krachte mit voller Wucht kopfüber gegen eine andere Garagentür, prallte von ihr ab und plumpste wie ein Sack auf das Kopfsteinpflaster, wo er verdreht und stöhnend liegen blieb. Das Motorrad kam nach einigen weiteren Metern zum Stehen. Es knatterte laut, der ramponierte Auspuff stieß Rauchwolken aus.
„Ein bisschen nachlässig von Ihnen, Jimmy“, sagte Heck, trat auf die Gasse hinaus und stieß mit der Fußspitze gegen die Kette, die immer noch angespannt zwischen dem verbogenen Hinterrad und dem senkrechten Stahlträger im Innern der Garage hing. „Nicht zu merken, dass sich auf geheimnisvolle Weise etwas um die hintere Achse Ihres Motorrades gewickelt hat.“
Blaulichter zuckten durch die Dunkelheit, als auf beiden Seiten Streifenwagen der örtlichen Polizei in die Gasse einbogen und langsam auf sie zurollten. Hood schaffte es, sich auf den Rücken zu rollen, konnte jedoch nicht mehr tun, als einfach nur dazuliegen und mit glasigen Augen und leerem Blick durch den Schlitz zu starren, an dem sich das Visier befunden hatte, das bei seinem Sturz abgerissen worden war.
Heck zog ein Paar Handschellen aus seiner hinteren Hosentasche und ließ sie herabbaumeln, sodass Hood sie sehen konnte. „Aber wie auch immer, Freundchen, Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern, doch es kann Ihre Verteidigung beeinträchtigen …“


Kapitel 3


Harold Lansing musste eine Erfahrung machen, die ihn beinahe das Leben kostete, um sich bewusst zu werden, dass er sein Leben mehr genießen sollte. Diejenigen, die ihn nicht kannten, wären natürlich verwundert gewesen, wenn sie erfahren hätten, dass er kein rundum glückliches und genüssliches Dasein führte.
Der fünfundvierzigjährige Junggeselle war nicht nur Multimillionär, sondern sah zudem auch noch unverschämt gut aus. Er war sonnengebräunt, erfreute sich eines vollen grauen Haarschopfes, war stets modisch gekleidet, selbst wenn er Freizeitkleidung trug, und Besitzer zweier schicker Autos, eines Bentley Continental V8 und eines Hyundai Veloster Sport, sodass es höchst unwahrscheinlich schien, dass er nicht sowieso schon einer der zufriedensten Männer Großbritanniens war. Darüber hinaus besaß er drei luxuriöse Anwesen: eine Villa an der Côte d’Azur, wo er seinen seltenen dreitägigen Urlaub verbrachte, eine Luxuswohnung in Swiss Cottage, die ihm als Übernachtungsmöglichkeit diente, wenn er die Londoner Szene erkundete, und seinen »Zu­­fluchtsort auf dem Land«, wie er es nannte, obwohl es in Wahrheit sein regulärer Wohnsitz war: ein prachtvolles ehemaliges Bauernhaus mit acht Schlafzimmern, Teil eines Anwesens, das Rosewood Grange hieß und sich in der Grafschaft Surrey befand. Mit den 120 Hektar grüner Gärten, die das Haus umgaben, privatem Tennisplatz und eigenem Krocketrasen, Innen­swimmingpool und der nahezu obligatorischen Vervollständigung durch kostbare Kunstwerke und Antiquitäten hätte man erwartet, dass Rosewood Grange das absolute Juwel eines Partylöwen wäre, das Epizentrum eines ausgelassenen Playboy-Da­­seins, in dem die glamourösesten und angesagtesten Frauen an jedem Wochenende zusammenströmten, um sich die Kante zu geben.
Nur dass es diesem Zweck nicht diente und in Wahrheit auch nie gedient hatte.
Der äußere Schein konnte trügerisch sein.
Abgesehen von einer gelegentlichen Runde Golf und ein paar erholsamen Stunden beim Angeln am River Mole, verwendete Lansing mehr Energie darauf, wohltätige Zwecke zu unterstützen, als seinen eigenen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Außerdem war er ein Workaholic. Von seinem Privatbüro in Reigate aus leitete er diverse Computerfirmen, und er hatte den Großteil seines Geldes mit dem Verkauf von Software in den USA und im Fernen Osten gemacht. Darüber hinaus gehörte ihm eine Kette von Landgasthäusern und Hotels, deren Ziel­publikum eine wohlhabende Klientel war. Dabei war es ihm wichtig, sich um all seine geschäftlichen Aktivitäten persönlich zu kümmern, und zwar nicht, weil er seinen Untergebenen nicht traute, sondern vor allem, weil er sich keinen Lebensstil vorstellen konnte, der darin bestand, „Däumchen zu drehen“, wie er es selbst ausdrückte.
Doch dank eines Unfalls, den er vor Kurzem erlitten und der ihm einen zweiwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus inklusive Intensivstation beschert hatte, fing er jetzt vielleicht – aber auch nur vielleicht – an, die Dinge etwas anders anzugehen.
Als er seine Aktentasche an diesem herrlichen Julimorgen auf die Rückbank seines Bentleys geworfen hatte, hielt er einen Moment inne, bewunderte das üppige, von Sonnenstrahlen ge­­sprenkelte Grün, das sein Haus umgab, und atmete die verführerischen Düfte des englischen Waldlandes ein: Rosenknospen, Heckenkirschen und frische Minze. Eine ziemliche Verbesserung im Vergleich zu den Gerüchen nach Stärke, Bleichmitteln und den großzügig verwendeten Antiseptika im Krankenhaus.
Mein Gott, war es herrlich, am Leben zu sein! Aber was für ein Leben lebte er überhaupt?
Na schön, als er im Krankenhaus gewesen war, hatte er eine Art Entschluss gefasst. Er hatte sich vorgenommen, sich öfter Urlaub zu genehmigen, häufigere und längere Reisen zu unternehmen und vielleicht sogar seine Beziehung zu Monica wieder aufleben zu lassen. Doch gleich am ersten Morgen, an dem er wieder offiziell arbeitstauglich war, war er bereits um Punkt sieben auf dem Weg ins Büro. Es war, als ob nichts passiert wäre, was dazu angetan war, seine wie ein Uhrwerk funktionierenden Gewohnheiten zu ändern. Dabei war es nicht etwa so, als ob es schwer wäre, daran etwas zu ändern; schließlich war Lansing der Chef – und der einzige Druck, den er je verspürte, war der Druck, dem er sich selbst aussetzte. Aber er würde trotzdem erst nach acht Uhr abends wieder nach Hause kommen und wie immer alleine die leichte Mahlzeit zu sich nehmen, die seine Haushälterin Mrs Beetham ihm hingestellt haben würde – ach nein, Mrs Beetham war ja gerade mit Mr Beetham, seinem Gärtner, im Urlaub, sodass er in Wahrheit alleine den Imbiss oder das Fast Food – wahrscheinlich eine schmierige Portion Fish and Chips – essen würde, das mitzunehmen ihm auf dem Nachhauseweg gerade noch rechtzeitig einfallen würde. Im Fern­sehen würde er sich an diesem Abend vor allem die Börsennachrichten ansehen, und im Bett würde er noch die Wirtschaftsteile der Zeitungen lesen. Genau so lief sein übliches Alltagsprogramm ab – er war daran gewöhnt und damit zufrieden. Aber es war nicht das, was man im wahrsten Sinne des Wortes ein Leben nennen konnte.
Er war nun mal ein Einzelgänger, und abgesehen von seiner Arbeit, dem Golfspielen und dem Angeln interessierte ihn kaum irgendetwas anderes, sodass es ihn nicht danach verlangte, „auszugehen und etwas zu unternehmen“, wozu Monica ihn einst zu überreden versucht hatte – genau genommen nicht lange, bevor sie sich getrennt hatten –, doch der Zwischenfall an dem Fluss hatte ihm bewusst gemacht, dass hinter jeder Ecke eine unvorhergesehene Katastrophe lauern konnte und dass es wahrscheinlich noch ziemlich viele Dinge für ihn zu erleben gab, die seine Zeit auf Erden zweifellos bereichern würden. Die bloße Erinnerung an das aufgewühlte grüne Wasser, das in seinen Ohren getost hatte, als er über das Wehr gespült worden war, reichte schon aus, um ihn innerlich erbeben zu lassen. Das Ge­­wicht des Wassers hatte ihn niedergedrückt und auf seinen Körper eingeschlagen, ihn wieder und immer wieder auf den Backsteingrund des Tosbeckens geschleudert und ihn tief in dieser luftlosen eisigen Leere festgehalten. Diese furchtbare Erkenntnis, die ihn in diesem Moment ereilt hatte, war für immer in sein Gedächtnis eingebrannt, die Erkenntnis, dass es das nun also gewesen war; dass es ohne jegliche Vorahnung oder auch nur die Andeutung einer Warnung von einem Augenblick zum anderen unwiderruflich aus und vorbei war. Alles. Die ganze Show. Es würde keine Verabschiedungen geben, keine Klärung ungelöster Angelegenheiten, keine Chance, Dinge in Ordnung zu bringen, die in Ordnung gebracht werden mussten. Das war’s einfach gewesen. Seine Zeit war abgelaufen. Es war zu Ende. Aus und vorbei.
Beinahe reflexartig legte er seine blaue Seidenkrawatte ab.
Es war nicht notwendigerweise eine Rebellion gegen die reglementierte Welt, in die er so lange eingekapselt gewesen war. Es bedeutete nicht, dass er seinen Blick auf einmal über den Tellerrand hinaus richtete – um sich zu vergnügen, anstatt seiner normalen Beschäftigung nachzugehen, die darin bestand, die Entwicklung der Märkte zu beobachten. Aber es war vermutlich ein Anfang, dachte er. Monica würde bestimmt überrascht sein. Er würde später versuchen, sie per Skype zu erreichen, und mal antesten, wie sie reagierte – nicht nur auf die fehlende Krawatte, sondern vielleicht auch auf eine Einladung zum Abendessen irgendwo unterwegs, wann immer sie das nächste Mal in Großbritannien sein würde.
Er warf die Krawatte auf den Rücksitz seines Bentleys und setzte sich hinters Lenkrad. Mit ein paar geübten, beinahe zärtlichen Handgriffen erweckte er den schnurrenden leistungs­starken Sechs-Liter-Twin-Turbo-Motor seines luxuriösen Edelschlittens zum Leben. Wohlklingende Musik von Vivaldi erfüllte das lederne Innere des Wagens. Lansing fuhr langsam die weiße Kieszufahrt entlang, zunehmend beschwingt von seiner neuen Lebenseinstellung und seiner Entschlossenheit, sich zur Ab­­wechslung mal ein bisschen Spaß zu gönnen. Warum nicht gleich am Ende dieses Tages? Die Bäume der nahen Wälder standen in vollem Sommerlaub, die Luft war von lautem Vogelgezwitscher erfüllt. Sonnenstrahlen fielen wie Speere durch das Blätterdach. Als er die Szenerie hinter dem Armaturenbrett betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass diese Welt – aus der er um ein Haar so jäh verschwunden wäre – in der Tat ein herr­licher, erquicklicher Daseinsort war.
Nachdem er von seinem Haus ein kurzes Stück weit gefahren war, bremste er ab, da er sich der Einmündung in die Straße näherte. Die Straße, von der seine Zufahrt abging, war nur eine Landstraße, doch sie verlief mehr oder weniger in einer Li­­nie zwischen Crawley und Dorking. Lange Abschnitte führten schnurgerade durch ebene Wälder und an Feldern entlang, weshalb die Straße selbst zu dieser frühen Stunde bei jugendlichen Rasern beliebt war – Idioten, die sich zu spät auf den Weg zur Arbeit gemacht hatten; Idioten, die befürchteten, es nicht rechtzeitig zum Gatwick Airport zu schaffen und ihren Flug
zu verpassen; Idioten, die noch vor Tagesanbruch nach Hause kommen wollten, damit sie ihren Ehefrauen oder Freundinnen weismachen konnten, dass sie nicht die ganze Nacht auswärts verbracht hatten. Doch selbst ohne diese Bande von Hohlköpfen, die auf dieser Straße unterwegs waren, war die Stelle, an der Lansings Zufahrt in die Straße einmündete, ungünstig – sie be­­fand sich direkt an einer nicht einzusehenden Kurve. Aus Sicherheitsgründen hatte er deshalb an der verwachsenen Eiche direkt gegenüber der Einfahrt einen Konvexspiegel anbringen lassen, der ihm in beide Richtungen ein ganzes Stück weit die Straße entlang einen guten Blick bot. Zurzeit war weit und breit kein Auto zu sehen.
Er hörte gerade „Der Frühling“ von Vivaldi, und da in diesem Moment das Cembalo einsetzte, betätigte er mit dem Daumen den Regler an der Lenksäule und stellte die Musik lauter. Er liebte klassische Musik, aber am liebsten hörte er die „Vier Jahreszeiten“, vor allem wenn er an einem Sommermorgen durch die saftig grüne Landschaft fuhr. Er warf noch einen letzten Blick in den Spiegel – die Straße war immer noch in beide Richtungen frei – und steuerte den Wagen langsam zwischen den beiden als Torpfosten dienenden hohen Backsteinobelisken hindurch auf die Straße.
Der Knall des Zusammenstoßes mit dem Porsche Carrera war so laut wie ein Vulkanausbruch.
Der Sportwagen krachte mit gut 110 Stundenkilometern in die Beifahrerseite von Lansings Bentley, wurde über diesen hinwegkatapultiert, überschlug sich in der Luft und verwandelte sich in einen Feuerball, als er nach gut vierzig Metern wieder auf der Straße aufschlug. Er schlitterte, sich weitere Male überschlagend, die Straße entlang, setzte am seitlichen Grünstreifen sämtliche Büsche und Sträucher in Brand und rammte sich schließlich in eine Hainbuche, die von dem Aufprall beinahe entwurzelt wurde.
Im Vergleich dazu kam Lansing noch halbwegs glimpflich davon.
Sein Wagen, der voll erwischt wurde, überschlug sich ebenfalls, rutschte auf dem Dach den verkohlten Asphalt entlang und wurde in einen einzigen, verformten Schrotthaufen verwandelt. Doch obwohl Lansing mit voller Wucht gegen seinen Sicherheitsgurt und den Airbag geschleudert wurde und seine Beine sich schmerzvoll verdrehten, überlebte er.
Er hing eine gefühlte Ewigkeit mit dem Kopf nach unten in seinem umgekippten Wagen und dämmerte schwer benommen vor sich hin. Der einzige klare Gedanke, den er fassen konnte, war: Der Spiegel … die Straße war frei, ich habe es doch gesehen. Er verfluchte sich dafür, wie bescheuert er gewesen war, die Musik so laut zu stellen, dass er das Dröhnen des heranrasenden Autos nicht hatte hören können. Aber das hätte eigentlich egal sein müssen, die Straße war frei. Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen.
Und dann fiel ihm etwas anderes auf: der Geruch, der ihm rasch in die Nase stieg, und die warme Flüssigkeit, die ihm über das Gesicht lief – und die er im ersten Moment für Blut gehalten hatte. Er betastete mit den Fingerspitzen seine feuchten Wangen. Als er sie wieder wegzog, glänzten sie und waren glitschig.
O mein Gott!
Der Tank war aufgerissen. Das Benzin floss bereits in Rinn­salen durch das zerstörte Innere des Wagens. Und auch wenn sein Sehvermögen aufgrund des Schocks und der Schmerzen getrübt war, sah Lansing, dass draußen Flammen züngelten, einige in gefährlicher Nähe.
Obwohl er benebelt war und zitterte und ihm der Kopf dröhnte, kämpfte er wie wild mit dem Verschluss seines Sicherheitsgurtes. Als er es schließlich geschafft hatte, ihn zu öffnen, fiel er immer noch nicht nach unten auf das Innendach seines Wagens, sondern wurde von seinen eingeklemmten Beinen festgehalten. Der Schmerz strahlte in seinen Unterkörper aus.
„Verfluchte gebrochene Beine“, brachte er gurgelnd hervor, sein Mund schäumte vor Speichel.
Er konnte es immer noch aus dem Wagen schaffen. Er musste es schaffen.
Und so wand und krümmte er sich laut stöhnend und biss unter Schmerzensschreien die Zähne zusammen, bis es ihm schließlich gelang, seine verdrehten Beine so weit zu befreien, dass er wie ein Stein herunterfiel und mit voller Wucht auf den Schultern und dem oberen Teil seines Rückens landete. Indem er hin- und herruckelte, schaffte er es, sich langsam auf die Seite zu drehen und sich durch das Fahrerfenster zu zwängen. Genau in dem Moment, in dem er auf den mit Scherben übersäten Asphalt glitt, erhaschte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er sah eine glänzende Benzinspur, die gefährlich auf das am Straßenrand brennende Gestrüpp zukroch.
Auf den Ellbogen krabbelnd, robbte er unter unerträglichen Schmerzen mit zusammengebissenen Zähnen langsam aus der Gefahrenzone. Als sein Wagen hinter ihm explodierte, ging dieser nicht mit einem lauten Knall in die Luft, sondern mit einem dumpfen WUMM. Lansing malte sich aus, wie über dem Wagen eine Feuerwolke aufstieg wie ein Atompilz im Miniaturformat und die überhängenden Zweige in Flammen setzte. Sengende Hitze rauschte über ihn hinweg. Aber im Gegensatz zu Flammen verletzte Hitze einen nicht. Und der Hitze folgte keine Welle aus Feuer.
Als ihm bewusst wurde, dass er in Sicherheit war, ließ er sich auf seine vor sich verschränkten Arme auf den Asphalt sacken, aus seinen Augen, die vom Rauch und Dampf bereits ganz rot waren, schossen Tränen hervor. Irgendwo in der Nähe hörte er ein Auto näher kommen, das im Gegensatz zu dem Porsche nicht mit Vollgas unterwegs war, sondern abgebremst wurde. Reifen knirschten über den mit Trümmern übersäten Straßenbelag; ein Motor erstarb tuckernd; eine Handbremse wurde angezogen; Türen wurden geöffnet; in Stiefeln steckende Füße stapften über den Asphalt, es hörte sich so an, als wären es zwei Paare. Obwohl es ihn übermenschliche Anstrengung kostete, rollte Lansing sich auf den Rücken.
Im ersten Moment konnte er nicht richtig erfassen, was er sah. Als der Tank seines Wagens explodiert war, hatte sich das brennende, verformte Wrack, das von seinem Bentley übrig geblieben war, durch die Wucht der Explosion wieder aufgerichtet und stand wieder auf den Rädern. Doch wichtiger als das war die Tatsache, dass etwa zehn Meter hinter den Resten seines Wagens ein schweres Fahrzeug – es war grün und vielleicht ein Jeep oder ein Landrover – parkte, aus dem zwei Männer gestiegen waren, die, wie es aussah, beide graue Overalls trugen. Anstatt zu ihm zu kommen und nach ihm zu sehen, stand einer der beiden Männer, der größere, einfach nur mit den Händen in den Hosentaschen da und musterte das brennende Autowrack. Der andere war um das Wrack herumgegangen, und durch den flackernden orangefarbenen Schleier sah es so aus, als ob er versuchte, den Spiegel von dem Baumstamm abzumontieren.
„H-hallo!“, stammelte Lansing. „Hallo … ich bin hier …“
Der Typ mit den Händen in der Hosentasche sah sich beiläufig zu ihm um. Trotz der gewaltigen Ereignisse, die sich an diesem Morgen zugetragen hatten, und trotz des verspätet einsetzenden Schocks, der durch Lansings geschundenen Körper hindurchschoss wie eine eisige Droge, war er, als er das Gesicht des Mannes erblickte, derart verblüfft und zugleich entsetzt, dass er wie von Sinnen losschrie.
Der kleinere Kerl hantierte währenddessen immer noch an dem Spiegel herum – nicht um zu versuchen, ihn abzumontieren, wie Lansing zunächst gedacht hatte, sondern um etwas zu entfernen, das über ihn gelegt worden war. Oder, genauer gesagt, auf der Spiegelfläche befestigt worden war. War es ein Foto? Ein großes, rundes Foto, das in dem Rahmen des Spiegels angebracht worden war?
Großer Gott …
Der Größere der beiden mit dem Gesicht, das Lansing so fassungslos gemacht hatte, kam mit langsamen, entschlossenen Schritten über die Straße auf ihn zu.
„Sie haben mehr Glück als jedes andere Arschloch auf diesem Planeten, Mr Lansing.“ Seine Stimme war gedämpft, doch seine Worte waren klar und deutlich zu verstehen. „Aber leider währt niemandes Glück für immer.“
„Ich bin … ich bin verletzt“, stammelte Lansing.
„Das sehe ich.“
„Bitte … Fordern Sie einen Krankenwagen an.“
Jetzt kam der andere über die Straße; der, der das runde Foto bei sich hatte, das er von dem Spiegel abgerissen hatte. Sein Ge­­sicht entlockte Lansings Kehle ein erstauntes Krächzen, aber genauso sehr schockierte ihn das Foto – es war ein Foto der Straße, die an seiner Zufahrt vorbeiführte, allerdings frei und ohne jedes herankommende Auto.
„Hören Sie“, brachte er gurgelnd hervor. „Das ist kein Spiel. Ich bin schwer verletzt.“
„Nicht schwer genug, fürchte ich“, entgegnete der größere der beiden Männer. „Aber keine Sorge – darum kümmern wir uns schon.“
Sie hoben ihn hoch, einer packte ihn oben an, der andere unten.
Lansing wehrte sich. Natürlich wehrte er sich; er wusste, dass sie nicht die Absicht hatten, ihm zu helfen. Doch sosehr er sich auch wand und sträubte, sie trugen ihn um das Wrack seines Wagens herum wie einen Sack Mehl. Da er sich nicht anders zu helfen wusste, biss Lansing zu und erwischte den Kleineren, dessen in einem Latexhandschuh steckende Hand sein verschwitztes, benzindurchtränktes Hemd gepackt hatte und fest zugriff. Er versenkte seine Zähne, so tief er konnte, beinahe bis zum Knöchel. Der Angreifer schrie auf und versuchte, seine Hand loszureißen, doch Lansing verhielt sich wie ein Hund mit einem Knochen und ließ nicht los. Er wusste, dass es um sein Leben ging.
Sie blieben ruhig, selbst als sie einen Hagel von Schlägen auf sein Gesicht niederregnen ließen, um ihn dazu zu bringen, seinen Biss zu lockern. Jeder Schlag dröhnte durch seinen Schädel. Als Erstes ging seine Nase zu Bruch, dann seine Wangenknochen und seine Augenhöhlen und schließlich sein Kiefer.
Obwohl er alles durch einen dicken, klebrigen, blutroten Schmierfilm sah, war er sich dessen bewusst, dass sie ihn immer noch trugen. Die Hitze, die von seinem brennenden Wagen ausging, hüllte ihn ein, als sie vor dem Wrack stehen blieben.
„Biiiitte“, brachte er durch seine zerfetzten Lippen hervor. „Biiiitte … nicht …“
„Betrachten Sie es als einen Gefallen, den wir Ihnen tun, Mr Lansing“, entgegnete der Größere. „Sie waren immer ein gut aussehender Kerl. Wollen Sie so, wie Sie jetzt aussehen, wirklich weiterleben? Aber egal, es ist sowieso nur eine hypothetische Frage. Eins, zwei und drei …“
Während sie ihn zwischen sich hin- und herschwangen, ging sein gurgelndes Flehen in ein glucksendes Jammern über, das sich zusehends steigerte und seinen Höhepunkt erreichte, als sie ihn losließen und er über die blasige Motorhaube rumpelte und weiter durch den gezackten Schlund der Überreste der Windschutzscheibe in den dahinter lodernden weißglühenden Schmelzofen fiel.
Doch selbst dann war es noch nicht vorbei.
Lansings Kleidung fing Feuer und verbrannte zu verkohlten Fetzen, zusammen mit seiner Haut und den Fettgewebeschichten, die sich darunter befanden. Doch er brachte immer noch die Kraft auf, durch eine Öffnung an der Stelle, wo einmal die Fahrertür gewesen war, nach draußen zu krabbeln – wo er von erstauntem, jedoch belustigtem Kichern empfangen wurde.
„Das ist ja wirklich ein Teufelskerl“, stellte der Größere fest, während sie Lansing erneut an den Hand- und Fußgelenken packten, völlig unbeeindruckt davon, dass sein versengtes Fleisch sich unter ihren Händen in schleimigen Schichten ablöste. Wie zuvor trugen sie die sich windende Gestalt Lansings zur Vorderseite des Wracks und beförderten sie über die Motorhaube hinweg durch die Öffnung der einstigen Windschutzscheibe zurück in die lodernden Flammen.

Paul Finch

Über Paul Finch

Biografie

Paul Finch hat als Polizist und Journalist gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Neben zahlreichen Drehbüchern und Kurzgeschichten veröffentlichte er auch Horrorromane und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem British Fantasy Award und dem International Horror Guild...

Pressestimmen
Frankfurter Neue Presse

„Paul Finch hat mit ›Totenspieler‹ einen der bislang besten Bände seiner Krimireihe um den Ermittler Heckenburg geschrieben.“

dpa-Starline

„Paul Finch gelingt in seiner Serie mit Mark Heckenburg das Kunststück, mit dem 5. Band ›Totenspieler‹ einen der besten Romane der Reihe zu veröffentlichen. Ein hochspannender Plot und eine rasante Handlung.“

Cellesche Zeitung

„Paul Finchs Reihe um den eigensinnigen Ermittler garantiert bei jedem Fall Höchstspannung. (...) Nervenkitzel von der ersten bis zur letzten Seite.“

Lübecker Nachrichten

„In seinem fünften Roman über den Ermittler Mark Heckenburg mischt Paul Finch schwärzesten Humor mit einer hochspanneden Krimihandlung.“

dpa-Starline

„Paul Finch mischt schwärzesten Humor mit einer hochspannenden Krimihandlung. Heckenburg ist ein Draufgänger, der auch die härtesten Actionszenen besteht und immer noch realistisch wirkt.“

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