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Tausend Nächte und ein Tag

Tausend Nächte und ein Tag

Lydia Conradi
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Roman

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Tausend Nächte und ein Tag — Inhalt

Abenteuer, Historie und orientalisches Flair – in „Tausend Nächte und ein Tag“ entführt Lydia Conradi ihre Leser in die aufregende Welt der frühen Archälogie, zum Turmbau und den Hängenden Gärten von Babylon. In diesem fesselnden historischen Roman erzählt Conradi farbenprächtig und atmosphärisch von einer Liebe, die nicht sein darf, und einer Frau zwischen Leidenschaft und Vernunft.  

1899, ganz Berlin ist im Orient-Fieber, denn der Archäologe Robert Koldewey hat soeben das mythische Babylon aus dem Wüstensand gegraben. Auch die junge Senta ist den jahrtausendealten Kulturen verfallen, doch als Frau ist ihr der Zugang versperrt. Sie beschließt, eine eigene Expedition auszustatten, begleitet von dem Assyriologen Winfried, der sie liebt, und dem undurchschaubaren Briten Christopher. Auf der strapaziösen Reise in das umkämpfte Land zwischen den Strömen brodeln gefährliche Leidenschaften. Die Lage spitzt sich zu, als die Gruppe von Beduinen als Geiseln genommen wird. Einzig Faysal, der Sohn des Sheik, sieht in den Europäern mehr als ein Faustpfand. Er und Senta gehören verschiedenen Welten an, doch in den schwarzblauen Nächten der Wüste brechen sich Gefühle Bahn, die so berauschend sind wie der Zauber des Orients und so alt wie seine im Sand verborgenen Kulturen ...  

Der Zauber des Orients eingefangen zwischen zwei Buchdeckeln – ein farbenprächtiger Historienroman um eine ebenso faszinierende wie lebensgefährliche Reise zu den Strömen Mesopotamiens und den Geheimnissen der Vergangenheit.  

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.10.2018
480 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99170-4
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Leseprobe zu „Tausend Nächte und ein Tag“

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Ashmolean Museum, Archäologische Abteilung, Büro des Kurators

Oktober, Beginn des akademischen Jahres

„Schenken Sie mir eine Sekunde Ihrer kostbaren Zeit, mein Freund? Ich würde diesen jungen Mann hier gern Ihrer Obhut anvertrauen.“

Percy hatte zwei Paar Schritte auf den knarrenden Dielen erkannt, als auch schon die Tür aufschwang. Es bestürzte ihn, wie sehr er sich erschrocken hatte. Minette, seine Sekretärin, ließ für gewöhnlich niemanden zu ihm durch. Bei der Direktion hatte er seinerzeit eigens darum gebeten: »Wie gut die Dame in Stenografie ist, [...]

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Ashmolean Museum, Archäologische Abteilung, Büro des Kurators

Oktober, Beginn des akademischen Jahres

„Schenken Sie mir eine Sekunde Ihrer kostbaren Zeit, mein Freund? Ich würde diesen jungen Mann hier gern Ihrer Obhut anvertrauen.“

Percy hatte zwei Paar Schritte auf den knarrenden Dielen erkannt, als auch schon die Tür aufschwang. Es bestürzte ihn, wie sehr er sich erschrocken hatte. Minette, seine Sekretärin, ließ für gewöhnlich niemanden zu ihm durch. Bei der Direktion hatte er seinerzeit eigens darum gebeten: „Wie gut die Dame in Stenografie ist, interessiert mich nicht. Schicken Sie mir einen Drachen mit Haaren auf den Zähnen, einen Lamassu, an dem niemand vorbeikommt. Ich brauche meine Ruhe.“

Er schaute absichtlich nicht hoch, schob aber schließlich das Dossier, in dem er zu lesen vorgegeben hatte, beiseite und hob den Kopf. Vor ihm stand seine Freundin Ariadne Christian, an deren Zuneigung ihm etwas lag. Was bedeutete, dass die Behandlung, die er für gewöhnlich Eindringlingen angedeihen ließ, nicht infrage kam. Weder durfte er sie durch sein notorisch schlechtes Benehmen verscheuchen – womit er bei ihr ohnehin auf Granit gebissen hätte –, noch konnte er seine Gebrechlichkeit vorschützen, um sie wortlos abzuweisen.

Er erschrak ein weiteres Mal, als er das Gesicht des zweiten Besuchers neben dem vertrauten von Ariadne sah. In seinen Ohren setzte das Brausen ein, das ihn selten einen Tag lang unbehelligt ließ. Es war, als stünde er auf einem futuristischen Großbahnhof, eingequetscht zwischen Gleisen, über die ohne Unterlass Züge jagten. Morbus Menière nannten seine Ärzte die Krankheit, die sowohl unheilbar wie ursächlich unbekannt war und mit einer Überempfindlichkeit gegen Geräusche einherging. Dem imposanten Namen zum Trotz war daran nichts Elegantes.

Das Gesicht des Fremden – eines jungen Mannes von Anfang zwanzig – war mitnichten fremd. Seine Züge waren in Percys Erinnerung gehämmert wie in Metall, und er hatte nicht erwartet, sie noch einmal an einem Menschen zu sehen: sehr runde, sehr zarte Brauen, die dem Gesicht eine Herzform verliehen, lieblich und in der Klarheit der Linien asketisch zugleich. Die Nase schmal, schnurgerade, die Jochbeine hoch, die Lippen trotz der Fülle fest.

Senta, Senta.

Über den futuristischen Großbahnhof hallte der verhasste Name.

Immer wieder hatte er Hymnen auf die perfekte Mandelform der Augen, die göttliche Vollkommenheit des gesamten Gesichts lesen müssen, bis er kurz davor gewesen war, die Briefe ins Feuer zu werfen: „Sie ist Deine Ischtar, Vally.“ Kein Mensch hatte ihn zuvor oder danach je Vally genannt. „Erklär mich für verrückt, lass mich einsargen oder kündige mir die Freundschaft, aber sie ist die goldene Löwin, von der Du gesagt hast, niemand könne sie in all ihren Facetten erfassen. Sie ist Deine Göttin von Liebe und Krieg, die das Dunkel in sich nicht einmal selbst erfasst.“

„Komm endlich nach Hause“, hatte Percy zurückgeschrieben. „Was die Wüste mit den Köpfen von halbwegs vernünftigen Männern anstellt, ist hinlänglich bekannt. Deiner braucht vermutlich nicht viel mehr als eine gründliche Wäsche und etwas Erfrischung mit einem sorgsam gelagerten, durch keinen Schnickschnack verwässerten Tanqueray Gin.“

Später hatte er andere Briefe geschrieben, und noch später hatte er sich nicht länger mit dem Schreiben von Briefen begnügt, sondern die Verwurzelung seiner Familie im diplomatischen Dienst seines Landes bis zur äußersten Möglichkeit genutzt. Die letzte Nachricht, die auf nicht mehr nachzuverfolgenden Wegen weitergereicht worden war, hatte er auf die Rückseite einer Fotografie gekritzelt, die zwei vor Jugend und Schönheit strotzende Männer im Badekostüm an der Mündung des Deben zeigte:

„Würde mich mein eigener Körper nicht verhöhnen und zur Untätigkeit verdammen, ich käme persönlich in dieses Land, das die Hölle jeglicher Weltreligion zum Kinderschreck schrumpfen lässt, und risse Dich von dort weg. Wir sind dabei, es wie Teegebäck in Teile zu zerbrechen, und zerbrechen uns selbst dabei ein Stück weit mit. Jeder Verräter verrät auch sich selbst, und die erst geküsste, dann getretene Schlange wendet sich gegen uns. Komm zurück, ehe im Inferno dort unten jeder Ausweg verglüht. Lass meinen Boten wissen, was es mich kostet, und ich sorge dafür, dass Du das Geld auf schnellstem Weg erhältst.“

Auf diese Nachricht hatte er – wie auf die ungezählten, die ihr vorausgegangen waren – keine Antwort erhalten. In zahllosen Nächten jenes schwarzen Jahres, während im Wüten des Krieges seine Welt zerbarst, war er in Schweiß gebadet aus dem Schlaf geschreckt wie aus einem Sarg, weil er begriffen hatte, dass er nie wieder eine Antwort erhalten würde, dass jede Hand, die er ausstreckte, ins Leere griff.

Monatelang war es ihm gänzlich unmöglich erschienen, damit zu leben. Er mied den Schlaf, bis es nicht mehr ging, und in Gesellschaft brüskierte er jeden mit beißendem Zynismus, nur um anschließend in eine noch tiefere Einsamkeit zurückzufallen. Er hatte Gewicht verloren, hatte vom Geruch gekochter Speisen würgen müssen, bis von seiner einstigen Fleischlichkeit nur mehr ein mit Haut bespanntes Skelett geblieben war. Seine körperlichen Gebrechen hatten sich in jener Zeit so rapide verschlechtert, dass er sich nicht wieder davon erholte.

Der neue Arzt, den er sich hatte aufschwatzen lassen, verordnete ein Tonikum und rühmte sich später, es hätte Wunder gewirkt. In Wahrheit hatte wahrscheinlich die Zeit das Ihre getan, die Tatsache, dass es – abgesehen von der allzu melodramatischen der Selbsttötung – keine andere Wahl gab. Geholfen hatte die Spur Hoffnung, die sich wider jede Vernunft in sein Bewusstsein vorgekämpft hatte. Und Ariadne Christian, die dieser völlig verstiegenen Hoffnung keinen Riegel vorgeschoben, sondern ihr in kleinen Dosen Nahrung verabreicht hatte.

Jetzt stand der junge Mann, der die Substanz dieser Hoffnung war, vor ihm und machte ihm mit den Farben seines Haares, seiner Haut und seiner Augen deutlich, dass sie nicht mehr länger bestand. Die Hoffnung starb ab und stürzte mit einem dumpfen Laut zu Boden wie die Kastanien vor dem Fenster. Die Wucht, mit der Percy sich betrogen fühlte, drohte, ihn zu übermannen. Vor seinen Augen schienen zwanzig Jahre zu Staub zu zerfallen wie Babylons aus Lehmziegeln erbaute Stadtmauern, die einst zu den Wundern der Welt gezählt hatten. Die Frau, die sich kerzengerade vor seinem Schreibtisch aufbaute, hätte ihn daran hindern können, sich in die Hoffnung hineinzusteigern. Ariadne Christian, der letzte Mensch, dem er vertraut hatte, hätte zwanzig Jahre lang die Macht dazu besessen.

„Ich weiß, was Ihnen jetzt durch den Kopf geht“, sagte Ariadne, und Percy hegte daran keinen Zweifel.

Wissen Sie auch, was mir durch die Brust geht, hätte er sie um ein Haar gefragt, durch das Herz, über das wir auf irgendeiner dieser unsäglichen Teepartys gespottet haben, es sei nichts weiter als ein Muskel, zu feinerer Empfindung so wenig fähig wie etwa die Wade oder der Gluteus maximus, gemeinhin Hintern genannt?

Wir haben uns geirrt, meine Teuerste, ich so sehr wie Sie. Nicht bei der Entzifferung der urartäischen Sprache und nicht beim Vergleich zwischen Keilschrift und Hieroglyphen des Luwischen, wohl aber beim Bemühen, zu begreifen, was unser innerstes Selbst uns zu sagen versuchte. Sei es, wie es sei. Um uns zu ändern, ist es zu spät – wer weiß, wie lange schon.

„Ich habe zu tun“, sagte er, als Ariadne zum Sprechen ansetzte. „Seit Anfang der Woche trampeln die heimgekehrten Elefantenhorden, die behaupten, hier einem Studium nachzugehen, durch die Gänge, zudem erwarte ich jeden Augenblick allerhand Material aus der Bodleian Library. Eine Vortragsreihe steht an, und ich habe mir die Aufgabe aufs Auge drücken lassen, die begleitende Broschüre zu erstellen.“

„Ich weiß“, unterbrach ihn Ariadne. „Das British Museumschickt Ihnen ein paar Leihgaben und einen Experten zu Campbell Thompsons Funden in Ninive, richtig?“

Ehe Percy sich überlegen konnte, wie am besten darauf zu antworten war, hatte er bereits genickt.

„Deshalb sind wir hier“, sagte Ariadne.

Er versuchte, zwei und zwei zusammenzuzählen, stand stattdessen aber vor einer Gleichung mit allzu vielen Unbekannten. Ariadne – seine Freundin Ariadne – hatte ihn zwanzig Jahre lang betrogen. Sie hatte den Jungen von ihm ferngehalten, damit die Wahrheit nicht ans Licht kam und er ihrem Schützling seine Unterstützung nicht entzog, sondern letztendlich sogar ein Testament zu seinen Gunsten abfasste. Ihr Motiv blieb dabei im Dunkeln. Sie musste einst die gleiche Hoffnung gehegt haben wie er, und der Junge erfüllte weder ihre noch seine. Weshalb ihn also begünstigen? Weshalb der gottverfluchten Sentaam Ende auch noch diesen Triumph gönnen? Und weshalb nach zwanzig Jahren schlagartig die Richtung ändern und die Felle davonschwimmen lassen – jetzt, da das rätselhafte Ziel in greifbare Nähe rückte?

Percy war vierundsechzig und damit bereits älter, als er allen ärztlichen Prognosen nach hätte werden dürfen. Älter als etliche andere, die ihrer Natur nach so viel mehr versprochen hatten. Ein Termin bei seinem Notar stand an, und mit einem gewissen Interesse fragte er sich, was geschehen wäre, wenn Ariadne ihre Intrige bis zum Ende durchgehalten hätte. Hätte er sich entschieden, einem – soweit er wusste – begabten jungen Mann einen Fonds für die Gestaltung seiner Zukunft anzulegen, statt seinen Gesamtbesitz dem Museum zu hinterlassen? Hätte er sich dabei erleichtert gefühlt, zufrieden in der Erinnerung an die paar leuchtenden Jahre, in denen er sich von seinem Gastspiel auf Erden mehr erhofft hatte als Arbeit und die Suche nach Erkenntnissen, die letztlich nur neue Fragen aufwarfen?

Wünschte sich im Grunde jeder Mann ein Kind, um ihm all die Träume aufzuladen, bei deren Erfüllung er im eigenen Leben schmählich versagt hatte?

Die Überlegung erübrigte sich. Ariadne hatte beschlossen, ihr buchstäblich dunkles Geheimnis vor der Zeit zu lüften.

„Percy? Perceval? Hören Sie mir noch zu?“ Ariadnes Tonfall erinnerte in unerfreulicher Weise an den einer Krankenschwester. „Wir sind nicht gekommen, um an Wunden zu rühren, mit denen ich nicht besser lebe als Sie. Wir hätten Sie nicht belästigt, wenn wir einen anderen Weg gesehen hätten. Dieser Experte, den Sie erwarten, hat mit Thompson gearbeitet, er kommt direkt aus dem Mandatsgebiet Mesopotamien, richtig?“

„Aus dem Irak“, erwiderte Percy. „Das Mandat ist vor fünf Jahren erloschen. Man hat uns dort nicht länger haben wollen, auch wenn wir unsere Luftstützpunkte wohl behalten.“

„Wundert Sie das?“

„Was? Der Erhalt der Luftstützpunkte?“

„Nein.“ Unerträglich milde schüttelte Ariadne den Kopf. „Das andere. Man stelle sich nur einmal vor, eines dieser uns im Denken und Fühlen so fremden Völker käme auf die Idee, uns eine vollständige Überwachung vor die Nase zu setzen, damit wir unser Land verwalten, wie es ihnen richtig scheint.“

„Das ist der übliche Vergleich der Schwärmer, die immer Sentimentalität mit Menschenfreundlichkeit verwechseln“, sagte Percy, obwohl er nur allzu gut wusste, dass sie recht hatte. „Er hinkt auf beiden Füßen und auf seinem Pferdefuß obendrein.“

„Ich bedanke mich für die Belehrung. Aber wenn es Ihnen Freude macht, mich wie ein Milchmädchen zu behandeln, tun Sie sich keinen Zwang an. Schließlich bin ich hier, weil ich einen Gefallen von Ihnen erbitten muss. Ihre Vermittlung, Percy. Der Junge braucht eine Gelegenheit, mit Thompsons Mann zu sprechen. Er braucht mehr als das: Sie müssen Ihr Wort für ihn einlegen, damit der Mann ihn zurück nach Mesopotamien – Verzeihung, in den Irak – mitnimmt.“

„Haben Sie den Verstand verloren?“ Die eigene Stimme bohrte sich wie ein Geschoss in Percys lädierte Gehörgänge.

Ariadne trat vor seinen Schreibtisch und stützte die Hände auf die mit Dokumenten übersäte Platte. „Es ist die einzige Chance, die er hat.“

Bedingt durch den chronischen Katarrh, bildete sich in Percys Kehle mitunter übermäßig viel Schleim, der ihm das Sprechen erschwerte. Dafür, dass die Schleimbildung mit erhöhter Erregung einherging, gab es aus medizinischer Sicht allerdings keinen Grund. Er räusperte sich. Ehe er jedoch seine Kehle befreit hatte, trat der Junge vor. „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle?“, sagte er mit erstaunlich heller, beinahe noch kindlicher Stimme. „Mein Name ist Isaac Christian, und ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Bitte Ihnen unverschämt erscheinen muss …“

„Mir ist bekannt, wer Sie sind“, schnitt Percy ihm das Wort ab. „Und unverschämt ist vor allem, dass Sie einen Namen tragen, an dem Sie kein Recht besitzen.“

„Er besitzt es sehr wohl“, mischte sich Ariadne ein. „Abgesehen davon, dass er diesen Namen – Isaac Christian – schon sein Leben lang trägt, weil mein Bruder ihn damit in die Welt geschickt hat. Seine Mutter ist vor zehn Jahren für tot erklärt worden, und anschließend habe ich als nächste Verwandte ihn adoptiert.“

„Als Verwandte“, hörte Percy sich wie ein Echo seiner eigenen Gedanken murmeln.

„Ich bin Ariadne zu Dank verpflichtet“, meldete sich wieder der Junge zu Wort, dessen Sprechweise anzumerken war, dass er zwar eine kostspielige Ausbildung erhalten, die Obhut einer Familie aber entbehrt hatte. „Trotzdem kann ich mich nicht durchringen, die Nachforschungen über den Verbleib meiner Eltern aufzugeben. Ich bin deshalb zu Ihnen gekommen, Dr. Russell. Weil ich nach meinen Eltern suche und Sie bitten möchte, den Kontakt zu Campbell Thompsons Mitarbeiter herzustellen.“

„Und davon versprechen Sie sich bitte was? Was hat Dr. Farringdon, der mit einem extrem begrenzten Zeitkontingent unterwegs ist, mit Ihren Eltern zu tun?“

„Versprechen kann ich mir natürlich nichts“, erwiderte der junge Mann. „Ich wage lediglich zu hoffen, dass Dr. Farringdon es mir ermöglichen wird, ihn auf der Rückreise in den Irak zu begleiten.“

„Nach Ninive.“ Der verächtliche Ton, den Percy als junger Mann kultiviert hatte, versickerte im Schleim in seiner Kehle. „Selbst wenn wir die übrigen Absurditäten Ihres Vorhabens beiseitelassen – Campbell Thompson gräbt in Ninive, und Dr. Farringdon reist dorthin zurück. Ninive liegt bei Mossul im Norden, rechts des Tigris.“

Der Bursche war jung, der Name der Stadt ließ ihn nicht aufhorchen. Sie war eine von so vielen Städten, die zu nah an willkürlich in den Sand gezogenen Grenzlinien lag, um je wirklich Frieden zu erlangen. Ein Jahrzehnt lang war um sie gefochten und geschachert worden, und die Stille, die jetzt dort herrschte, war die eines schlafenden Vulkans.

„Ihre Eltern sind dort nie gewesen“, sagte er zu dem Jungen. „Sie waren am Euphrat, in Babylon, keine hundert Kilometer vor Bagdad, das wir 1917 eingenommen haben. In Mossul erst ein Jahr später. In dem Land, von dem wir sprechen, war Krieg, in aller Welt war Krieg. Vielleicht sollten Sie in Zukunft Ihre Hausaufgaben machen, ehe Sie die Zeit anderer Leute in Anspruch nehmen.“

Der Junge zuckte zusammen, wie einer, der Ohrfeigen nicht gewohnt war. Dann straffte er den Rücken. Er war nicht groß, im Gegenteil. Gemessen an Percys Hoffnung, war er ein lächerlich schmächtiges Kerlchen, aber das Aufrichten, das Verhärten der Züge und das Schweigen verfehlten nicht völlig ihre Wirkung.

„Isaac hat seine Hausaufgaben gemacht“, sagte Ariadne. „Er macht sie unermüdlich, geradezu besessen, seit er zwölf Jahre alt war. Letztlich ist er zu dem Schluss gelangt, dass seine Eltern nach Ninive unterwegs gewesen sein müssen. Das Letzte, was irgendwer von ihnen weiß, ist, dass sie zu den Hängenden Gärten wollten.“

„Und dass sie verrückt waren, krank, nicht mehr bei Verstand!“, hieb ihr Percy ins Wort. „Was immer dieser Deutsche Robert Koldewey sonst noch gewesen sein mag, er war auf jeden Fall ein exzellenter Archäologe. Wo er die Hängenden Gärten gefunden hätte, wenn ihm die Weltgeschichte nicht in die Quere gekommen wäre, ist hinlänglich bekannt: In Babylon. Am Euphrat. Wo sie hingehören.“

„Meine Mutter war überzeugt, der vermutete Standort Babylons habe vom Ufer des Euphrat zu weit entfernt gelegen, um eine ausreichende Bewässerung der Gärten möglich zu machen“, wandte der Junge ein.

„Zum Teufel, Sie haben Ihre Mutter doch überhaupt nicht gekannt!“, brach es aus Percy hervor. Er erschrak über sich selbst bis ins Mark, presste sich die Hände auf die Ohren und nahm sie rasch wieder herunter, als ihm klar wurde, welch alberne Figur er abgab. „Ihr lag nichts an der Archäologie, und sie verstand auch nichts davon. Was immer sie vermutete, ist hanebüchener Unsinn, geeignet für die Leserinnen von Peg’s Paper. Das ist das Kreuz mit Frauen auf Grabungen: Sie wollen etwas erleben, was sie in ihrer Einfalt für romantisch halten, aber sie wollen dabei nicht ihren Verstand gebrauchen. Und am Ende gebraucht ihn überhaupt niemand mehr.“

Seine Lunge gab ein kleines japsendes Geräusch von sich. Pfeifend holte er Atem, ehe er gedämpfter weitersprach: „Ihre Mutter ist tot, junger Mann. Sie sind beide tot, die Wüste hat sie verschluckt, und auch wenn es anmaßend erscheinen mag, so etwas auszusprechen: Aus meiner Sicht hat zumindest das etwas von ausgleichender Gerechtigkeit. Was wollen Sie noch?“

Der Junge stand still und focht einen Kampf mit sich aus. Als Ariadne seinen Arm berührte, trat er einen Schritt zur Seite. „Dass sie tot sind, ist anzunehmen“, sagte er endlich. „Ob das mit Gerechtigkeit zu tun hat, kann ich nicht beurteilen. Ich will nur wissen, wo sie begraben sind.“



Erster    Teil

Konstantinopel, Osmanisches Reich 1912

Ihr Herz ist ein rasender Löwe, ihr Gemüt ein wilder Bulle.

Ischtar-Hymnus, Vorläufer der Šu-illa, Boğazköy, Mitte des 2. Jahrtausends vor Christus



2


Konstantinopel, Bahnhof Sirkeci

Juni, in diesem Teil der Welt längst Sommer

Der Bahnhof war eine Kathedrale. Als der Zug, der bisher Meile um Meile mit eisernem Maul verschlungen hatte, auf das bläulich gewölbte Dach zwischen Türmen zurollte, drosselte er sein Tempo. Das letzte Stück fuhr er langsam, geradezu zeremoniell, gab den Menschen in den Abteilen, den Salon- und Speisewagen Zeit, zu begreifen, dass ihre lange Reise nun zu Ende war. Eine Reise, die nicht nur von einer Stadt in eine andere geführt hatte, wie es Bahnreisen seit ihrer Erfindung eben taten, sondern die all jene, die vor dreieinhalb Tagen auf dem nächtlichen Pariser Gare de l’Estan Bord gegangen waren, aus ihrer vertrauten Welt in eine fremde transportiert hatte. Aus dem Abendland ins Reich des Morgens.

Senta Zedlitz war nicht sicher, dass sie es begriff. Sie hatte keine einzige Nacht in diesem rollenden Grandhotel gut geschlafen, sie schlief praktisch nie gut, doch in der letzten Nacht, seit sie im Stockdunkeln aus Sofia aufgebrochen waren, hatte sie kein Auge zugetan. Auf dem bulgarischen Bahnhof war sie, wie etliche andere Reisende, nach der Prozedur der Passkontrollen kurz ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten. Winfried Heyse, ihr Reisebegleiter, einstiger Vorgesetzter, und was immer er sonst noch sein mochte, war dagegen ängstlich an Bord geblieben, als drohte ihm draußen die ewige Verdammnis. Ein wenig anders war es in Sofia schon gewesen, anders als in Wien und Bukarest und Belgrad, wo sie zuvor Aufenthalt gehabt hatten, die Luft weicher und zugleich schwerer, die Wärme intensiver, als selbst der heißeste Berliner Sommer sie bescherte, das Gewirr der Stimmen lauter, schneller, schärfer.

Dennoch war etwas Vertrautes spürbar gewesen, die Atmosphäre von Aufbruch und Geschäftigkeit, die sämtlichen Bahnhöfen in Sentas Erinnerung gemein war, die Anordnung von Schaltern, Kiosken und Cafés, die es dem Durchreisenden ermöglichte, sich sofort zurechtzufinden. Wer ein reisendes Herz besitzt, ist auf jedem Bahnhof der Welt zu Hause, hatte ihr Vater behauptet, der kein reisendes Herz besessen hatte. Aber ich habe eines, hatte Senta gedacht, hatte sich an dem letzten noch ausharrenden Verkaufskarren eine Tüte Nüsse gekauft und sich auf dem nächtlichen Bahnhof von Sofia zwar nicht zu Hause, aber auch nicht fremder gefühlt als daheim in Berlin.

Und noch ein anderer Gedanke hatte sie beschäftigt. Ihr Entschluss, das Geld aus ihrem Erbe, das für die Absicherung ihrer Zukunft gedacht gewesen war, stattdessen in diese Reise zu stecken, hatte etwas von einer Flucht, darüber machte sie sich nichts vor. Vielleicht, so überlegte sie, ist es ja das hier, was mir in Wahrheit entspricht – von Bahnhof zu Bahnhof reisen, nirgendwo bekannt, überall nur kurz zu Gast sein, ohne sich festzuhalten, ohne anzukommen.

Angekommen war sie jetzt aber doch. Zwar nicht am geplanten Endziel der Reise, jedoch immerhin dort, wo der Zug – der überkomfortable, sicher bewachte, westlich-vertraute Orientexpress – zum letzten Mal haltmachte und seine Passagiere ihrem Schicksal überließ. Istanbul stand in unlesbaren osmanischen Zeichen auf den langsam vorbeigleitenden Schildern und Konstantinopel darunter in lateinischen. Sie war in der Welt, von der sie geträumt hatte, solange sie denken konnte. Im Osmanischen Reich. In Tausendundeine Nacht.

Senta war Altorientalistin. Mit einer Entschlossenheit, die sie zuweilen selbst verblüfft hatte, hatte sie sich über die Steine, die Frauen mit solchen Vorhaben in den Weg gelegt wurden, hinweggesetzt und ein Studium absolviert. Nicht irgendwo. Sondern am Somerville College in Oxford, einem von lediglich zwei Colleges der ehrwürdigen Universitätsstadt, das Frauen vorbehalten war. Hätte jemand sie nach ihren Gründen für die Reise gefragt, so hätte sie ihm eine sachliche, vernünftige Antwort geben können: Sie wollte den Beruf, den sie erlernt hatte, ausüben, und zwar vor Ort, dort, wo es derzeit jeden Deutschen, dem das Herz für die Kulturen des alten Orients schlug, hinzog – in Mesopotamien, in der Wüste vor Bagdad, wo Robert Koldewey im Auftrag des Kaisers und seiner Orient-Gesellschaft die Königsstadt Babylon ausgrub.

Koldewey vertrat jedoch die Ansicht, Frauen hätten auf Ausgrabungen so viel zu suchen wie Motten in der Kleiderkammer, und das Archäologische Institut vergab keine Stipendien an Frauen. Also war Senta nichts anderes übrig geblieben, als ihre Expedition selbst zu finanzieren, und das alles hätte sie einem Fragesteller zur Antwort geben können. Im Grunde ihres Herzens, in der dunklen Tiefe, in die sie kaum je zu blicken wagte, wusste sie jedoch, dass ihre Sehnsucht nach dem Orient schon geboren worden war, ehe sie die Namen Koldewey und Babylon auch nur hätte aussprechen können, und dass sie mit Vernunft nichts zu tun hatte. Die Sehnsucht hatte begonnen mit einem Buch, das nicht in ihrem Kinderregal gestanden hatte, sondern in dem ihrer Schwester.

Tausendundeine Nacht.

Es war eine prachtvoll bebilderte Ausgabe, die August Zinserling nach der französischen Übersetzung ins Deutsche übertragen hatte. Davon hatte Senta damals, mit ihren drei oder vier Jahren, jedoch nichts gewusst, und an der miserablen Bearbeitung des Textes hatte sie sich nicht gestört. Sie wusste nur, dass sie das Buch nicht anfassen durfte, so wenig wie den Bären, der ganz oben auf dem Kleiderschrank saß. An den Bären war sie nicht herangekommen, nicht einmal, wenn sie einen Schemel auf ihre Spielzeugkiste stellte und hinaufkletterte. Das Buch aber, das geheimnisvoll leuchtende Buch stand in Reichweite, und sie hatte es um jeden Preis haben müssen.

Sobald die Eltern ihr Gute Nacht gewünscht und das Zimmer verlassen hatten, hatte sie sich darauf gestürzt, sich in den schillernden Farben der Bilder verloren und war nicht mehr davon losgekommen. Ob ihre Eltern bemerkt hatten, dass sie das verbotene Buch genommen hatte, wusste sie nicht. Das Geschenk, das sie ihr zum letzten Geburtstag gemacht hatten, sprach dafür, aber sicher konnte sie nicht sein. Wenn sie es geahnt, wenn sie das Buch je überprüft hatten, mussten sie auch gesehen haben, dass Senta als Schulmädchen eine Zeile darin mit ihrem roten Buntstift unterstrichen hatte, in der einhundertachtundvierzigsten Nacht, der Geschichte vom Wasservogel und der Schildkröte:

„Die Welt ist die Wohnung dessen, der keine Wohnung hat.“

Sie war sicher gewesen, diese Zeile gehöre ihr, ganz egal, ob ihr das Buch verboten war.

Und jetzt war sie hier. Der Bildband von Tausendundeine Nacht blätterte sich auf, gewann Dimensionen und lockte sie zwischen die zum Leben erwachten Seiten. Mit einer Mischung aus Ächzen und Quietschen kam der Zug zum Stillstand. Vor den Fenstern eilten Menschen vorbei, die jemanden erwarteten oder Waren feilboten: Zeitungen mit grellen Schlagzeilen, auf Stangen gestapeltes ringförmiges Gebäck, Tabletts mit dampfenden Gläsern, tönerne Wasserkrüge. Senta sprang aus dem allzu weich gepolsterten Sitz und schob ihr Fenster nach unten. Eine Woge aus Lärm und Duft und Wärme schlug ihr so heftig entgegen, dass sie sich am Fensterrahmen festhielt.

„Sehen Sie doch!“, rief sie außer sich. „Wir sind tatsächlich hier, das da draußen ist Konstantinopel!“ Dann besann sie sich, dass sie ja übereingekommen waren, sich zu duzen, doch wie so oft war es zu spät, den Fehler auszubügeln. Meist gelang es ihr mit einiger sprachlicher Verrenkungskunst, die Anrede ganz zu umschiffen. Sie und Heyse waren miteinander quer durch Europa gereist, ohne dass sie ihn ein einziges Mal bei seinem Namen angesprochen hatte.

Heyse, der ihr gegenübersaß und wie schon den größten Teil der Fahrt über in seinen Ordnern mit Papieren geblättert hatte, schloss die Lider, stöhnte und lehnte sich zurück. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß, die feine Haut um die Augen, über denen er sonst wie zum Schutz seine Brille trug, war gerötet, als litte er an einer Entzündung.

Senta öffnete den Mund, erwog kurz, noch etwas zu sagen, besann sich dann aber und schwieg. Dies war der Augenblick, auf den sie ihr Leben, das kurz war und ihr doch so lang vorkam, gewartet hatte. Sie hatte keine Zeit mehr, um geduldig auszuharren, bis Heyse sich aus seinem Netz von Ängsten und Bedenken freigezappelt hätte. Sie hatte für gar nichts mehr Zeit. Nur für Konstantinopel und für sich.

Nichts hielt sie. Ohne sich um den Verbleib ihres Gepäcks oder um Heyses Leichenbittermiene zu kümmern, stürmte sie aus dem Abteil, drängte sich an Reisenden und Kofferträgern vorbei durch den Gang, schob am Ausstieg einen beleibten Herrn mit Aktenkoffer reichlich ungezogen und undamenhaft beiseite und sprang aus dem Zug. Im Laufen drehte sie sich um und sandte ihm ein entschuldigendes Lächeln.

Noch ein paar Schritte eilte sie rückwärts weiter und sah dabei, wie der Grimm in seinen Zügen schmolz. Gerade hatte er noch Luft geholt und zu einer Schimpftirade ansetzen wollen, doch die Empörung verpuffte in derselben Sekunde, und er erwiderte geradezu schüchtern ihr Lächeln. Dass Männer auf diese Weise auf sie reagierten, war Senta nicht neu. Sie war es gewohnt und schreckte nicht davor zurück, es sich zunutze zu machen. An Mode hatte sie zu wenig Interesse, um einen sicheren Geschmack zu entwickeln, aber zu erkennen, dass das leicht rötliche Braun ihres Haars über dem Tannengrün des Reisekostüms eine schmeichelhafte Wirkung erzielte, war keine Kunst. Genauso leicht erkennbar war, dass die neuen schmal geschnittenen Röcke ihre langen Beine vorteilhaft betonten.

Den jungen Frauen des 20. Jahrhunderts wurde beigebracht, sie hätten auf ihre Beine keinen Gedanken zu verschwenden, aber Sentas Eltern hatten solche Verbote für ihre Tochter abgelehnt. „Ich gehe davon aus, dass du selbst am besten weißt, worüber nachzudenken dir von Nutzen ist“, hatte ihr Vater gesagt.

Also hatte Senta über ihre Erscheinung nachgedacht und war zu ihrem eigenen Schluss gekommen. Sie mochte sich daraus so wenig machen wie aus dem Geld ihrer Eltern, aber wo es nötig war, würde sie nicht zögern, das eine wie das andere einzusetzen: Sie war eine Tochter aus gutem Hause, das Kind eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Und sie war eine schöne Frau.

Vielleicht hätte sie sich schämen sollen, aus beidem Kapital zu schlagen, und vielleicht schämte sie sich manchmal tatsächlich ein wenig. Wäre sie aber als Junge zur Welt gekommen, hätte sie völlig selbstverständlich und ohne Scham aus ihrem Geschlecht jeden möglichen Vorteil gezogen.

Das Geld ihrer Eltern hatte ihr den Weg nach Oxford geebnet, und ihre Schönheit hatte ihr Türen geöffnet, die sonst als hermetisch verschlossen galten. Professoren waren nicht verpflichtet, die Studentinnen von Somerville zu ihren Vorlesungen zuzulassen, und es gab einige, die sich eine solche Zumutung verbaten. Der, der sie interessierte, war Leonard Dougherty. Er war der einzige Professor, der eine Veranstaltungsreihe zu den Sakralbauten Babylons anbot, jedoch behauptete, er stürbe lieber, als seine Perlen einer Frau vorzuwerfen. Zu Beginn des Semesters war Senta in den Hörsaal getreten und hatte sich in die erste Reihe gesetzt. Sie hatte die Passe, die ihren Rock unterhalb der Knie befestigte, an der Innenseite aufgetrennt, damit sie sich besser bewegen konnte, aber das bekam niemand zu sehen. Professor Dougherty jedoch, der am Vortragspult stand, sah nur Sentas Beine in königsblauem Samt, die sich sachte aneinanderrieben.

Sie durfte bleiben. Abends, beim Verlassen des Gebäudes, fing er sie ab und sprach Einladungen aus, die kein auf seinen Ruf bedachtes Mädchen annehmen durfte. Revue-Besuche, Abendessen in verschwiegenen Restaurants. Obwohl Senta nicht auf ihren Ruf bedacht war, ließ sie ihn stehen und ging nach Hause, wobei sie seinen Blick auf ihren sich wiegenden Hinterbacken zu spüren glaubte. Leonard Dougherty zappelte bis nach den Abschlussprüfungen in ihrem Netz. Während Senta bereits ihre Koffer packte, sandte er ihr weinerliche Billetts, die sie unbeantwortet ließ.

Der Dicke mit dem Aktenkoffer würde nicht so lange leiden, und Senta hatte ihn schon vergessen, als sie sich umdrehte. Sie rannte das Gleis entlang, schlug Haken um Gepäckträger und Beamte in roter Uniform und mit Fes, die versuchten, sich ihr in den Weg zu stellen. Endlich erreichte sie die überkuppelte Halle, in der sämtliche Geräusche wie in einer Kirche hallten. Das Gebäude war weitläufig, doch bis in den letzten Winkel angefüllt mit geschäftigen Menschen. Während manche von ihnen es eilig hatten und in Schlangenlinien durchs Gewimmel hasteten, blieben andere stehen, bildeten Gruppen, die den Weg versperrten, debattierten mit fuchtelnden Händen und vergaßen die Zeit.

Senta fühlte sich von einem Strudel gepackt, der sie ohne ihr Zutun mitriss. Sie stürzte sich in das Menschenmeer wie als Kind in die Ostsee, in der sie nie wieder schwimmen würde, setzte die Ellenbogen ein und wurde vorangetrieben, auf das gleißende Licht zu, das von vorne einfiel. Losverkäufer hielten ihr bunt bedruckte Papierstreifen entgegen, hinter Räderkarren wurden noch buntere Süßigkeiten feilgeboten, und eine Stimme überschrie die andere, ohne dass Senta auch nur ein Wort verstand. Ein schnurrbärtiger Offizier in Märchenuniform ritt auf einem Schimmel durch die Halle, ein barfüßiger Bettler ließ einen Affen, der auf seinem Buckel hockte, Geld einsammeln.

Ohne recht zu fassen, wie sie bis hierhin gekommen war, fand Senta sich plötzlich vor dem Haupteingang wieder. Die in Gänze mit Schnitzwerk verzierten Flügeltüren standen weit offen. Menschen strömten in das Gebäude und fluteten wieder hinaus, Träger schoben Karren mit Messinggestänge, auf denen bis über ihre Köpfe Gepäck gestapelt war, ein weiß gekleideter Kellner balancierte zwei Tabletts mit kunstvoll zu Pyramiden arrangierten Gebäckstücken durch die Massen. Senta blieb stehen, drückte sich gegen den Türrahmen, um nicht umgerannt zu werden, und nahm die Stadt in sich auf.

Nicht die Stadt. Nur den winzigen Ausschnitt davon, den ihr Blickfeld ihr gewährte und dem ihr bereits übervolles Herz gewachsen war. Die Enge, die sie so oft von außen bedrohte und ihr die Sinne raubte, spürte sie auf einmal in sich. Sie selbst war es, ihre eigene Brust war zu eng für die Fülle der Stadt. Sie stand ganz still, zwang sich, ruhig zu atmen, und sog die Luft in sich ein. Die schien zu wabern wie Dampf über einem Kochtopf, war heiß und sämig, süß und ein wenig faulig und stieg unweigerlich zu Kopf. Die Enge löste sich ein wenig, und ihr Herz wagte sich ein Stück weit aus seinem Versteck.

Vor ihr tummelte sich das quirlige Leben der Straße. Die Fahrbahn hinunter zockelte eine Straßenbahn, gelb mit rotbraunem Dach war sie und so bis zum Bersten mit Menschen gefüllt, dass Arme und Köpfe aus den offenen Fenstern ragten. Am Rinnstein wartete eine Reihe von Droschken, bespannt mit mageren Pferden, die Perlenketten am Zaumzeug trugen und mit dem Schweif nach Fliegen schlugen. Noch immer konnte Senta kein Pferd sehen, ohne es berühren, ihre Stirn an seine lehnen, wenigstens die Hand zwischen seine Nüstern legen zu wollen. Als steckte in jedem Pferd Wahid, bei dem sie dies nicht mehr hatte tun können. Sie streckte die Hand nach dem Braunen aus, der ihr am nächsten stand, blickte in dunkle, halb geschlossene Augen, spürte samtweiches Fell und in der Fremde sekundenlang Brüderschaft.

Der Kutscher, der auf dem Bock gekauert und vor sich hin gedöst hatte, sprang wie von der Tarantel gestochen auf die Füße, verzog den Mund zu einem blitzenden Lächeln und rief ihr etwas zu. Senta verstand kein Wort, konnte sich aber zusammenreimen, dass er sie fragte, ob sie eine Fahrt wünsche, und schüttelte ebenfalls lächelnd den Kopf. Der Mann redete weiter auf sie ein, sie lachte auf, streichelte noch einmal sein Pferd und kehrte in den Schutz der Tür zurück.

Hohe Häuser mit farbig verputzten Fassaden reihten sich neben kleinere aus Holz. Vor mehreren Cafés standen Tische, um die sich ausschließlich Männer scharten, die aus winzigen Teegläsern tranken und ein Brettspiel spielten, das über die Tischplatte ragte. Dazwischen quetschten sich Verkaufsbuden, hinter denen Händler mit flinken Bewegungen Essbares in Papiertüten füllten und es in lärmendem Singsang anpriesen. Eselskarren und Männer, die auf den viel zu kleinen Eseln ritten, schlängelten sich mit erstaunlichem Geschick durchs Gewühl. Auf den Köpfen derer, die zu Fuß unterwegs waren, fand sich jede Art von Kopfbedeckung, vom roten Fes bis zum Turban. Manche hatten sich die modernen Panamahüte tief ins Gesicht gezogen, andere Tücher wie Verbände um den Kopf gewunden.

Senta stand wieder still, ließ sich von den schillernden Farben, hinter denen jede Buchillustration verblasste, blenden und spürte am Hals, auf den Wangen und bis unter die Kleider die völlig andersartige Wärme. Das Durcheinander von Gerüchen, das auf die einstürmte, war so intensiv, dass sie keinen einzelnen hätte zuordnen können, um ihre Ohren wirbelten Worte, von denen keines einer ihr bekannten Sprache entstammte, und alles in ihr wusste: Ihre wahre Reise begann erst jetzt.

Die Fahrt mit dem Orientexpress – dicke Teppiche, in Samt und Teakholz gestaltete Abteile und Austern zum Dinner – hatte sich kaum von den Nächten im Luxushotel unterschieden, mit denen ihr Vater die Familie zuweilen überrascht hatte. Dies hier aber war anders als alles, was sie kannte, es war neu, es war fremd, und es nahm all ihre Sinne gefangen. Eine Woge der Erleichterung durchströmte sie. Sie war endlich in der richtigen Richtung unterwegs, dorthin, wo die Nadel des Kompasses, den sie in sich trug, ihr Leben lang gewiesen hatte.

Über die Dächer der Häuser erhob sich ein weißes Minarett, und just in diesem Moment ertönte über alles hinweg der Adhan, der Gebetsruf des Muezzin:

„Allahu akbar, Allahu akbar – Gott ist groß, größer als alles und mit nichts vergleichbar.“

Sie hatte davon gelesen – schließlich hatte sie ein Jahr lang Zeit gehabt, sich auf die Reise vorzubereiten –, aber es jetzt zu hören, war, als stürzte sie aus der Wirklichkeit geradewegs in ihren Traum. Es war kein Rufen, sondern eine Melange aus Singen und Flehen, gebieterisch und ergeben zugleich und so laut, dass es bis an die Ränder der Stadt und bis in den Himmel zu hören sein musste. Unvorstellbar schien, dass jemand sich dem entzog. Das Getümmel auf der Straße erstarb.

Dem Bahnhofsgebäude gegenüber waren fünf dunkelhaarige Männer damit beschäftigt gewesen, Plakate, die farbenprächtig für den Orientexpress warben, an einer Holzwand anzuleimen. Jeder der fünf ließ auf der Stelle alles stehen und liegen, wandte sich in Richtung des Bahnhofs, in der also in meilenweiter Ferne Mekka liegen musste, und rollte auf dem Pflaster, Seite an Seite mit seinen Gefährten, seinen Gebetsteppich aus.

Senta sah ihnen zu, wie sie murmelnd eine Gebetshaltung nach der anderen einnahmen, sich schließlich kniend vornüberbeugten und die Köpfe in den Armen bargen. Zuletzt knieten sie aufrecht, wandten sich nach links und rechts, wie um ihre gleichermaßen betenden Kollegen zu grüßen, und dann war alles vorbei, und die fünf nahmen, als wäre nichts geschehen, ihre Arbeit wieder auf.

In das Straßenbild kehrte – wie in einen Menschen, der den Atem angehalten hatte und jetzt kräftig Luft holte – die Bewegung zurück.

„Senta? Dem Himmel sei Dank! Ich kann nicht fassen, dass ich dich gefunden habe.“

Sie fuhr herum und fand sich Heyse gegenüber, der aussah wie jäh aus einem Albtraum erwacht: Das sonst so korrekt gekämmte Haar war feucht und zerrauft, die Augen geweitet, das Gesicht leichenblass. Wie aufgezogen redete er auf sie ein: „In diesem Gewimmel einen Menschen zu suchen, ist schlimmer als eine Stecknadel im Heuhaufen. Ich dachte, ich würde dich nicht wiedersehen, du wärst allein in diesem Tohuwabohu verloren. Mir ist beim besten Willen nichts eingefallen, was ich sonst noch hätte tun können, und es ist mir auch nicht gelungen, jemanden aufzutreiben, der bereit war, zu helfen.“

Endlich verstummte er. Senta betrachtete ihn. Verärgert wirkte er nicht, nur verzweifelt, verstört und verschwitzt.

„Es tut mir leid“, sagte sie. „Mir geht es gut, ich konnte es nur nicht erwarten, die Stadt zu sehen.“

„Du bist doch sonst nicht so!“ Noch immer klang er erschüttert.

Doch, dachte Senta. Ich weiß es nur nicht immer, und ich habe es vierzehn Monate lang keinen einzigen Augenblick mehr gewusst. „Es kam einfach so über mich“, erklärte sie Heyse. „Diese Vorstellung war so unglaublich: Wir sind in Konstantinopel. Ich musste loslaufen und mich überzeugen, dass es diesmal keine Schimäre, sondern die Wirklichkeit ist.“

Er rieb sich die Stirn. „Du darfst das nicht wieder tun“, sagte er. „Es ist gefährlich, Senta.“

„Aus einem Bahnhof zu laufen und sich die belebte Straße einer Weltstadt anzusehen?“

„Weltstadt ist nicht gleich Weltstadt. Diese hier kannst du mit Berlin nicht vergleichen, und da, wo du hinreisen willst, wird es recht bald keine Bahnhöfe und keine belebten Straßen mehr geben. Stattdessen giftige Schlagen und Insekten, Raubtiere, Geier und Rotten von bewaffneten Beduinen, die nicht viel anderes tun, als sich gegenseitig zu bekriegen und westlichen Reisenden aus Hinterhalten aufzulauern.“

„Du hast die Sandstürme vergessen“, versetzte sie scharf. „Und halb leere Gläser. Nicht zu vergessen die Sonne, die die Haut aufplatzen lässt, was böse endet, wenn man nicht Nadel und Faden dabeihat, um sie wieder zuzustopfen.“

Das war gehässig. Senta fühlte sich schäbig und konnte dennoch nicht anders. Während der nicht enden wollenden Vorbereitungen für die Reise hatte er vorgeschlagen, Gepäcklisten anzulegen, auf denen er in sorgsam gezogenen Spalten vermerkte, welche Gegenstände in Koffern verstaut werden sollten, welche in Handtaschen gehörten und welche man ständig am Körper zu tragen hatte. Zur letzten Kategorie gehörte seiner Ansicht nach um jeden Preis ein Etui mit Stopfgarn für Notfälle.

„Was denn für Notfälle?“, hatte Senta gefragt. „Wenn ich mir beim Ritt durch die Wüste die Strümpfe zerreiße, werde ich es vermutlich überleben.“

„Um Strümpfe geht es nicht, Senta.“ Aus einem seiner heiß geliebten Ordner hatte er einen Bericht von Koldewey gefischt. „Hier weist Koldewey eigens darauf hin, obwohl er sich ja sonst meist an Archäologisches hält: Die Sonne in der Euphrat-Senke darf auf keinen Fall unterschätzt werden. Sie brennt dermaßen heiß, dass sie die Haut platzen lässt, was zu lebensbedrohlichen Infektionen führen kann, wenn die Wunde offen bleibt. Um sich zu schützen, tut man es am besten den Arabern nach, die grundsätzlich Nadel und Faden bei sich tragen.“

Es war das erste Mal seit der Nachricht aus Warnemünde, dass Senta lauthals hatte lachen müssen. Koldewey, der Frauenhasser, der als unerbittlich und unnahbar galt, zeigte hier einen menschlichen Zug – Humor. Komisch an der Geschichte war jedoch vor allem, dass ein Universitätsprofessor – Seine Herrlichkeit Winfried Heyse, des Reiches jüngster habilitierter Altorientalist und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften – imstande war, solchen Unsinn für bare Münze zu nehmen und in seine pedantische Liste einzutragen.

Es war Heyse entsetzlich peinlich gewesen. Minutenlang hatte er kein verständliches Wort herausgebracht und sich erst beruhigt, als Senta ihm versprach, den Vorfall nie wieder zu erwähnen. Dieses Versprechen hatte sie soeben gebrochen, sie hatte ihn absichtlich an einer empfindlichen Stelle verletzt, und dabei war sie es doch, die einen Fehler begangen hatte und sich hätte schuldig fühlen müssen. Heyse hatte ja nicht unrecht: Auf dieser Reise waren sie aufeinander angewiesen. Wenn einer von ihnen sein eigenes Spiel trieb, ohne auf den anderen Rücksicht zu nehmen, handelte er ihnen beiden Schwierigkeiten ein.

„Ich wusste nicht einmal, wie viel ich dem Gepäckträger geben durfte“, murmelte Heyse. „Vermutlich hat er mir einen Wucherpreis abgeknöpft, aber ich hatte ja keine Wahl, und wir können nur hoffen, dass er nicht mit dem Gepäck auf und davon ist.“

„Das ist er bestimmt nicht. Diese Leute haben ihre Berufsehre, nicht anders als wir.“

„Wir sind hier nicht in Berlin“, begann er noch einmal, aber sie ließ ihn nicht aussprechen.

„Kommen Sie schon“, sagte sie, hielt inne und korrigierte sich. „Komm schon, wollte ich sagen. Gehen wir zurück ans Gleis und überzeugen uns, dass alles in Ordnung ist.“

Der Zauber war ohnehin verflogen, und das, was sie seit vierzehn Monaten ihr Leben nannte, erstand in aller Wucht auf, obgleich sie eintausendfünfhundert Meilen weit gereist war, um ihm zu entfliehen.

Lydia Conradi

Über Lydia Conradi

Biografie

Lydia Conradi ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die mit ihrer Familie im europäischen Ausland lebt. Als Literaturhistorikerin arbeitet sie im Bildungsbereich eines Museums, verbringt alle verfügbare Zeit auf Reisen und ist der verlorenen Vielfalt der Levante verfallen – ihrem sinnlichen...

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