

Rechnung offen - eBook-Ausgabe Rechnung offen
Roman
"Mahlke erzählt kaltherzig konsequent, wie die Figuren durch ihr prekäres Leben treiben. [...]. Mahlke führt ihre Figuren nicht zu einer geschlossenen Geschichte zusammen, sie springt zwischen ihnen hin und her, und das ist beim Lesen schwer unter Kontrolle zu bekommen - ein genialer Kniff, der den Leser genauso haltlos macht wie die Figuren. Innerhalb der chaotischen Struktur aber beschreibt Mahlke ihre Figuren pedantisch genau. Mit überbordenden Details versucht sie, sie zu fixieren und in ihrer Romanwelt zu verankern." - kulturSpiegel
Rechnung offen — Inhalt
„Inger-Maria Mahlke erzählt ebenso unbarmherzig wie liebevoll.“ Thomas Hettche
Berlin-Neukölln: Dass der kaufsüchtige Claas Jansen eine leerstehende Wohnung im eigenen Mietshaus beziehen muss, hat weit mehr Gründe als die Bankenkrise. Und nicht nur er sieht sein früheres Leben in einem rasanten Abwärtsstrudel verschwinden. Am Scheidepunkt zwischen Kiezwirklichkeit und hipper Großstadt geht es um nicht minder Existenzielles. Jeder hat hier eine Rechnung offen: die afrikanischen Dealer, die ihre Schlepperkosten abarbeiten, die alzheimerkranke Alte und der Hochstapler, die Kurzzeit-Domina, ihr achtjähriger Sohn und andere Gestalten – eine globalisierte Notgemeinschaft. Sensibel, radikal und mit ganz eigenem Ton entwirft Inger-Maria Mahlke weit mehr als ein diagnostisches Zeitbild – eine große Parabel über die Abgründe des Lebens am Rande unserer gentrifizierten Welt.
Leseprobe zu „Rechnung offen“
Freitag, 29. August
Der Radfahrer schlug mit der flachen Hand auf die Windschutzscheibe.
Theresa hörte ihren Atem, saß noch immer
vorgebeugt, ihr Brustkorb, wenige Zentimeter vom Lenkrad
entfernt, hatte sich nicht gerührt, seit sie das Bremspedal
durchgetreten hatte. Einen Moment lang sah sie seine
Handfläche, weiß gegen das Glas gepresst, die Linien
und Falten rötlich. Sie startete den Motor erneut, drehte
sich nicht um, wollte nicht wissen, ob Claas noch auf dem
Bürgersteig vor der Praxis stand, ob er überhaupt so weit
gucken konnte, bis zur Querstraße. Der [...]
Freitag, 29. August
Der Radfahrer schlug mit der flachen Hand auf die Windschutzscheibe.
Theresa hörte ihren Atem, saß noch immer
vorgebeugt, ihr Brustkorb, wenige Zentimeter vom Lenkrad
entfernt, hatte sich nicht gerührt, seit sie das Bremspedal
durchgetreten hatte. Einen Moment lang sah sie seine
Handfläche, weiß gegen das Glas gepresst, die Linien
und Falten rötlich. Sie startete den Motor erneut, drehte
sich nicht um, wollte nicht wissen, ob Claas noch auf dem
Bürgersteig vor der Praxis stand, ob er überhaupt so weit
gucken konnte, bis zur Querstraße. Der Radfahrer hatte
Vorfahrt gehabt.
Sie war gegangen, wortlos. Hatte den beiden Sideboards,
die die lange Seite des Behandlungszimmers einnahmen,
hatte Claas und dem Polizeibeamten den Rücken
zugedreht. Sich nicht umgewandt, als Claas ihr „du
musst mich fahren“ hinterherrief. War weitergegangen, die
Sohlen ihrer Ballerinas quietschten auf dem Laminat, sie
hatte die Füße hörbar aufgesetzt, zufrieden dem dumpfen
Stampfen zugehört, das die Korridorwände zurückwarfen.
Die Glastür am Eingang war gegen die Wand geschlagen,
sie hatte sie mit dem Fuß aufgestoßen, den Autoschlüssel
in ihrer Handtasche fest umklammert.
Sie fuhr auf die Kreuzung, bog ab in Richtung Stadtautobahn.
Sie war sicher gewesen, er hatte aufgehört. Hatte nach
der Arbeit keine Paketmitteilungen mehr im Briefkasten
gefunden. Keine weißen Styroporfasern vom Wohnzimmerteppich
gesaugt, wenn Claas vor ihr nach Hause gekommen
war. „Was war drin?“ Keine zusammengeknüllten
und wieder glattgestrichenen Tageszeitungen aus Reutlingen
oder Dresden im Altpapier liegen sehen. „Wo drin?“
Keine Noppenfolie mehr im Grüner-Punkt-Müllbehälter.
„In dem Paket.“ Keine silberne Teekanne mehr im Schrank,
in dem sie alte Übertöpfe aufbewahrte. Füller zwischen
schwarzen Socken. „War unfassbar günstig.“
Die Einbrecher hatten die Sideboards geöffnet, mit einem
Kuhfuß, der Beamte deutete auf die parallelen Schrammen
im Holz. Die oberen Scharniere waren abgerissen, die
Türen hingen schief, ließen Dreiecke frei, durch die sie in
das Innere der Schränke sehen konnte, Akten, hatte sie
gedacht, Patientenakten würde Claas dort aufbewahren.
Eine Weile hatte sie sich bemüht, vor ihm zu Hause zu
sein, hatte die Pakete bei den Nachbarn abgeholt, hinter den
Abendkleidern in ihrem Schrank versteckt. Er brauchte
zwei Wochen, um zu fragen. „Hör auf“, hatte sie gesagt.
Eine Reihe identischer, weißer Hände, ausgestreckt und
anmutig gespreizt im ersten Dreieck, fein gearbeitet aus
Porzellan, die Fingerspitzen berührten gerade noch einen
goldenen Ball. Die Figuren standen exakt hintereinander,
so, als balancierten sie nicht im Holzfach einer psychotherapeutischen
Praxis, sondern 1936 im Olympiastadion.
Sie hatte die Pakete aus dem Versteck geholt, sie auf dem
Esszimmertisch aufgereiht. „Versprochen“, Claas hatte eine
Hand auf die Brusttasche seines Hemdes gelegt, zwei Finger
erhoben. „Sei nicht kindisch“, hatte sie geantwortet, „kauf
einfach nichts mehr.“
Mit gummibehandschuhten Fingern hatte der Beamte
die Tür weiter zur Seite geschoben, die Kante hatte einen
dunklen Strich in den Teppich gezeichnet. Elefanten waren
sichtbar geworden, graue, weiße, braune, Stoßzähne und
Rüssel in eine Richtung ausgerichtet, als warteten sie auf
die Handbewegung eines Zirkusdompteurs, die ihnen befahl,
sich auf die Hinterbeine zu stellen. Sieben identische
Kakadus zählte Theresa, alle mit einem Zweig im Schnabel.
In einem anderen Dreieck standen nur Pferde. Claas deutete
auf einen kleinen Hund, der mit einem Frosch spielte,
„ein Einzelstück“, er blickte sie an, als erwarte er, dass sie lachen
würde, lächeln zumindest. „Was ist das?“, der Polizist
hatte sich an beide gewandt. „Keine Ahnung“, hatte Theresa
geantwortet und sich umgedreht. „Porzellan“, hörte sie
Claas sagen.
Sie hatte in den Rückspiegel gesehen, ehe sie losfuhr,
Claas hielt die Glastür am Empfang auf, hatte sie auf Schäden
überprüft, die Wand dahinter betrachtet, wo der Türgriff
gegengeschlagen war.
Sie musste sich nicht beeilen, es war vorlesungsfreie
Zeit, in nicht mal achtundvierzig Stunden sitzt du im Flugzeug,
dachte sie und fuhr auf die Auffahrt zur Stadtautobahn.
Claas hatte schon als Kind gesammelt, kleine Blechautos
zum Aufziehen. Sie hatte sich auf ihre Hände setzen
müssen, als er ihr die verschiedenen Fahrzeugtypen erklärte,
die jeweiligen Vor- und Nachteile. In einem Café
am Winterfeldtplatz hatten sie gesessen, hatten sich gerade
kennengelernt, gefrühstückt, jenseits der beschlagenen
Scheibe dämmerte es. Sie hatte die Hände unter ihre Oberschenkel
geschoben, um sie nicht in die Haare über seiner
Stirn zu schieben, ihre gespreizten Finger in braune Strähnen.
Das Kondenswasser war an der Scheibe herabgelaufen,
hatte kleine Pfützen unter der Heizung gebildet. Claas
hatte konzentriert auf die Tischplatte gesehen, ihr den Aufziehmechanismus
erklärt, beschrieben, wie er die Räder
geölt und nach welchem System er sie geordnet hatte. Wie
die Holzkiste aussah, in der er sie aufbewahrte. „Und wo
sind die Autos jetzt“, Theresa hatte ihre Finger zwischen
seine gedrängt, die Handrücken rot-weiß gestreift, Druckstellen
ihrer Cordhose. „Weg. Mit dem Hammer hat er sie
zerkloppt. Hat die Kiste mitgenommen, in den Keller zu
seiner Werkbank. Jedes Auto einzeln, deng, deng, deng.“
Bei jedem Deng hatte Claas mit der Hand auf den Tisch
geschlagen, das beiseitegelegte Besteck klirrte auf den Tellern,
seine Lippen hochgezogen bis zum Zahnfleisch, die
Zähne freigelegt. „Meine werte Frau Mutter war der Auffassung,
ich sei faul.“ Das werte Frau Mutter misslang, bitter
seine Stimme.
Die Stadtautobahn war leer am späten Vormittag, Theresa
sah der Tachonadel zu, die sich Strich für Strich vorarbeitete.
Sie hielt eine Vorlesung, ein rechtsvergleichendes
Seminar pro Semester. Die Vorlesung war ein Witz,
Sprachkompetenz, nicht Rechtsvermittlung sei das Ziel
der Veranstaltung, stand im Vorlesungsverzeichnis. Der
Kollege, der Einführung in das englische Recht hielt, projizierte
sein Skript per Beamer an die Wand und las es vor,
der Aussprache halber.
Abfahrt Hohenzollerndamm, sie könnte weiterfahren,
im Kreis, die Stadtautobahn entlang, das musste gehen,
einmal im Kreis, sie fuhr auf die Abfahrt. Unter Juristen
gilt ein Psychologe nichts. Theresa wartete auf die Ruhe,
die sich einstellte, wenn sie die dichten Baumkronen der
Gärten und Parks zwischen den Häusern sah. Dahlem, Heimat.
Genau dafür hatte sie studiert. Sie hatte zwischen sauberem
Grün und weißen Mauern, von denen der Anstrich
nicht abplatzte, unbehelligt nachdenken wollen. Im gelben
Geröll und rötlichen Staub ihrer Kindheit, in dem die
Sonne binnen Stunden aus allem die Farbe sog, war Grün
Wohlstand gewesen. Pflanzen wuchsen, wo Wasser war,
und Wasser war, wo es hingegossen wurde, aus Eimern,
Gießkannen und Schläuchen. Wenn sie erschöpft war,
stellte sie sich Moos vor, viel Moos. Weich stellte sie es sich
vor, nicht drahtig. Feucht, ja, ein wenig, aber auf eine gute
Art, auf eine Art, die sofort trocknet, wenn man lange genug
auf dem Moos gelegen hat und wieder aufsteht und in
die Sonne geht. Denn im Moos ist es schattig, aber so, dass
man Sonne dahinter weiß und nie friert.
*
Ebba betrachtete den Schweiß in den Senken ihres Torsos,
sie lag auf dem Rücken, tunkte einen Zeigefinger in
die Lache neben ihrem Hüftknochen, zog einen glänzenden
Strich den Hügel hinauf zum Nabel. Drückte mit der
Linken den Gummiknopf mit dem grünen Hörersymbol,
wartete, bis sie gedämpft die Ansage hörte, Sie haben eine
neue Nachricht, ehe sie das Handy ans Ohr hielt. Streckte
es gleich wieder von sich weg, als Theresas Stimme ertönte,
legte es auf die Matratze, neben ihren Kopf, der anthrazitfarbene
Kunststoff schweißnass.
„In die Praxis ist eingebrochen worden, Tula hat angerufen,
der Flachbildschirm vom Empfang fehlt und der aus
Claas’ Zimmer.“ Ebbas Fußspitze schob das Laken vor dem
Fenster ein Stück zur Seite, der gleißende Spalt ließ sie die
Augen schließen, es würde ein furchtbarer Tag werden.
„Wir fahren jetzt rüber und reden mit der Polizei.“ Die Türklingel
schrillte, unwillkürlich bedeckte Ebba das Telefon
mit der Hand, als könne Theresa den Ton hören. „Claas
muss nach Frankfurt, ich bring ihn danach zum Bahnhof.“
Theresa machte eine Pause, Ebba sah an sich herab, schwarze
Fussel klebten auf der Haut zwischen ihren Zehen, es
klingelte erneut an der Tür, länger diesmal. „Und ich wollte
dir viel Glück für deine Klausuren wünschen, lies die
Aufgabenstellung immer zweimal durch, dann klappt es
schon.“ Theresa atmete tief ein, der Boden im Treppenhaus
knarrte, als würde jemand sein Gewicht von einem auf den
anderen Fuß verlagern. „Und sag Bescheid, wie es gelaufen
ist.“ Es liegen keine weiteren Nachrichten für Sie vor.
Nach dem Praktikum war Ebba nicht mehr hingegangen.
Die Praktikumsstelle hatten Claas und Theresa für
sie gesucht, drei Monate im Kinderhaus Wunderbar, jeden
Nachmittag frieren im Streichelzoo. Die Schafe hatten im
Schlamm gestanden, in Urin und Kot, zusammengedrängt
in einer Ecke, ihre Beine, die verfilzte Wolle an den Bäuchen
braun verfärbt. Sie hatte zugesehen, wie die Tiere Futterpellets
von den Kinderhandflächen sammelten, die Haut
mit Speichel und zerkautem Grünzeug beschmierten. Dina
war mit Gummistiefeln durch die Pfützen gestapft, hatte
kleine Bugwellen vor den Schäften hergeschoben, dicht
vor Ebba haltgemacht und gelacht. War auf der Stelle hochgehüpft,
mit beiden Füßen gleichzeitig gelandet. Kalt war
das Wasser, es drang durch den Stoff ihrer Jeans, eisig auf
ihren Oberschenkeln, sickerte in ihre Socken. Dina hatte
weitergelacht, „dicke Ebba“ gerufen. Sie war selber überrascht
gewesen von der Wucht, mit der ihre Handflächen
auf Dinas pinkfarbener Jackenbrust landeten. Sie zurückstießen,
wegschubsten. Dina war nach hinten gefallen, in
die Pfütze, braun schwappte es über ihre Beine, die Pfütze
mindestens knöcheltief. Dina schlug mit dem Hinterkopf
auf, nicht doll, es reichte, dass sich ihre Mütze vollsog, ihre
Haare tropften.
In der ersten Woche war Ebba dazwischengegangen,
wenn die anderen Kinder darfst nicht mitspielen, darfst
nichts anfassen, geh weg zu Dina sagten. Sie hatte sich zu
ihr gesetzt, Tiermemory gespielt. „Lass das“ gesagt, als ein
Junge Dina schubste. „Dicke Ebba“, hatten sie gerufen, erst
der Junge und dann Dina, freudestrahlend.
Sie war beurlaubt worden, Vorfall nannte es die Kindergärtnerin.
* * *
Zu früh, er kam viel zu früh. Elsa Streml stand im Flur, als
es klingelte, hatte gerade geduscht, war auf der Toilette gewesen,
es roch unvertretbar. Sie hatte das Fenster gekippt,
hatte gesprüht, doch das würde nicht reichen. Normalerweise
kam er nachmittags, gestern Abend hatte sie die
Pfannkuchen mit Klarsichtfolie überzogen, den Teller in
den Kühlschrank gestellt, gestern hatte sie auf ihn gewartet,
und jetzt kam er viel zu früh.
Er war ihr Enkel. Nicht ihr richtiger Enkel natürlich,
nicht Fleisch von ihrem Fleisch, er war ein Hochstapler.
Er lächelte sehr schön, mit rosafarbenem Zahnfleisch und
sauberen Zähnen, er rauche nicht, sagte er. Ein Felix Krupp,
nein Krull.
Er hatte eines Tages vor der Tür gestanden, oben, nicht
unten. Am frühen Nachmittag, Elsa war gerade mit der
Küche fertig gewesen, hatte sich hinlegen wollen, hatte innegehalten,
die Klinke der Wohnzimmertür schon in der
Hand. Erika, hatte sie gedacht, sich sogleich ein dummes
Ding gescholten. Er hatte sich verbeugt, ein wenig nur, den
Kopf geneigt. „Guten Tag, sind Sie Frau Streml?“, hatte ihre
Antwort nicht abgewartet, „Sie kennen mich nicht …“ –
„Ich kaufe nichts“, sie hatte die Tür zuschieben, die Kette
vorlegen wollen. – „Aber ich bin Ihr Enkel.“ Der Satz drängte
sich vor, trat auf die Fußmatte, streifte sorgsam die Sohlen
ab und schlich an ihr vorbei in die Wohnung. „Sie irren,
ich bin kinderlos“, den Kopf hatte sie geschüttelt. Er trug ein
Hemd, ein richtiges, mit Knopfleiste vorn und Kragen, darüber
einen Pullover, mit v-förmigem Ausschnitt. Er hatte
seine Hand ausgestreckt, sie hing in der Luft, hing über der
Schwelle, seine Fingernägel kurzgeschnittene weiße Halbmonde,
die Haut sehr glatt. Er hatte graue Augen, ihre waren
braun, wie Hustenkaramellen, behauptete Erika. „Treten
Sie näher“, hatte Elsa schließlich gesagt. Er hatte sich nicht
gerührt, sie hörte seine Stimme, konnte keine Worte ausmachen,
hielt das Türblatt noch in der Hand. Er konnte gar
nicht näher treten. „Wie heißen Sie“, hatte sie gefragt und
einen Schritt zur Seite gemacht. „Nicolai“, er sah irritiert
aus, „dein Enkel. Ihr Enkel“, er hatte sich korrigiert nach
einer kurzen Pause. Er machte seine Sache gut. Elsa war
einen weiteren Schritt zurückgetreten, er roch nach Rasierseife.
Meist kam er zweimal die Woche, nachmittags, nicht
immer an den gleichen Tagen, das machte es schwer, vorbereitet
zu sein. Sie hatte ihn gestern erwartet, hatte abends
den Tee, er trank keinen Kaffee, in den Ausguss geschüttet.
Die Klingel schrillte erneut, Elsa starrte die Tür an,
lauschte dem Ton hinterher, ungeduldig klang er. Es klopfte,
drei Mal, schnell hintereinander.
„Ich komme“, rief sie, atemlos plötzlich, „ich komme ja.“
Es musste etwas passiert sein, die Kette war noch eingehakt,
jemand war verunglückt, der Schlüssel steckte von
innen. Elsa drehte ihn, drehte einmal, drehte zweimal und
zog die Tür auf.
Er war es gar nicht. Es war ein Fremder, mit grauen
Haaren und einer blauen Schirmmütze über dem Handgelenk.
Sie versuchte Luft einzuziehen, ohne dass der
Mann es merkte, ohne dass sich ihre Nasenflügel weiteten.
„Einen guten Morgen“, sagte er, und Elsa war sicher, er
roch es ebenso wie sie, frischer Toilettengang, eingekleidet
in Lavendel. „Wir sind der Ablesedienst.“ Der Mann sah an
ihr vorbei in den Flur.
Richtig, sie hatte die Heizkörper frei geräumt, gestern
Abend das Telefontischchen beiseitegeschoben, es war ihr
entfallen. Der Becher mit den Stiften war dabei umgekippt,
sie hatte sich hinknien müssen, um sie aufzusammeln.
Elsa sog erneut Luft ein.
„Können Sie später wiederkommen?“
Der Mann schüttelte den Kopf, ging an ihr vorbei, deutete
auf die Tür am Ende des Flures.
„Wohnzimmer?“
Sie nickte. Ging in die Küche und öffnete das Fenster,
öffnete es weit. Im Hinterhof wuchsen Sträucher mit weißen
Beeren, als Kind hatte sie die Tretminen genannt. Eine
Reihe Mülltonnen, gelb, blau, schwarz und braun, stand
vor der Mauer, die den Hof vom Parkplatz dahinter trennte.
Elsa konnte den Mann im Wohnzimmer hören, es klang,
als würde er irgendetwas festschrauben. Auf der Mauer
waren Stränge rostigen Stacheldrahts gespannt, Krähen
mit durstig geöffneten Schnäbeln saßen darauf, der Parkplatz
war leer, eine Reihe flacher Garagen, die Tore grau
gestrichen. Sie hörte Schritte im Flur, er ging ins Schlafzimmer,
danach käme das Bad. Rasch öffnete sie die Kühlschranktür
und holte den Teller hervor.
„Warten Sie“, rief sie. Der Mann drehte sich um. „Kommen
Sie hier herein.“
Elsa deutete auf die Pfannkuchen, große Placken Zuckerguss
fehlten, die Löcher sahen aus wie Inseln in einem klebrigen
Meer.
„Sie sind kaputtgegangen“, sie hatte vergessen, die Klarsichtfolie
in den Müll zu tun, sie lag neben dem Teller, weiß
verschmiert, „der Guss ist kleben geblieben.“
Er aß den Kuchen mit wenigen Bissen, sah aus dem
Fenster, Pflaumenmus quoll auf seinen Daumen.
„Darf ich?“ Der Mann zeigte auf die Spüle, wusch sich
die Hände, trocknete sie an einem Geschirrtuch ab.
„Ist es viel“, fragte Elsa, als er gehen wollte.
"Mahlke erzählt kaltherzig konsequent, wie die Figuren durch ihr prekäres Leben treiben. [...]. Mahlke führt ihre Figuren nicht zu einer geschlossenen Geschichte zusammen, sie springt zwischen ihnen hin und her, und das ist beim Lesen schwer unter Kontrolle zu bekommen - ein genialer Kniff, der den Leser genauso haltlos macht wie die Figuren. Innerhalb der chaotischen Struktur aber beschreibt Mahlke ihre Figuren pedantisch genau. Mit überbordenden Details versucht sie, sie zu fixieren und in ihrer Romanwelt zu verankern."
"Nun seziert die die Autorin mit messerscharfem Blick eine ganze Berliner Gesellschaft. Sie tut es mit einer Sprache, die selbst kleinste Gefühlsnuancen wie unter einem Mikroskop sichtbar werden lässt, und gewährt dabei immer neue verblüffende Einsichten in die Schönheit und Tragik unserer Existenz."
"Inger-Maria Mahlke beschreibt in 'Rechnung offen' ein Berliner Zerfallsmoment. Präzise beleuchtet sie Einzelschicksale in einem Neuköllner Mietshaus - kurz vor dessen Abbruch. Das Buch ist grausam, trostlos und doch auch warmherzig."
"Der verstörendste Roman der Saison."
„Gerade die atmosphärische Schilderung ist eine Stärke von Mahlke. Das Stillstehen der Zeit, die unendliche Trägheit der Verhältnisse vor der Schließung von Tempelhof, hat sie hervorragend eingefangen. [...]Mahlke weiß, was sie tut.“
„Es lohnt sich, das Buch zu lesen.“
"Das alles könnte nur zu leicht im Klischee enden. Doch davon ist Inger-Maria Mahlkes Roman weit entfernt, dafür ist er zu eigenwillig und sperrig in der literarischen Gestaltung. Das Buch wirft uns die Bruchstücke dieser desperaten Lebenswelten hin. Es kommentiert nichts, ist frei von Sentimentalität und zudem hellsichtig und kalt in seinem Befund. Die Sprache bleibt klar und schnörkellos, die Linienführung fordernd, der Erzählfluss bewegt. Das Buch macht es einem nicht leicht: Gerade darin steckt seine subversive Kraft. 'Rechnung offen' ist die Abrechnung mit einer Zeit, die allzu schnell die Weichen stellt: einmal auf dem falschen Bahnsteig, mit der falschen Richtung im Kopf, und schon ist das Leben fast gelaufen."
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