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Noch einmal Paradies

Marc Bielefeld
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Ein Segelabenteuer zu den Grenzen unserer Freiheit

„Eine fesselnde und unterhaltsame, aber auch nachdenklich machende Geschichte.“ - Leinen los!

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Noch einmal Paradies — Inhalt

Raus aufs Wasser, rein ins Leben

Inmitten der Krisen beschließt Marc Bielefeld, den Blick auf andere Horizonte zu richten. Für ein Jahr will er mit seiner Freundin durchs Mittelmeer segeln und eine verlorene Freiheit zurückgewinnen. Will Luft holen und sich treiben lassen, die Schönheiten des Mittelmeerraums aufsaugen, Momente der Einfachheit und den Rhythmus der Natur genießen.

Abenteuer mit Tiefgang

In Barcelona erstehen sie einen alten Zweimaster, die Solemar; dann heißt es „Leinen los!“. Unterwegs steuern sie kleine Häfen an, ankern in traumhaften Buchten, erkunden wilde Küsten. An Bord gilt es mit wenig auszukommen. Auf offener See springen Delfine neben dem Schiff; oft sehen sie tagelang nur Wasser und Himmel. Doch auch das mare nostrum – noch immer Paradies – gerät durch Klimawandel, Flüchtlingsschiffe und Krieg aus den Fugen. Der Autor trifft auf festgesetzte Oligarchen-Jachten und Strandverkäufer aus Nordafrika. Er taucht mit Thunfischschwärmen, aber auch durch sterbende Seegraswiesen und sieht, wie der Meeresboden mit Coronamasken übersät ist. Und immer wieder begegnet er Menschen, die gegensteuern, Lebensräume retten und Grund zur Hoffnung geben.

€ 22,00 [D], € 22,70 [A]
Erschienen am 27.04.2023
304 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-89029-575-6
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€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erschienen am 27.04.2023
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60317-1
Download Cover
„Eine fesselnde und unterhaltsame, aber auch nachdenklich machende Geschichte.“
Leinen los!
„Es ist ein spannendes, unterhaltsames, ruhiges, ja unaufgeregtes und zugleich nachdenklich stimmendes Segelabenteuer, in dem Bielefeld bei aller Schönheit des Trips nicht die Augen vor Klimawandel, Artensterben, Flüchtlingsdramen, NATO-Manövern und Pandemiefolgen wie Corona-Masken in erschreckender Menge auf dem Meeresboden verschließt.“
ITB BuchAwards 2024

Leseprobe zu „Noch einmal Paradies“

Vorbemerkung
Dieses Buch wurde fast ausschließlich an einem Navigationstisch geschrieben. Die restlichen Seiten entstanden im Liegen, auf die Koje gestreckt, die Beine am Mastkasten abgestützt. Beide Orte befinden sich an Bord einer Ketsch vom Typ Whitby 42, erbaut 1979 in Florida, USA. Die Jacht verbrachte viele Jahre in der Karibik, bevor sie den Atlantik überquerte und nach Spanien segelte. Fortan fuhr sie auf dem Mittelmeer, einem der geschichtsträchtigsten, zugleich jüngsten und fragilsten Meere der Welt. Das Schiff trug uns vom Sommer 2021 bis in [...]

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Vorbemerkung
Dieses Buch wurde fast ausschließlich an einem Navigationstisch geschrieben. Die restlichen Seiten entstanden im Liegen, auf die Koje gestreckt, die Beine am Mastkasten abgestützt. Beide Orte befinden sich an Bord einer Ketsch vom Typ Whitby 42, erbaut 1979 in Florida, USA. Die Jacht verbrachte viele Jahre in der Karibik, bevor sie den Atlantik überquerte und nach Spanien segelte. Fortan fuhr sie auf dem Mittelmeer, einem der geschichtsträchtigsten, zugleich jüngsten und fragilsten Meere der Welt. Das Schiff trug uns vom Sommer 2021 bis in den Herbst 2022 sicher durch Wind und Hitze und brachte uns zu verschiedenen Ufern des westlichen Mare Nostrum. Zuerst begegneten wir diesem Meer mit kindlicher Freude und beinahe ungetrübter Reiselust. Mit den Monaten und langen Etappen aber schärften sich allmählich die Ansichten und Einsichten, bis das Meer und seine Phänomene sich auch als dies offenbarten : als gnadenloser Spiegel unserer aufgewühlten Zeiten. Unser Schiff trug uns jedoch nicht nur übers Wasser, sondern auch zu vielen Menschen, die wir auf unserer Reise trafen. Wir alle blickten sehnsüchtig auf dieses Meer. So sehnsüchtig, wie wir vorher vielleicht noch nie auf blaues Wasser geschaut hatten.

Mit einer philosophischen Fanfare stürzt sich Cato in sein Schwert; ich verziehe mich wortlos an Bord.
Herman Melville, „Moby Dick“


Sonne und Meer – Eine alte Ketsch wartet in Barcelona
Am Abend sank im Nordwesten die Sonne über dem Meer, ein warmer Wind strich über Deck, wir saßen barfuß am Steuerrad. Das Festland hatte sich längst aufgelöst, keine Wolke stand am Himmel. Am Horizont, gute vier Seemeilen entfernt, zog noch ein spanisches Fischerboot dahin, das auf nördlichem Kurs Richtung Côte d’Azur fuhr. Ich blickte durchs Fernglas, peilte den Trawler in gut siebzig Grad. Er hatte zwei Netze draußen, schüttere Silhouetten vor blassem Blau, seine Positionslichter glommen schon. Dann verschwand das Schiff hinter der bereits dunkelnden Kimm, und wir waren allein auf See.
Wir hatten alle Segel gesetzt, Genua, Groß, Besan, so zogen wir nach Osten aufs Meer hinaus, einem Seevogel gleich. Das Boot machte um die fünf Knoten, beruhigende neun Kilometer pro Stunde, ein ganzer Hausstand unter weißen Tüchern, der mit stetig nickendem Bug über eine von Millionen Lichtreflexen ziselierte Fläche glitt und nichts als ein stetiges Rauschen von sich gab. Es war der Takt des Segelns. Alle vier, fünf Sekunden ein Schäumen, ein Sprudeln. Der Rumpf, der sich in den Rhythmus der Wellen warf und allein mit dem Wind seine Reise antrat.
Silke saß auf der Backskiste. Sie lehnte mit dem Rücken am Steuerschemel, und der Schatten des Besanmasts wanderte jedes Mal über ihre Beine, wenn das Boot ein paar Grad nach Backbord oder Steuerbord auswanderte. Ich drehte mich zur Sonne um. Sie hing tief über dem westlichen Horizont, und wahrscheinlich würde der Seewind bald abflauen, wenn es zur Nacht hin eine Spur kälter werden würde.
Die Luken auf dem Vordeck standen alle offen, und durch den vorderen Niedergang fiel der Blick in die Kombüse. An Bord hatten wir alles verstaut, was wir für die nächste Zeit brauchen würden. Brot, Avocados, Bananen, Butter, Marmelade. Mehl, Gewürze, Nudeln, Fladenbrot und Couscous für die nächsten Wochen. Dazu Dosen voller Thunfisch und Mejillones, Wasser, Säfte, Bier und Wein. Unten in der Kajüte baumelte das Netz mit den Zwiebeln und Zitronen. Daneben, verknotet an drei Tampen, torkelte die Petroleumlampe, die ich vor Jahren auf einem Flohmarkt gekauft hatte.
Ich saß in der Plicht, blickte hoch in die Masten. Die Segel standen gut im Wind, und wir würden für die Nacht nicht reffen müssen. So kamen wir still voran, Seemeile für Seemeile, und irgendwann zum Morgen hin würden wir die Balearensee erreichen.
Mehr brauche ich gerade nicht, dachte ich. Alles war gut. Das Unterwegssein auf dem Meer kam noch immer einer Art Balsam gleich. Man reiste durch dieses Element, enthoben, ganz beim Himmel, den Regungen des Winds und den Zeichnungen des Wassers. Die Welt schien jetzt weit weg, der ganze Wahnwitz. Ich schielte aufs Handy. Wir hatten schon lange keinen Empfang mehr. Rundherum nur noch Meer.
Es war die erste Fahrt auf unserem neuen Boot. Wir wussten noch nicht, wie lange wir letzten Endes auf dem Schiff, auf dem Wasser bleiben würden. Alles stand offen. Es herrschten jetzt seltsame Zeiten, und bereits auf diesen ersten Seemeilen über das Mittelmeer wuchs mir das Boot ans Herz wie ein guter Freund.
Schon vor einiger Zeit, irgendwann vor zwei, drei Jahren, war es das erste Mal geschehen. Ich erinnere mich, dass ich mit dem Auto von Hamburg aufs Land fuhr, weit hinaus an die Elbe, wo ich wohnte. Die Ortschaften wurden schmaler, Finkenwerder, Jork, Cranz, hinter Grünendeich dünnte sich die Welt weiter aus. Vor der Scheibe rollte das Alte Land vorbei, die Apfelhöfe südlich des Stroms, die Reetdachhäuser und Hofläden der Obstbauern im Norden Deutschlands. Ich hatte das Radio laufen. Bei Hollern-Twielenfleth kam der Abbieger ins Kehdinger Land, eine Kreuzung und eine rote Ampel, vor der ich wie meistens halten musste und wo mich nun das erste Mal eine massive Sehnsucht überkam. Das Wort wird ja allzu oft missbraucht, doch diesmal traf es eindeutig zu.
Auf einmal sah ich das Meer vor mir. Ein fließendes Blau, sonnenbeschienen, ausgebreitet ins Nirgendwo. Ich musste an jene Zeiten denken, die ich früher auf meinen Segelschiffen verbracht hatte. Vor meinem geistigen Auge sah ich das Folkeboot, mit dem vor über zwanzig Jahren alles begann. Ein herrliches kleines Segelschiff aus Holz, mit dem ich damals Anlegemanöver übte und bald die ersten Seemeilen über offenes Wasser wagte. Vom schwedischen Råå segelte ich rüber zur Insel Ven, dann zu den Inseln der Dänischen Südsee. Ich sah vom Meer aus die Felder und kleinen Dorfkirchen, blickte über die Sandbänke und Landzungen, sah die Vögel, die durch die Wasserwelt flogen.
Ich dachte an das zweite Boot, das ich vor Jahren besaß. Ein schneeweißer Wingakreuzer, der sich in den schwedischen Schären versteckte. Ich war damit südlich nach Bornholm gesegelt, nach Westen in einen weiteren langen Sommer. Wochen, Monate verbrachte ich auf diesem Boot.
Dann verwischten die Bilder, verschwommen wie in einem zu schnell ablaufenden Daumenkino. Hinter mir waren sie schon am Hupen. Die Ampel war längst grün geworden, jäh wurde ich aus meinem Traum gerissen.
Während ich weiterfuhr, lief im Radio eine Sendung, die sich mit dem Zustand der Erde befasste. Ich gondelte so vor mich hin, achtete auf die Blitzer und sah die Reetdachhäuser vorbeiziehen.
In dem Radiobeitrag hieß es, dass nur noch drei Prozent der weltweiten Landfläche heute unberührte Wildnis seien, während die Zahl der Städte und Agrarflächen weiter steige. Der Sprecher sagte, es gebe in Deutschland praktisch keine Natur mehr. Und wenn wir sagen, wir fahren aufs Land, raus in die Natur, was ich ja gerade tat, dann sei das in Wahrheit gar keine Natur mehr. Alles Agrarland. Felder, Äcker, bewirtschafteter Boden. Vom Menschen domestizierte Erde.
Ich sah aus dem Fenster. Der Mann hatte recht. Felder und Landwirtschaft, so weit das Auge blicken konnte. Entwässerte Moore und Maisfluren, Trecker, Heumaschinen, Obstplantagen. Der Norden Deutschlands war quasi flächendeckend nutzbar gemacht worden. Nein, da war keine echte Natur mehr, keine Wildnis. Diese Bezeichnung hielt sich höchstens noch als Missverständnis.
Vor meinem inneren Auge tauchten die nächsten Bilder auf. Ich sah die dritte Jacht vor mir, die ich einmal besessen hatte. Acht Jahre hatte ich auf ihr gelebt und gearbeitet, oft monatelang, bis die Winter kamen und es im Norden zu kalt wurde. Und dann, eines Tages, hatte ich auch das letzte Schiff verkauft. Ich brauchte mal eine Pause vom jahrelangen Segeln. Dachte ich.
Nun tauchten der Rumpf, der Mast, die hölzerne Kajüte wieder auf, ein Geisterschiff in der Erinnerung. Wir gleiten durch Schottland, durch die Meerengen und Sunde der Inneren Hebriden. Da sind die kargen Inseln, die vor dem Bug aufsteigen, das von der Strömung zerrupfte Meer. Schafe stehen auf den Wiesen, ich kann sie sehen in der Ferne, vom Wasser aus, vom Boot.
Was für ein Frieden.
In den folgenden Monaten kehrten die Visionen vom Meer immer wieder, und ich konnte und wollte nichts dagegen tun. Bis ich merkte, dass es sich nicht nur um Tagträumereien handelte. Eine unbändige Lust, wieder auf dem Wasser zu sein, wuchs in mir. Der Drang, wieder auf ein Boot zu springen. Ein Segelboot. Dieses Verlangen steigerte sich mit ­jeder trübsinnigen Meldung, die mir entgegenschlug. Man musste ja nur noch das Radio oder den Fernseher anschalten, musste nur aufs Handy starren oder mit irgendjemandem sprechen. Die schlechten Nachrichten kamen aus allen Himmelsrichtungen.
Bald musste ich immer öfter an jene Zeiten denken, die ich in meinem Leben am Wasser verbracht hatte. Irgendwo in den Häfen, auf dem Meer, auf den Schiffen. Die Szenen waren fast schon filmreife Sequenzen, die mir durch den Kopf schossen, während ich im Auto saß oder manchmal auch nur irgendwo gedankenverloren stand. Die Visionen taten gut. Sie beruhigten mich in diesen komischen Zeiten.
Was war da draußen los?
Klimawandel. Erderwärmung. Artensterben. Regenwälder, die verschwinden, Korallenriffe, die sterben. Kürzlich haben Wissenschaftler des israelischen Weizmann-Instituts verkündet, dass die Masse der menschengemachten toten Dinge erstmals die lebendige Biomasse auf dem Planeten übersteigt. Die Straßen, Autos, Häuser, Brücken, Fabriken und Produkte des Menschen wiegen jetzt mehr als sämtliche Wälder, Bäume, Tiere und Bakterien der Erde zusammen. Seit der ersten landwirtschaftlichen Revolution hätten Menschen allein die pflanzliche Biomasse von rund zwei Teratonnen – 2 000 000 000 000 Tonnen – auf gegen­wärtig rund eine Teratonne reduziert. Das Unvorstellbare: willkommen in den Realitäten des Anthropozäns. Für die jungen Generationen steht die Zukunft auf dem Spiel. Das Bundesverfassungsgericht sollte dies per höchstrichterlichem Beschluss verkünden.
Ich nahm das alles wahr, so wie wir es alle wahrnehmen, las Zeitungen und Nachrichtenmagazine, hörte Radio, gelegentlich einen Podcast. Ich schaute die Abendnachrichten, die Talkshows, die Extras. Inmitten all der Probleme, die uns umzingeln, fragte ich mich manchmal, ob nicht irgendwo auch noch der Zustand eines unbeschwerten Daseins existierte. Das einfache, elementare Glück, die Schönheit der ­Natur. Kein Motorengeräusch, kein Rumoren mehr. Nur der Wind und das Boot. Das Wunder des geräuschlosen Vorankommens, untermalt von den am Bug schäumenden Wellen. Ins Meer springen, Fische sehen. Die Erfahrung, in einer heilen Welt zu leben. Auf einem intakten Planeten.
Ich sah mich selbst, wie ich in Badehose am Heck einer Jacht stehe, mit der Schlagpütz ein paar Liter Salzwasser hochschöpfe und sie mir in einem Guss über den Kopf schütte. Ich hörte den Wind, wenn er in den Häfen durch die Riggs der Schiffe pfeift, das beruhigende Knarzen der Festmacherleinen, wenn das Boot an seinem Liegeplatz schaukelt. Ich konnte das alles spüren, schmecken. Ich sah die Ankerbuchten, die Sandbänke und Lagunen. Sah die Segel, die im Wind stehen wie Vogelflügel.
Um mich zu beruhigen, ging ich draußen in meinem Dorf bald regelmäßig in das kleine Schwimmbad. Dort zog ich meine Bahnen in dem hellblauen Wasser, achthundert Meter, tausend Meter, ich kraulte, wechselte zum Brustschwimmen, dann wieder zurück zum Kraulen. Beim Schwimmen kommt man irgendwann in einen wunderbaren Rhythmus, kann im Takt der fließenden Bewegungen und des stetigen Atmens herrlich in seine Gedankenwelten hinabschweben. Ich dachte nun gezielt an bestimmte Momente, die man beim Segeln immer wieder erlebt. Wie man das Boot im Hafen klarmacht, wie man vor dem Ablegen die losen Dinge unter Deck verstaut, die Schoten anschäkelt, das Beiboot lascht. Wie man noch einmal über Deck geht und die Wanten prüft, dann den Motor anschmeißt und hinausfährt. Wie dann irgendwann der Wind in die Segel greift und das Boot wie ein eigener Kosmos über die See zieht.
Ich sah das blaue Wasser förmlich vor mir, bewegt vom Wind, dunkler schraffiert, wo eine Bö über die Oberfläche heranschleicht. Schaumkronen brachen sich, und ich müsste jetzt nur noch einmal ums Kap, dachte ich, müsste nur einmal an der südlichen Untiefentonne vor dem Riff vorbei, dann hätte ich weites, offenes Meer vor dem Bug. Ich saß im Wind und rauchte eine. Da waren die Inseln der Dänischen Südsee, Lyø, Strynø, da waren die Strände und Steilküsten der deutschen Ostseeküste, die manchmal wie Leuchtstreifen vor dem Boot gelegen hatten. Das Meer war grün. Seegras wogte darin. Ich tauchte an Quallen vorbei, sah Krabben über den Meeresgrund laufen, sah die ungezählten Häufchen der Sand- und Wattwürmer, die aussahen wie Spaghetti. Unten lagen die Seekarten auf dem Navigationstisch, alles roch nach Lack und Salzwasser.
So schwamm ich meine Bahnen in dem Schwimmbad auf dem norddeutschen Land. Ich war im Wasser, träumte vom Wasser. Absorbiert.
Zurück im Auto, zurück zu Hause, zurück vor dem Computer, dem Smartphone, dem Fernseher, war es meist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Schub an Unheil einen erreichte. Und ich merkte manchmal gar nicht, wie ich schon stumpf geworden war. Wie routiniert ich schon gar nicht mehr richtig hinhörte, sondern all die Nachrichten vielmehr auf eine innere Duldungslandschaft einprasselten.
Manchmal ermahnte ich mich, schärfer hinzuhören, offener und dezidierter wahrzunehmen. Ich rief mich dazu auf, all die Krisen einzuordnen und mir einen Reim darauf zu machen, auch um meine eigene Haltung zu hinterfragen und meiner Rolle als Bürger, als Mensch gerecht zu werden. Aber ich merkte, wie ich scheiterte. Wie ich irgendwann nicht mehr wollte, nicht mehr konnte. Und wie ich über meine eigene Abgestumpftheit erschrak.
Ich kann nicht genau sagen, was für ein Gefühl mich vielleicht nicht beherrschte, sich unterschwellig aber doch eingenistet hatte. Eine konfuse Mischung aus Resignation und Fassungslosigkeit, aus Angst, Erschöpfung, Ohnmacht, Wut, Selbstvorwurf und Traurigkeit. Auf jeden Fall dies: eine Überdosis an überspannten Nachrichten, die ich irgendwann nicht mehr in vollem Umfang ertragen konnte.
Zum Schluss hatte ich erhöhten Blutdruck, hundertachtzig zu hundert und solche Scherze. Das hatte ich noch nie gehabt. Ich wusste nicht, woran es lag. Der Arzt draußen auf dem Land wusste es auch nicht; er zuckte nur mit den Schultern. Vielleicht lag es an meinem Job, am jahrelangen Buchstabenaneinanderreihen. Vielleicht lag es an der Geschwindigkeit und an der Masse, mit der die Texte seit Langem zu produzieren waren. Alles hatte in einer stetigen Kurve zugenommen. Vielleicht lag es an dem einen oder anderen Glas Wein, das ich getrunken hatte, um die Gedanken zu besänftigen. Vielleicht lag es auch an der Großwetterlage, die allen nun komisch auf den Brustkorb drückte. Vielleicht lag es auch an allem zusammen.
Vom Tauchen im Meer wusste ich, was jetzt anstand. Wie oft hatte ich mich früher an den Ankerketten meiner Boote hinabgezogen, nur mit Flossen und mit einem Atemzug? Ich war schon auf zehn, fünfzehn Meter Tiefe hinabgetaucht, schwebte da unten über die vor Licht flirrenden Sandböden, über die in der Strömung wogenden Seegrasfelder. Und ich wusste genau: Irgendwann gehen die Atemreserven zur Neige. Nach ein bis zwei Minuten sinkt der Sauerstoffpegel im Organismus. Der Mensch wird dann unruhig, ab einem gewissen Punkt setzt das Zwerchfellflattern ein. Und dann ist es höchste Zeit, wieder aufzutauchen.
Luft holen.
So ging es mir in gewisser Weise auch jetzt, im echten Leben, im Alltag an Land. Ich gierte danach, endlich wieder ein Boot zu besteigen und das Leben in Sicherheit zu bringen. Für ein paar Monate, für ein Jahr. Vielleicht sogar für so lange, wie die Knochen es mitmachen würden. Ich war jetzt vierundfünfzig Jahre alt. Da denkt man schon mal ans Ende, darf aber auch noch mal von einem Anfang fantasieren und in gute Erinnerungen investieren.
Wasser vor dem Bug, Wasser unterm Kiel. Hier und da eine Hafenpinte, eine mit Haifischgebissen und Seegedöns dekorierte Bodega, ein hölzerner Steg, über den die Fußsohlen spazieren dürfen. Ich wollte ­Fische sehen. Wolken, Regen, Hagel, Sonne, Meer. Ja, ich hatte Lust, wieder zu stinken. Nach Salzwasser, nach Schweiß. Nach Einfachheit und Reduktion. Wollte wieder Schoten in den Händen spüren, selbst die Segel setzen, bis sich das ganze Boot in Bewegung setzen und irgend­wohin kreuzen würde. Bloß weg. Bloß dahin, wo keine Menschensilos die Welt verbauen und keine Hiobsbotschaften einem die Seele verdüstern.
Es war an der Zeit, andere Ziele aufzusuchen. Buchten, Küsten, Kaps und Kimms. Ankergründe, Leuchttürme, Bojen, Häfen und Marinas. Das klang nach Vokabular – und es stand dringend ein Wechsel des Wortschatzes an. Zu lange hatte ich nicht mehr von Wanten und wehenden Flaggen gehört, zu lange selbst nicht mehr von Vorsegeln und Raumschotkursen gefaselt. Ein Fall schwerer Deviation.
So mäanderte der Traum durch mein Hirn und sträubte sich zunehmend vehementer gegen die Zeiten, die gerade aus dem Ruder zu laufen schienen. Es konnte gar nichts Heilsameres geben, als mir eine kapitale Ladung Seeluft zu verschreiben. Und es musste sie doch noch geben: die Paradiese auf diesem Planeten. Die Erfahrung des ungeschminkten Glücks.
Und natürlich, da war das gute alte Meer.
Noch ein Rezept stellte ich mir aus: das reduzierte Dasein auf ein paar Quadratmetern Boot. Das Schlichte und Notwendige. Das Nichtabgelenktsein von allem Unnötigen und Überflüssigen. Ballast abwerfen. Seepocken kratzen und den Kopf in die Fluten rutschen lassen.
Back to the roots? Ja, durchaus. Und warum auch nicht? Zurück zu den Wurzeln – wenn ich denn überhaupt noch wusste, was das ist.
Eines Tages nahm ich das Fahrrad und fuhr zum Ruthenstrom, einem stillen Seitenarm draußen an der Elbe, von dem aus man über die Sandbarren und Schilfgürtel hinaus auf den Strom blicken kann. Ein Containerfrachter arbeitete sich stromaufwärts, im Westen zog ein Lotsenschiff an Krautsand vorbei und steuerte durchs Fahrwasser. Inmitten der Berufsschifffahrt fuhr noch ein kleiner Kabinenkreuzer elbabwärts, fuhr seelenruhig über das Wasser unter dem tiefen Himmel dahin, lief stetig Richtung Sankt Margarethen, Richtung Mündung, Richtung Deutsche Bucht. Minutenlang hing ich dem Bild nach, sah, wie das kleine Schiff an den Fahrwassertonnen vorbeifuhr, wie das Heck schmaler wurde und Richtung offene Nordsee steuerte. Bestimmt stand der Skipper gerade am Steuerrad und bemaß ruhigen Auges sein Vorankommen. Sicher konnte er spüren, wie das Boot durch die Wellen stampfte. Vielleicht schaute er zwischendurch auf die Seekarte, zählte die Tonnen runter. Vielleicht schaute er gerade auch nur aufs Wasser, während seine Gedanken ums Boot kreisten wie die Seemöwen.
Ich wusste nun, was zu tun war. Es war nicht mehr aufzuhalten, es ging nicht anders. Luft holen, atmen.
Ich stand auf dem Deich und musste plötzlich an einen guten Geist denken. An einen alten Sinnesgefährten, der mir mit seinem Fürspruch gerade recht kam. Ich kannte die Stelle fast auswendig. Wie hatte Herman Melville in „ Moby Dick “ noch geschrieben? „Vor einigen Jahren (…) kam mir der Gedanke, mich ein wenig auf See umzutun. Das ist so meine Art, mich wieder zur Raison zu bringen. Wenn mir der Missmut am Mundwinkel zerrt (…), wenn ich (…) vor den Fenstern der Sargtischler stehenbleibe (…) und ich mir Gewalt antun muss, um nicht (…) jedem, der mir begegnet, kalten Blutes den Hut herunterzuschlagen – dann ist es für mich allerhöchste Zeit, auf See zu gehen. So helfe ich mir, wo sich andere eine Kugel in den Kopf schießen. Mit einer philosophischen Fanfare stürzt sich Cato in sein Schwert; ich verziehe mich wortlos an Bord.“
So beginnt die berühmte Geschichte vom weißen Wal. So hat es Herman Melville vor über hundertfünfzig Jahren niedergeschrieben. Er hatte einen Nerv getroffen, schon damals. Heute kamen seine Worte einer ziemlich präzisen Beschreibung meiner emotionalen Gegenwartsverfassung gleich.
Ja, ein bisschen Seeluft atmen. Das war es. Ich wollte wieder ein Boot, und womöglich brauchte ich es sogar. Doch in den letzten anderthalb Jahrhunderten ist eine Menge passiert. Besonders in den letzten Jahrzehnten. Selbst die große Erzählung des Meeres hat sich verändert, ist ins Stottern geraten. Und sie wandelt sich weiter. Naiv wäre es, das Meer noch immer für die endlose Quelle unser Schöpfungsmythen zu halten, für die viel besungene Bühne der großen Freiheit. Wir alle wissen von der Überfischung der Ozeane, der Erwärmung der Meere, dem Schmelzen des arktischen Eises. Und wir alle wissen auch, dass wir zu großen Teilen selbst daran schuld sind. Ich fragte mich darum, wie es wohl sein würde, heute noch einmal so eine Flucht anzutreten, wenn auch in deutlich kleinerem Maßstab. Hinaus aufs Wasser, aufs Meer und zu seinen gelobten Ufern.
Sich einfach auf ein Segelschiff verziehen und das Leben für eine gewisse Zeit mit gebührendem Abstand leben.
Melville war drei Jahre lang selbst als Walfänger über den Pazifik gesegelt, bevor er „Moby Dick“ schrieb. Doch sein großes Abenteuer war heute sowieso nicht mehr zu haben. Die Ozeane sind bis zum letzten Atoll kartografiert, die Wale, die sie damals jagten, weitgehend dezimiert. Die Welt vermessen, beschrieben, entmystifiziert. Darüber ­hinaus haben sich die Gegebenheiten noch auf vielen anderen Ebenen verschoben. Die Weltbevölkerung hat sich seit Melville verachtfacht, die Raumsonde „Voyager 1“ hat das Sonnensystem verlassen, und besonders in den letzten zwei, drei Jahren ist vieles noch einmal komplett auf den Kopf gestellt worden. Waldbrände. Lieferketten. Flüchtlingsströme. Plastikmüll. Die Pandemie. Die Energieversorgung.
Ist es heute überhaupt noch zu verantworten, so eine Flucht anzutreten? Gibt es nicht genug zu tun? Sind da nicht dringendere Probleme, die es zu lösen gilt? Die Weltgemeinschaft hat gerade erst so richtig begriffen, dass wir vieles jetzt sehr schnell umbauen müssen. Wir haben die Ärmel hochzukrempeln, und es bleibt kaum mehr Zeit.
Ich überlegte. Mein Homeoffice würde zum Boatoffice werden. In dieser Hinsicht würde ich geradezu vorbildlich agieren, absolut zeitgemäß und ressourcenschonend. Und natürlich würde ich weiterarbeiten müssen; ich bin kein Privatier. Überdies, verlagerte ich mein Leben für eine gewisse Zeit auf ein Segelschiff, würde sich mein Dasein beachtlich herunterdrosseln. Und auch dies würde durchaus dem Gebot der Stunde entsprechen, den Erfordernissen, von denen viele jetzt sprachen.
So ein Bootsleben bringt das von ganz allein mit sich. Verbrauch und Konsum schmälern sich in vielerlei Hinsicht. Mit maximal sieben Knoten, zwölf Kilometern pro Stunde, kommt man voran. Langsam, nicht schnell. Maßvoll, nicht maßlos. An Bord gilt es, mit wenig auszukommen. Wasser, Strom, Essen, Trinken, Kleidung, Luxus und Zerstreuung – alles reduziert sich. An Bord so eines Segelschiffs gibt es gerade mal genug Platz für zwei Handvoll Bücher. Ein Seesack mit Klamotten muss reichen. Und natürlich : kein Fernsehen, kein WLAN, keine ­Dusche. Der Strom ist rationiert, zum Haarewaschen muss man ins Meer springen oder sich einen Eimer Wasser über den Kopf schütten.
Lediglich der Wind treibt das Boot voran.
Aber das allein war es nicht. Denn ich würde all den Problemen ja nicht entkommen, nicht entfliehen können. Nicht mehr heute. Im Gegenteil, manche Schieflagen würden auf so einer kleinen Seereise womöglich nur noch schärfer an die Oberfläche treten. Das Meer und seine Küsten sind Hauptzeugen des Anthropozäns, vielerorts Spiegel der heutigen Zeiten. Die Ozeane sind die großen Schauplätze der Geschehnisse. Immerhin, Wasser bedeckt drei Viertel unseres Planeten. Und natürlich wusste ich, dass das Meer dem Sinnbild einer unerschöpflichen Natur nicht mehr standhält – heute hält es uns vielmehr die erschöpfte Natur vor Augen.
Die neuen Narrative des Meeres würden viel verraten. Man müsste ihnen nur lauschen. Müsste die groben wie feinen Erzählstränge aufblättern und darin lesen. Vielleicht ließen sich manche Probleme dabei aus anderen Blickwinkeln betrachten, aus anderen Perspektiven verstehen. Und vielleicht würden sich aus neuen Ansichten auch neue Einsichten ergeben, neue Wege öffnen. Ja, womöglich wäre so eine kleine Meeresflucht heute sogar prädestiniert dafür, einen Blick über den Tellerrand zu werfen und die geschundene Welt von außen zu betrachten. Von außen und von innen. Das Meer, seine Schauplätze und Konnotationen waren schon immer große Storyteller. Vielleicht die größten, die wir haben. Seit jeher steht das Meer für Ursprung und Herkunft, reflektiert unsere Entwicklung, unser elementares Schicksal.
Leben und Tod, Tod und Leben. Alles kommt aus dem Meer, alles fließt wieder dorthin.
Ich stand da also nun oben auf dem Deich. Ein dicker Westwind wischte über die Elbe, wehte von der Rhinplatte rüber und kräuselte das Wasser. Wind gegen Strom, dachte ich. Zu spitzen Zacken zerblasen, floss das Wasser stromabwärts, vorbei an den schräg in der Ebbe hängenden Fahrwassertonnen. Rundherum dehnten sich die Marschen, Balje im Osten, Dithmarschen im Norden, der Himmel hing tief und grau, und nun war es so weit. Navigare necesse est.
Ja, verdammt, Seefahrt tut not – heute vielleicht mehr denn je! Ein Boot musste endlich wieder her. So ein herrlich gefiedertes Vehikel, das mich endlich wieder hinaus aufs Wasser tragen würde, komme, was wolle.
Ganz neu würde das Abenteuer für mich nicht sein, hatte ich in den letzten zwei Jahrzehnten doch immer wieder viel Zeit auf verschiedenen Segelschiffen verbracht. Neu allerdings würden heute die Umstände sein. Der ins Taumeln geratene Zeitgeist, das selbstverständliche Leben auf diesem Planeten, das so selbstverständlich nun nicht mehr war. An alten Gewissheiten nagten Zweifel, Verunsicherung, Unwägbarkeiten. Alle wussten um die zentralen Fragen, spürten, dass jetzt Großes am Kippen war. Und das würde wohl auch für das Segeln gelten. Es würde heute in einem anderen Licht stattfinden, würde sich anders anfühlen.
Doch alle dunklen Wolken konnten mir den Traum nicht verhageln. Ich wollte Meer, ich brauchte Boot.
Es dauerte nicht lange, da gingen meine Freundin und ich auf die Suche nach einem Schiff. Silke besitzt ebenfalls einen Segelschein. Sie liebt es, draußen zu sein, an der frischen Luft, unter wenig Menschen. Eine Frau der Weite. Unabhängig, freiheitsliebend. Noch dazu: erschreckend unerschrocken.
Wir hatten nicht besonders viel Geld. Doch das sollte nicht darüber entscheiden, ob wir es tun würden oder nicht. Jedes zweite Auto, das über die deutschen Straßen rollt, ist teurer als die Machart von Boot, die uns vorschwebte. Und für den Preis für so manches Wohnmobil würden wir uns zwei, wenn nicht gleich drei solcher Jachten kaufen können. Gebraucht müsste das Segelschiff sein, sicher. Vom Baujahr her schon älter, dafür aber schön. Mit Patina und Lebenserfahrung. Nein, es war nicht das Geld. Man musste es einfach machen.
Nichtsegler müssen an dieser Stelle begreifen, was es bedeutet, nach einem Schiff zu suchen. Es lässt das Herz tanzen wie nichts anderes auf der Welt. Joseph Conrad, der alte Seefahrer und Weltliterat, schrieb einmal: „Die Liebe zu einem Schiff ist grundverschieden von der Liebe, die ein Mann für alle anderen Werke seiner Hände empfindet – der Liebe zum Beispiel, die er für sein Haus hegt.“ Das kommt ungefähr hin. Nach einem eigenen Segelschiff zu suchen ist besser, als nach Gold zu suchen.
Wir fuhren an die Elbe, an die Ostsee, blickten aufs Wasser. Wenn wir in den Häfen über die Stege schlenderten und ein schönes Boot erblickten, musste ich mich manchmal zurückhalten, um nicht gleich an Deck zu springen und den Eigner unverhohlen zu fragen: „Sie wollen nicht zufällig verkaufen, oder?“
Silke ging es kaum anders. Nach dreißig Jahren Arbeit als Lehrerin spürte sie auf ihre Weise, dass eine Pause nicht schaden könnte. In den Schulen draußen auf dem Land, und nicht nur dort, waren die Verhältnisse nicht heiterer geworden. Überforderte Eltern, zu wenig Personal, Respektlosigkeit. Die Zahl der nicht beschulbaren Fälle wuchs. In den Klassen auf dem Land saßen traumatisierte Mädchen aus Syrien, die kein Wort mehr sprachen. Schüler, die auf verschiedenste Weise auffällig wurden. Mehr und mehr Lehrpersonal wurde in Kliniken eingewiesen, laut einer Studie galt jede vierte Lehrkraft inzwischen als psychisch überbelastet und von Burn-out gefährdet.
Sich für eine gewisse Zeit aufs Wasser zu flüchten würde die malträtierten Sinne mit Sicherheit beruhigen. Ich wusste das nur zu gut. So ein Segelschiff wirkt wie eine schwimmende Nervenheilanstalt, zweifelsohne die beste der Welt.
Und dann kam, aus heiterem Himmel, der Moment, in dem wir genau diese fanden.
Wir verbrachten gerade zwei, drei Nächte auf einem Campingplatz am Meer und hatten am Rand einer Klippe das Zelt aufgebaut. Silke hatte ihr Buch zur Seite gelegt und checkte ihr Handy. Sie hatte jetzt schon länger nichts gesagt, während ich unter den Bäumen nach einem Stein suchte, um die Heringe nachzuklopfen. Es dämmerte bereits. Grillen zirpten. Nebenan, in Turnhosen und Adiletten, entlud eine sechsköpfige Familie gerade ihren Campingbus und schmiss den Grill an. Vier Kinder, Hund und komplette Mountainbikeausrüstung. Just in diesem Moment gab mir Silke ihr Handy rüber, hielt es mir förmlich unter die Nase und sagte:
„Guck mal, die hier.“
Ich schielte auf eine der Bootsseiten im Internet. Blickte genauer hin und sah ein schönes, großes, weißes Segelschiff mit einem ansehnlich geschwungenen Rumpf und zwei hohen Masten. Ich scrollte runter, sah weitere Fotos, von innen, von außen. Zwei Niedergänge besaß die Jacht, ein großes, breites Cockpit und eine Achterkajüte. Das Schiff war ein Langkieler, gebaut in Kanada, entworfen vom Designer Ted Brewer. Eine kanadische Whitby 42, die den Namen „Solemar“ trug. Sonne und Meer. Eine Ketsch mit zwei Masten, die schon in der Karibik gesegelt war, den Atlantik überquert und Tausende Seemeilen auf dem Buckel hatte. Gut siebzig Quadratmeter Segelfläche am Wind, über zwölf Tonnen schwer. Für die Größe und Breite ein erstaunlich schöner Rumpf, dachte ich. Die Jacht war das, was Segler eine Blauwasserkutsche nennen. Ein Schiff, mit dem sich um die Welt segeln lässt.
Ich schaute Silke kurz an, sagte nichts. Sie sagte: „Campingplätze sind ja schön und gut, aber auf Dauer?“
Ich suchte nach dem Preis der Jacht, der war erträglich. Dann sah ich den Salon, der war fantastisch. Und dann sah ich den Liegeplatz, das war Barcelona. Das war das Mittelmeer. Da war es warm.
Wir schrieben die E-Mail.
Die Antwort des Maklers kam am nächsten Morgen. Ein Mann namens Carlos, ursprünglich aus Argentinien stammend. Er schickte weitere Details, genauere Beschreibungen der Jacht, schrieb, wir könnten jederzeit vorbeikommen. Er schloss mit den Worten: „Big boat oceanic, nothing Osmosis.“ Ich übersetzte frei auf Deutsch: „Eine anständige Hochseejacht, keine Osmoseschäden am Rumpf, guter Zustand.“
Silke und ich schauten uns an. Wir mussten nichts sagen.
Bald saßen wir im Auto, Kurs Spanien, es war Sommer. Wir fuhren vorbei am Gardasee, vorbei an der brütend heißen Côte d’Azur, wo wir lediglich eine kurze, unerlaubte Nacht im Auto einlegten, hoch über den Felsen von Menton. Unterwegs malten wir uns den Himmel aus. Den Himmel nicht auf Erden, sondern auf dem Wasser.
Das Boot lag am Ende eines Stegs in einem der Außenhäfen Barce­lonas. Wir sahen die Ketsch schon aus der Ferne. Die zwei Masten, das große Sonnensegel, den weißen Rumpf mit dem langen Wasserpass. Carlos stand am Ponton. Er sagte nicht viel, sagte nur: „Hola, bienvenidos, vamos en el barco.“
Wir betraten das Schiff. Sahen, dass die Fotos nicht gelogen hatten. Apathisch betatschte ich die Windhutzen, blickte die Masten hoch. Fünfzehn Meter der eine, zehn der andere. Den Niedergang hinunter, nunmehr im Salon stehend, stockte uns der Atem. Hier würde man Bossa nova tanzen können. Hier würde man wochenlang, monatelang leben, essen, trinken, arbeiten, segeln und auf dem Wasser bleiben können.
Ich setzte mich in die Navigationsecke, die Schiffe dieses Ausmaßes in der Regel besitzen. Ein kleiner, leicht angeschrägter Tisch aus Mahagoni, darunter ein Klappfach für Seekarten, Notizblöcke, Zirkel, Unterlagen. Rechts das Funkgerät, darunter das Schaltpanel für die Elektrik. Ich saß schweigend, stützte die Ellenbogen auf, flog schon halb davon. Es konnte kein besseres Büro auf Erden geben, kein schöneres und konzentrierteres Plätzchen, um Kursen und Gedanken zu folgen. Am liebsten hätte ich Carlos sofort das Geld in die Hand gedrückt.
Der Eigner kam nachmittags hinzu, ein Katalane namens David mit grauem Bart und ausgebleichten Haaren. Ein eingefleischter Segellehrer, der für seine Kurse und Schulungen ein moderneres Boot brauchte. Er schaute traurig. Vor fünfzehn Jahren hatte er die gesamte Ostküste der USA nach genau so einer Whitby abgegrast. Hatte diese dann als letzte auf der Jungferninsel St. Thomas gefunden und das Schiff anschließend aus der Karibik nach Spanien gesegelt. Er wollte um die Welt damit. Machte das Schiff in den nächsten Jahren seeklar, rüstete es aus. Doch sein Traum platzte. Die neue Freundin mochte keine Schiffe. Da war der Job, das Leben, das immer schneller wurde. Da war das, was geschieht, wenn man gewisse Dinge nicht einfach macht. Nun wollte er verkaufen.
Wir fuhren zu einer Probefahrt raus, starteten den alten Ford-Lehman-Diesel, setzten die Segel. Der gute Dave erklärte uns alles, die bronzenen Seeventile, die Selbststeuerung, die sturmsicheren Windhutzen. Das über vierzig Jahre alte Schiff segelte sich wundervoll. Der lange Kiel hielt es gutmütig auf Kurs, und doch ging es behände durch die Wellen. Wie weiße Schwingen standen die drei Segel im Wind, wobei sie so weiß nicht mehr waren. Sie trugen Rostspuren, die Reffleinen hingen ausgefranst über den Klampen. Aber das machte nichts. Das Schiff war weit gereist, ein paar Falten schmückten es. Seine Reifeprüfungen hatte es lange bestanden, und man konnte sehen, dass die Bootsbauer der späten 1970er-Jahre noch nicht von Massenproduktion und Materialgeiz gepeinigt waren. In der Tat, die Whitby war stark und solide gebaut. Ein echter Blauwasserdampfer. Ein echter, alter karibischer Fregattvogel zur See.
Ich wurde zittrig, Silke war es längst.
Zwei Monate dauerte es, bis der Papierkram erledigt und das Geld überwiesen war. Doch dann, an einem warmen Tag im spanischen Winter, unten im Salon an der ausklappbaren Bar sitzend, stießen wir mit Dave an. Spanischer Rotwein. Die alte Whitby gehörte jetzt uns, und ich hatte endlich wieder damit aufgehört, tagträumend durch die Gegend zu laufen.

Marc Bielefeld

Über Marc Bielefeld

Biografie

Marc Bielefeld, 1966 in Genf geboren und in Hamburg aufgewachsen, lebte nach dem Abitur in Paris und als Vertreter und Werbetexter in Hamburg. Dort und in Washington, D.C. studierte er Literatur und Linguistik. Heute lebt er als freier Autor an der Elbe. Seine Texte und Reportagen sind in den...

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„Eine fesselnde und unterhaltsame, aber auch nachdenklich machende Geschichte.“

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„Es ist ein spannendes, unterhaltsames, ruhiges, ja unaufgeregtes und zugleich nachdenklich stimmendes Segelabenteuer, in dem Bielefeld bei aller Schönheit des Trips nicht die Augen vor Klimawandel, Artensterben, Flüchtlingsdramen, NATO-Manövern und Pandemiefolgen wie Corona-Masken in erschreckender Menge auf dem Meeresboden verschließt.“

Sejlerens. Das Hafen-Magazin

„Marc Bielefeld nimmt seine Leser mit auf große Fahrt, beschreibt anschaulich und anekdotenreich die Reise und zeigt auch immer wieder die Herausforderungen, vor denen wir aktuell stehen.“

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