Meerblick statt Frühschicht - eBook-Ausgabe
Warum ich losreisen musste, um bei mir selbst anzukommen
„Herrmann füllt das Klischee, dass man erst losreisen muss, um bei sich anzukommen, überzeugend mit Leben.“ - Emotion
Meerblick statt Frühschicht — Inhalt
Ein persönlicher Rundgang durch Angkor Wat, Reisfelder auf Bali und ein Roadtrip entlang der legendären Great Ocean Road: Dies sind nur drei der Highlights, die die erfolgreiche Reisebloggerin Carina Herrmann während ihrer einjährigen Reise durch Australien und Südostasien erlebte. Ihre Traumreise begann als Befreiungsschlag. Denn die junge Frau gab dafür ihren harten Alltag als Krankenschwester in einer Kinderkrebsstation auf, verkaufte all ihren Besitz und begann alleine ihre Reise um die Welt. Sie schreibt über ferne Länder, Menschen und Kulturen -- aber auch über Ängste, Sehnsüchte und neuen Mut.
Leseprobe zu „Meerblick statt Frühschicht“
Prolog
Ich habe sechs Jahre, zwei Monate und einen Tag als Krankenschwester auf Kinderkrebsstationen gearbeitet.
Wie viele kleine Patienten ich betreut und wie viele ich verloren habe, weiß ich nicht. Aber ich weiß noch genau, welche kleine Patientin mich gebrochen hat. Und den Moment, als es passierte.
Als ich mich nach dem Abitur für die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester entschied, hatte ich nicht vor, in die Onkologie zu gehen. Ich glaube, niemand plant diesen Schritt. Irgendwann wird man in einem Vorstellungsgespräch gefragt, ob dieser Fachbereich [...]
Prolog
Ich habe sechs Jahre, zwei Monate und einen Tag als Krankenschwester auf Kinderkrebsstationen gearbeitet.
Wie viele kleine Patienten ich betreut und wie viele ich verloren habe, weiß ich nicht. Aber ich weiß noch genau, welche kleine Patientin mich gebrochen hat. Und den Moment, als es passierte.
Als ich mich nach dem Abitur für die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester entschied, hatte ich nicht vor, in die Onkologie zu gehen. Ich glaube, niemand plant diesen Schritt. Irgendwann wird man in einem Vorstellungsgespräch gefragt, ob dieser Fachbereich generell in Frage kommt. Oder man bekommt einen Job mit guten Konditionen angeboten, den man in Zeiten von Stellenmangel unmöglich ablehnen kann. Aber ich bezweifle, dass jemand dieses Fachgebiet wirklich bewusst wählt. Ich erinnere mich heute noch an die Warnung, die eine meiner Ausbilderinnen uns mit auf den Weg gab: Solltet ihr jemals in die Kinderonkologie gehen, bleibt dort nicht länger als maximal zwei Jahre, sonst frisst es euch auf. Ich hätte besser auf sie hören sollen …
Jahrelang war ich ein sehr unsteter Mensch. Schon seit der Ausbildung war ich immer wieder auf der Suche nach Veränderung. Ich dekorierte meine Wohnung mindestens einmal im Monat um, zog alle zwei Jahre in eine neue Stadt, begann ein Medizinstudium und gab es wieder auf. Mir wurde damals klar, dass ich schon als Krankenschwester zu viel Verantwortung trug – als Ärztin hätte ich noch schwerere Entscheidungen treffen müssen. Auch dieser Versuch füllte nicht die Leere in mir. Das Gefühl, dass mein Leben doch mehr sein müsste. Erfüllter. Glücklicher. Dazu kamen die Kinder, die mich immer häufiger auf der Arbeit festhielten, mich nicht gehen ließen, selbst wenn die Dienstzeit beendet war. Die mich selbst an freien Tagen zurück auf Station zogen. Sie forderten es nicht ein, niemand bat mich, zu bleiben, aber ich hatte das Gefühl, es wäre meine Pflicht. Ich sagte mir, ich müsste das so machen. Überstunden, Besuche an dienstfreien Tagen, stundenlanges Grübeln, während ich eigentlich freihatte. Die Vorstellung, einen Patienten in einem schweren Moment allein zu lassen, auszustempeln und nach Hause zu gehen, empfand ich als unerträglich. Sobald ich das Krankenhaus verließ, um mein eigenes Leben zu leben – vollgestopft mit Besitz, Hobbys und Freunden –, fühlte ich mich schuldig. Wie konnte ich ausgehen, feiern und das Leben genießen, wenn es den Eltern und den Kindern in der Klinik so schlecht ging? Vom Kopf her war mir klar, dass das Quatsch war, aber die Gedanken und Schuldgefühle ließen sich einfach nicht mehr abstellen. Ich konnte nicht mehr abschalten und merkte zunehmend, wie ich mich von meiner Arbeit komplett ausgefüllt und doch immer betäubter fühlte.
Auf einer Irland-Reise mit einer Freundin im Sommer 2010 fasste ich dann den Entschluss, nach Australien zu gehen. Er kam ganz plötzlich, ohne großes Aufheben, und setzte sich einfach in meinem Kopf fest. Während wir eine Woche lang mit dem Mietwagen die engen Straßen zwischen Grün und Steinmauern entlangfuhren und Lady Antebellum aus der Anlage dröhnte, die wir mit unseren Stimmen tatkräftig unterstützten, fühlte ich mich frei. Der Job war endlich einmal weit weg – die Verpflichtungen, Sorgen und die Trägheit, die mich sonst die meisten Tage gefangen hielten, waren wie weggeblasen, und ich wusste instinktiv, dass ich eine Auszeit brauchte. Länger als eine Woche Irland. Als wir am letzten Abend in einem Pub saßen, vor einer dampfenden Schale Shepherd’s Pie, erzählte ich meiner Freundin von meiner Idee, ein Working-Holiday-Visum für Australien zu beantragen. Sie starrte mich genauso erstaunt an, wie ich mich fühlte, als die Worte aus mir heraussprudelten.
Zurück in Frankfurt, holte mich der Alltag schnell wieder ein, aber mein Vorhaben war in Stein gemeißelt. An einem Freitagvormittag setzte ich mich vor dem Spätdienst an den Laptop und füllte das Online-Formular für den Visums-Antrag aus. Alles war unkompliziert und verständlich, und eine halbe Stunde später sagte mir eine automatische Antwort, dass es einige Wochen dauern könne, bis ich Bescheid über die Zu- oder Absage erhalten würde. Ich ging also zur Arbeit und verfiel in meine Routine, bis ein paar Stunden später die Antwort der Visumsbehörde in mein Postfach flatterte. Mit einer Zusage. Auf nach Australien!
Ich plante also eine Reise auf unbestimmte Zeit, mit allem, was dazugehörte: Kündigung, Auflösung meiner Wohnung und meines Besitzes und Abschied auf Zeit. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich so radikal vorging für etwas, das vielleicht nach sechs Wochen schon wieder vorbei sein würde, wenn ich von Heimweh geplagt den Rücktritt antreten würde, aber etwas in mir verlangte danach. Nach einem klaren Schnitt und der Freiheit, komplett neu entscheiden zu können, was danach kommen soll. Diese Reise sollte eine Auszeit sein, um mir zu überlegen, was ich eigentlich wirklich wollte, und zugleich war sie ein unbewusster Ausstieg aus der Spirale an negativen Emotionen, in der ich mehr und mehr versunken war. Mich zog es in die Welt hinaus, von der ich bisher noch nicht mehr gesehen hatte als ein paar Ecken innerhalb europäischer Grenzen, und weg von meinem Leben, das mich in den vergangenen Jahren alles andere als glücklich gemacht hatte.
Vier Monate bevor ich aufbrach, wurden zwei neue Patienten eingeliefert. Fast gleich alt und viel zu jung, um zu verstehen, was mit ihnen passiert, bekamen sie gleichzeitig dieselbe Diagnose gestellt: eine seltene Krebsform, die eine geringe Überlebenschance und Monate voller Qualen im Krankenhaus für sie bedeutete. Gemeinsam durchlitten die beiden Familien Schmerz, Trauer und immer wieder Hoffnungsschübe – und wir als Schwestern mit ihnen. Zum ersten Mal verlor ich mich völlig. Die Distanz, die so unglaublich wichtig ist in diesem Beruf, löste sich mit jedem Tag mehr in Luft auf. Ich konnte mich diesen Familien aus eigener Kraft nicht entziehen. Das Gefühl, ihnen etwas zu verweigern, was ihnen zustand, mein Mitgefühl, meine Schulter zum Anlehnen und meine fachliche Betreuung, brachte mich dazu, immer wieder auf Station zu kommen, selbst wenn es aus dienstlichen Gründen nicht notwendig war. Ich fühlte mich verpflichtet, ohne dass mir jemand diese Pflicht aufgetragen hatte. So fieberte ich dem Beginn meiner Reise entgegen und dem Abstand, der damit kommen würde und den ich so dringend brauchte.
Kurz vor meinem letzten Arbeitstag wurde mir die Chance verwehrt, nicht noch einen weiteren Patienten in meine regelmäßig wiederkehrenden Albträume aufnehmen zu müssen. Eins der beiden Kinder verstarb sehr plötzlich. So schnell, dass ich schon, eine halbe Stunde nachdem mich der Anruf zu ihrem kritischen Zustand auf der Nachbarstation erreichte, zu spät kam. Die Trauer der Familie war wie eine Mauer, gegen die ich lief. Ich hielt es nur wenige Minuten in dem Zimmer aus, das nun viel zu schnell viel zu ruhig geworden war. Statt piepsender Monitore erfüllte Verzweiflung die Luft und erstickte mich. Ich schaffte es gerade noch ins Nachbarzimmer, bevor ich in Tränen ausbrach. In diesem Moment erkannte ich, dass ich schon viel zu lange gewartet hatte. Dass der Entschluss, diese Reise zu machen, der Ausweg aus meiner Verzweiflung war, bevor mir überhaupt bewusst war, dass ich dringend einen Ausweg brauchte.
Zuerst fühlte es sich egoistisch an, einfach zu gehen. Meinen Job endgültig zu kündigen, meinem Beruf den Rücken zu kehren und den vielen Familien, die noch kommen würden. Ich fühlte mich schwach, weil ich täglich Schwestern sah, die schon dreimal so lange wie ich in diesem Beruf arbeiteten und es immer noch schafften, die Distanz dazu zu erhalten. Ich fühlte mich schwach, weil ich einfach aufgab. Davonlief. Den einfachen Weg wählte. Rauswollte, weit entfernt sein von alledem. Aber ich wusste genau, wenn ich bliebe, würde ich entweder innerlich absterben oder irgendwann in der versteckten, vergrabenen Trauer untergehen.
Diese Reise würde meine Trauerverarbeitung und mein Befreiungsschlag werden. Ich würde mich von unzähligen Patienten und viel zu vielen Erinnerungen verabschieden, die ich nun lange Jahre mit mir herumgetragen hatte. Es wurde dringend Zeit, loszulassen …
Der Aufbruch in ein neues Leben
Glaube daran, dass du es kannst.
Und du bist schon halb da.
Theodore Roosevelt
Der Zug rollt langsam los. Ich sitze am Fenster und sehe meine winkenden Eltern aus dem Blickfeld verschwinden. Einen Abschied am Flughafen wollte ich nicht, also bin ich nun auf dem Weg nach Frankfurt, um dort noch eine Nacht bei Freunden zu verbringen, bevor meine Reise endgültig startet. Abschiede sind nicht meine Stärke, und der letzte Monat war gepflastert damit – mit kleinen und großen, mit leichten und schweren. Unterbewusst weiß ich bereits, dass ich zu vielen Bereichen meines alten Lebens nicht zurückkehren werde, aber aussprechen tue ich das nicht. Ich versichere meinen Kollegen, dass ich sicherlich von Heimweh geplagt in sechs Wochen wieder am Eingang der Station stehen werde, bereit, die Arbeitsroutine wieder aufzunehmen. Mein Chef betont beim Abschied, dass ich jederzeit in meine Stelle zurückkehren könne. Das Gefühl, das diese Aussage in mir auslöst, ist widersprüchlich. Ich glaube, entweder ich bin in einem Monat zurück oder gar nicht. Dieser Gedanke ist eine Mischung aus dem heimwehgeplagten Kind, das ich einmal war und das keine zwei Wochen im Ferienlager ohne durchweinte Nächte verbringen konnte, und der Person, die ich gerade ganz neu kennenlerne. Die gerade ihre sichere Stelle gekündigt und ihren gesamten Besitz verkauft hat, ihre Wohnung aufgelöst hat und nur noch sechs gefüllte Umzugskisten im Keller ihrer Eltern besitzt. Immer mal wieder frage ich mich, wer diese Person eigentlich ist, die mich die letzten Monate fast täglich mit ihrer neu entdeckten Courage überrascht. Ich schätze, ich werde es herausfinden.
Meinen Freunden erkläre ich, dass diese Auszeit nicht lange dauern wird und dass sie kaum merken werden, dass ich überhaupt weg war. Um sie zu beruhigen und um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ich sage ihnen, dass wir vermutlich mehr Kontakt haben werden als während meines Alltags in Frankfurt, weil ich viel mehr Zeit haben werde.
Aber da ist auch ein Teil von mir, der aufatmet. Der viel weniger aufgeregt und nervös über das ist, was kommt, und stattdessen Erleichterung verspürt. Erst jetzt komme ich dazu, die letzten Monate Revue passieren zu lassen. Es fühlt sich an, als hätte ich nur auf eine innere Aufgabenliste gehört, ohne mir zu erlauben, näher darüber nachzudenken. Vielleicht hätte ich sonst beim Gedanken daran, was ich gerade eigentlich plane und tue, aus Angst vor meiner eigenen Courage aufgegeben.
Nachdem ich das Visum für Australien erhalten hatte, liefen die nächsten Schritte wie von selbst: Ich recherchierte, wie lange meine Kündigungsfrist im Krankenhaus war, und überlegte, wann ich meinem Chef von meinem Ausstieg erzählen sollte. Ich wollte fair sein. Ihm entsprechend meiner Kündigungsfrist nur sechs Wochen zu lassen, um nach einem Ersatz für mich zu suchen, würde es nicht leicht machen. Für die Onkologie gab es lange nicht so viele Bewerbungen wie für andere Fachgebiete. Ein Ausstieg auf Zeit, unbezahlter Urlaub oder ein Sabbatical kamen mir gar nicht erst in den Sinn. Ich brauchte einfach einen klaren Schnitt.
Als ich mich mit meiner Mitbewohnerin zusammensetzte, mit der ich eine schöne Altbauwohnung in Frankfurt Niederrad teilte, kam die gleiche Frage auf. Lohnt es sich, eine Zwischenmieterin zu suchen, wenn nicht klar ist, wann ich eigentlich wiederkomme? Ich liebte unsere Wohnung. Sie war absolut einzigartig, mit einer Badewanne in einem verwinkelten Teil des Badezimmers, einem Hochbett in meinem Zimmer, das den Raum in Schlaf- und Wohnbereich teilte, und einem kleinen gemütlichen Balkon, der davon abging. Also musste ich mir selbst die Frage stellen, wie sehr ich an diesem Leben festhalten wollte. Letztendlich traf meine Mitbewohnerin den Entschluss, ebenfalls auszuziehen. Der Mietvertrag wurde also gekündigt und bei mir fielen die letzten Grenzen. Ich verkaufte meine gesamten Möbel über Aushänge in der Uni, Kleinanzeigen im Internet und verschiedene Facebook-Gruppen. Abgesehen von meinen Büchern und Erinnerungsstücken wurde mein kompletter Besitz auf ganz Frankfurt verteilt. Alles, was am Ende übrig blieb, passte in einen Kleinwagen.
Beim Weggeben meines Besitzes war mein Mantra, dass ich alles nach meiner Rückkehr auch wieder anschaffen könnte. Damit ließ sich dieser Prozess schmerzfreier überstehen. Zugleich sah ich freudig zu, wie sich mit jedem Verkauf meine Reisekasse füllte. Und das entwickelte sich zur Sucht. Dinge, von denen ich mich anfangs noch nicht trennen konnte, wurden doch noch auf die Aushänge verteilt, und jeder Euro, der auf meinem Konto landete, war ein kleines Versprechen auf weitere Abenteuer.
Meine Arbeitskollegen sahen mich mit großen Augen an und fragten mich immer wieder, ob es mir denn keine Angst machen würde, komplett ohne Besitz dazustehen. Ohne Basis, zu der ich zurückkommen könnte. Die Sicherheit, dass hier noch etwas auf mich wartete. Für mich fühlte sich das alles mehr und mehr wie ein Befreiungsschlag an. Mit jedem Stück, das ich verkaufte, mit jedem Vertrag, den ich kündigte, fühlte ich mich freier und leichter. Etwas hatte mich festgehalten, da war ich mir sicher. Natürlich dachte ich dennoch pflicht- und verantwortungsbewusst darüber nach, was nach meiner Rückkehr passieren würde. Vielleicht entdeckte ich gerade meine Abenteuerlust, aber ich war nicht leichtsinnig. Ich würde nach meiner Rückkehr einen Geldpuffer brauchen. Einen neuen Job und eine neue Wohnung zu finden würde Zeit kosten. Zeit, in der ich essen und irgendwo schlafen musste. Eine neue Wohnung kostet Miete und Kaution. Und wenn ich kein möbliertes WG-Zimmer für die Anfangszeit fände, bräuchte ich auch neue Möbel. Deshalb legte ich ein zweites Konto an, auf dem ich gut 3000 Euro für „die Zeit danach“ ansparte. Durch Extra-Schichten im Krankenhaus, Feiertagszuschläge, freiwillige Dienste an Weihnachten und Silvester und den Verkauf meiner Sachen hatten sich beide Konten gut füllen lassen.
Auch diese Erklärungen konnten besorgte Freunde und Verwandte nicht beruhigen, mich hingegen absolut. Mit knapp 7500 Euro auf meinem Reisekonto, Referenzen und übersetzten Zeugnissen für die Jobsuche und genug Geld für Notfälle im Gepäck war ich gut vorbereitet.
Immer wieder versuche ich mir vorzustellen, was da nun eigentlich vor mir liegt, aber sosehr ich mich auch anstrenge, das Bild bleibt nebelig. Morgen werde ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einen fernen Kontinent reisen. In eine völlig fremde Kultur mit völlig fremdartigen Menschen und einer ganz anderen Mentalität. Zumindest stelle ich mir das exotische Australien in meinem noch nicht weit gereisten Kopf so vor. Exotisch. Anders. Fremd.
Der letzte Abend vor meiner Abreise geht erstaunlich ruhig und entspannt vorüber. Ich schlafe gut und bin zuversichtlich, gut vorbereitet in mein neues Abenteuer zu reisen. Schließlich habe ich die letzten vier Monate exzessiv Planung, Vorbereitung und Recherche betrieben. Mein Reiseführer steckt, farblich codiert mit Post-its, in meinem Handgepäck, einem kleinen 15-Liter-Rucksack, der optimal ist für Tagesausflüge sowie für Einkäufe und Städte-Erkundungen. Mein großer 55-Liter-Rucksack ist gefüllt mit der perfektionierten Anzahl der nützlichsten Kleidungsstücke und Utensilien, die man auf einer Langzeitreise benötigen könnte. Alles an mir ist bis zum Maximum optimiert. Ich wäre das ideale Covermotiv für eine Backpacker-Zeitschrift. Und doch habe ich mit meinen dreißig Jahren noch nie einen Fuß in die weite Welt gesetzt. Die ganze Vorbereitung hat mich gleichermaßen beruhigt und motiviert. Wenn ich gut ausgestattet bin, kann keine Situation unerwartet sein. Wenn ich gut informiert bin, kann ich die sorgenvollen Fragen meiner Familie und Freunde mit Gegenargumenten abwiegeln. Und wenn ich alles bis ins Detail geplant habe, kann mir nichts Schlimmes passieren.
Seit Monaten verbringe ich ganze Tage damit und brüte über meinem Reiseführer, markiere sämtliche Sehenswürdigkeiten, recherchiere Hostels an allen erdenklichen Orten und finde heraus, wie ich mit fremden Währungen, Sprachen und Kulturen zurechtkommen kann. Das Schrecklichste für mich ist Ungewissheit. Solange ich weiß, was auf mich zukommt, fühle ich mich sicher. So stapeln sich nun die Informationen der letzten sechs Monate im meinem Hirn. Auch wenn es eine künstliche Sicherheit ist, kann ich mir so wenigstens einreden, ich sei auf alles, was kommen könnte, vorbereitet.
Meine erste Woche in Sydney werde ich in einem sorgfältig ausgewählten Hostel verbringen. In einem hübschen Viertel, mit vielen anderen Reisenden und in einem Frauen-Schlafsaal, der vermutlich voller Deutscher sein wird. Das sagen zumindest die vielen Bewertungen auf der Buchungsseite: „Viele Deutsche.“ Auch dieser Punkt lässt mich ruhig schlafen, denn dort werde ich erst einmal keine Probleme mit meinem eingerosteten Schulenglisch haben und kann andere nach Tipps fragen. Obwohl ich mich in der Klinik mit ausländischen Patienten immer gut verständigen konnte, zweifele ich stark daran, dass mein Englisch unter Muttersprachlern wirklich bestehen kann.
Meine Route für das erste halbe Jahr ist auch bereits durchgeplant. Ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt so lange dort sein werde, aber im Fall der Fälle bin ich gut organisiert. Von Sydney werde ich nach Brisbane reisen, von dort nach Hervey Bay, eine Tour nach Fraser Island machen, auf die einzige Sandinsel der Welt, die mit Tropenwald bewachsen ist, und dann entlang des Great Barrier Reefs bis nach Cairns. Ich weiß, welche Busanbieter es dort gibt und dass an der Ostküste keine Zugstrecken existieren. Ich weiß, dass jetzt die optimale Reisezeit für Australien ist und dass es vermutlich sehr heiß sein wird. Auf meiner Karte sind entlang der Route mehrere Markierungen angebracht, ordentlich farblich codiert. Dinge wie „Schöne Insel“ – „Kann man gut schnorcheln“ – „Hübsche Unterkunft hier“ stehen darauf. Ich bin bestens vorbereitet. Alles wird gut.
Am nächsten Morgen verabschiede ich mich von meinen Freunden und werde von einer Arbeitskollegin an den Flughafen gebracht. Seit gestern scheint auch mein Körper zu realisieren, dass es ernst wird. Erst hat mich ein Schwindel geplagt, der auf einem Hochseeschiff nicht schöner hätte sein können. Seit der Nacht quälen mich Bauchschmerzen. Anfangs dachte ich noch, ein fieser Virus hätte sich breitgemacht, aber da die Bauchschmerzen verdächtig aufwallen, wenn ich über den Abschied nachdenke, ist klar, was mich wirklich zwickt.
Im Auto meiner Freundin muss ich schon das erste Abenteuer hinter mich bringen: Sie drückt mir eine Thrombose-Spritze in die Hand. Auch wenn ich schon unzählige gesetzt habe, habe ich mir noch nie selbst eine verpassen müssen.
Meiner Freundin fällt der Abschied schwerer als mir, und ich frage mich langsam, ob mir eigentlich klar ist, was ich hier mache. Nachdem ich meinen perfekt ausgestatteten Rucksack am Check-in des Flughafens abgegeben habe und durch die ersten Sicherheitskontrollen gegangen bin, stehe ich mit meinem Reisepass in der einen Hand und dem Flugticket in der anderen am Fenster und blicke auf das Rollfeld hinaus. Ironischerweise hat es angefangen zu schneien. In den wenigen Momenten, in denen ich darüber nachdenke, mein Work-&-Holiday-Visum tatsächlich komplett auszunutzen, träume ich von zwölf Monaten ohne Schnee. Ohne Winter und ohne Kälte. Schließlich ist es in Australien immer irgendwo warm. Ich schließe kurz die Augen und fange bei dem Gedanken, zwölf Monate nicht mehr frieren zu müssen, an zu lächeln. Kälte war schon immer eines der unangenehmsten Dinge für mich. Seit DREIßIG Jahren verabscheue ich nichts so sehr wie den deutschen Winter, in dem mir immer kalt ist, egal welche Kleidung ich trage. Aber das hat in weniger als 24 Stunden erst einmal ein Ende.
Im Flugzeug freue ich mich wie ein kleines Kind darüber, dass ich eine ganze Sitzreihe für mich habe und in meiner Sitztasche ein herausklappbares Entertainmentprogramm mit den neuesten Kinofilmen finde. Die kommenden Stunden sind geschenkte Zeit. Ich kann tun und lassen, was ich will, ohne schlechtes Gewissen, dass ich eigentlich irgendetwas erledigen müsste. Filme schauen, Serien durchhecheln, schlafen, essen. Die letzten Jahre habe ich mich konstant unter Druck gefühlt. Auf meiner To-do-Liste gab es immer Dinge, die ich eigentlich schon lange hätte erledigen sollen, die restliche Zeit hielt mich mein Job auf Trab. Zeit war nie wirklich „frei“, und selbst die Tage, die ich im Schlafanzug mit meinem Laptop im Bett verbrachte, waren immer von meinem schlechten Gewissen begleitet, die Zeit nicht effektiv zu nutzen. Im Flugzeug kann ich nun gar nichts anderes tun als das, wozu ich Lust habe. Sämtliche To-dos sind abgehakt, ich habe keinen Job mehr und auch keine anderen Verpflichtungen, die mich in irgendeiner Weise fordern.
Meine WG war komplett aufgelöst, mein Besitz verkauft, verschenkt oder eingelagert und mein Job gekündigt. Ich hatte keine feste Aufgabe mehr und war sehr gespannt, was das mit mir anstellen würde. Natürlich hatte ich vor, unglaublich viel zu sehen, das würde meine Zeit intensiv füllen. Aber ich musste ab diesem Moment gar nichts mehr und konnte mich voll auf meine Reise konzentrieren – und darauf, herauszufinden, was ich eigentlich von meinem Leben erwarte. Das war die große Frage. Die einzige Verpflichtung, die ich mir selbst auferlegt hatte, war, meinen drei Monate alten Reiseblog zu füllen, damit zu Hause alle wissen, dass es mir gut geht und ich noch nicht von einem Hai angegriffen, einem Krokodil gefressen oder einer tödlichen Spinne oder Schlange gebissen worden war. Tatsächlich waren das die Hauptsorgen, die mir in den letzten Wochen immer wieder vorgetragen wurden: die vielen verschiedenen Arten, auf die ich in Australien sterben könnte. Ich wusste also mittlerweile, dass es spezielle Anzüge gibt, mit denen ich am Great Barrier Reef schwimmen kann, ohne dass mich die tödlichen Quallen dort erwischen, dass ich im Busch immer kräftig auftreten muss, damit die Schlangen die Vibrationen spüren und sich verziehen, und dass ich niemals T-Shirts ohne Ärmel tragen sollte, damit ich nicht vom Ozonloch Hautkrebs verpasst bekomme. Ich war aufgeklärt und vorbereitet, quasi ein weiblicher Chuck Norris. Und ich hatte absolut keinen Schimmer, was mich wirklich erwartete.
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