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Als die Sehnsucht uns Flügel verlieh (Heimat-Saga 2) Als die Sehnsucht uns Flügel verlieh (Heimat-Saga 2) - eBook-Ausgabe

Hanni Münzer
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Roman

— Historischer Familienroman
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Als die Sehnsucht uns Flügel verlieh (Heimat-Saga 2) — Inhalt

„Kathi und Franzi werden Ihr Herz brechen. Und es wieder reparieren.“ Hanni Münzer über „Als die Sehnsucht uns Flügel verlieh“  

Wenn das Kriegsende zum aufwühlenden Anfang wird: ein großer historischer Roman über die Suche nach einem Ort zum Wurzelnschlagen 

Hanni Münzer begibt sich in der Fortsetzung ihrer Heimat-Saga erneut auf eine Zeitreise und erzählt eine mitreißende Geschichte über Heimatverlust, Frauenemanzipation und den Wettlauf ins All. 

Im Mai 1945 werden das junge Mathematikgenie Kathi Sadler und ihre Schwester Franzi nach Moskau verschleppt. Kathi soll den sowjetischen Machthabern bei der Entwicklung ihres Raumfahrtprogramms helfen, Franzi dient dabei als Druckmittel. Über Jahrzehnte kämpft Kathi gegen den Schmerz der Entwurzelung, für eine Gefühl von Heimat und um einen Funken Hoffnung in dunklen Zeiten.  

Münzers schillerndes Erzähltalent verleiht ihrem historischen Epos einen mitreißenden Sog, der Geschichte und Gefühl zu einem wunderbaren Schmöker vereint. 

Hanni Münzers Heimat-Saga – der fesselnde Generationenroman der Bestsellerautorin von „Honigtot“

Familie, Heimat und Gefühl sind Hanni Münzers Herzensthemen. Schon über eine halbe Million Exemplare ihrer packenden Romanserien haben ihren Weg auf die Bücherstapel begeisterter Leser gefunden, die sich mit Haut und Haar auf ergreifende Schicksale einlassen wollen. 

Die aufwühlende Fortsetzung des SPIEGEL-Bestsellers „Heimat ist ein Sehnsuchtsort“

„Es geht um Liebe und Leidenschaft, um Historie, um Menschen, Geheimnisse, Hoffnung, Leid und Glück. Es ist wohl genau diese Mixtur, die Münzers Werke zu Bestsellern macht.“ Fürther Nachrichten  

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 01.09.2021
592 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31743-6
Download Cover
€ 7,99 [D], € 7,99 [A]
Erschienen am 05.10.2020
600 Seiten
EAN 978-3-492-99717-1
Download Cover

Leseprobe zu „Als die Sehnsucht uns Flügel verlieh (Heimat-Saga 2)“

PROLOG

Über den Wolken, zwischen Gleiwitz und Moskau,
im August 1945

In der Kabine der Tupolew war es eiskalt, der Lärm ohrenbetäubend, die Sitzbank aus Metall unbequem, und der penetrante Benzingestank nahm einem die Luft zum Atmen. Kathi fand es herrlich. Sie flog! Das erste Mal in ihrem Leben sah sie die Welt von oben. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, zu fantastisch, um es in Worte zu fassen. Neben ihr festgeschnallt, saß ihre neunjährige Schwester Franzi. Sie hatte ihr kleines Gesicht gegen die Scheibe gepresst und summte: Ich bin eine Biene!

Für [...]

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PROLOG

Über den Wolken, zwischen Gleiwitz und Moskau,
im August 1945

In der Kabine der Tupolew war es eiskalt, der Lärm ohrenbetäubend, die Sitzbank aus Metall unbequem, und der penetrante Benzingestank nahm einem die Luft zum Atmen. Kathi fand es herrlich. Sie flog! Das erste Mal in ihrem Leben sah sie die Welt von oben. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, zu fantastisch, um es in Worte zu fassen. Neben ihr festgeschnallt, saß ihre neunjährige Schwester Franzi. Sie hatte ihr kleines Gesicht gegen die Scheibe gepresst und summte: Ich bin eine Biene!

Für einen kurzen, leuchtenden Moment rückte das Erlittene in den Hintergrund: die Schrecken des Krieges, der bittere Verlust der Großeltern, das ungewisse Schicksal der in den Kriegswirren vermissten Eltern. Und auch das eigene Schicksal.

Denn mit jeder Sekunde in der Luft entfernten sich die beiden Schwestern weiter von ihrer Heimat, wurden sie in ein fremdes Land entführt. Als Kriegsbeute.

1

Nichts ist über Moskau als der Kreml,

und über dem Kreml ist nichts als der Himmel.

Russisches Sprichwort

 

Moskau. Moskwa. Seit Stunden rollte und holperte der Name der Hauptstadt Russlands durch Kathis Gedanken – wie ein Rad, das sich seinen Weg durch schwieriges Gelände sucht. Zu unwirklich war das, was ihr, Katharina Sadler aus dem winzigen schlesischen Petersdorf, passierte.

Im ersten Morgennebel hatte sie das Flugzeug in Gleiwitz bestiegen. Nein, korrigierte sich Kathi, nicht mehr Gleiwitz. Jene Stadt, in der sie bis zum vorigen Jahr die höhere Schule besucht hatte, in der sie mit ihrem Jugendfreund Anton im Wilhelmbad schwimmen war und im Café Haus Oberschlesien Kakao getrunken und Mohnstriezla gegessen hatte, gab es so nicht mehr. Gleiwitz hieß nun Gliwice, und seit März gehörte es zu Polen. Die Sowjetarmee hatte die Stadt im Januar ’45 eingenommen und die Verwaltung wenig später an Polen, ihren neuen Verbündeten, übergeben.

Längst hatte die kleine Tupolew das in Trümmern liegende Warschau hinter sich gelassen, war zum Auftanken kurz in Minsk gelandet, und nun überflogen sie bereits das Gebiet von Smolensk.

Immer wieder verirrten sich Kathis Augen in das Cockpit, zu Niklas. Von ihrer Position im Frachtraum aus sah sie nicht mehr von ihm als einen Teil seines Rückens. Uniform, Mütze, Brille und Kopfhörer machten ihn ohnehin völlig unkenntlich.

Der junge deutsche Kommunist und Physiker, der sich freiwillig der Roten Armee verpflichtet hatte, war erst vor Kurzem in Kathis Leben getreten. Doch seither war die Welt für sie eine andere. Er war der Grund, weshalb sie nicht in stiller Verzweiflung den Verlust ihrer Freiheit beklagte, sondern mit wachsamer Neugier der Dinge harrte, die die Zukunft für sie bereithielt. In Kathi vereinigten sich die guten Anlagen ihres seit der Schlacht von Leningrad vermissten Vaters Laurenz. Er hatte sie gelehrt, dass es noch niemals etwas geändert hatte, sich zu beklagen. Und es ging hier auch nicht um sie selbst: Ihr oblag die Verantwortung für ihre jüngere Schwester Franzi. Ihre Sorge um diesen geliebten Menschen verdrängte ihre eigenen. Zum wiederholten Male vergewisserte sich Kathi, dass Franzi nicht fror. Sie trug warme Winterkleidung, und zusätzlich hatte sie sie vor dem Abflug in eine Militärdecke gewickelt. Die zarte Franzi reagierte seit jeher empfindlich auf Kälte, darüber hinaus litt sie an einer unbekannten chronischen Krankheit, die sich bislang jeder Behandlungsform entzogen hatte. Ihr Körper wies schuppenartige Male auf, die Haut darüber war hart wie ein Panzer. Auch von ihrer Lippe bis zur Wange zog sich seit ihrer Geburt einer dieser auffälligen Flecken. Ihr Mund war deshalb winzig, kaum mehr als ein kleines O. Deshalb hatte Franzi auch nie richtig sprechen gelernt. Aber die Schwestern fanden früh ihre eigene Form der Verständigung: Sie summten die Buchstaben, aus Wörtern erwuchsen Tonfolgen, und daraus entstanden ganze Sätze.

Franzi war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Sie konnte verloren geglaubte Dinge überall aufspüren und verfügte auch über die Fähigkeit, sich nahezu unsichtbar zu machen. Was ihr gestattete zu verschwinden, wie und wann es ihr beliebte. Franzis größtes Geheimnis jedoch bestand in ihrer bemerkenswerten Beziehung zu Tieren, insbesondere zu Bienen. Sie umschwärmten Franzi, als wäre sie Teil ihres Stocks, ließen sich auf ihr nieder und hielten still, wenn Franzi sanft ihre pelzigen Rücken streichelte.

Berthold Schmiedinger, Pfarrer ihrer Heimat Petersdorf, war einmal Zeuge dieses ungewöhnlichen Schauspiels geworden und fand eine spirituelle Erklärung: Wie der heilige Franz von Assisi sei Franzi mit göttlichen Eigenschaften gesegnet. Der Pfarrer selbst hatte keinen Schutzpatron gehabt. Im Krieg war er von den Nazis verhaftet worden; sein weiteres Schicksal war ebenso ungewiss wie das so vieler guter Menschen. Kathi musste oft daran denken, was ihr Vater bei Kriegsbeginn gesagt hatte: Der Krieg ist ein Dieb, er stiehlt Hoffnung, er stiehlt Leben. So war es. Der Krieg hatte ihr beinahe alles genommen.

Kathis Gedanken kehrten erneut zu Niklas zurück, und wie sich ihre Wege in Petersdorf gekreuzt hatten.

Vor einem Jahr hatte sie die Dinge selbst ins Rollen gebracht, als sie, entgegen dem Rat ihrer früheren Grundschullehrerin, Fräulein Liebig, die eigene Klugheit zu verbergen, etwas sehr Dummes tat. Als Anfang 1944 die Nazis in den Schulen eine landesweite Mathematikolympiade ins Leben gerufen hatten, konnte sie der Herausforderung nicht widerstehen. Sie gewann den Wettbewerb und lenkte damit das Auge Berlins auf sich.

Dieser Sieg beim Mathematikwettbewerb weckte gegen Kriegsende auch das Interesse der Sowjets. So trat Niklas in ihr Leben. Der junge deutsche Wissenschaftler, der sich als überzeugter Kommunist der Roten Armee angeschlossen hatte, erhielt den Auftrag, Kathis außerordentliche Begabung einzuschätzen und somit ihren Nutzen für die russische Forschung. Wenn Kathi mit Niklas in die Geheimnisse von Physik und Mathematik eintauchte und das reale Universum gegen das imaginäre in ihrem Kopf eintauschte, verloren die Schrecken des Krieges und ihre Situation als Kriegsgefangene kurz an Bedeutung. Niklas und sie verbrachten viele Stunden zusammen, spürten dem tiefsten Wesen der Wissenschaft von Raum und Zeit nach, trotzdem blieb ihr der junge Mann ein Rätsel.

Einerseits trat Niklas ihr gegenüber zugänglich auf und ließ keinen Zweifel daran, dass er sie mochte. Andererseits spürte sie in ihm eine innere Grenze, die nicht überschritten werden durfte. Niklas kam ihr vor wie der Himmel, dessen Sterne des Nachts verführerisch glänzten und ihr zum Greifen nahe schienen – und dennoch unerreichbar blieben. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie eines Tages Antworten auf ihre Fragen erhalten würde.

2

Alles Böse kommt vom Menschen.
Das Gute bestimmt der Mächtige.

Annemarie Sadler

 

Die kleine Tupolew hatte die zugewiesene Halteposition noch nicht völlig erreicht, als ein offener Jeep auf sie zuraste. Im buchstäblich letzten Moment bremste der Fahrer ab, riss das Lenkrad herum, und der Wagen schlitterte in eine Halbkurve. Eine Frau in Uniform sprang heraus. Kurz fiel die Sonne auf einen ihrer zahlreichen Brustorden. Die Auszeichnungen erinnerten Kathi an ihren kriegsversehrten Großvater. Auch ihm waren einst Orden verliehen worden, ein lächerliches Pfand für die zeitlebens ruinierte Gesundheit.

Doch diese Frau sah mehr als gesund aus; sie verströmte eine geradezu aggressive Vitalität, als müsste jedes Hindernis ihr ausweichen und nicht umgekehrt. Durch das winzige Bullauge beobachtete Kathi, wie die Offizierin mit energischem Schritt auf das Flugzeug zueilte, um gleich darauf aus ihrem Blickfeld zu entschwinden.

Niklas überließ die abschließenden Handgriffe seinem Co-Piloten, nahm die Kopfhörer ab und öffnete den Gurt. In gebückter Haltung kam er auf Kathi zu und half ihr und Franzi, die eigenen Gurte zu lösen. „Alles in Ordnung mit euch beiden?“

Kathi nickte. Sie war von einem unwirklichen Gefühl beseelt, kam sich leicht und schwebend vor, beinahe benommen. „Es war wie im Traum“, sagte sie und wunderte sich, wie körperlos sich ihre Stimme anhörte.

„Achtet auf euer Gleichgewicht, wenn ihr aussteigt. Ihr seid mehrere Stunden gründlich durchgerüttelt worden. Der Boden dürfte euch zunächst ziemlich wackelig vorkommen.“

Niklas öffnete die Luke und hängte die Ausstiegsleiter ein. „Wir machen es wie beim Einsteigen. Ich zuerst, dann folgt Franzi und dann du, Katja.“ Kathi mochte es, wenn er sie Katja nannte. Er selbst hatte sich ihr als Niklas vorgestellt, aber alle anderen sagten Nikolaj zu ihm. Das wollte sie von nun an auch tun.

Wie von Nikolaj angekündigt, fühlten sich die ersten Schritte höchst unsicher an, als wäre der Boden unter ihren Füßen zum Leben erwacht. Kathi griff nach Franzis Hand. Der Eindruck verflüchtigte sich jedoch schnell, die Erde rückte wieder an ihren angestammten Platz.

Zwischenzeitlich hatte die Offizierin Nikolaj beiseitegezogen. Kathi hätte ihr Gespräch gerne belauscht, aber der Lärm der unablässig startenden und landenden Maschinen verhinderte das. Kurz streifte der Blick der Fremden Kathi, zeigte jedoch kein besonderes Interesse an ihr.

Für Kathi galt das genaue Gegenteil. Ungeniert unterzog sie die fremde Frau einer Musterung. Die vielen Abzeichen an der Uniform deuteten auf einen höheren Offiziersrang hin. Als Kathi sie auf das Flugzeug hatte zueilen sehen, erfasste sie ein vertrautes Gefühl, ähnlich jenem, wenn die Lösung eines Mathematikrätsels zum Greifen nahe schien, um sich ihr im letzten Moment doch noch zu entziehen. Kathi ahnte, dass diese Frau eine Rolle in ihrem Leben spielen würde. Wer war sie? Was hatte sie mit Nikolaj zu tun?

Die Russin hatte ihre Kappe abgenommen und unter den Arm geklemmt. Während Nikolaj angespannt wirkte, verharrte die Frau in lässiger Pose. Ein Bein leicht angewinkelt, den Kopf ihm zugeneigt, sprach sie weiter auf ihn ein.

Schönheit, wusste Kathi, wurzelte in der Geometrie. Dennoch blieb sie eine subjektive Angelegenheit. Für ihren Vater Laurenz war ihre Mutter Annemarie die schönste Frau der Welt. Bei dieser Unbekannten hatte die Geometrie Gesicht und Körper in perfekter Harmonie zusammengefügt: eine schlanke Gestalt, fein gemeißelte Züge, hell schimmernde Haut und volles rotes Haar, das in der frühen Abendsonne wie geschmolzenes Kupfer leuchtete.

Zwei weitere Wagen kamen in Sicht und rollten auf das Vorfeld. Eine Limousine mit verdunkelten Scheiben und Standarte, gefolgt von einem offenen Militärjeep, bemannt mit vier Rotarmisten.

Die Limousine stoppte unmittelbar neben Nikolaj und der Unbekannten. Die hintere Tür schwang auf. Anstatt auszusteigen, begnügte sich der Insasse damit, den Arm herauszustrecken und die beiden mit herrischer Geste heranzuwinken. Es entwickelte sich eine kurze Diskussion zu dritt.

Kathi bemerkte den Unwillen auf Nikolajs Gesicht. Neugierig tat sie einen Schritt auf den Wagen zu. Weiter kam sie nicht, eine Hand senkte sich bleischwer auf ihre Schulter. Von ihr unbemerkt waren zwei Rotarmisten aus dem Jeep gestiegen. Während der eine sie hinderte weiterzugehen, half der andere dem Co-Piloten mit dem Gepäck aus der Tupolew. Viel war es nicht. Neben den schweren Militärtaschen der beiden Piloten standen nur ihre eigenen Rucksäcke, ein kleiner Koffer und ihr Akkordeon einsam auf dem Rollfeld.

Niklas löste sich nun aus dem Gespräch und näherte sich Kathi. Sofort gab der Rotarmist Kathi frei und trat zurück.

„Es tut mir leid, Katja. Ich muss fort“, sagte Nikolaj. „Es hat sich eine Situation ergeben.“

„Was soll das heißen, du musst fort?“ Er würde sie doch jetzt nicht alleine hier stehen lassen? Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sie sich bereits auf dem Flughafen trennen würden. Die Enttäuschung schlug über ihr wie eine Woge zusammen.

Nikolaj schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Geh mit Xenia, Katja. Sie wird euch euer Quartier zeigen.“ Er wies mit dem Kopf in Richtung der russischen Offizierin, die noch mit dem Unbekannten in der Limousine sprach.

„Xenia?“, hauchte Kathi. Sie glaubte, den Namen vor einiger Zeit schon einmal in einem anderen Zusammenhang gehört zu haben. Während sie noch ihr Gedächtnis danach durchwühlte, schlangen sich zwei kleine Hände um ihren Bauch, und ein Kopf presste sich gegen ihre Hüfte. Franzi! Die Kleine spürte die Verwirrung ihrer älteren Schwester.

Nun gesellte sich die Rothaarige zu ihnen und übernahm selbst die Vorstellung: „Guten Tag, ich bin Xenia“, sagte sie auf Deutsch. Aus unmittelbarer Nähe betrachtet, wirkte ihre Schönheit geradezu einschüchternd. Ihr sicheres Auftreten verriet, wie sehr sie es gewohnt sein musste, dass man ihr überall einen Platz in der ersten Reihe freiräumte. Dennoch gab es einen Makel, auch wenn Xenia ihn durch ihre leise und akzentuierte Art zu sprechen geschickt zu kaschieren wusste: Sie lispelte, und der eigene Name hörte sich aus ihrem Mund wie Fenia an.

Von der Limousine ertönte ein anhaltendes Hupen. Das Signal behauptete sich selbst gegen den infernalischen Fluglärm.

„Ich muss los, Katja. Xenia wird sich um euch kümmern.“ Nikolaj strich Franzi, die sich weiter an ihre Schwester klammerte, kurz über den dunklen Schopf. Anschließend schulterte er seine Militärtasche. Kathi kämpfte vergeblich gegen das enge Gefühl in ihrer Kehle an, während sie zusah, wie sich Nikolaj von ihr entfernte.

„Wann kommst du wieder?“, schrie Kathi gegen ein startendes Flugzeug an. Hätte Franzi nicht an ihr gehangen wie ein verängstigtes Äffchen, sie wäre ihm womöglich nachgelaufen. Dabei wollte sie sich nicht benehmen wie ein Kind, nicht vor diesem perfekten Wunderwesen Xenia. Doch ihr flehendes Herz betete darum, dass sich Nikolaj nochmals zu ihr umwenden und ihr das Lächeln schenken würde, das nur ihnen beiden gehörte. Ein Lächeln, gewebt aus Mondlicht.

Nikolaj drehte sich tatsächlich um, legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief: „Bald. Ich melde mich!“ Das erhoffte Lächeln blieb er ihr dabei schuldig.

Für einen kurzen Augenblick verwandelte sich Kathis Welt in Glas, wurde durchsichtig und zerbrechlich, drohte zu zersplittern.

Xenia musste ihre Anweisung wiederholen: „Nehmt euer Gepäck und kommt mit!“ Erst jetzt reagierte Kathi auf die Russin.

Sie folgten ihr und kletterten vorne in den Jeep.

„Wohin fahren wir?“, erkundigte sich Kathi.

„In ein Krankenhaus.“

„Was sollen wir in einem Krankenhaus?“

„Ihr werdet dort ärztlich untersucht.“

„Was denn für Untersuchungen?“ In Kathi schrillten Alarmglocken. Zwar beschränkten sich ihre eigenen Erfahrungen mit Ärzten auf ein Minimum, jedoch waren ihr die vielen Fehlschläge bei der Behandlung ihrer Schwester überaus präsent. Später hatten ihre Eltern nur knapp verhindern können, dass Naziärzte ihre Schwester euthanasierten.

„Fragst du immer so viel?“, wollte Xenia wissen.

„Wundert dich das?“, duzte Kathi sie zurück. In ihrer Erregung vergaß sie, dass ihr Instinkt sie erst vor wenigen Minuten gewarnt hatte, Vorsicht walten zu lassen. „Meine Schwester und ich sind Fremde in einem fremden Land. Warum sollte ich nicht wissen wollen, was weiter mit uns geschieht?“, schob sie als Erklärung nach.

Ein feines Lächeln umspielte Xenias Lippen. „Nikolaj hat mir bereits angedeutet, dass du dich nicht so leicht einschüchtern lässt. Ich gebe dir einen Rat: Fremde können sich keinen Stolz leisten.“

„Ich bedanke mich für den Rat, aber ich sehe keinen Sinn darin. Mein Interesse an unserem weiteren Schicksal hat keineswegs mit Stolz zu tun.“

„Nikolaj verriet mir auch, dass du gerne diskutierst.“

„Nur wenn die Diskussion zielführend ist“, konterte Kathi. Was sollte das? Was wollte Xenia? Warum erwähnte sie ständig Nikolaj? „Verrätst du mir, warum wir untersucht werden sollen? Bitte“, fügte sie hinzu.

„Wir müssen uns vergewissern, dass ihr uns nicht irgendwelche Krankheiten ins Land schleppt.“

„Ist das nicht ein wenig spät? Wir sind schon hier. Womöglich habe ich dich längst angesteckt?“

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Xenia irritiert. Erst darauf lachte sie glockenhell auf. „Du bist sehr direkt. Ich weiß zwar nicht, ob mir das gefällt, aber amüsant ist es allemal.“ Sie startete den Motor.

Franzi, die sich bislang ruhig verhalten hatte und sich eng an Kathis Seite gepresst hielt, rührte sich und stellte ihrer Schwester summend eine Frage. Kathi summte erklärend zurück, dass es jetzt wichtig sei, sich unauffällig und zurückhaltend zu verhalten, um Xenia bei Laune zu halten. Dann würde alles gut werden.

Franzi reagierte mit einem Unmutslaut. Sie summte erneut, höchst ungehalten und wenig melodiös.

„Was summt ihr da?“, wollte Xenia wissen und warf ihnen einen schnellen Blick zu. „Lasst das sein. Es klingt scheußlich.“

„Wir verständigen uns auf diese Art.“

„Wie bitte? Kann deine Schwester etwa nicht sprechen?“

„Sie hat es nie gelernt.“

„Und was fehlt ihr?“

„Das haben die Ärzte niemals richtig herausgefunden.“

„Pah, deutsche Ärzte!“, rief Xenia abschätzig. „Russische Ärzte werden es herausfinden!“

 

Die übrige Fahrt verlief schweigend. Kathi blieb stumm, und Franzi schmollte, da sie es nicht leiden mochte, wenn man in ihrer Gegenwart über ihren Defekt sprach. Xenia beachtete sie ohnehin nicht weiter.

Mittlerweile hatten sie den Militärflughafen hinter sich gelassen und fuhren in östlicher Richtung.

Es herrschte reger Verkehr. Neben Ochsen- und Pferdefuhrwerken bestimmten vor allem Militärfahrzeuge das Straßenbild. Auf beiden Seiten quälten sich ganze Kolonnen Lastwagen durch die karge, gerodete Landschaft. Pannen, ein Unfall und Unmengen am Straßenrand zurückgelassener Fahrzeuge in den unterschiedlichsten Stadien des Zerfalls erschwerten zusätzlich den Verkehrsfluss. Xenia scherte sich jedoch weder um Hindernisse noch um Verkehrsregeln. Sie hupte und überholte riskant, ging kaum je vom Gaspedal, als gälte es, sämtliche Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. Die drei Jeep-Insassen wurden tüchtig durchgerüttelt, und der offene Wagen sorgte dafür, dass sie eine Menge Staub schluckten. Mit einer Hand hielt Kathi Franzi fest, mit der anderen krallte sie sich an den harten Schalensitz, um zu verhindern, beim nächsten halsbrecherischen Manöver aus dem Fahrzeug geschleudert zu werden.

An einer Weggabelung bog Xenia in beinahe voller Fahrt nach links ab. Kathi schloss in Panik die Augen, betete, dass die Fliehkraft sie nicht in den Graben befördern möge.

Kurz darauf kam das Ende einer Lkw-Kolonne in Sicht. Mit ungeminderter Geschwindigkeit raste Xenia darauf zu. Die schweren Fahrzeuge zu überholen stand außer Frage, zumal die Gegenseite gleichfalls durch Lkws blockiert wurde. Für Xenia noch lange kein Grund, ihr Tempo zu drosseln.

Warum bremste sie nicht endlich? Kathi schrie entsetzt auf, umfasste ihre Schwester noch fester und drückte deren Kopf schützend auf ihren Schoß. Gleichzeitig ließ sie den Sitz los, um sich mit der anderen Hand gegen das Armaturenbrett zu stemmen. In letzter Sekunde riss Xenia das Steuer herum und raste rechts an der stehenden Kolonne vorbei. Das Fahrzeug flog förmlich über die kurze Böschung hinweg, landete in einer Wiese und setzte die Fahrt mit aufjaulendem Motor fort.

Xenia warf den Kopf zurück und lachte, während ihr Haar wie eine rote Fahne hinter ihr herwehte.

Sie genoss es! Die Frau war verrückt! Kathi war fassungslos. Der Jeep rumpelte über die Wiese, von den Lastwagen erklang ein Hupkonzert. Übermütig winkte Xenia den Fahrern zu.

Als sie die Spitze des Staus passierten, sahen sie einen umgekippten Militärjeep auf der Straße liegen. Daneben, unter einer Decke verborgen, konnte man den Umriss eines Körpers erkennen.

Kathi bekreuzigte sich.

„Lass den Unsinn!“, zischte ihr Xenia darauf zu und trat das Gaspedal noch einmal tüchtig durch. Der Wagen schoss die niedrige Böschung hinauf und zurück auf die Straße, die nun frei vor ihnen lag.

 

Schließlich verließen sie die geteerte Straße und bogen in einen unbefestigten Weg. Ein Schlagbaum kam in Sicht. Zwei Uniformierte mit Maschinengewehren traten ihnen entgegen. Auch dies veranlasste Xenia nicht, ihr Tempo zu verlangsamen. Stattdessen legte sie eine Vollbremsung hin, die den Kontrollposten in eine dichte Staubwolke hüllte. Mit ausdrucksloser Miene salutierten die Rotarmisten. Xenia reichte ihnen den Passierschein, der Schlagbaum hob sich.

Hinter einer lang gezogenen Kurve tat sich vor ihnen eine schnurgerade Allee auf, von hohen Kastanien gesäumt, deren dichtes Blätterwerk sich über den Weg hinweg berührte wie Paare, die die Nähe des anderen suchten. Das üppige Grün ließ kaum Sonne durch, nur hier und da malte das Licht geheimnisvolle Zeichen in den Schatten. Zu beiden Seiten erstreckte sich schier endlos ein Park. Trotz seines verwahrlosten Zustands ahnte man die einstige Pracht und Kunstfertigkeit der Anlage.

Die Allee mündete in ein Rondell vor einem palastartigen rosafarbenen Gebäude. Zahllose Türmchen und Stuckverzierungen ließen es völlig überladen wirken. Ein Bau aus einer anderen, üppig-sorglosen Epoche. Und längst von der neuen Zeit in Besitz genommen. Auf seinem Dach wehte die scharlachrote Fahne der Revolution.

In der Mitte des Vorplatzes schraubte sich ein Marmorbrunnen dem Himmel entgegen, die trockenen Becken überwuchert von grünlichen Flechten. Kathi empfand Traurigkeit angesichts des wasserlosen Brunnens. Kaum minder berührte sie der Anblick der zerbrochenen Marmorfiguren, die überall verstreut im Gras lagen. Als hätte sie der Stiefel eines Riesen von ihren Sockeln getreten.

Xenia parkte den Jeep nahe am Gebäude. Aus der Nähe trat zutage, dass überall Stuck und Farbe abblätterten. Dabei war es weniger die Zeit, die der Fassade klaffende Wunden geschlagen hatte, sondern zahlreiche Einschusslöcher, stumme Zeugen eines vergangenen Dramas.

Vor dem ehemaligen Palast parkten bereits Dutzende anderer Fahrzeuge. Xenia hatte sich in eine schmale Lücke zwischen zwei Lastwagen gequetscht. Es wimmelte von Uniformierten. Soldaten, die mit unbekanntem Ziel umhereilten, Soldaten, die exerzierten, Soldaten, die Fracht aus Lkws entluden.

Xenia hüpfte aus dem Wagen wie ein munteres Reh. „Kommt mit, ihr beiden“, befahl sie knapp.

Kathi blieb es völlig schleierhaft, wie scheinbar unbeeinträchtigt sich Xenia nach dieser Höllenfahrt bewegte. Ihr schmerzte jeder Knochen im Leib. Gerne hätte sie Xenia gefragt, ob sie vorhabe, sie alle umzubringen. Angesichts ihrer Situation begnügte sie sich damit, einmal tief Luft zu holen. Vorsichtig hob sie Franzi aus dem Wagen und fragte leise summend: Wie geht es dir, meine kleine Eidechse?

Ich will nicht mit der hässlichen Frau gehen, summte Franzi.

Es dauert nicht lange, mein Schatz. Wir besuchen nur kurz einen Doktor.

Ich will keinen Doktor! In Franzis Augen entzündete sich Panik, spiegelte sich eine ganze Welt erlittenen Leids. Das Wort Doktor bedeutete für Franzi fremde, grobe Hände, die ihren Körper abtasteten und sie zwangen, den Mund zu öffnen. Hände, die sie mit Nadeln und Skalpellen traktierten und Hautproben nahmen. Doktor, das bedeutete für Franzi Schmerz.

Kathi schalt sich eine Idiotin, weil sie den Arzt erwähnt hatte. Dadurch hatte sie Franzi noch mehr erschreckt. Ich lasse nicht zu, dass sie dir wehtun, meine Kl…

„Hört endlich mit dem weibischen Gesumme auf!“ Xenia schob sich zwischen sie und packte Franzis Hand. „Kommt ihr jetzt freiwillig mit, oder muss ich nachhelfen?“

Franzi versuchte vergeblich, sich Xenias eisernem Griff zu entwinden. Kathi fasste schnell Franzis andere Hand. Franzi weinte, aber sie wehrte sich nicht weiter.

Sie betraten das Gebäude durch ein Nebenportal. Der Weg zog sich über zahllose Flure, er schien irgendwie kein Ende nehmen zu wollen. Auch im Haus herrschte viel Betrieb; einige Soldaten bewachten einzelne Räume, andere eilten geschäftig umher. Je weiter sie vordrangen, umso stiller wurde es, und umso weniger Personen begegneten ihnen.

Kathi fiel auf, wie ehrfurchtsvoll Xenia von jedermann gegrüßt wurde. Als brächte man ihr über ihren militärischen Rang hinaus einen besonderen Respekt entgegen.

Xenia führte sie zu einem Fahrstuhl. Davor standen zwei weitere Kontrollposten mit Maschinengewehren. Xenia zeigte ihren Passierschein vor. Darauf öffnete ein Rotarmist die Aufzugtür und trat gemeinsam mit ihnen in die Kabine.

Zu Kathis Verwunderung ging die Fahrt nicht nach oben, sondern führte hinab. Ein Krankenhaus unter der Erde?

Mit einem Ruck stoppte die Kabine. Von außen zog jemand die Türen auf, und sofort umfing sie der vertraute Spitalgeruch. Wochenlang hatte ihn Kathi beinahe täglich geatmet, als ihre Mutter im Gleiwitzer Frauenkrankenhaus um ihr Leben gerungen hatte. Auch Franzi erkannte den Geruch wieder. Erschrocken wich sie zurück, presste sich in die Ecke und weigerte sich, den Fahrstuhl zu verlassen.

Xenia zog die Kleine unerbittlich mit sich nach draußen. Da tat Franzi etwas Unvorstellbares: Sie grub ihre Zähne tief in Xenias Handrücken.

Die Russin schrie auf wie ein verwundetes Tier, ein hoher keuchender Laut, mehr Überraschung als Schmerz, und Franzi erreichte ihr Ziel: Xenia ließ ihre Hand los.

Eine Sekunde lang schien die Welt den Atem anzuhalten. Kurz sah es aus, als wollte Xenia Franzi schlagen. Mit einer raschen Bewegung schob sich Kathi zwischen sie und ihre Schwester.

Darauf kräuselte Xenia verächtlich ihre Lippen, als hätte sie dergleichen von den Geschwistern erwartet. Die Russin zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und wickelte es um ihren Handrücken, auf dem sich Franzis Zähne als blutender Halbmond abzeichneten. Den Rotarmisten, der seiner Offizierin hatte beispringen wollen, scheuchte sie mit einem einzigen Blick zurück.

Franzi summte: Jetzt muss die hässliche Frau auch zum Doktor.

Xenia befestigte ihren provisorischen Verband. „Was spricht das kleine, tollwütige Biest?“, fauchte sie.

„Sie sagt, es tut ihr leid. Sie schäme sich.“

„Ach ja? Du lügst schlecht, Katja. Sei froh, dass deine Schwester kaum größer ist als eine Kanalratte!“ Xenia rief dem Rotarmisten einen Befehl auf Russisch zu, und der schnappte sich daraufhin Franzi und hielt sie fest. Bevor Kathi gegen diese Behandlung ihrer Schwester einschreiten konnte, wurde sie von Xenia gepackt und ihr Arm nach hinten gerissen. Ein glühender Schmerz bohrte sich in ihren Rücken und zwang sie hilflos zu Boden. Schon einmal war sie auf diese Weise niedergerungen worden – von Sonia Petrowa, der russischen Politkommissarin, der sie ihre Gefangenschaft zu verdanken hatte.

Xenia verstärkte ihren Griff und entlockte Kathi damit einen erstickten Laut.

Mit einer Stimme, die klang, als würde ein Degen über Stein schaben, wandte sich Xenia Franzi zu: „Hör zu, Miststück. Ich weiß, dass du mich verstehst. Wenn du dich nicht benimmst und das tust, was ich dir sage, dann werde ich nicht dir wehtun, sondern deiner großen Schwester. Ist das klar? Dann nicke einmal, du Kretin.“

Langsam senkte Franzi den Kopf. Aber Kathi bemerkte den Ausdruck, der zuvor über Franzis Gesicht gehuscht war. Es lag keine Furcht darin, sondern Trotz.

Nie zuvor hatte Franzi einen Menschen wissentlich verletzt. Es passte nicht zu diesem süßen, sanften Kind, das das allerwinzigste Lebewesen wie eine Kostbarkeit behandelte und selbst Dorotas klebrige Fliegenfallen in der Küche sabotierte, indem sie sie stibitzte. Die Angst musste Franzi völlig überwältigt haben.

Sobald sie mit ihrer Schwester allein wäre, würde sie sich ernsthaft mit ihr unterhalten müssen. Xenia war keine Person, die man ungestraft demütigte.

Aufgewühlt strich Kathi über Franzis dunklen Schopf. Nachdem der Rotarmist sie endlich freigegeben hatte, flüchtete sich Franzi sofort in die schützenden Arme ihrer Schwester. Kathi fragte sich, wie sie Xenia und die untersuchenden Ärzte davon überzeugen konnte, dass es sich bei Franzi um eine friedliche Neunjährige handle, der Biss lediglich Folge und Ausdruck eines völlig verängstigten, elternlosen Kindes gewesen sei, das man aus der vertrauten Umgebung gerissen hatte.

Der Soldat schubste sie unerbittlich weiter und stieß sie in einen Behandlungsraum.

Xenia entfernte sich ohne ein Wort, während der Rotarmist zu ihrer Bewachung zurückblieb. Bevor er die Tür schloss und davor Posten bezog, bemerkte Kathi die Schweißperlen auf seinem jungen, geröteten Gesicht. Weshalb schwitzte er so stark, obwohl im Untergeschoss angenehme Kühle herrschte?

Franzis Hand verkrampfte sich in ihrer, und die Nägel bohrten sich schmerzhaft in Kathis Haut. Sie hörte, wie Franzis Atem zunehmend hektisch wurde, während sie auf die monströse technische Apparatur stierte, die den halben Raum einnahm. Ein Röntgengerät! Kathi entzifferte den Hersteller: Siemens & Halske. Bei Franzi weckte der Anblick des Geräts schlimme Erinnerungen. Aufgrund ihrer seltenen Hautkrankheit war sie bereits mehrmals von Ärzten auf einen Röntgentisch gezwungen worden.

Der jämmerliche Laut, der nun ihrer Kehle entstieg, fuhr Kathi in alle Glieder. Sie wollte Franzi erneut schützend an sich ziehen, doch ihre Schwester riss sich jäh von ihr los. Wie eine wild gewordene Furie begann sie gegen das Tischgestell zu treten. Gleichzeitig stimmte sie ein wildes Geheul an.

Der Rotarmist riss die Tür auf. Ihm drängte ein Mann mit Kittel und Mundschutz hinterher. Kathi gelang es schließlich, ihre Schwester mit beiden Armen zu umfangen und von dem Gestell wegzuziehen. Franzi gebärdete sich weiter wie von Sinnen, stieß hohe, wimmernde Laute aus und trat um sich. Kathi begann leise in ihr Ohr zu summen. Ich bin ja da. Es ist gut, meine kleine Eidechse. Alles wird gut. Alles wird gut.

Nichts war gut. Ein scharfer Befehl ertönte an der Tür. Xenia! Eine scheußliche Dissonanz zu Kathis sanftem Summen.

Der Soldat entriss Kathi Franzi, klemmte sie sich wie ein Paket unter den Arm und trug die Strampelnde hinaus.

„Nein!“, schrie Kathi. „Lasst sie hier. Ich kann sie beruhigen!“ Sie wollte losrennen, dem Soldaten hinterher. Aber Xenia hielt sie zurück. Kathi kugelte sich durch den Schwung beinahe den Arm aus.

„Hiergeblieben!“, bellte die Russin.

„Was macht ihr mit Franzi? Wo bringt ihr sie hin? Franzi!“, brüllte Kathi. Ihr Herz hämmerte wie von Sinnen.

Statt einer Antwort gab Xenia sie unvermittelt frei und schubste sie in Richtung des Arztes. „Sie gehört Ihnen, Genosse. Sie wissen, was zu tun ist.“ Sie verließ den Raum.

„Zieh dich aus“, sagte der Arzt barsch. „Alles.“

Hanni Münzer

Über Hanni Münzer

Biografie

Hanni Münzer ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Deutschlands. Mit den Romanen ihrer „Honigtot-Saga“, der „Seelenfischer“- und „Schmetterlinge“- Reihe sowie der „Heimat-Saga“ erreichte sie ein Millionenpublikum und eroberte die Bestsellerlisten. Mit den Romanen „Honigland“ und „Honigstaat“ (Am...

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